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Peter Granzow

DEPRESSIONEN

50 Tage in der Psychiatrie: Cluburlaub ist anders

Raus aus der Lethargie – zurück in den Alltag

Nach einer wahren Geschichte

Copyright: © 2018: Peter Granzow

Lektorat: Ingrid Schumacher / TEXTUR – Text und Lektorat

Buchcover: Danny Frede

Coverfotos: Palmen, Gitter (Adobe Stock 43903732)

Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

978-3-7345-9198-3 (Paperback)

978-3-7345-9199-0 (Hardcover)

978-3-7345-9200-3 (e-Book)

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Und der Clown, der muss lachen …

Einleitung

Die Reise beginnt

Willkommen auf der Geschlossenen

1. Woche

2. Woche

3. Woche

4. Woche

5. Woche

6. Woche

Die Zeit danach

Über den Autor und wie es zu der Zusammenarbeit kam

MARKUS

23.11.1957 ~ 31.05.2015

Und der Clown, der muss lachen, auch wenn ihm zum Weinen ist,
und das Publikum sieht nicht, dass eine Träne fließt.

Und der Clown, der muss lachen …

Markus hatte seinen Suizid perfekt geplant und vorbereitet. Dreißig Tabletten Paracetamol, kombiniert mit viel Alkohol, sollten in der Nacht zum 31.Mai 2015 dafür sorgen, dass er sich still und schmerzfrei aus einem Leben verabschieden konnte, welches für ihn inzwischen unerträglich geworden war.

Für den Fall, dass er die Tablettenmenge zu gering berechnet und dosiert haben sollte, stach er sich zusätzlich eine Infusionsnadel in seine linke Armvene. So wollte er sichergehen, dass sein Körper über einen Verbindungsschlauch ausbluten konnte.

Auch die Auflösung seiner Wohnung war bis ins Detail vorbereitet. Um seinen Angehörigen so wenig Arbeit wie möglich zu machen, hatte er sein Hab und Gut bereits in Umzugskisten verpackt und auch ein Nachmieter war bereits gefunden. Siebenundzwanzig Abschiedsbriefe, inklusive Kündigungen an Stromversorger, Versicherungen und Sportvereine lagen in frankierten Briefumschlägen versandfertig bereit, lediglich eine Kopie des Totenscheins musste noch hinzugefügt werden.

Einer der vielen Abschiedsbriefe war an Markus´ Grafiker adressiert, der sich schon seit Jahren um die Gestaltung seiner Website gekümmert hatte. In diesem Brief bat Markus darum, seine Website stillzulegen. Statt der gewohnten Inhalte sollten künftige Besucher nur noch eine schlichte Todesanzeige zu sehen bekommen, welche Markus ebenfalls vorbereitet hatte. Auf einer komplett weißen Seite sollte in schwarzer Schrift nur sein Vorname, Geburts- und Todestag zu lesen sein. Abgerundet durch eine Textzeile aus dem Lied Theater von Katja Ebstein, welche eine letzte Botschaft für ihn symbolisierte und seine Entscheidung für alle verständlich machen sollte.

Einleitung

Liebe Leserin,

Lieber Leser,

die Depression zählt zu den größten Volkskrankheiten, allein in Deutschland leiden circa vier Millionen Menschen im Alter zwischen 18-65 Jahren daran. Die meisten der Betroffenen haben keinen Spaß mehr am Leben und empfinden dieses oft als sinnlos. Persönliche Probleme sind für sie in einem schleichenden Prozess häufig einfach zu groß und scheinbar unlösbar geworden. Wahre Glücksmomente oder ausgelassene Freude kennen viele von ihnen schon lange nicht mehr. Oft wird das Leben nur noch als reine Qual empfunden, die Aussicht auf Besserung scheint unvorstellbar zu sein.

Viele Betroffene wissen nicht einmal, dass sie an einer Depression leiden, vor allem Männer sind oft ahnungslos. Laut WHO-Kriterien ist der Anteil der Frauen, die an einer Depression leiden, doppelt so hoch wie der der Männer. Auch geht man davon aus, dass Depressionen bei Männern oft unerkannt bleiben. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Nicht nur, dass Männer seltener zum Arzt gehen, auch sucht das sogenannte „starke Geschlecht“ weniger oft Hilfe. Und selbst wenn ihnen Hilfe angeboten wird, so heißt das noch lange nicht, dass sie diese auch annehmen. Diese Verweigerung kann auf lange Sicht fatale Folgen haben, denn bei einigen Männern äußern sich Depressionen mitunter in Aggressionen und Feindseligkeit, andere wiederum kapseln sich gänzlich von ihrem sozialen Umfeld ab. Immer öfter spricht man hier von einer typischen Männerdepression.

Bei Frauen tritt eine depressive Verstimmung nicht selten nach der Geburt eines Kindes ein, geht es mit den Hormonen in dieser Zeit doch ordentlich auf und ab.

Andere Thesen besagen, dass einige Frauen von ihren Müttern gerade in den sechziger und siebziger Jahren passives Verhalten anerzogen bekommen haben, um so dem klassischen Frauenbild zu entsprechen. Männer dagegen wurden mehr zur aktiven Problemlösung erzogen, getreu dem Motto: Die Frau erkennt zwar das Problem, der Mann aber hat die Lösung!

Heute, im 21.Jahrhundert, ist dieser Unterschied in der Erziehung sicherlich weit weniger ausgeprägt. Trotzdem gibt es Fälle, in denen Frauen stärker als Männer dazu neigen, mit Schuldgefühlen und Depressionen auf Probleme zu reagieren. Diese bewusst anzugehen oder gar nach unbequemen Lösungen zu suchen, wird aber oft vermieden.

Unabhängig vom Geschlecht können auch belastende Lebensereignisse wie zum Beispiel Mobbing am Arbeitsplatz, die Trennung vom Lebenspartner oder der Tod eines geliebten Menschen eine Depression auslösen.

Studien besagen, dass auch biologische Faktoren eine Rolle spielen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder, deren Mutter oder Vater depressiv ist, im Laufe ihres Lebens ebenfalls an einer Depression erkranken, liegt bei 10 bis 15 Prozent.

Depressionen entstehen in vielen Fällen aber auch durch ganz normalen Alltagsstress, sei es nun im Privat- oder Berufsleben. Der feine Unterschied liegt hier jedoch in der Bezeichnung. Wird bei der Kassiererin im Supermarkt mit großer Wahrscheinlichkeit eher eine Depression diagnostiziert, so umschreibt man diese bei beruflich höher gestellten Mitarbeitern, wie zum Beispiel dem Leiter einer Marketingagentur oder dem Manager eines großen Unternehmens, eher mit dem Modewort „Burnout“!

