CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

DIE UNHEIMLICHE FREIHEIT

- Galaxis Science Fiction, Band 8 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

James H. Schmitz: DER PUPPENSPIELER (The Telzey Toy) 

H. Beam Piper: DER TAG DES IDIOTEN (Day Of The Moron) 

Harry Bates: DER TAG, AN DEM DIE ERDE STILLSTAND (Farewell To The Master) 

Randall Garrett: DIE UNHEIMLICHE FREIHEIT  (But, I Don't Think) 

 

Das Buch

 

- Als Telzey erwacht, hat sie eine Doppelgängerin. Keines der beiden Mädchen weiß, welches das echte und welches das synthetische ist. Sie haben ihre Rolle zu spielen als Marionetten, deren Bewegungen ein Computer steuert...

- Engstirnigkeit und Rechthaberei beschwören die Katastrophe herauf. Und das Schicksal von Millionen liegt in den Händen des dümmsten von ihnen...

- Ein Fanatiker hat den Sendboten einer außerirdischen Welt erschossen. Nun wartet die Menschheit auf die Rache der Roboter...

- Es war nicht das Paradies, in dem er lebte und arbeitete, aber es war seine Welt. Gewaltsam herausgerissen, kam er mit allem zurecht, nur mit einem nicht...

 

Die von Christian Dörge zusammengestellte Anthologie Die unheimliche Freiheit enthält vier Erzählungen von James H. Schmitz, H. Beam Pier, Randall Garrett – und von Harry Bates, dessen legendäre Erzählung Der Tag, an dem die Erde stillstand (die literarische Vorlage für zwei Verfilmungen aus den Jahren 1951 und 2008) hier erstmals seit Jahrzehnten wieder in deutscher Sprache erhältlich ist.  

Die unheimliche Freiheit erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  James H. Schmitz: DER PUPPENSPIELER (The Telzey Toy)

 

 

 

Eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar und Pfirsichwangen, die in eine andere Wirklichkeit gehörte, ging mit katzenhafter Grazie an einer Restaurant-Terrasse in Orado City vorbei, wo Telzey während eines Einkaufsbummels eingekehrt war, um zu Mittag zu essen. Telzey blickte ihr entgegen. Eigenartig, dachte sie. Ihrem Aussehen und auch der Art nach, wie sie sich bewegte, kam ihr die Frau bekannt vor. Dennoch wusste sie, dass sie einander noch nie begegnet waren. Sie wusste aber auch, dass die Frau einfach nicht auf dieser Terrasse in Orado City sein durfte. Sie existierte in anderen Dimensionen, nicht hier und nicht heute. Die Frau, die demnach nicht existierte, sah Telzey im Vorübergehen an. Da war kein Erkennen in ihrem Blick. Telzey schob ihren Stuhl leicht zur Seite, sah zu, wie das vertraut-fremdartige Phantom nicht zu weit entfernt einen Tisch nahm und nach einer Bestellscheibe griff. Eine sehr gut aussehende junge Frau, mit schönem, gefasstem Gesicht, modisch und teuer gekleidet - und keiner der Gäste schien an ihrer Anwesenheit etwas Ungewöhnliches zu finden.

Vielleicht, überlegte Telzey, waren es nur ihre Psi-Sinne, die daran etwas Ungewöhnliches fanden. Sie schickte einen Gedankenfühler aus, aber kein telepathischer Kontakt entstand mit der anderen Person. Sie verspürte aber auch keinen Widerstand. Wenn die Frau eine Psi war, dann gehörte sie einer untypischen Abart an. Sie hatte jetzt ein Glas vom Tisch genommen und nippte daran.

Schließlich begriff sie. Daran war überhaupt nichts Geheimnisvolles, sagte sie zu sich, halb amüsiert und halb enttäuscht. Vor etwa einem Jahr hatte sie mit Bekannten eine Martri-Aufführung besucht. Diese Frau auf der Terrasse sah aus und bewegt sich wie eine der Puppen aus dem Stück, das sie an jenem Abend gesehen hatten. Die Puppe hatte eine Nebenrolle gespielt, die aber doch so wichtig gewesen war, dass Telzey sich daran erinnerte. Kein Wunder, dass die Begegnung sie überrascht hatte! Schließlich liefen Martri normalerweise nicht allein in der Stadt herum. Und dann überlegte sie: Oder doch? 

