Manfred Hirschleb

Blutfehde

Ein Oberpfälzer Grenzland-Krimi

1

Frühjahr 1919, bayerisch-böhmische Grenze

Die Rabatzer hatten ganze Arbeit geleistet, um die Zöllner und Finanzerer auf beiden Seiten in die Irre zu führen und den Weg ins Böhmische für die Kolonne freizumachen. Das Pasch machte sich bereit.

»Kieben und Rucksäcke aufnehmen und auf geht‘s, Männer«, flüsterte ihr Anführer Josef Ganselhuber. Als Veteran hatte er das absolute Sagen, während die de Gunge, zumeist junge unerfahrene Pascher, die Lastenträger stellten. Tage zuvor hatten die Baldowerer die Route ausgekundschaftet. Die Gesichter rußgeschwärzt, nahmen sie Kieben und Rucksäcke auf und machten sich auf den Weg über die Grenze. Sie waren zu fünft. Neben Josef Ganselhuber, waren da noch Georg Draxler, ein weiterer Veteran, sein jüngerer Bruder Otto, Konrad Gruber und Anton Paa.

Der Vollmond warf lange Schatten an den Waldrändern, an denen sie sich beinahe unsichtbar entlang bewegten. Für gewöhnlich erfolgten ihre Touren bei Neumond, denn die Dunkelheit war ihr Verbündeter, doch dieses Mal wollten sie es andersherum versuchen, weil die bayerischen Zöllner nicht mit ihnen rechnen würden. Das heutige Geschäft wollten sie mit zwei korrupten Finanzern abschließen, wie sie die böhmischen Zöllner nannten. Was sie antrieb, war die Not der Menschen, hüben und drüben im Grenzgebiet, die ein karges Dasein fristeten, sodass das Schmuggeln für viele längst zur Überlebensstrategie geworden war.

Die Nacht war nicht wirklich still. Vereinzelt hörte man den Ruf einer Waldohreule, eines Waldkauzes oder den Todesschrei einer Marder- oder Fuchsbeute. Seit zwei Stunden waren sie unterwegs und kamen gut voran. Bis zum Treffpunkt war es nicht mehr weit. Vereinzelt waberten Nebelschwaden über die Lichtungen, an denen sie vorüberkamen. Stand äsendes Wild darauf, war das ein untrügliches Zeichen, dass keine Grenzer in der Nähe waren, sonst wäre es längst abgesprungen. Ihr Gepäck war voller Salz, Strümpfe und Uhren, die sie drüben gegen Zucker, Mehl, Tabak, Zigaretten und Schnaps tauschen wollten. Den Schmuggel mit Ochsen und Pferden betrieben die anderen Kolonnen. Fette Mastochsen ließen sich gut verkaufen, denn ihr Fleisch war in Prag begehrt; die robusten Ochsen aus dem Böhmischen hingegen waren für die hiesige Landwirtschaft besser geeignet. Man band ihnen Lappen um die Hufe, schickte einen Pascher mit einem mickrigen Tier voraus, der kontrolliert wurde und für Ablenkung sorgte, sodass die Kolonnen die Zöllner unbesorgt umgehen konnten.

Ursache für den Schmuggel waren die unterschiedlichen Zölle, die auf die Waren hüben wie drüben erhoben wurden. Zucker, Salz, Vieh, Pferde, Hüte, Schmalz, Mehl, Stoffe, Pelze, Petroleum, Tabak, Spitzen und Eisenwaren wurden getauscht und gewinnbringend weiterverkauft. Das Schmuggeln entlang der über 350 Kilometer langen bayerisch-böhmischen Grenze verschaffte den in bitterer Armut lebenden Menschen ein Zubrot und bewahrte die eine oder andere Familie vor dem Verhungern. Im Schönseer Land war der 23 Kilometer lange Sautreiberweg die am meisten benutzte Route, die entlang der Grenze von Rackenthal über Schönsee nach Schwarzach und weiter nach Weiding verlief. Sie hatten sich entschlossen, vom Eulenberg aus aufzubrechen. Das Gerstmeier Wirtshaus in Friedrichshäng, 20 Meter vom Schlagbaum entfernt, war ein beliebter Schmuggler-Treff, von dem aus sie ihre Touren starteten.

Sie hatten die Lichtung auf der Hochlohe erreicht. Misstrauisch geworden, stoppte Josef die Kolonne und sicherte die Umgebung. Nachtfeuchte hatte sich als glänzender Tau auf die Gräser und flachen Büsche gelegt, von denen leichter Dunst aufstieg. Der Mond tauchte die Lichtung in eine unwirkliche, gespenstische Atmosphäre. Aber wo waren die Böhm, mit denen sie verabredet waren?

