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Michael Böhm / Dieter Hentzschel

Dinner mit Elch

Kriminalroman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von den Autoren nicht beabsichtigt.

Copyright © 2018 by Edition 211, ein Imprint vom Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Martina Kuscheck

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

Satz/Layout/Covergestaltung: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Titelmotiv: Pixelio

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-109-6

www.bookspot.de

Zitat

Er war von je ein Bösewicht,
Ihn traf des Himmels Strafgericht.

Aus der Oper »Der Freischütz«

FREITAG

1

Wirklichkeit oder Märchenland?

Ohne zu überlegen, entschied sich Göran für das Märchenland, weil dort bekanntlich Wünsche erfüllt werden. Vor seinem inneren Auge bewegte sich ein lockendes Trugbild, eine Fata Morgana erotischer Spiele. Seine Vorstellung gaukelte ihm für das Wochenende in den schönsten Farben die Erfüllung seiner geheimen Wünsche vor. Keinen Gedanken verschwendete er daran, dass er die nahe Zukunft viel zu bunt ausmalen, die Zukunft nur ein zartes Gespinst sein könnte. Er war also noch völlig ahnungslos, wie die nächsten Tage verlaufen würden.

Seinen Geländewagen hatte er vor dem Blockhaus abgestellt und war im dämmrigen Grau des frühen Nachmittags zuerst durch den tiefen Schnee zum Anbau gestapft. Im Schein einer Lampe hatte er den Generator überprüft, gestartet und nach kurzer Wartezeit den Schalter für den Strom umgelegt. Dann hatte er durch die Hintertür das Haus betreten, das Licht eingeschaltet, einen ersten Rundgang gemacht. Anschließend brachte er in einem großen Korb Holz herein, heizte den Kamin im Wohnraum, die Öfen unten und in der oberen Etage sowie im Anbau, danach klappte er von außen die Läden auf. Schaute einen Moment in den dichten Wirbel der Schneeflocken. Die ganze Zeit bastelte er sich bester Laune als Regisseur fantasievolle Szenen mit Nadja zurecht. Nadja, die Freundin Eriks, des freien Mitarbeiters ihrer Werbeagentur, spielte die Hauptrolle in seinem fiktiven Drehbuch. Wenn er diese aparte, für ihn so erregende, attraktive Frau sah, dann wurde ihm jedes Mal ganz anders. Sein Verlangen hatte weitere Nahrung bekommen, als sie ihm neulich auf eine verdammt zweideutige Art zulächelte. Falls dieser Blick ihrer schrägen grünen Katzenaugen keine Einladung war, dann verstand er nichts mehr von Frauen. Was ihn bisher auf Abstand zu Nadja gehalten hatte, war allein die niedrige Mauer der Liaison zwischen ihr und Erik. Aber an diesem Wochenende würde sich die Gelegenheit bieten, klare Verhältnisse zu bekommen; er, Göran, würde auf seine Art Klarheit schaffen. Darum war er auf Olovs Vorschlag, mitzufahren überhaupt eingegangen.

Mit seinem schweren Wagen hatte es bei der Herfahrt keine Probleme gegeben. Gut, er durfte den Fuß nicht zu stark und zu lange auf dem Gaspedal stehen lassen (wie es seine Stimmung eigentlich verlangt hätte), denn das Schneetreiben war doch zu heftig, die Sicht zu schlecht. Die ruhige Verkehrslage war bei diesem Wetter allerdings ein willkommener Umstand. Seit er losgefahren war, also seit gut 100 Kilometern, waren ihm gerade mal vier Autos entgegengekommen. Ein Wagen war ziemlich lange hinter ihm hergefahren, bis die Scheinwerfer, als er wieder mal in den Rückspiegel blickte, plötzlich nicht mehr zu sehen waren. Jetzt auf den Landstraßen unterwegs zu sein, war keine wirklich wahre Freude. Der Schnee reflektierte das Licht und jetzt im Winter war es zumeist ohnehin fast dunkel, zudem tanzten die weißen Flocken vor einem bläulichen Samtvorhang. Endlich hatte er dann den kleinen Ort erreicht, war also fast an seinem Ziel, rollte durch die menschenleeren Straßen, die Straßenlaternen hatten eine gelbliche Korona, und nahe der einzigen Kreuzung stand ein Streifenwagen vor einer Drogerie. Nicht weit entfernt von den letzten Häusern erstreckte sich rechts voraus der See, auf dessen gegenüberliegender Seite das Blockhaus nahe am Ufer stand. Wenn er nach wenigen Kilometern links die hohe Hecke erkennen würde – sie wirkte bei diesem Licht regelrecht wie eine schwarze Mauer, hinter der sich der alte Lappenfriedhof versteckte – musste er nach rechts in den Weg einbiegen. Er gab sich selbst den Befehl, im Schritttempo vorwärts zu rollen, was so gar nicht seiner Natur entsprach, aber er wollte nun mal die Zufahrt nicht verpassen. Auf dem Weg half ihm der Vierradantrieb, der den schweren Wagen sicher durch den recht hohen Schnee pflügte, während sich rechts und links der Wald hinzog.

