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ISBN 978-3-492-99023-3
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di Stefano
Covermotiv: © ILINA SIMEONOVA / Trevillion Images
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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Inhalt

Zitat

Teil I Heimkehrer

1 »Dieser Rotzbengel hat …

2 Magdalena fand sich …

3 »Hilfst du mir …

4 Da Magdalena ihre …

5 »Das ist das …

6 Frau Weiß verhielt …

7 »Bist du sicher, …

8 Während Magdalena mit …

9 Inzwischen konnte Ruth …

Teil II Grenzgänger

10 Der Sommer hatte …

11 Annemaries Vater hatte …

12 Tausende Menschen strömten …

13 In einem eleganten …

14 Nach der überaus …

15 Die ganze Sache …

16 Es war Hans …

17 Das Schneetreiben setzte …

18 Magdalena bat darum, …

19 Als Annemarie die …

Teil III Enthüllungen

20 Der Februar hielt …

21 Der März war …

22 Es war noch dunkel, …

23 In den ersten …

24 Als Margot die …

25 Seit jenem Vorfall …

26 Es dauerte nach …

27 Nachdem Margot über …

28 »Ich bin entzückt, …

Epilog

Personenübersicht

»Durch diesen Herbstestag voll Sturm
Zum Drachenfels empor die Steige!
Schon winkt zu Häupten mir der Turm,
Der breite durch die falben Zweige.
Da steh ich – roter Sonnenschein
Umlodert königlich die Klippe;
Zu meinen Füßen braust der Rhein.«

Emanuel Geibel

Teil I



Heimkehrer

1

»Dieser Rotzbengel hat mich altmodisch genannt!« Karl Hohenstein stand im Vestibül, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah in die Richtung, in die sein Enkel verschwunden war.

»Du hast deinen Vater seinerzeit mit demselben Wort belegt, erinnerst du dich?«, antwortete seine Ehefrau mit einem nachsichtigen Lächeln.

»Er war altmodisch, ich bin lediglich auf Stil bedacht.«

»So begründete er es seinerzeit auch.«

»Ich bin nicht altmodisch.«

»Wäre dir Altersstarrsinn lieber?«

Karl bekam den Eindruck, dass Julia dieser Disput Spaß machte, und gab es seufzend auf. Man krempelte sein Hotel um, und er sollte als Zuschauer danebenstehen. Langsam ließ er seinen Blick durch das Vestibül gleiten, über die geschwungene Treppe, die Rezeption aus poliertem Holz mit ihren goldverzierten Kästen für Zimmerschlüssel und Post, die Säulen, die eleganten Sitzgruppen – Bilder schoben sich darüber, lachende Gäste in Abendroben, Soldaten, Offiziere … Karl spürte einen Stich in der Brust und sah wieder zu dem Aufzug, dessen Türen sich hinter seinem Enkel geschlossen hatten. Vielleicht war es nicht das Schlechteste, einen klaren Schnitt mit der Vergangenheit zu machen, und Sebastian brachte in der Tat frischen Wind hier hinein.

Karl verließ das Hotel und trat auf den Hof. Es war Anfang März und die Temperaturen immer noch empfindlich kalt. Schneereste klebten an den Wegesrändern, waren auf dem Hof zu matschigen Pfützen geschmolzen. Zwar bemühte sich Karl nach wie vor um einen gepflegten Eindruck, aber es war unübersehbar, dass das Hotel einmal bessere Zeiten gesehen hatte, daran änderte auch der Anblick der glänzend polierten Limousinen – »altmodisch, Großvater!« – in der Remise nichts. »Du kannst deine Gäste doch nicht in diesen Vorkriegsmodellen durch die Gegend kutschieren«, hatte sein Enkel sich beschwert.