Angestrengt beobachtete Josef den gegenüberliegenden Waldrand. »Ruhig bleiben, Leute, die werden schon kommen. In ein paar Stunden sind wir wieder zu Hause.« Er versuchte seine eigene Nervosität zu verbergen, schob den Hut nach hinten und strich sich über den Bart. Die Jungen hatten heute ihr Debüt und das sollte erfolgreich über die Bühne gehen.

Gerade wollte er sich an sie wenden, als er am gegenüberliegenden Waldrand das verabredete Zeichen sah: dreimaliges Blinken – einmal kurz, einmal lang und wieder kurz.

»Also, Leute, los geht‘s«, wandte er sich erleichtert an die Gruppe, denn die beiden Böhm kamen ihnen bereits entgegen.

Als sie die Mitte der Lichtung erreichten, wurden sie plötzlich angerufen: »Bleibt‘s sofort steh‘n und nehmt‘s de Händ‘ hoch!«

Otto, der neben Josef stand, griff sich voller Angst an die Brust, wollte den Trageriemen der Kiebe abstreifen, um schneller weglaufen zu können, doch im gleichen Augenblick zerriss ein ohrenbetäubender Knall die nächtliche Stille und Josef, der neben ihm stand, vernahm den dumpfen Einschlag der Kugel in dessen Körper.

Geistesgegenwärtig machte er kehrt und schrie: »Alle zurück! Zurück in den Wald!«

Wie von Furien gehetzt rannten sie los, zurück in den Schutz des Waldes, während ihnen die Kugeln um die Ohren flogen und sie mit Rindenfetzen und Aststückchen überschütteten.

Für den Fall, dass etwas schieflaufen sollte, hatten sie einen Fluchtpunkt vereinbart, wohin sich jeder auf eigene Faust durchschlagen sollte. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis sie sich dort auf der bayerischen Seite wieder alle einfanden. Völlig außer Atem und erschöpft ließen sie sich auf den Boden fallen. Die Gesichter der jungen Pascher waren noch immer von Schrecken und Unglauben gezeichnet. Sie saßen ratlos da und starrten vor sich hin.

Über Konrads Stirn zog sich eine blutige Schramme und jetzt, da die Gefahr vorüber war, spielten seine Nerven verrückt und er begann leise zu weinen.

Auch Georg hatte etwas abbekommen. Fluchend wischte er sich das Blut der aufgerissenen Augenbraue aus dem Auge. Von den Alten hatten sie gehört, dass gelegentlich jemand erwischt wurde, aber gleich auf einen Pascher schießen? Nein, so was kam äußerst selten vor.

»Was für eine gottverdammte Scheiße war das?«, keuchte Josef. »Wieso haben die Finanzerer auf uns geschossen, obwohl sie das verabredete Zeichen kannten? Die wollten uns wie die Hasen abknallen!« Langsam kam er wieder zu Atem. Voller Wut riss er sich den Hut vom Kopf und raufte sich die Haare. Aus seinem rußgeschwärzten Gesicht blitzte das Weiße in den Augen und ließ ihn wie einen wütenden Waldschrat aussehen. »Wir wurden verraten und Otto hat es erwischt, der ist bestimmt tot! Was ist? Hat jemand von euch eine Ahnung, warum die uns eine Falle gestellt haben?« Mit wutverzerrtem Gesicht schrie er die Jüngeren an: »Habt ihr im Suff im Wirtshaus geplaudert? Ja? Mit wem, verdammt noch mal?«

Erbost lief er von einem zum anderen und schaute jeden durchdringend an, aber in der aufkommenden Morgendämmerung sah er nur in betroffene und niedergeschlagene Gesichter. Alle schüttelten bedrückt die Köpfe. Niemand wollte glauben, dass es einen Verräter unter ihnen gab, und dennoch hatte man sie in eine Falle gelockt, das war nicht zu leugnen.

Georg Draxler saß schweigend da. Tränen und Blut hatten sein rußgeschwärztes Gesicht verschmiert und ließen ihn schrecklich aussehen. Ein tiefer Riss zog sich über seine Wange. Jetzt, wo sie in Sicherheit waren, wurde ihm bewusst, dass sein kleiner Bruder wahrscheinlich tot war und sein verhasster Rivale immer noch lebte. Wie konnte das nur passieren? Seine Trauer schlug in Wut um, denn so hatte er sich das nicht vorgestellt. Alles war bis ins kleinste Detail geplant gewesen. Jetzt musste er aber erst mal den Schein wahren, damit kein Verdacht auf ihn fiel. Er stand auf, ging reihum und schaute jeden wütend an, um schließlich vor Josef stehenzubleiben. Er fuhr ihn an: »Das kann nur einer von uns gewesen sein! Und eines sage ich dir, wenn ich herausfinde, wer das war, werde ich ihn eigenhändig umbringen.«