Einen Augenblick lang blieb er noch in der Tür stehen, nachdem er die vier Kisten mit Lebensmitteln aus dem Wagen geholt, ins Haus und gleich in die Küche gebracht hatte. Er blickte in das weiße, fliegende Schneechaos und fragte sich mit einem halben Gedanken, warum Olov unbedingt, fast dickköpfig, darauf bestanden hatte, an solch einem Wochenende hier herauszufahren? Das Wetter war doch keine Überraschung, weil genauso angekündigt. Gab es denn nicht genügend andere Wochenenden? Welche Überlegungen wollte er anstellen, welche Fragen klären? So neblig drückte er sich aus.

Göran schloss die Tür, sperrte das ungute kalte Wetter aus, verräumte die Kisten, die er in eine der Kammern des Anbaues brachte. Danach verließ er das Haus durch den Hintereingang, holte zwei weitere volle Körbe mit Holzscheiten, die trocken unter einem Verschlag lagerten, für Kamin und die Öfen. Gut, gestand er sich faustisch grinsend ein, zu ernsthaft hatte er Olov auch nicht widersprochen, denn die ganze Zeit so nahe bei Nadja zu sein, war ja ganz in seinem Sinn.

Es wurde langsam warm im Haus. Göran zog die gefütterte Jacke aus, rückte einen der Stühle vom Tisch näher an den Kamin, holte sich aus der Küche ein Glas mit Malt-Whisky, setzte sich, strich sich die weißblonden Haare aus seiner Stirn, schaute in die Flammen und nippte immer wieder einen kleinen Schluck des braunen Goldes.

In den vergangenen Sommermonaten war er mehrmals allein hierhergekommen, um den Wintervorrat an Holz aufzufüllen. Dann blieb er die Nacht über im Haus. Diese Besuche waren stets ein guter Grund, vor allem für ihn selbst, sich von der ungeliebten Plackerei in der Firma zu entfernen, und vor allen Dingen dienten sie seiner körperlichen Betätigung. Göran wusste nur zu gut, dass es mit seinem sportiven Engagement nicht allzu weit her war und so diente ihm diese Arbeit hier draußen als brauchbare Ausrede für seine mehr als bequeme Art. Er war ein abenteuernder Träumer oder träumender Abenteurer, jedenfalls ziemlich unbrauchbar für regelmäßige Arbeit. Darum hatte er sehr darauf gedrängt, als Olov und er damals das Haus übernommen hatten, dass ein paar zivilisatorische Annehmlichkeiten, wie ein Brunnen mit elektrischer Pumpe für die Wasserversorgung und ein Dieselgenerator für den Strom, hinzukamen. Das Haus hatte ihm gefallen, schon von außen, quasi auf den ersten Blick. Im Erdgeschoß befanden sich ein großer Wohnraum und die Küche. Im Anbau unmittelbar an der Rückseite lagen Toilette, Dusche, Sauna sowie zwei kleine Kammern als Umkleide und eine als Lager für allerlei. Mehrere Zimmer im oberen Stock, unter der Schräge des Daches, waren als Schlafräume eingerichtet. In diesem Haus ließ es sich immer bequem aushalten. So lange es warm genug und Trinken und Essen – in dieser Reihenfolge – reichlich vorhanden waren, sagte sich Göran.

Während er in kleinen Schlucken trank, tauchten in seiner Vorstellung unwiderstehliche Bilder von zärtlichen Stunden mit Nadja auf. Ihre tadellose Figur, die langen, glatten, brünetten Haare und die vollen Lippen luden ihn immer häufiger zu Tagträumen ein. Kurz bevor er zu sehr in seinen erotischen Vorstellungen versank, hörte er vor dem Haus einen tiefen Motor brummen.