Fakt ist aber, dass ein Großteil der Menschen, die wegen eines Burnouts eine längere Auszeit vom Berufsleben nehmen müssen, schlicht an einer depressiven Erkrankung leidet. Alle für die Diagnose einer Depression nötigen Krankheitszeichen liegen in den meisten Fällen vor.

Um bei dem Beispiel der Kassiererin und des Manager zu bleiben, so hat die Kassiererin nun den Nachteil, dass sie in ihrem Umfeld mit einer Depression in Verbindung gebracht wird, also vermutlich häusliche Probleme hat oder einfach nur zu sensibel ist, was meist als negativ wahrgenommen und mit Schwäche in Verbindung gebracht wird. Der Manager hingegen, der unter einem Burnout leidet, was, wie bereits beschrieben mit denselben Symptomen wie denen einer Depression verbunden ist, hat einfach zu viel gearbeitet. Dies wiederum wird oftmals mit einem erfolgreichen und leistungsorientierten Leben assoziiert und positiv wahrgenommen.

Aber ganz egal, ob die Krankheit nun als Depression oder Burnout bezeichnet wird, die meisten Patienten fühlen sich schwach, ausgelaugt, sind mit sich und der Welt unzufrieden und sehen oft keinen Ausweg mehr aus ihrer Situation. Die Folge sind oft Suizidgedanken. Die Internationale Vereinigung für Suizidprävention, sowie die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzen, dass sich 15 Prozent der Menschen, die an einer schweren Depression leiden, das Leben nehmen und ein noch wesentlich höherer Prozentsatz Suizidgedanken hat.

Zur letzteren Gruppe gehörte im Sommer 2015 auch Markus, ein in Frankfurt lebender 58-jähriger Schauspieler, der seinem Beruf seit über 35 Jahren nachging. Bedingt durch einen erfolgreichen Kinofilm genoss er Anfang der neunziger Jahre einen hohen Bekanntheitsgrad, den er auch danach durch mehrere große Rollen in Fernsehfilmen weiter ausbauen konnte. Keine zehn Jahre später wurden seine Engagements jedoch immer weniger, bis sie schließlich über Wochen und Monate gänzlich ausbleiben sollten.

Nachdem Markus seine finanziellen Reserven, die er extra für schlechte Zeiten angespart hatte, aufgebraucht waren und sich durch von Freunden und Familie geliehenes Geld sogar noch ein Schuldenberg von nahezu achtzigtausend Euro angehäuft hatte, sollte sein Geld nun nicht einmal mehr für die nächste Monatsmiete reichen. Finanziell in die Enge getrieben und zu stolz, um nach weiterer Hilfe zu fragen, sah auch Markus im Sommer 2015 keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Seiner Meinung nach war sein letzter Vorhang schon lange gefallen.

Obwohl sein Suizid perfekt geplant, organisiert und dreifach abgesichert war, scheiterte dieser. Markus überlebte und fand sich nur wenige Stunden später in der geschlossenen Psychiatrie einer Frankfurter Klinik wieder. Erst drei Wochen später wurde für ihn ein Platz auf der offenen Station frei, die Zeit dazwischen verbrachte er auf einer Station für Suchtpatienten.

Seine ganz persönlichen und bewegenden Erlebnisse in der Psychiatrie hielt Markus in einem Tagebuch fest, zunächst nur in Stichworten, später immer detaillierter.

Aus genau diesen Aufzeichnungen, seinen persönlichen Erzählungen während mehrerer Treffen mit mir, dem Autoren, und unzähligen Telefonaten ist dieses Buch innerhalb von zwei Jahren entstanden, welches weder als Ratgeber noch als „Problemlöser“ zu verstehen ist. Jedoch gewährt es einen sehr tiefen und sehr persönlichen Blick in Markus´ Leben und wie es zu seinem Suizid kommen konnte. Darüber hinaus zeigt und erklärt es den Tagesablauf in einer psychiatrischen Klinik. Außerdem wird deutlich, dass Markus erst während der vielen Therapien die er machen musste, anfängt zu begreifen und zu akzeptieren, dass er krank ist und dringend Hilfe benötigt.

Die Reise beginnt

Beunruhigt und zugleich wie von Sinnen, fuhr Henning am Sonntag, den 31.Mai gegen 18.00 Uhr mit seinem Fahrrad von Frankfurt-Ostend kommend in Richtung Sachsenhausen, um bei seinem besten Freund Markus nach dem Rechten zu sehen. Zwar hatte für den Notfall jeder einen Schlüssel für die Wohnung des anderen, doch einen Notfall hatte es im klassischen Sinne in all den zurückliegenden Jahren, in denen sie sich kannten und befreundet waren, bislang noch nie gegeben. Doch heute war alles anders. Weder war Markus über sein Handy noch auf seinem Festnetz zu erreichen, beim letzteren sprang noch nicht einmal der Anrufbeantworter an. Zu allem Überfluss konnte man auch das Facebook-Profil von Markus nicht mehr öffnen. Gab man seinen Namen in der Suchmaschine ein, gab es keinerlei Treffer. Es schien, als sei Markus´ Profil über Nacht deaktiviert oder gelöscht worden.

All diese Umstände ließen in Henning eine große Sorge um seinen besten Freund aufkommen, also beschloss er kurzerhand, bei Markus vorbeizufahren. Auf dem Weg dorthin hoffte er inständig, dass sich alles als ein großes Missverständnis herausstellen würde und er Markus wie in einem schlechten Film, mit der Eroberung der letzten Nacht im Bett vorfinden würde, auch wenn es dafür um diese Uhrzeit schon recht spät war.

Am Haus von Markus angekommen, schloss er sein Fahrrad am Zaun davor ab, überwand die sieben Treppenstufen bis zur Haustür mit zwei großen Sprüngen und drückte sofort auf Markus´ Klingelknopf. Ohne eine Reaktion abzuwarten, schloss er zeitgleich die Haustür auf und hechtete zu Fuß, ohne auf den Fahrstuhl zu warten, in den 3.Stock. Hier stand er nun vor Markus´ Wohnungstür, ein erneutes Klingeln ersparte er sich, stattdessen schloss er sofort die Tür auf und noch während er den Wohnungsflur betrat, rief er den Namen seines besten Freundes, der ungewöhnlich hallig klang.

