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Umschlaggestaltung, unter Verwendung

eines Fotos der Agentur plainpicture/

Millennium/Mohamad Itani,

und Layout: Gudrun Fröba

ISBN 978-3-88747-365-5

eISBN 978-3-88747-354-9

Gerd Zahner

GOSTER

Roman

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Inhalt

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

EINS

Goster, Hauptkommissar, mit einem sehr glatten Gesicht, sehr dünn und eigentlich ungeeignet, sich in irgendeine körperliche Auseinandersetzung einzumischen.

Dazu kam der Widerwille.

Kollegen nannten ihn feige, zumal diese schwebende Episode ein Eigenleben entwickelte:

Goster trank mit Lempke in der Trinkstube, Lempkes Fluchthöhle, Biere satt.

Ein Pöbelnder. Lempke war vollkommen im Recht, sich dieses zu verbitten, wurde handgreiflich, und es entwickelte sich eine veritable Prügelei. Goster sah widerwillig zu. Lempke war zu Anfang der Obsiegende, aber eine Anzahl von sich einmischenden Gästen, die stets dem Schwachen beistanden – nobel, wie Goster später sagte –, rangen Lempke nieder und schlugen ihn mehrmals auf den Kopf.

Goster schaute ungerührt zu und ließ buchstäblich den Kollegen im Blute liegen, schritt unbeteiligt nach draußen, schritt durch einen Kieshof, als einer der Streithähne Goster nachsetzte, um auch ihn zu verprügeln.

»Man muss wissen, wann man mit dem Siegen aufhört«, sagte Goster ruhig.

Der schlägerische Jüngling, er war wohl gerade siebzehn, schloss die Hand zur Faust und wollte mit Wildblicken auf diesen Goster losstürmen. Goster zog seine Dienstwaffe, richtete sie auf den Mond, sagte kurz: »Ich werde ihn erschießen«, und zielte tatsächlich dem Mond ins Gesicht.

Der Angreifer warf sich reflexartig zu Boden und streckte Hände und Beine von sich wie ein Hampelmann, der im höchst möglichen Zeitpunkt der Spreizung erstarrt ist. Er fürchtete wohl, Goster könnte es sich anders überlegen und erst den Mond und dann ihn erschießen.

Nicht wütend, aber jetzt involviert in diese Angelegenheit, kehrte ein wütender Goster in die Trinkhalle zurück, mit gezogener Waffe, trat einem der Männer, der seinen ohnmächtigen Kollegen am Boden fixierte, gegen das Knie, zielte auf einen zweiten und schoss tatsächlich, bei einer sehr dünnen Notwehrlage. Der Schuss streifte einem Dritten, der eigentlich nur so herumstand, den Oberschenkel. Der Lärm sank ab. Der Schrecken in weit offenen Augen. Alle Gesichter wurden sich ähnlich, für eine Sekunde, im Hall des Schusses. Eine schwarze Waffe in Gosters Hand.

Goster konnte sich dieses Ereignis nie erklären. Fast schien es, als hätte die Waffe selbsttätig ihr Ziel gesucht und wäre automatisch losgegangen.

Das Verfahren gegen Goster wurde eingestellt, die Schläger zu hohen Strafen verurteilt. Schwebend war die Sache, da der Kollege mit der Vorliebe für Trinkhallen Goster wegen der verspäteten Hilfe moralisch bei den anderen Kollegen und tatsächlich bei der Staatsanwaltschaft anschwärzte.

Goster sagte nur sehr verkürzend, er habe das Lokal nicht ausgesucht.

Im Amt wurde Goster seit diesem Vorfall mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Man stellte allgemein fest, dass seine Empathiefähigkeit, gelinde ausgedrückt, entwicklungsfähig sei.

ZWEI

Goster gab wenig auf Äußerlichkeiten, fand aber, dass er gutaussehend war. Dies bezog sich auf die blauen, großen Augen, das noch volle, leicht rötliche Haar. Sein Gesicht war stets etwas zu blass, die Figur etwas zu dünn, schlank, wie in der Werbung. Gosters Vorliebe für Anzüge mit Weste brachte ihm den Ruf eines Snobs ein, was ihn nicht störte. Er war, leider, wie er sich ausdrückte, kinderlos, auch beziehungslos.

Vor zwei Jahren hatte eine Hilde die gemeinsame Urlaubsfahrt in Italien wütend abgebrochen, nur weil Goster steuerte. Hilde bespottete mit Kopfschütteln, wie ein sprechender Scheibenwischer, mit den immer gleichen Worten Gosters entspannte Fahrweise.

»Fünfzig, ein Kolonnenzüchter! Fünfzig, ein Kolonnenzüchter! Geht’s noch langsamer?«

»Du siehst aus wie fünfzig, wenn du fünfzig sagst, sag doch mal sechzig.« So Gosters Antwort.

Hilde war vierzig. Vierzig, ein Alter ohne Humor.

Seit Hildes Abschied war es beziehungsstill, friedlich, und er fuhr auch nicht zu schnell.