Irritiert über diesen Wutausbruch, versuchte Josef, zu schlichten: »Beruhig dich, Schorsch, ich werde es herausfinden und Gnade Gott …«

Ihre persönlichen Rivalitäten hatten hier nichts zu suchen. Hier ging es ums Geschäft und als Anführer ihrer Gruppe musste er sie beruhigen. Irgendwelche Drohungen waren völlig fehl am Platze. Möglicherweise ließ sich später herausfinden, was heute genau passiert war. Aber da war dieses unbestimmte Gefühl, das sich ihm mit Gewalt aufdrängte Hier war Verrat im Spiel! Aber wieso ausgerechnet der kleine Draxler? Oder sollten sie sogar alle erledigt werden? Warum? Nur eines war sicher: Sie hatten einen Verräter in ihrer Mitte!

Anton, der junge de Gunge, wusste, wer der Verräter war, wie er heimlich hinterm Gerstmeier Wirtshaus am Eulenberg mit dem Zöllner Kohlmeier getuschelt hatte. Obwohl viele Stunden Fußweg von Kirchbichl entfernt, war die Kneipe für ihr Vorhaben am besten geeignet. Natürlich kannten auch die Zöllner die meisten Schmugglerpfade, nur wann die Kolonnen aufbrachen, das wussten sie nicht. Manchmal machten sie die Zöllner betrunken und erfuhren von ihnen, wo und wann die Patrouillen unterwegs sein würden. Ganz dreiste Pascher machten sie sogar betrunken, bis sie einschliefen, nahmen ihnen die Mäntel ab und bemächtigten sich ihrer Pferde. Nach ihrer Rückkehr schliefen die Zöllner immer noch ihren Rausch aus. Das funktionierte aber auch nur deshalb, weil die meisten Zöllner aus den umliegenden Dörfern stammten und sie sich mehr oder minder alle untereinander kannten.

Das war vor einer Woche. Anton war zum Pinkeln nach draußen gegangen, als er die beiden unfreiwillig hinterm Haus belauscht hatte. Obwohl er nicht alles verstand, nur Wortfetzen wie Hochlohe oder Ganselhuber, wusste er sofort, dass es dabei um ihre heutige Tour ging. Das es um Verrat ging, ging damals im Suff unter. Doch jetzt befiel ihn Angst und er begann zu zittern, weil er um sein Leben fürchtete. Es war unglaublich, wie der Verräter sich verstellen und jeden Verdacht von sich lenken konnte.

Anton wurde klar, dass der Kohlmeier am Verrat beteiligt war und eine Absprache mit den Finanzern getroffen hatte, andernfalls hätten die bayerischen Zöllner oder die Böhm sie abgefangen. Also schwieg er und schaute verschämt zu Boden. Er wusste nicht, dass es um eine Frau ging. Mit seinen 16 Jahren verstand er nicht viel von der Liebe und den Irrungen und Wirrungen, die sie mit sich bringen konnte. Auch nicht, dass jemand aus Eifersucht zu einem Mord fähig sein könnte. Nur eines wusste er: Wenn er jetzt den Verräter entlarvte, käme das einer Katastrophe gleich. Sie würden ihn beschuldigen, den Tod von Otto durch sein Schweigen mitverschuldet zu haben. Nicht auszudenken, was sie mit ihm machen würden, geschweige denn mit dem Verräter, und da ihn die Angst nach wie vor eisern im Würgegriff hielt, schwieg er. Der Gedanke, dass Otto tot sein könnte und er allein schuld war, schmerzte und stürzte ihn in einen schweren Gewissenskonflikt, weil sie seit Kindertagen Freunde waren. War er an seinem Tod schuld? Nein, er durfte nichts sagen, denn das musste er erst mit sich ganz alleine ausmachen.

Als Pascher waren sie durchorganisiert und es herrschten strenge Regeln. Es gab einen Ehrenkodex, den niemand zu verletzen wagte. Der Name Pasch oder Padd leitet sich davon ab, dass ausgewürfelt wurde, wer wann und wo auf Schmuggeltour mitgehen durfte. Normalerweise waren die Kolonnen wesentlich größer. Da die Zeiten immer schlechter wurden und die großen Kolonnen es zunehmend schwerer hatten, den Grenzern auf beiden Seiten auszuweichen, hatte Josef sich entschlossen, diesen Gang zu fünft durchzuziehen. Er wollte nicht, dass seine Gruppe zerfiel, aber Verrat in den eigenen Reihen? Nein, das ging gar nicht. Jetzt musste er dafür sorgen, dass sie alle irgendwie heil aus der Sache herauskamen.