Aber für neuere Wagen war schlechterdings gerade kein Geld da, und Karl war – so ungern er es gestand – zu alt, um sich allein um das Hotel zu kümmern. Solange Konrad noch gelebt hatte, war es immer noch irgendwie gegangen. Außerdem hatten sie dessen Sohn Andreas gehabt, der ebenfalls mit der Leitung betraut gewesen war, aber auch der war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Wie so viele andere, unter anderem Karls Neffe Jacob, dessen Bruder Hans zwar nach wie vor im Hotel in der Buchhaltung arbeitete. Doch seit seine Frau auf und davon war und ihn mit der kleinen Tochter Greta allein gelassen hatte, war er nicht mehr so recht mit dem Herzen bei der Sache. Karls Cousine Emma half zwar ebenfalls, aber auch für sie wurde es langsam zu viel.

Karl zitterte ein wenig in der Kälte, blieb jedoch dennoch draußen stehen und spürte alten Zeiten nach – wie so oft in letzter Zeit. Er hoffte nicht, dass das bedeutete, er würde sich eines Tages gänzlich in der Vergangenheit verlieren, aber er vermisste sie alle so furchtbar, die Gefährten, die ihn auf dem letzten Stück seines Weges nicht mehr begleiteten.

»Willst du dir eine Lungenentzündung holen?«, fragte Julia, die ihm nun nach draußen gefolgt war. Im Gegensatz zu ihm hatte sie sich jedoch vorher noch einen warmen Mantel geholt und ihm seinen gleich mitgebracht.

»Denkst du, es war die richtige Entscheidung?«, fragte er und sah seine Frau an. »Ihn aus Amerika kommen zu lassen? Ist es nicht, als wolle man einem Toten neues Leben einhauchen?« Er drehte sich um und sah zum Hotel, während seine Hände in die warmen Ärmel des Mantels glitten.

»Es ist nicht tot«, antwortete Julia. »Es hat all das überlebt. Ebenso wie wir.« Sie hakte sich bei ihm ein, und er drückte ihre Hand.

Im Sommer hatte er nach langem Überlegen seinem Sohn in Amerika geschrieben und diesem das erste Mal gestanden, dass er das Hotel nicht länger allein halten konnte. Da das Haus zur Hälfte seinem Sohn zustand, wollte er diesen darüber in Kenntnis setzen, dass er mit dem Gedanken spielte, es zu verkaufen, wenn nicht die Möglichkeit bestand, Hilfe zu bekommen. Sein Sohn hatte darauf reagiert, indem er Karls Enkel Sebastian schickte. Sebastian, der kaufmännisch ausgebildet war und ohnehin oft davon gesprochen hatte, nach Deutschland zu gehen, musste nicht lange überredet werden. Die Aussicht, hier etwas aufzubauen, kreativ zu werden, hatte ihn zu sehr gereizt, als dass er hätte widerstehen können.

Für Karl und Julia, die die Familie ihres Sohnes das letzte Mal vor dem Krieg gesehen hatten, war es wunderbar, dass ihr Enkel nun sozusagen heimkehrte. Und Sebastian war ein Hohenstein durch und durch, wenngleich er optisch mehr nach der Familie seiner Mutter kam mit seinem dunklen Haar und den Augen, die mehr grau als blau waren.

Und nun hatte auch noch seine Schwester Johanna aus Ungarn geschrieben und angekündigt, ihm ihren Enkel Adrián zu schicken, um ihm unter die Arme zu greifen. Da Karl und seine Schwester sich sehr nahestanden, machte ihn das Angebot überglücklich, und nur zu gerne würde er ihren Enkel hier aufnehmen. Julia hatte recht, sie mussten zuversichtlich in die Zukunft blicken. Es war das Jahr der Heimkehrer.