Die Veränderungen in Markus´ Flur hatte Henning zwar sofort wahrgenommen, doch erst als er ins Wohnzimmer schaute und es zögernd betrat, überkam ihn eine schreckliche Vorahnung. Irgendetwas war hier passiert, nur konnte Henning dies alles noch nicht richtig zuordnen. In der Wohnung sah es aus, als wollte Markus am nächsten Tag ausziehen. An der Wohnzimmerwand, wo sonst seit Jahren eine Schrankwand ihren Platz hatte, standen nun große und kleine Umzugskartons, von der Schrankwand selbst gab es keine Spur. Nur flüchtig nahm Henning die fein säuberlich gedruckten DINA4 Blätter auf den Kartons wahr, auf denen zu lesen war, was sich in ihnen befand.

Noch einmal rief Henning Markus´ Namen und ging weiter in Richtung Küche, in der es aussah, als habe die Person, die hier für gewöhnlich lebte, bereits vor Tagen oder Wochen, alle Zelte abgebrochen. Die Kühlschranktüren standen offen und er konnte sehen, dass der Kühlschrank nicht nur leer, sondern bereits abgetaut und gesäubert war. Auch die Schiebetüren der drei Hängeschränke waren geöffnet und ließen erkennen, dass die Schränke leer waren. Nichts, aber auch gar nichts in der Küche erinnerte daran, dass dies einmal der Ort gewesen war, an dem Markus mit seinen Freunden so viele nette und gesellige Kochabende veranstaltet hatte.

Dann sah Henning die drei DINA4 Blätter, die per Computer beschriftet waren und in Klarsichthüllen an der Wand über dem Herd klebten. Wie gelähmt begann er, einen nach dem anderen zu lesen. Auf dem ersten waren zwei Termine für den Frankfurter Sperrmüll notiert. Des Weiteren der Hinweis, wieviel Kubikmeter man bei jedem der Termine vor die Tür stellen durfte. Henning konnte nur ahnen, was dies alles zu bedeuten hatte und ohne daran zu denken, was er in den nächsten Minuten noch alles zu Gesicht bekommen würde, las er die Notiz auf dem zweiten Zettel. Hier war das Alter der Einbauküche zu lesen und wie man mit dem Vermieter und den Nachmietern einen Deal machen konnte, um sich bei der Übergabe der Wohnung das Streichen zu ersparen. Demnach sollte der Nachmieter die Küche kostenlos übernehmen können, sofern er diese selber streichen würde. Auch konnte Henning lesen, dass sich in dem Ordner auf dem Wohnzimmertisch eine Liste mit zehn potenziellen Nachmietern befinde. Gedanklich weigerte sich Henning, diese Information richtig zuzuordnen. Es gab also eine Liste mit Interessenten an Nachmietern für die Wohnung in der er gerade stand? Henning versuchte zu begreifen, was hier geschah. Doch zum Nachdenken blieb kaum Zeit, wie unter Zwang musste oder vielmehr wollte er nun auch das lesen, was auf dem dritten Zettel stand.

Hier bekam er die Information, dass das Fahrrad auf dem Balkon bereits 12 Jahre alt sei, sicherlich keinen großen Wert mehr habe und dass es am besten die Person bekommen solle, die sich um die Wohnungsauflösung kümmern würde. Was Henning tief im Innern geahnt hatte, stand nun fein säuberlich, wie eine Regieanweisung, schwarz auf weiß vor ihm.

Nach Markus´ Plänen sollte also irgendjemand dessen Wohnung auflösen. Doch wo war Markus? War er über Nacht ausgewandert und hatte das Land verlassen? Eher nicht! Alles deutete vielmehr darauf hin, dass Henning seinen besten Freund jeden Moment in einem der Zimmer finden würde, in denen er bislang noch nicht geschaut hatte, dies waren das Bade- und das Schlafzimmer. Wie ferngesteuert ging er wieder aus der Küche zurück in Richtung Wohnzimmer, erst jetzt, beim zweiten Betreten nahm er die vielen Zettel an den Kisten wahr. Auf einem Stand mit einem Smiley versehen “Mein gutes Thomas-Geschirr“, auf einem anderen “Töpfe & Pfannen“. Kiste für Kiste war so mit einem Zettel versehen.

Als Henning wieder im Flur angekommen war, trennten ihn nur noch wenige Schritte von der Schlafzimmer- und der gegenüberliegenden Badezimmertür. Irgendein Gefühl sagte ihm, dass er zuerst die Schlafzimmertür öffnen müsse und dass vorfinden würde, was er nicht finden wollte. Henning atmete noch einmal tief durch und drückte dann mit seiner rechten Hand langsam gegen die nur angelehnte Tür. Bevor diese sich ganz geöffnet hatte, rief er noch einmal vorsichtig Markus´ Namen, wusste aber sofort, dass er keine Antwort bekommen würde. Kaum dass die Tür weit aufstand, schaltete Henning das Licht an und konnte Markus in seinem Bett liegen sehen. Geschockt stand er sekundenlang im Türrahmen und musste erst einmal sortieren und verarbeiten, was er dort sah.

Mit geschlossenen Augen lag Markus auf seinem Bett, den Kopf nach links gedreht, seine rechte Körperhälfte war nur notdürftig mit einer Bettdecke zugedeckt. Henning erkannte sofort, dass Markus ohne T-Shirt in seinem Bett lag, neben dem ein großer blauer Wäschekorb aus Plastik stand und irgendetwas langes, das an Markus´ linken Arm befestigt war, wurde in den Wäschekorb geleitet. Erst als er sich traute, näher auf Markus zuzugehen, konnte er erkennen, dass Markus in seiner linken Armbeuge eine Nadel stecken hatte, die mit einem dünnen Schlauch verbunden war, welcher wiederum in die Plastikwanne geleitet wurde, auf deren Boden Spuren von getrocknetem Blut zu erkennen waren. Danach sah er, dass die komplette linke Körperhälfte vom Oberarm an bis hinunter zum Fuß übersäht war mit kleinen roten Einstichlöchern, auf denen sich bereits Schorf gebildet hatte. Es war unübersehbar: Markus hatte versucht, sich sein Blut aus dem Körper laufen zu lassen, um sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Erst jetzt bemerkte Henning den roten Bademantelgürtel, mit dem Markus seinen linken Arm am Bettrahmen fixiert hatte. Offenbar wollte er so verhindern, dass die Nadel bei ungewollten Bewegungen aus der Vene gezogen wurde und es somit nicht mehr möglich war, das Blut aus dem Körper laufen zu lassen. Doch warum waren es so viele Einstichlöcher? Und warum war kaum Blut in der Wanne zu sehen, sondern nur vereinzelte kleine Lachen?