»Wir können nicht wieder zurück und nachschauen, ob Otto noch lebt. Die Finanzerer haben ihn garantiert mitgenommen«, meinte Josef. »Wir sollten jetzt aufbrechen und erst mal alle nach Hause gehen. Ist das klar?«, fragte er reihum. »Außerdem können wir im Moment nichts ausrichten.« Indem er seine Autorität als Chef herauskehrte, konnte er seine eigene Verunsicherung vor den anderen verbergen. Nichts war schlimmer, als wenn er das Vertrauen seiner Gruppe verlieren würde.

»Und wann erfahren wir, was mit Otto tatsächlich passiert ist?«, murmelte Anton und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Krampfhaft versuchte er, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen. Die Hände hatte er in den Rucksack verkrallt und der Druck auf der Blase verstärkte sein Schwitzen. Es fehlte nicht viel und er hätte sich eingepisst. Aus den Augenwinkel heraus schaute er zu Konrad, der noch immer am ganzen Körper zitterte und sich ständig über die blutige Stirn fuhr. Schrecklich sah der Junge aus.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht erfahren wir etwas von den anderen drüben. Bis dahin warten wir ab. Wir treffen uns nächste Woche wieder hier. Und du, Georg, hast zu Hause einige Fragen zu beantworten. Nicht nur, wo dein Bruder abgeblieben ist, sondern auch über die Tauschwaren, die verloren sind. Wenigstens haben wir die unseren noch.« Es tat ihm leid, so harte Worte zu gebrauchen, deswegen meinte er noch: »Vielleicht lebt dein Bruder und liegt irgendwo verletzt auf einer Krankenstation beim Böhm.«

Er wusste jedoch genau, dass Otto tödlich getroffen war. Dieser Gesichtsausdruck, als ihn die Kugel erwischte und er selbst im Begriff war, dem anschließenden Kugelhagel zu entkommen, sprach für sich. Otto war tot! Trotzdem … es blieb dieses kleine Fünkchen Hoffnung.

»Also, auf geht‘s und zu niemandem ein Wort.«

Mühsam erhoben sie sich, klopften den Schmutz aus den Kleidern und machten sich auf den Weg. Der Morgen hatte die Dämmerung vertrieben und die Sonne ließ bereits Bodennebel aufsteigen, der sich alsbald in den Baumwipfeln verfing, während die Vögel den neuen Tag mit ihrem fröhlichen Gezwitscher begrüßten.

Sommer 1919

»Warum wolltet ihr sie alle umbringen? Das war gegen die Abmachung«, fragte Edwin.

Sie standen sich gegenüber, die Finanzerer Gassinger und Eissner, sowie Edwin, der gerade ein Geldbündel in Tasche steckte.

»Du hast deinen Anteil. Und wer sagt denn, dass wir alle umbringen wollten? Leider haben wir nur einen von beiden erwischt. Der andere war zu schnell und dann wollten wir der ganzen Bande noch einen ordentlichen Schrecken einjagen. Hätten wir alle erledigen wollen, wären sie längst tot. Also, was willst du noch? Die Sache ist erledigt und du hast doch dein Geld oder? Jetzt hau einfach ab.«

Selbstgefällig wandten sie sich zum Gehen.

»Stopp!«, rief er ihnen nach. »Ihr habt den Falschen erwischt!«

Abrupt hielten sie inne und drehten sich um. »Was soll das heißen, den Falschen erwischt?«, fragte Eissner.

»Na den Falschen halt. Anstatt die beiden Alten zu erledigen, habt ihr einen der Jungen erschossen. Sein Bruder, mit dem ich die Abmachung getroffen habe, wird zwei und zwei zusammenzählen. Wenn er dahinterkommt, wer ihr seid, wird er sich rächen und bei mir wird er damit anfangen. Wie ich ihn kenne, wird er herausfinden, wer ihr seid, dann geht’s euch auch an den Kragen.« Er hielt kurz inne, um in ihren Gesichtern zu lesen, und setzte nach: »Das ist ein ganz harter Bursche und kennt sich hier an der Grenze bestens aus. Ich habe Angst und die solltet ihr auch haben. Ihr hättet besser ihn erschossen.«

Mit Genugtuung bemerkte er ihre Verunsicherung und wie die Überheblichkeit für einen kurzen Moment aus ihren Mienen verschwand, was aber nicht lange anhielt, denn sofort zeigte sich wieder die Arroganz der böhmischen Beamten.