»Das kann einfach nicht dein Ernst sein«, beklagte Margot Rebein sich bei ihrer Mutter, während sie sich im Zimmer umsah. »Warum kann ich nicht mit Papa in Bonn bleiben?«

Emma, die diese Diskussion wieder und wieder geführt hatte, war es langsam leid. »Weil dein Vater und ich nicht getrennt leben wollen, nur weil es dir hier zu ruhig ist.«

»Es ist nicht zu ruhig, es ist todlangweilig.«

Emma sah sich in den vertrauten Räumlichkeiten um. Hier war sie aufgewachsen, hatte auch nach ihrer Eheschließung immer wieder ihre Eltern besucht, und nicht im Traum wäre ihr eingefallen, dass sie je wieder hier einziehen würde, obwohl sie nach wie vor im Hotel arbeitete. Doch jetzt fühlte es sich richtig an, als sei dies immer ihr wahres Zuhause geblieben und habe nur auf ihre Rückkehr gewartet.

Nachdem ihr Vater, Konrad Alsberg, gestorben war, hatte ihre Mutter sich allein um Andreas’ Kinder gekümmert. Emma glaubte nach wie vor, dass der Kummer um den Tod seines Sohnes ihren Vater, der immer gesund gewesen war, so plötzlich hatte sterben lassen. Sein Herz hatte einfach aufgegeben. Auch ihre Mutter hatte sich so sehr gegrämt, und allein die Erinnerung daran ließ Emma die Tränen in die Augen steigen. Aber Katharina Alsberg war nach wie vor gebraucht worden von den Kindern ihres Sohnes. Und so hatte sie sich um sie gekümmert, bis eine Erkältung, der eine Lungenentzündung gefolgt war, sie vor zwei Monaten das Leben gekostet hatte. Und da Emmas Cousin Karl – der ihrem Vater vom Alter her nähergestanden hatte als ihr, aber das war dem umtriebigen Leben ihres Großvaters geschuldet – neben dem Hotel nicht auch noch Andreas’ Kinder Ruth, Nele und Curt versorgen konnte, hatte Emma beschlossen, die Wohnung ihrer Eltern im Hotel zu beziehen.

»Bei uns wäre auch Platz gewesen für die drei«, beklagte sich Margot nun erneut.

»Das hatten wir alles schon.«

»Sie wolltest du nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen, aber bei mir ist das nicht so schlimm, ja?«

Emma schloss die Augen und atmete tief durch, dann sah sie ihre Tochter an. »Du hast deine Eltern immerhin nicht verloren.« Andreas’ Ehefrau war bei der Geburt von Curt, ihres einzigen Sohnes, verstorben. Der würde nun später der Haupterbe sein, war aber gerade mal dreizehn Jahre alt und ging noch zur Schule. Emma bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. »Du bist doch hier nicht aus der Welt.«

»Ich bin so weit entfernt von jedem fröhlichen Treiben, als wäre ich’s. Warum verkauft Karl diesen alten Kasten nicht einfach? Als würde derzeit auch nur irgendeiner Urlaub in Deutschland machen. Ich zumindest würd’s nicht tun, und ich kann auch Sebastian nicht verstehen. Wer verlässt denn New York, um hier zu leben? Entweder hat er dort etwas ausgefressen, oder er ist nicht bei klarem Verstand. Wie ein ausgemachter Langweiler wirkt er nämlich nicht gerade.«

Emma ersparte sich eine Antwort darauf, da sie wusste, dass diese ihrer Tochter nur als weitere Vorlage gedient hätte, sich erneut zu echauffieren. »Pack deine Koffer aus«, sagte sie. »Und wenn du genug geschmollt hast, kannst du dich zu uns in den Hotelsalon gesellen.« Damit verließ sie das Zimmer und ging durch den Korridor zur Wohnungstür.

Die Wohnungen lagen im privaten Wohntrakt der Familie, der durch eine Tür vom Hotelbetrieb getrennt war. Unten wohnte Hans mit seiner Tochter Greta, darüber Karl und Julia in der Beletage, darüber nun Emma mit Georg und Margot, und im dritten Obergeschoss hatte einstmals Emmas Bruder Andreas mit seiner Familie gelebt, nun wohnten dort nur noch seine drei Kinder, wobei die älteste Tochter Ruth gerade einundzwanzig geworden war, zwei Jahre älter als Margot. Da sich die beiden allerdings nicht gut verstanden, war das für Emmas Tochter nicht gerade ein Anreiz gewesen, sich mit der neuen Wohnsituation abzufinden.