Telzey studierte erneut das bleiche Profil. Ihre Haut begann zu prickeln. Ein unwahrscheinlicher Gedanke war das zwar, aber sie konnte sich sehr schnell vergewissern. Manche Gehirne ließen sich sehr leicht durchforschen, andere bereiteten Schwierigkeiten. Und wieder andere gab es, bei denen war es überhaupt nicht möglich. Wenn diese Frau zufällig eine von denen war, bei denen es leicht ging, würde Telzey in wenigen Minuten mit einem Gedankenfühler feststellen können, was sie war - oder nicht war.

Es dauerte länger. Telzey hatte sofort Kontakt, aber er blieb verschwommen und undeutlich; immer wieder verlor sie ihn. Dann, als sie ihn erneut hergestellt hatte, diesmal etwas fester, stand die Frau auf. Telzey steckte schnell ihre Kreditkarte in den Zahlmechanismus des Tisches, wartete, bis die Frau sich abgewandt hatte, und folgte ihr dann zum Ausgang.

Martripuppen waren biologische Organismen, die man äußerlich nicht von menschlichen Wesen unterscheiden konnte. Sie hatten ein Gehirn, das man programmieren konnte, und das auf Stichwerte mit menschlicher Sprache und menschlichem Verhalten reagierte. Ob man diese Art von Gehirn mit so etwas wie dem menschlichen Geist in Verbindung bringen konnte, war eine Frage, die Telzey noch nie zuvor überlegt hatte. Sie war von Martri-Aufführungen nicht sonderlich begeistert und hatte sich nie intensiv damit beschäftigt.

Aber bei dieser jungen Frau hatte sie etwas gespürt. Die verschwommenen Eindrücke schienen menschlich. Aber ob es sich um die Ausstrahlungen des synthetischen Gehirns einer Martripuppe gehandelt hatte, konnte sie mit Sicherheit nicht sagen. Dafür waren die Eindrücke zu vage gewesen.

Auf einer anderen Terrasse des Einkaufszentrums nahm die Frau ein Lufttaxi. Als es von der Plattform abhob, stieg Telzey in das nächste Taxi und bat den Piloten, dem soeben abgeflogenen Flugzeug zu folgen. Der Pilot holte sich das Taxi des Kollegen auf den Bildschirm. »Ich weiß nicht, ob das geht«, sagte er dann. »Der fliegt in ganz dichtem Verkehr.«

Telzey lächelte. »Doppelten Tarif, wenn Sie es versuchen.«

Sie nahmen die Verfolgung auf. Telzey bemühte sich, Gedankenkontakt mit der Frau aufrechtzuerhalten. Ein paar Minuten vergingen, dann sagte der Pilot: »Ich glaube, wir haben sie verloren.«

Telzey wusste das bereits. Wenn man Gedankenkontakt herstellen konnte, spielte die Entfernung nicht unbedingt eine Rolle. In diesem Falle aber traf das zu. Der Flugverkehrsstrom quer durch die Stadt war dicht, und es würde nicht lange dauern, bis die automatischen Kontrollorgane sich einschalteten und Umleitungen Vornahmen. Die bestenfalls schwachen Eindrücke, die Telzey empfangen hatte, wurden in zunehmendem Maße von den Gedanken anderer überlagert. Das Taxi, das sie verfolgt hatten, war inzwischen bestimmt schon einige Kilometer entfernt. Telzey stellte ihre gedanklichen Bemühungen ein, forderte den Piloten auf, zum Einkaufszentrum zurückzufliegen, und lehnte sich nachdenklich in ihren Sitz zurück.