»Glaubst du, dass wir deswegen Angst haben? Wer ist schon dieser Bauernlümmel, hm? Nur ein verdammter Pascher, der aus Eifersucht seine eigenen Leute verpfiffen hat. Im Grunde ein Mörder, mehr nicht. Für uns hat sich das kaum gelohnt. Sollten wir ihn jemals auf unserer Seite erwischen, geht er für Jahre ins Gefängnis oder wir erschießen ihn gleich, dann hat die liebe Seel a Ruh«, meinte Oswald, der ältere der beiden. »Und jetzt hau ab, für uns ist die Sache erledigt.«

Sie wandten sich um und ließen ihn einfach stehen. »Seid euch nur nicht zu sicher und sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt. Und was ist mit dem Jungen? Was habt ihr mit ihm gemacht?«, rief er ihnen noch nach.

Doch sie winkten ab und waren kurz darauf im Wald verschwunden. Trotz ihrer Überheblichkeit hatte er das kurze Aufblitzen und die Angst in ihren Augen jedoch gesehen.

Frustriert machte er sich auf den Heimweg. Er dachte an seinen Verrat, an das Doppelspiel und dass er nicht teilen wollte. Die Finanzerer würden ihn am Gewinn der Waren und dem Blutgeld, welches Georg bezahlt hatte, beteiligen. Georg ging es ja nur darum, seinen Nebenbuhler loszuwerden. Sie sollten aber nicht nur Josef, sondern Georg gleich mitbeseitigen. Das war sein Plan! Stattdessen musste der kleine Otto dran glauben und nun fühlte er sich schuldig; der Junge hätte sein ganzes Leben noch vor sich gehabt. Ihm war klar, dass sein Bruder, dass nicht hinnehmen würde. Ab jetzt war er ein Gejagter und hatte keinerlei Gnade zu erwarten.

Allein der Gedanke daran trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Er wollte nicht sterben und schon gar nicht, nachdem er es endlich geschafft hatte. Das Glück, aus diesen verdammten Krieg heil zurückgekehrt und nicht wie Millionen seiner Kameraden auf den Schlachtfeldern umgekommen zu sein, ließ ihn auch an jene denken, die an Leib und Seele verstümmelt und vom Vaterland sich selbst überlassen wurden. Mit am Schlimmsten traf es die sogenannten Kriegszitterer oder Schüttelneurotiker, die von den Nervenärzten als Simulanten abgestempelt wurden. Viele Kriegsheimkehrer drifteten ins Asoziale ab, wurden obdachlos und Trinker oder alles zusammen. Er nicht. Bereits vor dem Krieg war er Zöllner und glühender Monarchist. Als sein geliebter Kaiser die Mobilmachung ausrief, gehörte er mit zu den Ersten, die voller Enthusiasmus in die Schlacht zogen. Jahre sinnlosen Sterbens hatten ihn aber desillusioniert; nachts hörte er immer noch die Einschläge der Granaten und die Schreie seiner sterbenden Kameraden im Schützengraben. Am Schlimmsten waren die unmenschlichen Schreie, wenn das Senfgas ihre Augen und Lungen verätzte. Als er aus dem Krieg zurückgekehrt und das Haus verlassen vorgefunden hatte – ohne Abschiedsbrief oder sonst ein Lebenszeichen von ihr –, musste er von den Nachbarn erfahren, dass sie, kurz vor Kriegsende, mit einem anderen durchgebrannt war. Warum hatte sie nicht gewartet? Anfangs schrieben sie sich noch Briefe und als die ihren schließlich ausblieben, schöpfte er noch immer keinen Verdacht. Und wenn, wie beinahe jeden Tag, das Trommelfeuer einsetzte und die Granaten ringsum einschlugen, sie mit Dreck und Schrapnell-Splittern überschüttet wurden, machte er sich im Schützengraben ganz klein und wartete auf das Ende des Beschusses. Blieb der Befehl des Kommandeurs zum Angriff aus, weil die Giftgasschwaden übers Schlachtfeld und durch die Gräben waberten, zog er ihr Bild aus der Tasche und starrte durch die verschmierten Sicht-Gläser seiner Gasmaske auf seine geliebte Irmi: Wie sehr er sie doch liebte und wie fern sie war. Würde er sie je wiedersehen? Und dann geschah das Wunder: Plötzlich war der Krieg zu Ende, der Kaiser dankte ab, ging ins Exil und er hatte überlebt!