Beinahe wollte schon leichter Ärger über die Störung in ihm aufkommen. Er schüttelte den Kopf, um den leisen Schwindel zu vertreiben, stellte das leere Glas auf den Tisch, stand auf, ging zur Tür und öffnete sie.

Olov hatte nur noch wenige Schritte bis zum Haus. Er trug zwei Taschen.

»Hallo, Vater. Wie war’s unterwegs?« Dabei ging Görans Blick über Olovs Schulter hinweg zu dessen Jeep mit dem ungewöhnlichen Tarndesign.

»Hallo, Junge. Alles tadellos. Auf den letzten Metern hattest du die Piste bereits gut gespurt.«

Dieses »Junge« seines Vaters hörte Göran überhaupt nicht gerne, empfand er es doch als Provokation, weil er wusste, dass ihm Olov damit gern seinen Platz zuwies.

»Komm rein, Vater, es ist bereits angenehm warm.«

Olov warf einen kurzen Blick auf das Thermometer, das außen neben der Eingangstür hing. Fast acht Grad minus. Die nächste Nacht würde voraussichtlich ziemlich eisig werden, aber die Kälte konnte ihnen im Haus nichts anhaben.

Olov hatte sich seiner Fellmütze, der Jacke und der Stiefel entledigt und rieb sich vor dem Kamin leicht gebückt die Hände. Mit seinen siebzig Jahren sah er immer noch gut aus, ein kerniger Nordländer mit völlig kahlem Schädel, wie einst die Wikinger, dessen äußeres Erscheinungsbild nichts zu wünschen übrig ließ. Göran wusste natürlich, dass sein Vater regelmäßig im Fitness-Center war und zudem zweimal in der Woche mit einem Freund Squash spielte.

»Erik wird auf die beiden Frauen warten müssen. Sie brauchen meist eine Menge Zeit, bis sie ihre Siebensachen zusammenhaben, vermitteln meist den Eindruck, als würden sie zu einer Weltreise aufbrechen«, sagte Olov mit einem Augenzwinkern.

Olov hatte also schon auf Wochenendstimmung umgestellt, konstatierte der Sohn. Er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr.

»Noch sind sie nicht überfällig«, sagte er. »Mit seinem Sportwagen hat Erik es sicherlich nicht so leicht wie wir bei diesem Wetter. Machst du dir selbst einen Drink, Vater? Ich werde mich in die Küche begeben, um was Gutes auf den Tisch zu zaubern, quasi als Willkommen, als Entree in unser Wochenende.«

Die Küche war neben den Frauen die einzige wirkliche Leidenschaft Görans.

»Ja, geh in die Küche, Göran. Ich nehme mir ein Glas und werde im Radio die Nachrichten anhören, wenn es denn einen verständlichen Laut von sich zu geben geruht.«

Erst eine gute Stunde später – Göran hatte zwei Servierplatten angerichtet, deckte im Wohnraum eben den Tisch –, da hörte er einen satten Motor nahe dem Haus heftig aufjaulen.

Erik war da, Gottseidank, endlich.

Wie oft hatte er ihm schon gesagt, so ein Sportwagen, Eriks wertvollstes Stück, sei nur für normale Straßenzustände eine tolle Sache, bei schlechten Wetterverhältnissen hier im Norden war er ein total ungeeignetes Gefährt. Aber Erik war ein Dickkopf.

Göran ging zur Tür, um die Ankömmlinge dort zu begrüßen, natürlich nicht wegen Erik oder dieser Alina, die er kaum kannte, sondern allein wegen dem Objekt seiner Begierde: Nadja. Es schneite jetzt wieder so heftig, dass er das Coupé kaum ausmachen konnte, sein Blickfeld reichte nur eben so weit, wie Licht aus dem Haus nach draußen drang.

Erik stand hinten am Kofferraum und hob eine Tasche heraus. Nadjas Kopf erschien auf der Beifahrerseite, sie schaute herüber zum Haus. Göran zuckte förmlich zusammen bei dem Gedanken daran, wie hübsch sie war. Sie stiefelte um den Wagen herum, als wäre sie irgendwo auf einem Boulevard, kam auf ihn zu. Eine kurze Pelzjacke mit Mütze, unter der ihr langes Haar hervorquoll, und eine modische, enganliegende schwarze Skihose. Einfach umwerfend.

Sie zwinkerte ihm zu, ging wortlos an ihm vorbei ins Haus, ließ ihn einfach stehen. Er schaute ihr nach.

Er hatte nicht mehr auf Erik geachtet, der plötzlich neben ihm auftauchte.