Den wenigsten Martriphilen machte es etwas aus, wenn die Puppen auf der Bühne starben, sofern die Handlung es verlangte. Das war ein wesentlicher Bestandteil des Realismus einer Martri-Aufführung. Die Puppen waren biologische Maschinen; die Emotionen und Reaktionen, die sie zeigten, waren programmiert. Sie waren sich ihrer selbst nicht bewusst, so lautete jedenfalls die Theorie. Was Telzey in den Gedanken der jungen Frau mit dem kastanienbraunen Haar gefunden hatte, schien weniger wichtig als das, was sie nicht gefunden hatte, obwohl sie speziell danach gesucht hatte.

Die junge Frau hatte gewusst, wo sie war und was sie tat. Da waren Fetzen unmittelbarer Erinnerung, momentane Beobachtungen, eine Spur von einem Ziel. Aber auf ihre eigene Person bezogen schien sie sich ihrer Existenz nicht bewusst zu sein. Sie wusste zwar, dass sie objektiv existierte, dass es sie gab, aber das war für sie eine Tatsache wie viele andere Tatsachen auch, die für sie nicht von besonderer Bedeutung waren. Mit anderen Worten: sie schien sich ihrer selbst nicht bewusst zu sein. Soweit Telzey das hatte feststellen können, besaß dieser Zustand für sie überhaupt keine Bedeutung; aber der Kontakt war nicht stark genug gewesen, um das mit Bestimmtheit sagen zu können.

Genau betrachtet, überlegte Telzey etwa eine Stunde später, war die Sache unwichtig. Sie hatte eine Idee gehabt, hatte zunächst versucht sie zu widerlegen, und als ihr das nicht gelungen war, hatte sie sogar einiges Beweismaterial gesammelt, das ihre Theorie untermauerte. Verrückt! Sollte sie noch mehr Zeit damit verschwenden?

Sie biss sich gereizt auf den Daumen, rief das Informationszentrum an und bat um Daten über Martri-Aufführungen und Martripuppen und sah sich das Material an, als es eintraf. Es gab nicht viel, was sie nicht schon kannte. Eine Martribühne war ein programmierter Computer, der wiederum die Puppen programmierte und sie während des Spiels nach den allgemeinen Richtlinien des Regisseurs leitete. Handelte es sich um ein relativ neues Stück, gab es keine Aufführungen, die identisch waren. Computer und Puppen hatten gewisse Freiheiten in ihrem Verhalten und wurden so gelenkt, dass sie das Optimum an Logik und Wirkung erzielten. Erst wenn keine weiteren Verbesserungen am Stück mehr möglich waren, blieb die Martri-Aufführung unverändert, förmlich erstarrt in ihrer eigenen Perfektion.

Aber das Material, das Telzey angefordert hatte, enthielt keinen Hinweis, dass jemals eine Martripuppe ausgerissen war, sich selbständig gemacht hatte.

Das Martriensemble, dessen Aufführung Telzey besucht hatte, befand sich nicht mehr auf Orado. Sie konnte feststellen lassen, wo es sich gegenwärtig befand, aber es musste auch einfachere Mittel und Wege geben, um sofort zu erfahren, was sie wissen wollte. Bei der Prüfung des Materials war einige Male ein Name aufgetaucht - Wakote Ti. Sie konnte mit ihm in Verbindung treten. Ein bedeutender Mann: Gelehrter, Industriemagnat, Millionär, Philanthrop, Philosoph, Künstler und Kunstsammler; und darüber hinaus bester Kenner des Phänomens Martri. Wakote Ti entwarf, erzeugte und verkaufte die besten Puppen in der Zentralgalaxis, konstruierte und programmierte die fortschrittlichsten Martribühnen, hatte über fünfzig erfolgreiche Stücke geschrieben und war ein bekannter Regisseur.

Eine von Telzeys Freundinnen hatte einen martribegeisterten Verwandten, der Wakote Ti nicht nur bewunderte, sondern auch geschäftliche Verbindungen zu ihm unterhielt. Er erklärte sich bereit, Telzey Bescheid zu sagen, wenn der große Mann das nächste Mal in seinen Laboratorien in Draise auftauchte. Dann ließe sich bestimmt ein persönliches Gespräch vermitteln.