Goster vertrat die nicht unumstrittene Auffassung, dass Trennungen zwischen Paaren auch deshalb entstehen, um aus dem Spannungsgefühl des Sich-Trennens eine Lösung aller Lebensfragen zu erfahren. Man erzeugt Spannung, um von der Trennungsspannung weggeschleudert zu werden, so wie der Stein der Probleme auf dem Katapult aller Lösungen. Im Augenblick des Loslassens schießt das ganze Leben davon.

Goster wurde am zweiten Jahrestag der Trennungsfahrt von Italien-Hilde in die Arnoldstraße gerufen. Die Bereitschaftspolizei hatte dort einen Toten entdeckt, der nackt im Frühlingsgarten lag, ausgestreckt zwischen wilden und gepflanzten Narzissen. Die Narzissen hatten hälftig gelbe Blüten, die anderen beinahe schneeweiße, was Goster erfreute.

»Er ist wahrscheinlich aus dem dritten Stock gefallen.«

Goster blickte skeptisch nach oben, weil alle Fenster der Vorderfront verschlossen schienen.

»Er hat eine rote, geknickte Geranienblüte im Haar. Dieses Fenster besitzt als einziges Geranienblumenkästen, und die Pflanzen sind auch frisch abgeknickt, vielleicht von ihm da. Oben waren wir noch nicht.«

Die Polizistin, die diese Informationen übermittelte, hatte ein rundes, waches Gesicht und zeigte hinauf.

Goster dachte: ›Sie gehört zu jener Art Frauen, die jeden Satz zuerst genauestens abwägen, ehe sie ihn laut aussprechen, deshalb, weil jeder Satz im Gesamten auch Auskunft über die Sprechende gibt. Sie hätte Jura studieren und seine Vorgesetzte werden können, aber das ist sie nicht geworden, sondern nur eine kluge Bereitschaft im Dienst.‹

Goster dankte, ging durch die offene Haustür und stieg über eine Holztreppe nach oben in den dritten Stock. Ein dicker Polizist trat, nach drei Klingelversuchen, die Wohnungstüre ein. Die Wohnung war leer. Goster ließ den Dicken vorausgehen. Ein Gefühl bemächtigte sich seiner, das er später in Worten schlecht wiedergeben konnte. Er beschrieb dieses Gefühl dem Staatsanwalt so:

»Aus einem bösen Traum erwachen wollen und es nicht können.«

Der dicke Polizist, ein Familienvater von drei Kindern, wie sich später herausstellte, durchschritt den Flur bis zum Ende und versuchte, die hintere zinnbraune Holztüre zu öffnen, die zum Zimmer mit dem Geranienfenster führte. Der Schuss, der dann fiel, war so laut, dass Goster in die Hocke sank und sich die Ohren vor Schreck zuhielt, erst danach zu seiner Pistole griff und zeitgleich, wie in Zeitlupe, den Polizisten nach hinten fallen sah, so heftig, als haben diesen ein Tritt gegen die Brust zu Boden gestoßen.

Goster tippelte rückwärts, immer den Flur und die Türe zum Geranienzimmer im Auge. In seiner Brust spannte eine Hand eine Eisenklammer um sein Herz. Sie drückte die Luft aus den Lungen, eine stechende Flamme jagte durch seinen linken Arm. Die Beine waren plötzlich schmelzendes Wachs, und so sank er mit Todesschmerzen in die Knie, fiel seitlich und lag mit offenen Augen und ohne jeden Bezug zu diesem Tag in diesem fremden Flur.

Inzwischen stürmten drei Polizisten die Treppen hoch, einschließlich der klugen Bereitschaftspolizistin, alle mit gezogenen Waffen. Die Polizistin, die mutigste von allen, duckte als Erste an ihm vorbei in den Wohnungsflur.

»Belkov! Belkov!«, rief sie immer wieder den Namen des getroffenen Polizisten, der weder röchelte, noch hörte man den stöhnenden Atem eines Schwerverletzten.

Belkov war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben und seine Kinder Waisen, seine Frau eine noch junge Witwe, die mit allem künftig überfordert sein sollte. Sie fand nie wieder ins Leben zurück.

Zwei Polizisten zogen den Kollegen hinaus, je ein Polizist zog an einem gestreckten Arm, der dritte sicherte. Nur Goster konnte nicht helfen, obwohl er es wollte. Er konnte nicht.

Ein Sanitäter rief: »Herzinfarkt, der Goster…!«

Und danach war alles dunkel, so wie das Walmaul, in das der arme Jonas sich verirrte, und drei Tage später wurde auch Goster an einem ganz anderen Ufer ausgespuckt.

DREI

Der Erste Hauptkommissar, Gosters Vorgesetzter, ein grauhaariger, stämmiger Sechzigjähriger, saß am Bettrand, sagte »Morgen«, als Goster die Augen aufmachte.

Goster öffnete den Mund, hatte aber noch keine Vorstellung davon, dass dieser Mund auch sprechen könnte.