Henning merkte, wie ihm plötzlich übel wurde und dass er kurz davor war sich zu übergeben. Mit der Hand vor dem Mund rannte er aus dem Zimmer hinaus in Richtung Badezimmer, wo er, kaum dass er vor der Toilette kniete, zu spucken begann.

Der Brechreiz entpuppte sich schnell als falscher Alarm. Zweimal war Henning kurz davor, sich zu übergeben, so wie er es schon des Öfteren nach durchzechten Nächten getan hatte, doch heute konnte er es trotz des Ekels, den er verspürte, nicht. Nachdem er sich den Mund abgewischt hatte, griff er zum Abtrocknen in Richtung Handtuchhalter, doch schnell merkte er, dass es an der gewohnten Stelle keine Handtücher mehr gab. Erst als er sich etwas genauer im Bad umschaute, wurde ihm bewusst, dass auch dieses komplett leergeräumt war. Neben den fehlenden Handtüchern war auch der weiße Läufer vor dem Waschbecken verschwunden, sowie sämtliche Toilettenartikel. Auch hier erinnerte nichts mehr daran, dass die Wohnung bewohnt war, ganz im Gegenteil, die sterile Kühle passte zu der ganzen Situation.

Plötzlich wurde Henning bewusst, dass er gar nicht kontrolliert hatte, wie der Zustand von Markus eigentlich war, zu groß war der Schockzustand, in dem er sich gerade befand. War Markus wirklich tot oder war er vielleicht noch bei Bewusstsein und konnte gerettet werden? Vielleicht zählte hier gerade jede Sekunde?

Als Henning sich zurück in Richtung Badezimmertür drehte, sah er, dass auch über der Waschmaschine ein weißes DINA4 Blatt in einer Plastikfolie klebte. Auch darauf war, wie zuvor bei der Spülmaschine in der Küche, das Alter der Maschine zu lesen und dass sie der Nachmieter der Wohnung vielleicht ebenfalls übernehmen könne.

Nun reichte es Henning, nach dem ersten Schock spürte er nun eine gewisse Wut. Was hatte Markus sich nur dabei gedacht? War ihm nicht bewusst gewesen, dass er, Henning, es sein würde, der ihn tot in seiner Wohnung finden würde?

Verärgert, unsicher und ängstlich zugleich eilte er zurück ins Schlafzimmer, wo Markus immer noch regungslos in seinem Bett lag. Henning beugte sich über ihn, packte ihn bei den Schultern und begann sofort damit, ihn kräftig zu schütteln. Während er dies tat, wackelte der Körper von Markus schlaff hin und her und sein Kopf sah aus, als würde er nicken. Langsam merkte Henning, dass er Markus nur noch verschwommen wahrnehmen konnte, denn inzwischen hatten sich seine Augen längst mit Tränen gefüllt. Ein letztes Mal schüttelte Henning Markus an den Schultern, schrie hysterisch seinen Namen und dass er endlich aufwachen solle. Als ihm bewusst wurde, dass all das Schütteln keinen Sinn mehr machte, stieß er den schlaffen Körper mit aller Kraft zurück auf das Bett und noch bevor Markus´ Kopf auf dem Kissen aufkam, schlug ihm Henning panisch und wutentbrannt mit seiner rechten Hand ins Gesicht.

Kraftlos stand er wieder auf und blickte auf Markus herab, noch immer war dessen linker Arm durch den Bademantelgürtel am Bettgestell fixiert, nur die Kanüle in seiner Oberarmvene hatte sich durch das Schütteln gelöst und lag nun neben seinem Körper.

Henning wurde bewusst, dass er nichts anderes mehr tun konnte, als irgendwo anzurufen. Aber wen sollte er anrufen? Für einen Notarzt war es offenbar zu spät und ob man in solch einem Fall die Polizei anrufen sollte, das wusste er nicht. Völlig überfordert entschloss er sich dazu, ihre gemeinsame Freundin Franziska anzurufen und schaute nach der Kommode, die gleich neben der Tür stand. Darauf befand sich eigentlich Markus´ Telefonanlage, doch auch die gab es nicht mehr. Also begann er damit, in den Taschen seiner Sommerjacke, die er immer noch anhatte, nach seinem Handy zu suchen. Sofort wählte er die Nummer von Franziska und während er das Freizeichen hörte, ging er im Schlafzimmer auf und ab. Noch bevor Franziska das Gespräch annahm, stand Henning vor einem schwarzen Kleidersack, der am Türgriff der Balkontür hing und ebenfalls mit einem weißen DINA4 Blatt versehen war. Da sich Henning aber auf das folgende Telefonat mit Franziska konzentrierte und überlegte, was er ihr gleich sagen sollte, nahm er eher halbherzig wahr, was auf dem Zettel stand.

Für das Bestattungsunternehmen war in fetter Überschrift zu lesen. Weiter hieß es, man solle den Kleidersack bei der Überführung bitte mitnehmen, weil sich darin die Garderobe für seine Beerdigung befände. Danach wurde der Inhalt wie folgt aufgelistet:

1 Schwarzer Anzug mit Weste, 1 weißes Hemd, 1 Krawatte, 1 Paar Manschettenknöpfe, 1 Gürtel, 1Paar Schuhe und noch bevor Henning 1 Paar Socken lesen konnte, hörte er Franziskas Stimme in seinem Ohr.

Immer noch aufgeregt, aber darauf bedacht, die richtigen Worte zu finden, erklärte Henning Franziska, wo er sich gerade befand und welche Situation er vorgefunden hatte. Völlig geschockt hörte sie Henning zu und bot an, sofort zu ihm zu kommen, um dann gemeinsam zu entscheiden, was sie tun konnten. Kaum hatte Henning das Telefonat beendet, bildete er sich ein, ein leichtes Stöhnen aus Markus´ Richtung zu hören und blickte sofort zu ihm herunter.

Noch bevor er sein Handy wieder in der Jackentasche verstaut hatte, sah er, wie sich der Kopf von Markus bewegte, und erneut hörte er ein leises Stöhnen. Nun gab es keinen Zweifel mehr, Markus lebte, und sofort beugte sich Henning zu ihm herunter, sprach ihn mit lauter und zugleich fester Stimme an, fasste nach seinen Augenlidern und zog diese vorsichtig nach oben.