 

»Es besteht gar kein Zweifel daran, dass es völlig legal ist, zu töten«, sagte Wakote Ti. Eine Seminararbeit, die sie angeblich über das Thema Martri schreiben wolle, hatte Telzey den Scheingrund geliefert, um ein Gespräch zu bitten. Er zuckte die Achseln. »Aber ich würde es einfach nicht übers Herz bringen, es zu tun. In diesen Puppen wohnt Leben und Geist, wenn auch synthetisch und nur in beschränktem Maße. Und was noch wichtiger ist: sie besitzen Persönlichkeit und Charakter. Natürlich ist alles programmiert, aber nach meinem Gefühl besteht der Unterschied zwischen Puppen und Menschen mehr in gradueller als in prinzipieller Weise. Es sind unfertige Leute. Sie handeln immer so, wie es ihnen ihr Charakter vorschreibt, nicht notwendigerweise so, wie der Komponist oder der Regisseur es wünscht. Ich habe mich schon oft gewundert, wie sie die Rollen, die ich ihnen vorschrieb, verändert haben. Aber die Änderungen waren meistens vorteilhaft für die Aufführung. Man kann sie nicht zwingen, von dem, was sie sind, abzuweichen, sobald sie programmiert sind. In dieser Beziehung scheinen sie aufrichtiger als viele von uns Menschen.«

Ti schenkte Telzey ein gewinnendes Lächeln. Er war ein großer, muskulöser Mann in mittleren Jahren, mit rötlichem Gesicht und leicht angegrautem schwarzem Haar. Er strahlte Energie aus, und es gehörte auch grenzenlose Energie dazu, das zu vollbringen, was er vollbracht hatte. Gleichzeitig gab es da in seinen Gesten und seiner Stimme eine seltsame Sanftheit. Es fiel nicht schwer, Ti sympathisch zu finden.

Und er hatte einen Geist, den ein Telepath nicht antasten konnte. Das hatte Telzey bereits nach den ersten Minuten festgestellt. Schade! Telzey hätte lieber die Informationen, die sie von ihm wollte, auf direktem Wege bekommen, ohne ihm verraten zu müssen, was sie eigentlich suchte.

»Benutzen Sie echte Menschen als Modelle für Ihre Puppen?«, fragte Telzey. »Ich meine bei der Konstruktion?«

»Im physischen Sinne?«

»Ja.«

Ti schüttelte den Kopf. »Nicht nur eine Person! Viele. Die Puppen sind Idealtypen.«

Telzey zögerte und sagte dann: »Vor einiger Zeit hatte ich ein eigenartiges Erlebnis. Ich sah eine Frau, die genau wie die Martripuppe in einer Aufführung aussah, die ich besucht hatte. Ich war last davon überzeugt, es müsse eine Puppe sein, die sich irgendwie von der Bühne entfernt und draußen in der Welt verlaufen hatte. Aber das ist wahrscheinlich unmöglich!«

»Oh natürlich!«

»Weshalb aber unmöglich?«

»Wegen der Einschränkungen, denen sie unterliegen. Man kann eine Puppe so programmieren, dass sie in zwanzig bis fünfunddreißig Stücken eine gute Leistung bietet. Eine unserer neuen Puppen, die gerade eingesetzt wird, schafft sogar zweiundvierzig Rollen von durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad. Ich glaube, das ist der Rekord.

Im besten Falle kann sie aber nur eine sehr beschränkte Anzahl spezifischer Situationen meistern, verglichen mit der endlos wechselnden Vielzahl von Situationen in der wirklichen Welt. Würde man einer Puppe die Freiheit geben, so würde die Masse der Eindrücke sehr schnell ihre Reaktionskapazität überfordern. Die Puppe würde einfach aufhören zu funktionieren. Wie ein Kurzschluss.«

»Theoretisch gesprochen«, fragte Telzey, »wäre es denn nicht möglich, die Reaktionskapazität bis zu dem Punkt auszuweiten, wo eine Puppe wie ein Mensch reagieren könnte?«

»Ich kann nicht sagen, dass es theoretisch unmöglich wäre«, entgegnete Ti. »Aber das würde eine neue Wissenschaft erfordern. Und da es genug echte Menschen gibt, hätte das doch keinen großen Sinn, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«

»Wir experimentieren natürlich ständig.« Ti stand auf. »In einem anderen Teil dieses Gebäudes gibt es eine Anzahl Prototypen in verschiedenen Entwicklungsstadien. Wir zeigen sie gewöhnlich nicht her, aber wenn Sie sie gern sehen möchten, kann ich eine Ausnahme machen.«

»Das wäre sehr liebenswürdig«, sagte Telzey.