»Denken Sie nicht, Goster, ich hätte hier die ganze Zeit auf Sie gewartet. Die Ärzte sagten, man würde Sie jetzt aufwecken, und es wäre gut, einer, den Sie kennen, würde Sie dann freundlich empfangen. Wir wussten aber niemanden, der Sie kennt.«

Es klang wie ein Vorwurf, es klang wie die Stimme eines Mannes, der jetzt lieber arbeiten oder rauchen würde als hier mit diesem Goster zu sitzen.

Gegen Mittag wusste Goster wieder alles. Die Dienststelle hatte seine kleine Wohnung öffnen lassen, hatte Bademantel und Toilettenartikel aus dem Badezimmerschrank in die schwarze Tasche gestopft, dazu ein Magazin gekauft und auch das Handy gefunden. Man hatte ihm, Goster, das alles hergerichtet und ins Krankenzimmer verschafft.

»Belkov, Belkov ist tot«, sagte der Erste Hauptkommissar.

Goster nickte nur und erinnerte sich an diesen Augenblick im Flur, dem weltenaufbrechenden Schuss durch die Tür und die Nacht der Schmerzen.

»Sie hatten einen schweren Herzinfarkt.«

Goster nickte, ohne eigentlich die Bedeutung des so besonders betonten Wortes schwer zu verstehen. Er konnte sich einen Herzinfarkt beim besten Willen nicht leicht vorstellen.

»Das Erstaunliche ist«, sagte der Erste Hauptkommissar, »und ich hoff, es haut Sie nicht wieder aus den Socken … wir haben tatsächlich keinen Schützen in diesem Zimmer entdecken können. Das Zimmer, als wir es stürmten, war leer, dabei war die Haustür gesichert und das ganze Haus umstellt. Keine Falltüre, kein Wandversteck, kein doppelter Boden. Stellen Sie sich vor, Goster, aus einem leeren Zimmer ist geschossen worden, durch die verschlossene Zimmertür, und einer unserer Männer ist tot.«

»Die Waffe?«, fragte Goster.

»Eine Glock, lag in der Zimmermitte, aber vom Schützen fehlt jede Spur. Es ist gerade so, als hätte die Pistole von allein geschossen. Das wäre noch die einfachste Möglichkeit.«

Goster blickte unschlüssig um sich. Er saß inzwischen auf dem Bettrand, trug Thrombosestrümpfe, nichts war ihm peinlich. Der Erste Kommissar, dieser massige Grauschädel, in einem Sessel, der in der Ecke stand, nickte. »Wem gehört die Pistole?«

»Dem Kerl, der aus dem Fenster gesprungen ist.«

»Ist er auch tot?«

»Ja. Und deshalb verrät er uns auch nicht, warum er gesprungen ist.«

»Wie verläuft der Schusskanal?«

»Waagrecht durch die Tür. Ein großer Mann hält die Waffe in Brusthöhe, waagrecht fliegt die Kugel, durchschlägt die Tür und trifft den Kollegen dahinter in die Brust.«

»Seltsam.«

Der Vorgesetzte hatte sich lachend verabschiedet und Goster beiläufig zugerufen, er solle sich eine Putzfrau für seine Wohnung suchen. Als man den Bademantel und die Utensilien holte, sei der Zustand nicht eben der sauberste gewesen. Er hatte das Wort Saustall vermieden, fügte aber hinzu:

»Du gehörst zu jener Sorte Männer, die alleine verkommen.«

Drei Tage später wurde Goster aus dem Krankenhaus entlassen. Einen Kuraufenthalt an der See lehnte er ab mit der einfachen Begründung:

»In der Kur sind zu viele, die gesund kommen und krank gehen.«

Niemand lachte.

VIER

Es war ein verregneter Mittwoch, als er seinen Dienst wieder aufnahm, den endlosen Gang entlang schlich zu dem Büro vor der Durchgangstreppe, welches das seine war.

Im Büro, es maß zirka zwölf Quadratmeter, stand ein Schreibtisch mit einem hohen Bürostuhl, in dem man auch schlafen konnte, ein brauner Polsterstuhl für einen Besucher und ein Hocker für einen zweiten Besucher. Goster war auffallend müde, setzte sich, schaute aus dem Fenster, telefonierte die Kollegen seiner Abteilung an und erklärte jedem mit denselben unlustigen Worten, dass er wieder im Dienst sich einbefunden habe. Dann bat er die Polizistin mit dem runden Gesicht, die an dem besagten Tag nach den Schüssen als erste die Treppen hochgestürmt war, zu sich.

Sie kam um die Mittagszeit, in Zivil, trug einen knielangen Jeansrock und ein schlichtes Oberteil, eine Art Bluse, aber aus einem groben Stoff.

»Ich hör’ Sie immer noch den Namen des getöteten Kollegen rufen«, sagte Goster zur Begrüßung.

Sie lächelte matt und antwortete mit leiser, auffallend leiser Stimme: »Ich kannte ihn ja.«

»Seine Frau und seine Kinder auch?«

»Ja.«

»Das macht es leichter.«

Damit nahmen beide Platz.