»Hei, Göran. Wir haben es tatsächlich geschafft. Aber Teufel nochmal, es gab einige Momente, da dachte ich, wir müssten umkehren. Einmal durften die Frauen sogar kurz anschieben.« Er lachte fröhlich.

»Komm rein, Erik. Hier draußen mutieren wir zu eisigen Schneemännern«, sagte Göran. Dabei beobachtete er Alina, die sich aus dem Notsitz auf der Rückbank des Wagens gezwängt hatte und in dicken Fellstiefeln herüberkam.

»Hei, Alina.«

»Hei, Göran. Wenn das ganze Wochenende so aufregend und anstrengend wird wie unsere Fahrt, dann steht uns Einiges bevor. Gibt es einen hochprozentigen Schluck zum Aufwärmen?« Sie lachte hell.

Er nickte ihr zu und zeigte zur Tür.

Nadja, die dort stand und leise mit Erik sprach, hatte offenbar auf Alina gewartet. Görans gierige Augen verfolgten Nadja. Alina reizte ihn überhaupt nicht, sie war ihm zu dünn und wirkte auf ihn, als stakste ein zwölfjähriges Mädchen in die Wärme des Blockhauses. Und dann diese Brille, die Krönung ihrer Schönheit, rund mit starken Gläsern …

Eine gute Weile später saßen sie um den Tisch, aßen, tranken, redeten und lachten. Göran hatte Gurken, Tomaten und Gemüse auf den Platten, Roggenbrot und Butter sowie eine Kanne Kaffee und einen großen Becher mit Milch auf den Tisch gestellt.

Irgendwann wandte sich Olov an Erik, der ihm gegenübersaß: »Erik, nimm den Rat eines alten Hasen an: Leg dir einen anderen Wagen zu. So ein eleganter Schlitten ist gut und schön – aber nichts für den Winter.«

»Das sagst du mir nicht zum ersten Mal, Olov. Aber ich mag den Wagen einfach.«

Später dann, er hatte für jeden einen Wodka eingeschenkt, hob Göran sein Glas. »Prost, trinken wir auf ein paar schöne Stunden hier draußen in der Tundra.«

Nadja richtete das Wort an und ihre Augen auf ihn. »Wie sollen wir uns diese schönen Stunden vorstellen, Göran, Lieber?« Wie jedes Mal, wenn sie ihn ansprach, klang ihre Stimme irgendwie ironisch, sogar spitz in seinen Ohren.

Göran, ärgerlich, errötete ein wenig. »Na, eingeladen hat uns Olov, er kann dir sicher genauer Auskunft geben. Um gutes Essen kümmere ich mich.« Beim letzten Satz klopft er sich selbst auf die Schulter.

»Ach, was steht denn auf dem Küchenzettel, Herr Sternekoch?«

»Geheimsache.« Jetzt war er es, der sie anfeixte.

Nadja wandte ihr lächelndes Gesicht Olov zu.

Der beachtete sie nicht, denn er unterhielt sich mit Erik über einen aktuellen Auftrag.

Alina, die bemerkte, dass Olov sich nicht von Nadja einfangen ließ, kicherte und sagte mit ihrer ein wenig kindlichen Stimme, dass Männer immer nur übers Geschäft reden könnten.

Nadja fragte Göran, ob noch etwas in der Wodkaflasche sei? »Und dann, Göran, legst du vielleicht mal eine Platte auf. Mit der richtigen Musik wird es gleich noch viel gemütlicher.«

Göran war auf dem Sprung, ihrem Wunsch zu folgen, als er von einer Handbewegung Eriks zurückgehalten wurde.

»Göran, einen Moment.« Erik schaute zu Olov. »Olov, ich muss jetzt reinen Tisch machen: Ich werde demnächst die Agentur verlassen.« Um diese wenigen Worte los zu werden, war er überhaupt nur mitgekommen.

In diesem Moment hätte man die berühmte Stecknadel zu Boden fallen hören können. Allein Nadja schien ungerührt, weil vermutlich in Eriks Pläne eingeweiht. Göran starrte seinen Vater entgeistert an, fing sich gleich wieder, denn dieses Szenario erschien ihm für seine Träume mit dieser herrlichen Frau sogar von Vorteil …

2

Olov allerdings glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Was schwätzte der dumme Junge einfach so daher? Hatten sie nicht vereinbart, er solle den Mund zu seinen unausgegorenen Plänen halten, zumindest vorläufig, vor allem aber an diesem Wochenende? Mit großen, erstaunten Kinderaugen würde Erik zu ihm aufsehen, wenn er, Olov, ihn am Montag gehörig zurechtstutzte. Jetzt brauchte er nicht auf Eriks Worte zu reagieren, nachdem diese verrückte Alina wie gerufen das Wort ergriff.