Keine dreißig Minuten später konnte man einen Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht durch den frühabendlichen Straßenverkehr von Sachsenhausen fahren sehen.

Willkommen auf der Geschlossenen

Während der Fahrt im Rettungswagen kam Markus immer mehr zu Bewusstsein und konnte den Sanitätern auf deren Nachfrage erklären, dass er viel Alkohol getrunken, circa dreißig Tabletten Paracetamol geschluckt und vor zwei Tagen das letzte Mal feste Nahrung zu sich genommen hatte.

Zeitgleich mit dem Rettungswagen trafen auch Henning und Franziska in der Notaufnahme der Klinik ein, wo Markus zunächst zu einem Erstgespräch mit der Klinikpsychologin gebracht wurde. In Anwesenheit von Henning und Franziska versuchte sie behutsam herauszubekommen, was der Grund für seinen Suizidversuch war und wie dieser genau abgelaufen war. Noch immer leicht benommen, erzählte er seine Geschichte erneut. Franziska, die bislang nur Hennings Ausführungen kannte, traute ihren Ohren nicht und wollte sofort wissen, ob es nicht sinnvoller wäre, zunächst einmal Markus´ Magen auszupumpen. Mit grimmiger Miene gab ihr die Psychologin, die sich offenbar in ihrer Kompetenz unterschätzt fühlte, zu verstehen, dass sie genau dies mit dem Gespräch herauszubekommen versuchte. Nach bisherigen Erkenntnissen sehe sie dafür aber keine Veranlassung. Vielmehr stelle sich für sie die Frage, wie es mit Markus weitergehen sollte. Ihrer Auffassung nach gebe es hier nur zwei Möglichkeiten, entweder die Aufnahme in die geschlossenen Psychiatrie oder aber die Entlassung nach Hause. Ersteres sollte sich zunächst aber nur auf eine Nacht beschränken.

Markus schien dies alles nicht zu interessieren, er schaute die Psychologin nur gelangweilt an und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Henning und Franziska dagegen wollten nicht glauben, was sie da hörten. Die Psychologin zog tatsächlich in Betracht, Markus wieder nach Hause zu schicken?

Selber waren sie beide von der ganzen Situation so geschockt und überfordert, dass sie sich außer Stande sahen, Markus in seiner eigenen Wohnung zu betreuen und zu beaufsichtigen, geschweige denn, ihn bei sich aufzunehmen. Hierfür hatte Henning einfach keinen Platz und Franziska hatte schon drei Kinder zu versorgen. Diese kannten Markus zwar alle, doch wie sollte sie ihnen erklären, dass er nun für ein paar Tage bei ihnen wohnen würde? Ihrer Meinung nach war es das Beste, wenn er die Nacht erst einmal unter ärztlicher Aufsicht verbringen würde und so bat sie ihn behutsam, auf das Angebot der Psychologin einzugehen. Auch Henning betonte noch einmal, dass er mit der momentanen Situation völlig überfordert sei und Franziska somit nur zustimmen könne.

Nun ergriff die Psychologin wieder das Wort und verwies darauf, dass die geschlossene Abteilung sehr voll sei und sie Markus kein Bett in einem Zimmer garantieren könne. Er müsse also damit rechnen, ein Bett auf dem Flur zu bekommen. Henning und Franziska schauten sich fragend an, es kam ihnen vor, als würde die Psychologin Markus eine Aufnahme regelrecht ausreden und ihn überhaupt nicht aufnehmen wollen. Sofort ergriff Franziska wieder das Wort und erinnerte daran, dass es ja nur für eine Nacht sein würde und mit Blick auf die Uhr zeigte sie Markus, dass diese ohnehin schon fast halb herum war.

Somit war es beschlossen, Markus gab sein Einverständnis und wies sich offiziell selbst in die Psychiatrie der Klinik ein. Wenige Minuten nachdem er alle nötigen Formulare für die Einweisung unterschrieben hatte, kam auch schon ein Pfleger, der sich als Clemens vorstellte und Markus auf die Station bringen würde. Gemeinsam mit Henning und Franziska fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die sechste Etage der Klinik. Kaum hatten sie den Fahrstuhl verlassen, standen sie auch schon vor einer Glaswand, die den Flur von der geschlossenen Abteilung trennte. Hinter der Wand war nicht nur ein mäßig beleuchteter Flur zu sehen, sondern auch eine nur mit einem Bademantel bekleidete Patientin, die einen braunen Teddybär im Arm hielt, den sie fest an sich drückte. Wie in Trance schaute sie die vier Neuankömmlinge auf der anderen Seite der schützenden Glaswand an, und während sie anfing, von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen, begann sie zeitgleich zu summen.

Der Anblick der Frau erinnerte Markus an einen schlechten Film, genauso hatte er sich die Patienten einer geschlossenen Abteilung immer vorgestellt: lauter Verrückte, die nicht wussten, was sie tun und zum Schutz vor sich selbst weggeschlossen werden mussten. Als Markus den Schlüsselbund des Pflegers klimpern hörte, der kurz davor war, die Glastür aufzuschließen, wurde ihm immer bewusster, dass auch er nun weggeschlossen würde, zum Schutz vor sich selbst. Bevor Pfleger Clemens die Tür öffnete, erklärte er Markus, dass es nun Zeit war, sich von seinen Freunden zu verabschieden, denn Besuch hatte zu so später Stunde leider keinen Zutritt auf der Station.

Franziska und Henning nahmen Markus kurz in den Arm und bevor sie sich endgültig voneinander verabschiedeten, überreichte Henning Markus einen Rucksack mit Toilettenartikeln und etwas Wäsche, den er vor der Fahrt in die Klinik noch schnell für ihn gepackt hatte. Dann wünschten sie ihm alles Gute und betonten noch einmal, dass dies die richtige Entscheidung sei. Wenige Augenblicke später schloss sich die doppelt gesicherte Glastür hinter Markus. Noch einmal sah er zu seinen besten Freunden, die gerade in den Fahrstuhl stiegen und winkte ihnen ein letztes Mal zu. In diesem Moment konnte er noch nicht ahnen, dass er seinen besten Freund Henning nie wieder sehen würde.