Ganz überzeugend hatte das nicht geklungen, dachte sie. In anderen Bereichen wurden auch ständig neue Technologien entwickelt. Warum also nicht auch bei Martripuppen? Jedenfalls würde sie jetzt eine grundlegende Frage klären können. Sie würde versuchen, mit einem oder mehreren der Prototypen, die er ihr zeigen wollte, geistigen Kontakt aufzunehmen. Dann würde sie ja sehen, ob zwischen ihrem Eindruck bei der jungen Frau und dem bei den Prototypen eine Ähnlichkeit bestand.

Aber den Plan gab sie rasch wieder auf. Ti hatte die Tür zu einem großen Büro geöffnet, und ein hünenhafter junger Mann, der hinter einem Schreibtisch saß, blickte auf, als sie eintraten. Er war Telepath.

Wenn sich zwei Psi-Telepathen zufällig begegneten, so gab es dafür eine feste Verhaltensregel. War keiner der beiden daran interessiert, die Begegnung auszudehnen, ließen sie es sich nicht anmerken, dass sie wussten, dass der andere ein Psi war. Wenn einer interessiert war, gab er sich auf geistigem Wege zu erkennen. Wenn der andere nicht reagierte, war die Sache erledigt.

Weder Telzey noch der junge Mann gaben sich zu erkennen. Ti stellte sie einander vor.

»Das ist Linden, mein Sekretär und Assistent«, sagte er, und zu Linden gewandt: »das ist Telzey Amberdon, die sich für unsere Puppen interessiert. Ich zeige ihr, was wir augenblicklich in der Entwicklung haben.«

Linden, der auf gestanden war, verbeugte sich und sagte: »Soll ich Miss Amberdon herumführen?«

»Nein, das mache ich selbst«, sagte Ti. »Ich sage es Ihnen bloß, damit Sie wissen, wo ich zu finden bin.«

Damit war Telzey die Möglichkeit genommen, eine der Puppen geistig zu sondieren. Jetzt, da sie einander begegnet waren, würde Linden wahrscheinlich telepathische Aktivität in der Umgebung sofort bemerken. Und solange sie nicht mehr wusste, wollte sie verhüten, dass ihr eigentliches Interesse an den Puppen bekannt wurde. Es gab auch andere Möglichkeiten. Die halbe Stunde, die sie mit Ti im Keller verbrachte, war in anderer Hinsicht sehr interessant.

»Die hier«, sagte er, »gehören zu einem Experiment, das der größeren Produktion dienen soll. Es galt bisher als gute Leistung, in drei Wochen eine fertige Puppe herzustellen. Wir haben diesen Rekord schon seit einiger Zeit gebrochen. Diese neuen Modelle können wir in vierundzwanzig Stunden herstellen. Sie sind für fünfzehn Spiele programmiert.« Er strahlte Telzey an. »Natürlich hat diese Puppe hier wahrscheinlich noch Kinderkrankheiten - sie ist noch nicht restlos getestet. Aber wir sind auf dem richtigen Wege! Geschwindigkeit ist wichtig. Puppen können beschädigt werden oder ausfallen, und dann liegt ein ganzes Programm brach, bis eine Ersatzpuppe da ist.«

 

In jener Nacht hatte Telzey in ihrem Haus in Orado City einen ungeladenen Besucher. Sie war kurz vor dem Einschlafen, als sie einen vorsichtigen Gedankenfühler spürte. Sie war sofort völlig wach, ließ sich aber nicht anmerken, dass sie etwas bemerkt hatte. Vielleicht handelte es sich nur um ein Versehen.