Mit ihrer hellen Mädchenstimme nahm sie Eriks Geständnis als Türöffner, um von ihrem ganz persönlichen überraschenden Glücksfall zu erzählen, ab kommenden Monat beim lokalen Radiosender eine Stelle ergattert zu haben. Das wäre ihre große Chance, auf die sie gewartet hätte, jubelte sie. In der Ruhe dieses Wochenendes weitab von allem Trubel, wollte sie über ihre neue Tätigkeit nachdenken.

Von den Vieren wurde sie zunächst kommentarlos angestarrt, so, als habe sie gerade ein neues Weihnachtswunder verkündet. Wenn sie nur hätte ahnen können, was in den Köpfen der anderen so spontan herumspukte, sie wäre vor Scham sofort im Boden versunken. So aber kletterte sie mit phantasievoller Leichtigkeit bereits die Karriereleiter bis hinauf zur beliebtesten Moderatorin von ganz Finnland.

Göran hatte ihr nicht mal richtig zugehört. Er war mit seinen Gedanken bei Erik. Was wollte er damit erreichen, indem er ihm gleich zu Beginn dieses Wochenendes, das leicht und locker sein, ihnen eine Auszeit vom Alltag bieten sollte, dieses Brett vor den Kopf nagelte? Göran fühlte sich so richtig neben der Spur. Hatte er Erik im Büro nicht jede Freiheit gelassen? Hatte er sich mit seinen Werbetexten, Entwürfen, Konzepten nicht austoben können, wie immer er es nur wollte? Und jetzt hatte der Typ vor, ihn ganz schnöde im Stich zu lassen. Wer hatte ihm ein Angebot gemacht? Erik konnte doch nichts anderes, doch das wirklich geschickt, als mit Worten zu jonglieren, war als Texter beinahe genial. Wollte er vielleicht seinen Traum verwirklichen und Schriftsteller werden? Nein, dazu fehlte es nach Görans Ansicht wirklich weit. Gewiss, er hatte bisher keinen literarischen Text von Erik zu Gesicht bekommen, mal abgesehen von dessen erfolgreicher Novelle, die er nach wenigen Seiten weggelegt hatte, weil nur langweilig. Die Ohren hatte der ihm rotgequasselt mit seinen epischen Ideen. Ob Erik an einem Manuskript arbeitete, wusste Göran nicht, interessierte ihn auch nicht die Bohne.

Nadja sagte nichts zu Eriks Geständnis, nicht, weil sie bereits informiert gewesen wäre, nein, gerade weil sie nichts davon wusste. Sie war ebenso überrascht wie die anderen. Doch das wollte sie sich auf keinen Fall anmerken lassen. Sie würde es ihm später heimzahlen, mit kalter Wut, er würde wimmern, nicht aus Leidenschaft, sondern weil er ein Weichei war. Sie plante, Erik und Göran gegeneinander auszuspielen. Sie mochte das und war gespannt, wie weit sie gehen konnte. Nur – was hatte Erik im Sinn, was für ein Spiel spielte er? Keines vermutlich, denn für so was war er zu naiv. Was seine Worte allerdings umso fragwürdiger machte. Seit ihrer Scheidung war Nadja wie eine Biene von Blüte zu Blüte geflogen. Erst bei Erik war die Liebestournee zum Stehen gekommen, oder zumindest für eine Weile unterbrochen worden. Erik war ein lieber, ein netter Kerl, mit ihm zu streiten kam einem Kunststück gleich. Aber sie musste seinen skurrilen Lebenswandel akzeptieren, denn Erik hetzte nachts seinen fiktiven literarischen Nebelfiguren hinterher. Warum er diese Träume so wild verfolgte, konnte sie einfach nicht nachvollziehen, hatte er doch in Görans Werbeagentur ein gutes Leben, hatte Erfolg, dazu ein bequemes Auskommen. Was war los mit ihm?

Olov stemmte sich vom Stuhl hoch, schaute in die Runde, bis die fragenden Blicke der anderen auf ihm ruhten.

»Ich wärme mal die Sauna vor. Gibt es Einspruch?«

Kein Einspruch.