Kaum hatte der Pfleger die Tür hinter sich zugeschlossen, zeigte er auf eine andere Tür und gab Markus zu verstehen, er möge schon einmal in den dahinterliegenden Aufnahmeraum gehen, wo sich zwei Schwestern um ihn kümmern würden. Gleichzeitig widmete er sich der summenden Patientin im Bademantel und erkundigte sich bei ihr, ob sie immer noch Honig suchen würde. Freundlich und in einem ruhigen Ton schlug er ihr vor, dass es vielleicht besser sei, wenn sie sich zu so später Stunde ins Bett legte, um sich auszuruhen. Auf diese Weise könne sie ihre Arbeit als Honigbiene am nächsten Tag mit neuer Kraft fortsetzen. Noch während er dies sagte, hüpfte sie zu Markus und versperrte ihm den Weg. Summend schaute sie ihn an, lächelte und stellte sich ihm als Maja, das fleißige Bienchen vor. Um die Bedeutung ihres Namens noch mehr hervorzuheben, summte sie im Anschluss etwas lauter. Dann fragte sie ihn, ob er vielleicht ihre geheime Schatzkammer sehen wolle, in der sie ganz viel Honig versteckt habe.

Glücklicherweise befreite Pfleger Clemens Markus aus dieser für ihn unangenehmen Situation, und obwohl er von den Tabletten, die er geschluckt hatte noch immer benommen war, registrierte er, auf welch´ clevere Art und Weise der Pfleger zuvor versucht hatte, die Patientin dazu zu bewegen, ihr Bett aufzusuchen. Gleichzeitig fragte er sich, ob er auch bald einen Spitznamen auf der Station haben würde.

Im Aufnahmeraum angekommen stellte Pfleger Clemens Markus seinen beiden Kolleginnen vor und überreichte ihnen den dünnen Ordner mit den wenigen Informationen, die sie über ihren neuen Patienten hatten. Sofort begannen diese mit der Aufnahme und verwickelten Markus in ein Gespräch. Behutsam erkundigten sie sich nach seinem Suizidversuch und erklärten ihm, dass er ihnen zu seiner eigenen Sicherheit seinen Gürtel, die Schnürsenkel und alle spitzen Gegenstände wie zum Beispiel Nagelschere oder Nagelpfeile aushändigen müsse, erst dann könne er auf sein Zimmer. Markus war froh darüber, dass es offensichtlich doch noch ein freies Bett in einem Zimmer gab, dass er aber seinen Gürtel und seine Schnürsenkel abgeben sollte, brachte ihn zum Schmunzeln. Dreißig Paracetamol-Tabletten hatten ihn nicht aus dem Leben reißen können und auch der Versuch, seinen Körper ausbluten zu lassen, war kläglich gescheitert. Nun sollten ihm seine alten und abgenutzten Schnürsenkel gefährlich werden?

Markus befolgte die Anweisungen der Schwestern und fand sich nur wenige Minuten später in einem Dreibettzimmer wieder, in dem ein äußerst unangenehmer Geruch lag. Seine beiden Zimmergenossen schliefen bereits tief und fest. Der Patient, der das Bett am Fenster hatte, lag laut schnarchend auf dem Bauch, seine Hose war soweit heruntergerissen, dass sein Gesäß komplett entblößt war und Markus schätzte sein Gewicht auf über 160 Kilogramm.

Der zweite Patient im mittleren Bett schlief seelenruhig und war von schlaksiger Statur. Erst als Markus damit begann, seine wenigen Sachen auszupacken, nahm er auch das Zimmer wahr, in dem er die kommende Nacht verbringen sollte. Es war unordentlich und kein Platz, an dem er sich normalerweise lange aufhalten wollte. Doch in Markus´ Leben war seit wenigen Stunden nichts mehr normal. Plötzlich wurde ihm das erste Mal bewusst, was passiert und wo er eigentlich gelandet war. Er hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, hatte seinen besten Freunden einen Riesenschreck eingejagt und befand sich nun mit zwei völlig fremden Menschen in einem Zimmer in der geschlossenen Psychiatrie.

Markus beglückwünschte sich selbst. Zwar musste er nicht wie erwartet auf dem Flur schlafen, wo ihn das fleißige Bienchen Maja sicherlich in den Schlaf gesummt hätte, doch teilen musste er sich sein Zimmer mit zwei Männern, die er aufgrund ihrer Körperformen spontan Stan Laurel & Oliver Hardy alias Dick und Doof getaufte hatte.

Wäre es nicht so traurig, hätte man fast darüber lachen können. Er, der einmal auf Filmpremieren gefeiert und begehrt wurde, über den schon in Magazinen wie BUNTE und Gala berichtet wurde, lag nun vergessen, unbeachtet und weggeschlossen in einer Klinik. Seine momentane Situation war eine Premiere ganz anderer Art, auf die ihn keiner seiner vielen Schauspiellehrer in all den Jahren vorbereitet hatte. Hier gab es nichts zu improvisieren, und kein Regisseur schrie, dass die gespielte Szene zwar gut sei, aber noch einmal gedreht werden müsse. In seine Gedanken vertieft, schloss Markus seine Augen, bis er nach einer Weile in einen tiefen Schlaf fiel. Einen Schlaf, aus dem er sich vor wenigen Stunden so sehr gewünscht hatte, nie wieder aufzuwachen.

Nach ein paar Stunden war es um sieben Uhr morgens mit der Nachtruhe auch schon wieder vorbei. Mit einem fröhlichen und lauten: “Guten Morgen!“ wurden Markus und seine beiden Zimmergenossen aus dem Schlaf gerissen. Die Schwester stellte sich ihm als Schwester Inge vor und erkundigte sich, ob er der nächtliche Neuzugang sei, was Markus bestätigte. Mit klarer lauter Stimme erklärte sie ihm, in welchem Raum er ab 7:30 Uhr sein Frühstück einnehmen könne und dass er gegen 9.30 Uhr einen Termin bei der Stationsärztin hatte, die im Anschluss entscheiden würde, wie es mit ihm weiterginge. Obwohl Markus noch damit beschäftigt war, seine Gedanken zu sortieren, erkundigte er sich sofort, ob er heute noch verlegt werde, denn auf der geschlossenen Station war er seiner Meinung nach ja nur gelandet, weil es in der letzten Nacht keinen freien Platz auf der offenen Station gegeben hatte. Schwester Inge erklärte ihm, dass sie erst zwischen 10:00 und 11:00 Uhr erfahren werde, ob es auf der Station eine Entlassung gebe. Allerdings könne es auch dort zu unvorhergesehenen Änderungen kommen. So könne es zum Beispiel passieren, dass es einem Patienten, der für eine Entlassung vorgesehen gewesen sei, plötzlich wieder schlechter ging und er somit weiterhin stationär behandelt werden müsse. Genauere Informationen bekomme sie also erst nach der Visite. Sie erinnerte Markus aber daran, dass er doch gerade erst angekommen sei und ihm der Aufenthalt hier auf der Station vielleicht auch gut tun würde. Markus wollte nicht glauben, was er da gerade hörte, noch eine Nacht bei den Verrückten und er würde selbst verrückt werden. Seiner Meinung nach war er ja gesund. Gut, er hatte versucht sich das Leben zu nehmen, aber dies geschah nur, weil er bankrott und nicht verrückt war, also lag kein Grund vor, ihn tagelang wegzuschließen. Während Schwester Inge und Markus miteinander sprachen, rührten sich nun auch seine beiden Mitpatienten. Der Übergewichtige, den Markus in der Nacht Oliver Hardy getauft hatte, wälzte sich aus seinem Bett, schnaufte und nahm weder von Schwester Inge noch von Markus Notiz. Schlurfend suchte er den Weg in Richtung Ausgang und reagierte auch nicht auf das freundliche “Guten Morgen Herr Klinger!“ von Schwester Inge. Nun konnte Markus ihn das erste Mal von vorne und in seiner vollen Statur sehen. Nicht nur, dass Oliver Hardy eine riesige Körperfülle zu tragen hatte, auch musste er fast zwei Meter groß sein. “Was für ein Hüne!“, dachte sich Markus und in Gedanken verabschiedete er sich von Oliver Hardy, von nun an würde er ihn Hulk nennen. In einem war sich Markus sicher, niemals wollte er Hulk des Nachts alleine auf der Straße begegnen.