Als Emma das Vestibül betrat, sah sie Sebastian in ein Gespräch mit dem Concierge vertieft. Sie gesellte sich dazu, schenkte dem jungen Mann, der so unverkennbar amerikanische Weltgewandtheit ausstrahlte, ein Lächeln und sah in das Buch, in dem die Reservierungen verzeichnet waren. So mager hatte das zuletzt 1920 ausgesehen, aber da hatte sich der Hotelbetrieb irgendwann wieder erholt. Nun jedoch schien es, als verschlinge das Haus nur noch Geld, ohne auch nur annähernd genug einzubringen, um die laufenden Kosten zu decken. Karl war schon vor drei Jahren an sein Privatvermögen gegangen und hatte dieses in den Betrieb investiert, nachdem sämtliche finanzielle Rücklagen des Hotels aufgebraucht waren. Auch am Personal waren Einsparungen vorgenommen worden. Es gab keine Dienstboten mehr, die nur für die Familie zuständig waren, keine Stubenmädchen, keine Lakaien, keine Kammerdiener und Zofen. Die Zimmermädchen kümmerten sich auch um die Privaträume, und die Speisen für die Familie waren von jeher schon in der Hotelküche zubereitet worden, dort waren keine weiteren Einsparungen mehr möglich.

»Sieht nicht gerade erfreulich aus, nicht wahr?«, bemerkte Sebastian, der ihr über die Schulter blickte.

Sie drehte sich zu ihm um. »Wir haben die Hoffnung gehabt, dass sich der Tourismus irgendwann erholen würde, so wie in den Zwanzigern.«

»Das waren andere Zeiten.« Und eine andere Vergangenheit, schwang ungesagt mit.

»Wie ist dein bisheriger Eindruck?«

Er deutete in Richtung Salon, und Emma verließ mit ihm die Rezeption. »Es war einst sicher ein Treffpunkt mit mondänem Flair, aber jetzt wirkt das meiste ziemlich altbacken.«

»Hast du das deinem Großvater mit diesen Worten gesagt?«

»Ja.«

»Da war er sicher sehr erfreut.«

»Er konnte kaum an sich halten.« Ein kurzes Lächeln glitt über Sebastians Lippen. »Aber er wird sich den Änderungen auf Dauer nicht verschließen können, und dafür hat er mich ja immerhin kommen lassen, nicht wahr?«

»Vielleicht solltest du das ein klein wenig taktvoller formulieren.«

»Ich werde mir Mühe geben«, versprach er. »Und du wohnst jetzt dauerhaft hier?«

»Ja, ab heute.«

Sie betraten den Salon. Emma steuerte einen Tisch am Fenster an und versuchte dabei, den Raum mit Sebastians Augen zu sehen. Für sie war er von klein auf der Inbegriff von Eleganz gewesen, aber sah ein Besucher aus dem Ausland das ebenfalls so? Oder wirkte in der Tat alles ein wenig angestaubt?

»Der Salon ist hübsch«, bemerkte Sebastian, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Ich sage ja nicht, dass das Hotel von Grund auf renoviert werden muss, einen Hauch von Nostalgie schätzen die Gäste. Aber die Zimmer sind einfach hoffnungslos veraltet. Und die Automobile erst recht.«

»Wie wirst du vorgehen?«

»Ich erstelle einen Finanzplan, dafür brauche ich einen Überblick über sämtliche Konten.«

»Ich sage Hans Bescheid, damit er sich darum kümmert.«

Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke und tastete sich in den Raum, ließ den polierten Parkettboden in buttrigem Gold glänzen. Seltsamerweise machte das den fast leeren Raum noch trostloser.