Als preußischer Beamter durfte er wieder als Zöllner arbeiten, was er als sein gutes Recht empfand, hatte er doch für sein Vaterland die Knochen hingehalten. Aber die Bestie Krieg hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen und so war es nicht verwunderlich, dass er versuchte, mit Alkohol die Dämonen zu verscheuchen, die ihn besonders in der Nacht heimsuchten. Und irgendwann begann er die Welt mit anderen Augen zu sehen: Er hatte für sein Vaterland gekämpft, aber nichts, rein gar nichts hatte es ihm zurückgegeben. Nichts hatte sich zum Besseren gewendet und von seinem Salär konnte er mehr schlecht als recht leben. Er war der festen Meinung, ein besseres Leben verdient zu haben, und dafür war ihm nun jedes Mittel recht. Mit zunehmender Trinkerei setzte bei ihm eine Wesensveränderung ein; er ließ sich nicht nur korrumpieren und gab den Paschern wertvolle Hinweise über die laufenden Grenzkontrollen, er wurde auch immer gieriger.

Doch nun hatte er sich auf etwas eingelassen, von dem er nicht wusste, wie er da wieder herauskommen sollte. Es hatte ihn gestört, in Georg einen Mitwisser zu haben, also hatte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen und ihn gleich mitbeseitigen lassen. Doch jetzt war alles aus dem Ruder gelaufen und wenn er an Georgs Rache dachte, überfiel ihn schlagartig Beklemmung, schnürte ihm die Kehle zu. Auf Dauer konnte er ihm nicht davonlaufen; auch wenn er sich versetzen ließe, würde Georg ihn finden. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was der mit ihm machen würde! Er sah nur einen Ausweg: ihm zuvorkommen und ihn beseitigen, bevor er ihn erwischte. Doch so einfach war das nicht, denn leider war Edwin ein Feigling.

***

Er genoss die wärmenden Strahlen der untergehenden Sonne hier am idyllisch gelegenen Sperl-Weiher, einem kleinen aber beliebten Badesee an der Landstraße zwischen Moosbach und Pleystein. Auf der Ostseite, vom Waldrand zum See hinunter, befand sich eine Wiese, die am Ufer in einem kleinen Sandstrand auslief. Das fröhliche Geschrei der Jungs, die sich von der hölzernen Plattform in der Mitte des Sees ins Wasser stürzten, um den Mädels zu imponieren, klang bis zu ihm herüber. Es ging auf den Abend zu und nachdem die Sonne hinter den Bäumen verschwunden war, kühlte es merklich ab, sodass die Hitze ein erträgliches Maß erreichte.

Er hatte gar nicht bemerkt, dass die meisten Kinder bereits verschwunden waren, da ihn die Müdigkeit zu übermannen drohte. Die Arme hinter dem Kopf gab er sich seinen Erinnerungen hin: wie sie hier vor dem Krieg wundervolle Stunden verbracht und wie sehr sie sich geliebt hatten. Er sah sie lachend und fröhlich winkend aus dem Wasser springen, wie sie ihren Kopf schüttelte und die Tropfen von ihren Haaren davonsprühten, sodass sich im Sonnenlicht tausende glitzernder Perlen wie eine Korona um ihr Haupt legten, sah die wundervollen Proportionen ihrer makellosen Figur, die seine Sinne stets aufs Neue anzustacheln vermochte, oder erinnerte sich daran, wie sie im nahegelegenen Wald verschwanden, um sich ihrer Lust hinzugeben. Irmgard liebte diesen abgelegenen Weiher, dieses Kleinod inmitten der Natur des Oberpfälzer Waldes. Er war hierhergekommen, um die Vergangenheit noch einmal auferstehen zu lassen, denn es waren die wenigen glücklichen Momente in seinem Leben, an die er mit Wehmut zurückdachte. Obwohl er sie verloren hatte, liebte er sie nach wie vor und es schmerzte noch immer, wenn er an sie dachte.

Die letzten Kinder waren nun gegangen und die Wiese gehörte ihm alleine. Er lag auf der Decke und blinzelte in den abendlichen Himmel, der sich langsam zu verfärben begann, in ein wundervolles Abendrot überging und einen herrlich sonnigen nächsten Tag versprach. Der laute Gesang der Amseln hörte sich an, als wollten sie schon zur Nachtruhe rufen.

Er musste eingeschlafen sein. Ein fürchterlicher Schmerz ließ ihn aufschrecken, raubte ihm beinahe die Sinne. Er wollte sich aufrichten, aber eine Hand über seinem Mund, die seinen Schrei erstickte, drückte ihn zurück. Dass Messer, dass sich in seinen rechten Oberbauch gebohrt hatte, konnte er nur erahnen.

Der Schmerz ließ etwas nach.

»Pssst … bleib ganz ruhig liegen, dann tut es fast gar nicht weh«, hörte er eine Stimme flüstern.

Er wollte etwas sagen, aber die Hand auf seinem Mund unterdrückte die Worte. Das Messer wurde ein wenig in der Wunde gedreht, sodass erneut Schmerz durch seine Gedärme jagte. Dann ließ der Schmerz wieder nach.