Nadja sprang auf. »Ich gehe inzwischen nach oben. Sagt mir Bescheid.«

»Ich komme mit«, meldete sich Alina bestimmt.

Olov stand noch am Tisch, sah seinen Sohn den Raum zur Küche hin verlassen. Nur Erik saß noch da, den Stuhl zurückgeschoben, die Beine von sich gestreckt. Olov fragte sich, ob er ihm gleich den Kopf waschen sollte. Dann zuckte er mit den Schultern und steuerte die seitliche Tür zum Anbau an.

Erik erhob sich, ging in die hintere Ecke, wo unter einem ehemals weißen Möbeltuch, nun grau, schmutzig und verstaubt, ein Klavier stand. Er zog das Tuch zur Seite, ließ es in einer Staubwolke zu Boden schweben, klappte den Klavierdeckel hoch, schlug prüfend mit einem Finger verschiedene Tasten an. Der Kasten war noch nicht zu arg verstimmt. Also schraubte er den Klavierhocker auf die passende Höhe zurecht. Schon flatterten die ersten Töne durch die Luft.

Zur Entspannung spielte Erik gerne Klavier, es war für ihn ein angenehmes Gefühl, seine Finger über eine Klaviertastatur gleiten zu lassen. In seiner Wohnung stand das alte Klavier seiner Mutter, das er von ihr geerbt hatte. Das Instrument war sein ganz besonderer Schatz. Sollte seine Fantasie galoppieren, dann gab er ihr mit Mozart oder Chopin die Sporen. Jede seiner Schreibsessions begann er mit Musik. So verdichteten sich die Wörter zu Zeilen, Seiten, Kapiteln, sogar zu ganzen Manuskripten, die sich natürlich demnächst zu Bestsellern mausern und die sein Agent sofort an die Filmstudios verkaufen würde. Auch Hollywood wäre interessiert. Ach, wie schön. Natürlich gingen Träume in Erfüllung. Man musste nur fest genug daran glauben und ihnen die Zeit zum Wachsen lassen.

Er erschrak, zuckte richtig zusammen, als sich eine Hand auf seinen Rücken legte. Seine Finger erstarrten mitten im Ton, langsam hob er den Kopf, sah auf.

Göran stand da. »Was hast du da am Tisch gesagt, du Spinner?«

»Ich wollte es einfach nur ankündigen. Dann hast du reichlich Zeit, um darüber in Ruhe nachzudenken.«

»Wir müssen darüber reden.«

»Einverstanden.«

»Status quo vorerst?«

»Wenn du Friede für das Wochenende meinst, ja.«

»Gut. Olov ist noch dabei, die Sauna anzuheizen?«

»Ich denke schon. Hat sich noch nicht zurückgemeldet.«

»Ich geh mal nachsehen.«

Die Frauen kamen die Treppe herunter, lachend.

»Was macht dein Schriftsteller, wenn er kein festes Einkommen mehr hat?«, fragte Alina ihre Freundin kurz vor dem Verlassen der Schlafkammer.

Obwohl sich Nadja bei der Verkündung von Eriks Plänen zurückgehalten hatte, platzte es jetzt aus ihr heraus: »Dem Spinner muss ich unbedingt den Kopf waschen. Seine Schriftstellerfantasien pah … ich hab noch nichts Brauchbares von ihm gelesen.«

»Und was ist mit den Sternenträumern

»Versponnener Unsinn.«

»Es war ein Erfolg.«

»Davon kann er nicht leben.«

Erik, der am Klavier saß, und Göran, der neben ihm stand, blickten den Frauen entgegen.

Dann spielte Erik wieder Klavier und Göran verschwand im Anbau.

Wodkaflasche und Gläser standen noch auf dem Tisch. Nadja goss sich zwei Finger hoch ins Glas, warf Alina einen fragenden Blick zu. Alina schüttelte den Kopf.

Nadja trank.

Göran kam zurück. »Lasst uns den ersten Saunagang in Angriff nehmen. Badetücher sind draußen im Schrank.«

Erik beendete sein Spiel, folgte Göran, der schon vorausgegangen war, und lächelte den beiden Frauen im Vorübergehen zu.

»Wir warten noch einen Moment«, bestimmte Nadja einfach so.

Alina widersprach nicht, setzte sich an den Tisch.

Nadja begann unvermittelt eine Unterhaltung über Mode und Trends, die in den neuesten Zeitschriften angesagt waren.

»Kommt ihr?« Erik steckte den Kopf durch den Türspalt.