»Du hättest es früher erleben sollen«, sagte sie.

»Habe ich doch«, antwortete er, und Emma erinnerte sich an das Jahr, als Karls Sohn das letzte Mal mit den Kindern hier gewesen war, 1937, zwei Jahre vor Ausbruch des Krieges, dessen Ende nun schon acht Jahre zurücklag.

»Erinnerst du dich noch daran?«, fragte sie.

»Vage. Aber ich muss sagen, die Bilder, die später zu uns rüberschwappten, waren prägnanter, und ich habe mich oft gefragt, wie ihr seinerzeit so sorglos habt feiern können.«

Wenn du wüsstest, dachte Emma.

»Magdalena Schürmann?«, fragte eine hagere Frau in mittleren Jahren, und Magdalena erhob sich rasch von dem Stuhl, auf dem man sie gebeten hatte Platz zu nehmen.

»Mein Name ist Erna Weiß, ich bin die Haushälterin.« Die Frau gab ihr die Hand und deutete dann einen schmalen Korridor hinunter. »Kommen Sie bitte mit in meine Räumlichkeiten, dort können wir in Ruhe alle Formalitäten besprechen.«

Magdalena nahm ihre Tasche, folgte der Frau über den leicht verschlissenen Teppich und stellte fest, dass der leise Hauch von Verfall hier unten stärker sichtbar war als oben. Ein Relikt, das nur noch durch die Zeit geschleppt wurde, ohne deren Wandel mitzumachen.

»Nehmen Sie bitte Platz.« Frau Weiß deutete auf einen Stuhl und ließ sich auf der anderen Seite des kleinen Schreibtisches nieder. Dann streckte sie die Hand aus, und Magdalena reichte ihr die Mappe mit ihrem Zeugnisheft. Dieses musste lückenlos geführt werden und enthielt Empfehlungen und Tadel vorhergehender Arbeitgeber – glücklicherweise in Magdalenas Fall nur Ersteres. Bisher hatte sie für die Betreiberin einer kleinen Pension gearbeitet, die sie nur ungern hatte ziehen lassen, daher war sie voll des Lobes für sie. Magdalena vermutete, dass man hier nach wie vor auf einen untadeligen Lebenslauf Wert legte.

Langsam blätterte Frau Weiß das Heft durch, während Magdalena die Hände in ihrem Schoß faltete und den Blick aus dem Fenster richtete. Da sie wusste, dass an ihrem Zeugnis nichts auszusetzen war, brachte sie dessen Prüfung nicht aus der Ruhe. Sie hörte Papier rascheln, als Frau Weiß umblätterte, und hielt den Blick weiterhin aus dem Fenster gerichtet, betrachtete das diesige Grau, das dann und wann von einem zögerlichen Sonnenstrahl durchbrochen wurde. Der Frühling schien sich in diesem Jahr viel Zeit lassen zu wollen.

»Also gut«, hörte sie Frau Weiß sagen und wandte sich ihr wieder zu. »Das sieht alles so weit erfreulich aus. Herr Hohenstein wird den Vertrag vorbereiten, und ich zeige Ihnen schon einmal Ihr Zimmer.« Sie erhob sich, und Magdalena tat es ihr gleich.

Sie verließen den Raum und gingen durch den Dienstbotenkorridor zur Personaltreppe und hoch in das Dachgeschoss. »Es gibt auch zwei Aufzüge«, erklärte Frau Weiß, aber die sind nur für die Gäste und die Herrschaften. Die einzigen Dienstboten, die sie nutzen dürfen, sind der Concierge und die Pagen. Den Zimmermädchen ist es nur erlaubt, wenn sie den Putzständer mit sich führen müssen. Das wäre zu mühsam über die Dienstbotentreppe.« Sie öffnete eine schwere Holztür und führte Magdalena durch einen Korridor, von dem zu beiden Seiten Türen abgingen. »Sie kommen in den Luxus, eine eigene Kammer zu bewohnen. Das ist nicht selbstverständlich, aber wir haben derzeit nur wenig Personal.«

Da Magdalena nicht so recht wusste, was sie darauf antworten sollte, sagte sie lediglich, dass sie sich darauf freue, die Stelle anzutreten. Die Haushälterin öffnete eine Tür und deutete auf eine kleine, saubere Kammer. Außer zwei Betten mit dazugehörigen Kommoden gab es einen zweigeteilten Schrank, einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen und eine Kommode mit vier Schubladen.