Er blieb ruhig liegen. Er konnte seinen Peiniger nicht sehen, aber die Stimme würde er unter Tausenden wiedererkennen. Es war also so weit …

Georg nahm die Hand weg. »Wenn du schreist, schneide ich dir die Kehle durch!«, zischte er.

Edwin drehte seinen Kopf. Als er in die eiskalten mitleidlosen Augen Georgs blickte, wusste er, dass er heute sterben würde. Warum nur hatte er ihn nicht umgebracht, als er noch Gelegenheit dazu hatte? Jetzt war es zu spät und er würde für seinen Verrat bezahlen müssen. Aber noch lebte er und vielleicht ließ er ihn laufen, wenn er die ganze Wahrheit erzählte? Verzweifelt klammerte er sich an diese Hoffnung.

»Ihre Namen, Edwin?«, sagte Georg nun ruhig. »Gib mir ihre Namen und du wirst kaum Schmerzen erleiden. Du wirst ganz langsam einschlafen. Versprochen. Aber ich kann auch dafür sorgen, dass du unter grässlichen Schmerzen elendig verreckst. Also?«

Ihm war klar, dass Georg nicht spasste. »Gassinger und Eissner«, presste er hervor, »zwei Finanzerer aus Wenzelsdorf, beim Böhm drüben.«

»Warum wurde Otto erschossen und Josef verschont?«, spie er ihm die Frage ins Gesicht, »und wieso wollten die uns alle abknallen? Und sag ja nicht, das würde nicht stimmen.«

»Sie dachten, Otto wollte zur Waffe greifen, und dann ging alles zu schnell. Es war ein Versehen, Georg, dass musst du mir glauben.«

»Nein, nein, ich glaube, das war ganz anders, Edwin.« Er drehte das Messer etwas, dass in Edwins Leber steckte.

Als der fürchterliche Schmerz in seinen Eingeweiden etwas nachgelassen hatte, sprudelten die Worte nur so aus Edwin heraus: dass die Zöllner sie beide töten sollten, aber das Ganze aus dem Ruder gelaufen ist, dass er ein Doppelspiel gespielt hatte und zur Hälfte am Gewinn beteiligt war. Und wieder bohrte sich der Schmerz in Gehirn und Därme, sodass er sich in die Hose pisste. Jedes Mal, wenn sich das Messer drehte, zerriss weiteres Gewebe und füllte den Bauchraum mit noch mehr Blut. Schließlich wurde ihm schummrig und sein Blick begann sich zu trüben, sodass er seine Umgebung wie durch einen Schleier wahrnahm. Edwin wurde unsäglich müde. Bevor er vollends das Bewusstsein verlor, presste er mühsam hervor: »Das mit deinem Bruder habe ich nicht gewollt … es tut mir wirklich leid.« Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er tauchte ein in eine Dunkelheit, die alles auslöschte, was er in seinem Leben an Unrecht begangen hatte.

Winter 1919

Seit Stunden schneite es und erschwerte sein Vorwärtskommen weil er, trotz Skier, mit jedem Schritt tief im Schnee einsank. Aber das war ihm egal. Die Vorfreude trieb ihn an, denn endlich hatte er in Erfahrung gebracht, welche Route die beiden Finanzerer heute nehmen würden. Dafür hatte er Wochen gebraucht und sein Ziel rückte endlich in erreichbare Nähe: Rache für Otto! Doch er brauchte klare Sicht für sein Vorhaben, stattdessen fegte der Wind Schneebatzen von den Ästen und füllte die Luft mit herumwirbelnden Eiskristallen. Endlich hatte er die Stelle erreicht, die er vor Tagen ausgekundschaftet hatte und wo er auf sie warten würde. Er schnallte die Skier ab, warf den Rucksack vor sich in den Schnee, nahm die Mauser von der Schulter und wickelte sie aus dem Stofffutteral. In seinen dicken Lodenmantel gehüllt und den Hut tief in die Stirn gezogen, trotzte er der klirrenden Kälte, die in seine Glieder kriechen wollte. Immer wieder prüfte er das Schussfeld und die auf dem Rucksack aufgelegte Mauser. War er einem Irrtum aufgesessen? Hatte ihm Franz Hupka eine falsche Information gegeben? Lag er umsonst hier in dieser Eiseskälte?