Auch sein unmittelbarer Bettnachbar, den er Stan Laurel getauft hatte, erhob sich nun aus seinem Bett und begann sofort zu sprechen. “Der Bus kommt gleich, der Bus kommt gleich!“ hörte man ihn immer wieder sagen, während er mit devotem Gesichtsausdruck den Boden betrachtete. Schwester Inge schlug vor, dass er vor seiner Busfahrt noch frühstücken solle und er auch noch den nächsten Bus nehmen könne.

Er verließ den Raum, “Der Bus kommt gleich, der Bus kommt gleich!“ vor sich hinmurmelnd.

Als Schwester Inge und Markus allein im Zimmer waren, wünschte sie ihm für sein Frühstück einen guten Appetit und stellte fest, dass er sicherlich einen Bärenhunger habe, denn wenn es stimme, was in seinen Akten stehe, so müsse er seit fast drei Tage nichts mehr gegessen haben.

Markus war überrascht, offenbar hatte Schwester Inge schon einen Blick in seine Krankenakte geworfen und wusste alles über ihn. Und sie hatte recht, Markus´ Hunger war riesig, und so verließen beide das Zimmer.

Während die Schwester weiter ihrer Arbeit nachging, begab sich Markus in den Frühstücksraum, der sich am anderen Ende des langen Ganges befand. Der Weg dorthin führte ihn wieder vorbei an der Glastür, durch die er erst vor wenigen Stunden gekommen war, und in seiner Erinnerung sah er plötzlich Franziska und Henning, die er sofort nach dem Frühstück anrufen wollte.

“Hallo“, hörte er plötzlich jemanden neben sich sagen, “wollen wir zusammen frühstücken gehen? Ich habe auch frischen Honig.“ Markus schaute nach rechts, und da stand es direkt neben ihm, das fleißige Bienchen Maja.

Wie ein kleines Mädchen lächelte sie Markus an, immer noch oder schon wieder in demselben plüschigen Bademantel, den sie bereits in der Nacht zuvor getragen hatte. Markus fühlte sich überrumpelt, denn in seiner jetzigen Stimmungslage wollte er nur eines: Ruhe und allein sein. Auf keinen Fall hatte er Lust auf ein gemeinsames Frühstück mit einer fremden Person und schon gar nicht wollte er Small Talk über Honig führen. Am liebsten hätte er jetzt alleine in seiner Küche gefrühstückt, oder noch viel besser, in seinem eigenen Bett.

Stattdessen fand er sich in einem circa achtzig Quadratmeter großen Raum wieder, in dem mehrere Tische dicht aneinander gestellt waren, sodass jeweils zwölf Personen daran Platz fanden. Obwohl der Raum schon gut gefüllt war, sprach keiner der Patienten ein einziges Wort. Alle schienen in ihrer eigenen Welt zu leben, niemand achtete auf den anderen und während einer der Patienten wie in Trance nur auf seinen Teller starrte, bestrich ein anderer immer und immer wieder eine Scheibe Brot mit Margarine. Markus überlegte kurz, ob es wohl üblich war, die anderen Patienten beim Betreten des Raumes zu begrüßen. Da aber ohnehin nicht gesprochen wurde, entschied er sich dagegen, nahm ein Tablett mit vorportioniertem Frühstück und setzte sich an einen Tisch, an dem bislang nur zwei andere Patienten saßen. Beim Anblick der zwei Brötchen, der Scheibe Brot, des Wurstaufschnittes, der Marmelade und des Quarks bemerkte Markus erneut, wie hungrig er war. Schwester Inge hatte tatsächlich recht gehabt, fast drei Tage waren vergangen, an denen er keine Nahrung zu sich genommen hatte. Hungrig begann er zu frühstücken und während er aß, genoss er den Geschmack der süßen Marmelade und ließ die letzten Stunden erneut revuepassieren. Was um Gottes Willen hatte ihn nur hier her gebracht? Sofort wanderte sein Blick auf seinen linken Unterarm und den Handrücken. Erst jetzt fiel ihm auf, dass beide übersäht waren mit roten Flecken, die mit dünnem Schorf bedeckt waren. Erneut wurde ihm bewusst, dass er versucht hatte, seinen Körper ausbluten zu lassen. Immer und immer wieder hatte er in der alles verändernden Nacht die Nadel in eine andere Stelle seiner Vene gestochen, in der Hoffnung, dass sein Blut aus seinem Körper laufen und er auf diese Weise langsam und für immer einschlafen würde. Doch warum war sein Plan nicht aufgegangen? Warum hatte er die Nadel immer neu platzieren müssen? Aus Scham hätte Markus seinen Unterarm am liebsten mit einem Langarmpullover bedeckt. Da er aber nur mit einem T-Shirt bekleidet war, war dies nicht möglich, und so blieben die Spuren seines nächtlichen Suizidversuchs für alle sichtbar.