»Es ist sehr hübsch«, lobte Magdalena, weil sie das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen, und stellte ihre Tasche auf den Boden. »Vielen Dank.«

»Sie können sich hier einrichten, ich erwarte Sie dann in einer halben Stunde in meinem Zimmer, damit Sie den Vertrag unterschreiben. Danach werden Sie eingewiesen.« Damit ließ sie Magdalena allein und schloss die Tür hinter sich.

Langsam ging Magdalena durch den Raum, ließ eine Hand über den Schreibtisch gleiten, überlegte, welches Bett sie nehmen sollte. Sie entschied sich für das auf der Wandseite und ging hernach zum Fenster, das so hoch war, dass sie sich ein wenig recken musste, um hinausschauen zu können. Von hier aus hatte sie einen herrlichen Ausblick auf die bewaldeten Berge und einige Minuten lang stand sie einfach nur da und sah hinaus. Dann sah sie auf die Uhr und machte sich seufzend daran, ihre Kleidung in eine Hälfte des Schrankes zu räumen. Sie hoffte, dass die Personalsituation blieb, wie sie war, denn sie war nicht sonderlich erpicht darauf, mit einer Fremden den Schlafraum zu teilen. Schlimm genug, dass sie überhaupt hier arbeiten und ihnen zu Diensten sein musste.

Nachdem sie alles eingeräumt hatte, blieb ihr noch ausreichend Zeit, sich in aller Ruhe auf den Weg zu Frau Weiß zu machen. Langsam ging sie durch den Korridor auf die Tür zu, öffnete sie und trat in einen weiteren Korridor, von dem aus eine Tür zu den Kammern der männlichen Dienstboten führte. Sie dachte an die Geschichten, die sie über das Hotel während der Kriegsjahre gehört hatte, und fragte sich, was diese Räume wohl zu erzählen wüssten. Aber alles zu seiner Zeit, jetzt musste sie erst einmal ihre Stelle antreten, und wenn sie diese behalten wollte, bis sie wusste, was sie wissen wollte, durfte sie sich keine Verfehlung leisten.

»Ah, Sie sind pünktlich, sehr gut.« Frau Weiß nickte anerkennend. »Damit haben Sie auch gleich eine der wichtigsten Regeln des Hotelbetriebs erfasst. Wenn viel Betrieb ist, können wir uns keine Verzögerungen erlauben, da läuft alles nach einem Zeitplan ab, der unbedingt eingehalten werden muss. Und natürlich haben Sie immer dann zur Verfügung zu stehen, wenn ein Gast außer der Reihe wünscht, dass sein Zimmer aufgeräumt wird. Aber dazu später mehr. Darüber hinaus ist absolute Diskretion wichtig. Nichts, was Sie in diesem Haus erfahren, wird an die Öffentlichkeit getratscht. Sollten wir Sie bei einer derartigen Verfehlung ertappen, werden Sie fristlos und ohne Zeugnis gekündigt.«

»Ja, Frau Weiß.« Magdalena nickte gehorsam.

»Gut, dann habe ich hier die Verträge. Frau Rebein wird Ihnen später das Haus zeigen und Ihnen Ihre Aufgaben erklären.«

Magdalena hatte sich vorher eingehend mit den Familienverhältnissen befasst und wusste, dass Emma Rebein die Cousine von Karl Hohenstein war. Sie unterschrieb den Vertrag, und Frau Weiß legte ein Löschblatt darauf.