Franz Hupka, ein böhmischer Pascher, hatte sich im dichten Nebel verirrt und mit Mühe und Not das Wirtshaus auf der bayerischen Seite gefunden, wo sie sich kennenlernten und ins Gespräch kamen. War es Schicksal, dass sie sich getroffen hatten und sogleich sympathisch fanden? Franz war vor dem Krieg schon Pascher und als man ihn eingezogen hatte, musste er in den fürchterlichen Gebirgsschlachten in den Dolomiten gegen die Katzelmacher, die Italiener kämpfen. Er hatte Glück im Unglück und wurde verwundet, sodass ihm das Schicksal der beinahe 200.000 toten Soldaten auf beiden Seiten erspart blieb. Nach dem Krieg kehrte er auf den elterlichen Hof im Grenzgebiet zurück. Mit dem Paschen sicherte er das Überleben seiner Familie. Einen Beruf hatte er nie erlernt, aber er war ein mit allen Wassern gewaschener Tausendsassa, der sich neben der Landwirtschaft noch mit Hilfsarbeiten durchs Leben schlug. Aber das Paschen war und blieb seine Leidenschaft. Nach einigen Bieren und Schnäpsen hatte Georg ihm seine Geschichte erzählt, von dem Verräter und den Mördern seines Bruders. Da sich Franz mit den Gewohnheiten der Finanzerer gut auskannte, versprach er, die notwendigen Informationen zu beschaffen. Schnell entwickelten sich freundschaftliche Gefühle zwischen ihnen, kamen sie doch aus ähnlichen Verhältnissen. Sie versprachen sich unter anderem zukünftig gute Geschäfte. Dass Georg ursprünglich die treibende Kraft hinter dem Verrat war, den er nun rächen wollte, verschwieg er natürlich.

Georg war beinahe geneigt aufzugeben, als er die dunklen Schemen zwischen den verschneiten Bäumen wahrnahm. Man sah ihnen an, dass sie bereits einige Zeit unterwegs waren und der Neuschnee ihnen arg zusetzte. Sie gingen hintereinander, wobei der Erste die Gegend nach frischen Spuren absuchte. Zwischenzeitlich blieben sie stehen, um zu verschnaufen. Es herrschte gespenstische, beinahe unirdische Stille im Wald, das lediglich vom Herunterplumpsen dicker Schneebatzen unterbrochen wurde, die zu schwer wurden. Es schneite noch immer und dicke Flocken dämpften jedes Geräusch.

Georg zog die Handschuhe aus, entfernte den Mündungsschoner und schaute durchs Zielfernrohr, bis das Fadenkreuz auf dem Kopf des Vordermannes zu stehen kam. Endlich! Es war soweit. Plötzlich begannen nicht nur seine Hände zu zittern, es beutelte ihn förmlich und fühlte sich an wie Schussfieber, wenn er beim Wildern urplötzlich seines ersehnten Stück Wilds ansichtig wurde. In solchen Momenten war er nicht in der Lage, sein Ziel zu treffen. Dagegen half nur eine Atemtechnik, um wieder eine ruhige Hand zu bekommen.

Einen kurzen Moment hielt er inne, um sich zu sammeln. Ihm war bewusst, dass er präzise und schnell sein musste, wollte er Erfolg haben, denn er brauchte das Überraschungsmoment für den schnellen zweiten Schuss. Auf keinen Fall durfte er danach den zweiten Finanzerer verfehlen. Obwohl er sie nicht persönlich kannte und auch nur eine vage Beschreibung der beiden hatte, hoffte er inständig, dass sie es waren und sich Franz nicht geirrt hatte. Die aufkommenden Zweifel schob er einfach beiseite, sie mussten es sein! Viel zu lange hatte er auf diesen Moment warten müssen und manches Mal wollte er sein Vorhaben schon aufgeben – bis er Hupka kennenlernte. War das Vorsehung? fragte er sich.

Dann war es soweit. Er atmete dreimal tief ein und aus und flüsterte: »Für dich, Otto.« Er krümmte den Finger.

Die Kugel durchschlug den Kopf, sodass auf der Austrittsseite eine Fontäne aus Knochensplittern, Blut und Gehirnmasse in den Schnee spritzte und der Finanzerer umgerissen wurde. Die Schrecksekunde ausnutzend legte er sofort auf den anderen an, der noch vor Schreck gelähmt da stand. Schon fiel der nächste Schuss. Georg hielt den Atem an. Als der zweite Finanzerer langsam in sich zusammensackte, wagte er es auszuatmen und verließ sein Versteck. Er musste sich überzeugen, dass die beiden tot waren, andernfalls hätte er keine Ruhe gefunden.

Es war kein schöner Anblick, als er in die toten Augen der Mörder seines Bruders blickte, während sich der Schnee um ihren Köpfen rot färbte, doch fühlte er sich befreit – befreit von der Last des Rachedurstes, der ihn so lange gequält und nun endlich ein Ende gefunden hatte. Der Verräter und die Mörder waren tot.

Aber noch war er nicht fertig, denn da gab es noch jemanden …