Während er beim Frühstück seinen Gedanken nachging, musterte er seine Mitpatienten und fragte sich, welches Schicksal sie wohl hatten und warum sie hier waren. Hatten sie etwa auch alle versucht, sich das Leben zu nehmen? Und warum saß ein junger Mann, der irgendwie gar nicht zu den anderen Patienten passen wollte, mit dem Hintern auf dem Tisch, aß nichts und hatte seinen Blick zu den anderen gewandt? Kaum hatte Markus sich diese Frage gestellt, konnte er sie auch schon beantworten. Er sah, dass neben dem jungen Mann ein Klemmbrett lag und sich an seinem Gürtel ein kleines schwarzes Gerät befand, dass offenbar ein Pieper war.

Nun wurde klar, dass der junge Mann kein Patient, sondern ein Pfleger war, dessen Aufgabe darin bestand, die Patienten und somit auch Markus beim Frühstück zu beaufsichtigen.

Plötzlich fühlte sich Markus noch unwohler. Nicht nur, dass er mit mindestens dreißig Verrückten auf der Station eingesperrt war, nun wurde er auch noch beim Frühstück beobachtet. Nein, er hatte zwar einen Suizidversuch hinter sich, aber hierher passte er seiner Meinung nach wirklich nicht. Er beschloss, gleich nach dem Frühstück das Gespräch mit einem Arzt, einem Psychiater oder irgendeinem Verantwortlichen zu suchen. Eines war für ihn klar, er musste so schnell wie möglich von dieser Station. Doch ginge das so einfach? Was, wenn man ihm eine Entlassung verweigerte? Er erinnerte sich daran, dass er sich in der Nacht selber eingewiesen hatte, also müsste er auch selbst entscheiden können, wann er die geschlossene Abteilung wieder verlassen konnte.

Nach dem Frühstück erkundigte sich Markus sofort nach einem Arzt. Von einer der Schwestern erfuhr er jedoch, dass er sich noch etwas gedulden müsse, da die Visite der Ärzte oftmals erst gegen neun Uhr begann. Sie bot aber an, sich schon einmal bei den Kollegen der offenen Psychiatrie zu erkundigen, ob dort ein Bett freigeworden sei. Da Entlassungen aber für gewöhnlich freitags stattfanden, machte sie Markus keine großen Hoffnungen. Mit einer Verlegung konnte er also frühestens in vier Tagen rechnen.

Markus verzweifelte, keinesfalls wollte er auch nur noch eine einzige Nacht zwischen all diesen summenden, lethargischen oder ausdruckslos in die Ferne schauenden Verrückten verbringen. Im Gegensatz zu seinen Mitpatienten war Markus nach eigener Einschätzung das blühende Leben. Auch wenn er es jetzt noch nicht war, spätesten in vier Tagen würde er ebenfalls verrückt sein und summend an der Wand stehen, immer denselben Satz vor sich hersagen oder irgendeiner anderen monotonen Beschäftigung nachgehen. Doch dann wäre es zu spät für ihn, dann könnte er auch gleich für immer hierbleiben! In Gedanken sah er Biene Maja vor sich, und wenn er eines garantiert nicht werden wollte, dann Majas bester Freund Willi! Innerlich musste Markus lachen, er, der große Schauspieler der Neunziger hatte die letzte Rolle seines Lebens angetreten. So wie Marie-Luise Marjan ihr Leben lang die Mutter Beimer in der ARD Serie Lindenstraße verkörperte, so würde er fortan den Willi auf der geschlossenen Psychiatrie spielen.

Nein, das durfte und sollte auf keinen Fall passieren. Auch wenn Markus noch vor wenigen Stunden aus dem Leben scheiden wollte, was ihm in seinen Augen leider nicht gelungen war, die geschlossene Psychiatrie war keinesfalls eine Alternative für ihn. Und als würden neue Lebenskräfte in ihm erwachen, begann er damit, das bevorstehende Gespräch mit den Psychiatern gedanklich durchzuspielen. Was musste er ihnen sagen, oder was würden sie hören wollen, damit sie seiner sofortigen Entlassung zustimmten?

Das Gespräch mit den Psychiatern erfolgte kurz vor dem Mittagessen und ergab, dass Markus kein Patient für die geschlossene Abteilung war. Nach einem gescheiterten Suizidversuch war es jedoch die Regel, dass Patienten dort zunächst für eine Nacht untergebracht wurden. So waren sie unter Beobachtung und am nächsten Tag konnte man gemeinsam darüber sprechen, welche Behandlung für den Patienten in Zukunft die beste sein würde.

Für Markus sahen die Psychiater die offene Psychiatrie vor, hier würde er eine Reihe von Therapien in Anspruch nehmen können, durfte sich frei bewegen, Besuch empfangen und an den Wochenenden sogar für eine Nacht zuhause schlafen. Auf diese Weise würde er den Kontakt zu seiner gewohnten Umgebung nicht verlieren.

Für Markus klang dieser Vorschlag zunächst so, als könne er sich damit arrangieren. Zwar hatte er überhaupt keine Vorstellungen davon, wie man ihm mit Therapien helfen könnte, denn seiner Ansicht nach war die beste Therapie ein Filmangebot mit mindestens zwanzig Drehtagen. Auf diese Weise hätte er auf einen Schlag so viel Geld verdient, dass ihn in finanzieller Hinsicht ein paar Sorgen weniger plagen würden. Da Markus aber nicht einmal ein Filmangebot für nur einen einzigen Tag hatte, beschloss er, sich auf das ganze “Projekt“ einzulassen. Als er jedoch erfuhr, dass so ein Aufenthalt mindestens sechs Wochen dauern würde, nahm er sofort wieder Abstand von der Idee. Es erschien ihm fast unmöglich, ganze sechs Wochen nicht für eventuelle Anrufe von Regisseuren, Produzenten oder Theatern erreichbar zu sein. Was, wenn man ihm genau jetzt ein Film- oder Theaterangebot machen würde?

Doch diese Gedankenspiele waren alles nur Luftschlösser, in der Realität gab es viel größere Probleme. Der gescheiterte Suizidversuch hatte auch dafür gesorgt, dass Markus vor einem neuen finanziellen Problem stand, das eigentlich binnen weniger Stunden gelöst werden musste. Es war der Erste des Monats und sein Dispo bei der Bank war bis zum Anschlag ausgeschöpft. Alle anfallenden Beträge für Miete, Strom, seinen Fitnessclub, Kranken-, Renten- und Unfallversicherung sowie der Rate für einen Kredit, betrugen monatlich circa zweitausend Euro und alle waren sie heute oder morgen fällig. Mangels Kontodeckung war jedoch abzusehen, dass alle Beträge zurückgebucht werden würden.