»Gut, da wären wir also. Ich begleite Sie jetzt zu Frau Rebein. Den restlichen Tag können Sie dann damit verbringen, sich hier einzufinden, ehe Sie morgen früh um sechs Ihren Dienst antreten.«

Frau Rebein war eine elegante Frau Ende vierzig, deren blondes, von nur wenigen grauen Strähnen durchzogenes Haar zu weichen Locken gedreht war. Sie saß an einem Schreibtisch und erhob sich, als Frau Weiß mit Magdalena das Arbeitszimmer betrat. »Unser neues Zimmermädchen, wie schön.« Ihr Lächeln wirkte entwaffnend, und obwohl Magdalena keinerlei freundliche Gedanken für die Familie hegte, stellte sie fest, dass es schwer war, Emma Rebein nicht zu mögen.

»Danke, Frau Weiß.« Die Frau nickte der Haushälterin zu und wandte sich an Magdalena. »Sie kommen aus der Region?«

»Aus Bonn, gnädige Frau.« Gespannt beobachtete Magdalena, ob ihr Name in Verbindung mit ihrer Herkunft eine Erinnerung in Emma Rebein wachrief, aber deren freundliches Lächeln blieb unverändert, weder schlich sich Vorsicht hinein noch verblasste es. Entweder wusste sie es nicht, oder aber es war bedeutungslos für sie.

Lange Zeit war das Siebengebirge vom Krieg verschont geblieben, und so war auch der Tourismus weitergegangen. Die Vergnügungssucht der Menschen, die aus allen Teilen Deutschlands angereist kamen, hatte schon fast etwas Verzweifeltes gehabt. Auch NS-Funktionäre waren hier abgestiegen, was Karl zähneknirschend hatte dulden müssen. Er hatte seine weltoffene Haltung nie aufgegeben, wenngleich er sie zeitweise nicht gar zu offen hatte zeigen dürfen.

Zum Kriegsende hin hatten Wehrmachtssoldaten das Hotel besetzt und es in ein Lazarett umgewandelt. Karls Zimmermädchen waren in die Krankenpflege eingewiesen worden, und männliches Personal hatte er zu dem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr gehabt, da alle Männer im entsprechenden Alter eingezogen worden waren. Lediglich der Concierge, Herr Wolff, war noch bei ihnen geblieben, da er für den Kriegsdienst als untauglich befunden worden war.

Nach Kriegsende waren die Verwundeten auf die Krankenhäuser verteilt worden, das Hotel stand leer und war in einem desolaten Zustand. Da in den ersten Jahren niemand auch nur an Reisen denken konnte, verdingten sich die Mitglieder der Familie in der Stadt, um beim Wiederaufbau zu helfen. Das weibliche Personal arbeitete in Bonn, behielt das Wohnrecht im Dienstbotentrakt und zahlte eine geringfügige Miete, die Karl wiederum als Einkommen geltend machen konnte. Es waren eigenartige Zeiten, in denen das Verhältnis zwischen den Herrschaften und dem Personal sich veränderte und sie alle eine Hausgemeinschaft bildeten. Gemeinsam brachten sie schwere Winter hinter sich, in denen Rationierungen und Kälte an ihnen zehrten. Einige bewarben sich später woanders, andere kamen hinzu, und als Karl nach der Währungsreform langsam den Hotelbetrieb wieder aufnahm, tat er dies mit einer Haushälterin, acht Zimmermädchen, einem Pagen und drei Kellnern, während er selbst die Aufgaben des Concierge übernahm, nachdem Herr Wolff in den Ruhestand getreten war.

Das Hotel warf so wenig ab, dass sich in den letzten Monaten drei der Zimmermädchen anderweitig bewarben, und Karl beschloss, diese zunächst nur durch ein Mädchen zu ersetzen. Dafür stellte er mehr Kellner ein, denn in letzter Zeit gab es wieder vermehrt Ausflügler ins Siebengebirge, die auf dem Hin- oder Rückweg in seinem Restaurant einkehrten. Er hoffte, dass sein Enkel Sebastian und Johannas Enkel Adrián die richtigen Ideen hatten, denn ansonsten würde er sich in der Tat mit dem Verkauf des Hotels auseinandersetzen müssen. Aber er fühlte sich mit seinen fünfundsiebzig Jahren zu müde, um hier wegzuziehen und seinen Lebensabend in der Stadt zu verbringen. In diesem Haus war er geboren, hatte hier wundervolle Zeiten erlebt, Kinder großgezogen, Enkelkinder willkommen geheißen, und wenn es nach ihm ging, wollte er hier auch seinen letzten Atemzug tun.

Er saß an seinem Schreibtisch und ging die Bilanzen durch, als sein Neffe Hans eintrat. »Sebastian war gerade bei mir«, sagte er. »Er fragte, welches Bureau er beziehen kann.«

»Ach ja, richtig, darum wollte ich mich ja kümmern.«

»Das kann ich doch auch machen.« Hans ließ sich auf einem der beiden Besucherstühle nieder. »Er kann einen der beiden Schreibtische in dem großen Arbeitszimmer haben. Oder ich räume dieses hier, ganz wie du möchtest.«

Karl schüttelte den Kopf. »Nein, du behältst deinen Platz. Das große Arbeitszimmer reicht vollkommen, dann setzen wir Adrián zu ihm. Ich hoffe ja, die beiden wirken mit ihren Ideen aufeinander ein.«

»Oder sie streiten die ganze Zeit.«

»Das bekommen wir hier ja dann glücklicherweise nicht mit.« Karl teilte mit seinem Neffen eines der seltenen, verschwörerischen Lächeln. Er hatte den Arbeitsplatz, an dem er derzeit saß, schon vor Jahren an Hans abgetreten, als dieser offiziell seine Nachfolge antrat, aber gelegentlich zog es ihn doch wieder hierher. Er war immer schon ein ruheloser Geist gewesen, und offenbar wurde das auch hochbetagt nicht besser. Da Karls Sohn sich gegen eine Laufbahn als Hotelier entschieden hatte und mit seiner Ehefrau nach Amerika gegangen war, hatte Karl seinen Neffen an dessen Stelle gesetzt. Nun stand dessen Platz wiederum seinem Enkel zu, aber Sebastian sollte sich erst einmal bewähren, danach würden sie weitersehen.

Sooft Karl auch bedauert hatte, dass seine Kinder so weit weg wohnten, war er in den Kriegsjahren froh darum gewesen, seine Tochter in der Schweiz und seinen Sohn in Amerika zu wissen. Sein Schwiegersohn war der beste Koch, den er je gehabt hatte, und so traf Karl dessen Abschied nicht nur persönlich, sondern auch beruflich. Andererseits hatte er durchaus verstehen können, dass die Familie seiner Tochter Deutschland verließ, denn sein Schwiegersohn hatte bereits Mitte der Dreißiger gesagt, ihm bereite die Richtung, in die das Land sich entwickelte, tiefstes Unbehagen, und so hatte er eine lukrative Stelle in einem großen Hotel in Genf angetreten.

Hans’ Bruder hatte sich mit demselben überbordenden Eifer in den Krieg gestürzt wie ihr Vater seinerzeit, Karls Bruder Alexander. Die Desillusionierung war recht schnell gekommen, Tod und Verzweiflung anstelle von Heldentum, und am Ende der Kampf für eine Sache, hinter der man nicht einmal stand. Karl beobachtete Hans, der wiederum einen Stapel Akten zu sich gezogen hatte, um darin zu lesen. Wenn man ihn ansah, war es, als sähe man seinen Vater vor sich, in einem Alter, das dieser nicht hatte erreichen dürfen. Wenn er einmal geht, dachte Karl, dann erinnert nichts mehr an Alexander.