Aber dann schien es, als stecke Absicht dahinter. Der andere Psi war vorsichtig, aber der Fühler wurde nicht zurückgenommen. Ein nicht sehr geschickter Versuch, die Stärke ihrer Abschirmung zu prüfen, schwache Stellen zu finden, die leichten Zugang zu ihrem Geist erlaubten.

Schließlich entschied Telzey, dass sie lange genug gewartet hatte. Sie ließ die Abschirmung fallen und jagte einen Psi-Stoß zurück. Er prallte gegen einen Schirm. Der Fühler verschwand. Irgendwo war jetzt wahrscheinlich jemand für eine Stunde außer Gefecht gesetzt. Telzey lag eine Weile wach und überlegte. Einen Augenblick hatte sie geglaubt, die Persönlichkeit des Fremden an seinem Fühler zu erkennen. Linden? Vielleicht. Aber was hatte er gesucht?

 

In Orado City gab es ein Martritheater. Telzey hatte vorgehabt, sich am nächsten Tag eine Aufführung anzusehen. Auf die Weise hätte sie am ehesten Gelegenheit gehabt, ihre Studien weiterzuführen. Aber das Erlebnis mit dem Psi-Eindringling hatte sie dazu veranlasst, ihre Pläne zu ändern. Wenn Wakote Ti versucht hatte, sie zu sondieren, hatte Ti starke Gründe, sich für einen Telepathen zu interessieren, der sich seinerseits für Martripuppen interessierte. Das konnte bedeuten, dass sie eine Weile unter Beobachtung stand. Deshalb wollte sie sich bemühen, alles, was sie mit Puppen zu tun hatte, möglichst im geheimen zu erledigen. Und das bedeutete auch, dass sie nicht ins Theater von Orado City gehen durfte. Sie zog telefonisch Erkundigungen ein und traf kurz darauf mit dem Luftkissenzug in einer anderen Stadt des Kontinents ein, wo gerade eine Martri-Aufführung stattfand. Unterwegs hatte sie ein paarmal den Sitzplatz gewechselt, aber nichts deutete darauf hin, dass man ihr folgte. Sie entrichtete die Eintrittsgebühr am Theatereingang...

 

Sie lag auf dem Rücken auf einer Couch, in einem großen Raum, den warmer Sonnenschein erfüllte. Außer ihr war niemand da. Der Schock macht sie einen Augenblick lang bewegungsunfähig.

Schock nicht nur darüber, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand oder wie sie hierhergekommen war. Irgendetwas an ihr selbst schien anders, verändert, nicht in Ordnung.

Und dann erkannte sie es ganz plötzlich. Jede Spur von Psibewusstsein war verschwunden. Sie versuchte, ihre Umgebung geistig zu erfassen. Aber es war, als hätte sie die Augen geöffnet und sähe nichts. Panik erfasste sie. Sie lag ruhig da und kämpfte dagegen an, bis ihr Atem wieder gleichmäßig ging. Dann setzte sie sich auf und betrachtete ihre Umgebung. Die oberen zwei Drittel der einen Seite des Raumes bestanden aus einem großen Fenster, durch das man die Außenwelt erkennen konnte: Baumkronen. Hinter den Bäumen ein Berggipfel vor dem blauen Himmel. Der Raum selbst war einfach möbliert. Es gab einen langen Tisch aus poliertem dunklem Holz, Stühle, die Couch, auf der sie saß, Teppichboden. Dem Fenster gegenüber zwei geschlossene Türen.

Das weiße Hemd, die weißen Shorts, die weißen Strümpfe und Mokassins - waren nicht die, die sie getragen hatte.

Sie stellte vorsichtig den Fuß auf den Boden und stand auf, und in diesem Augenblick öffnete sich eine der Türen, und Telzey sah sich selbst ins Zimmer treten. Das versetzte ihr erneut einen Schock, aber nur ganz kurz. Die Erklärung war einleuchtend. Man brauchte bloß ein Mädchen zu nehmen, dessen Figur etwa der ihren glich. Kleine Korrekturen der Haut- und Augenfarbe, ein paar andere kosmetische Kunstgriffe, und schon hatte man einen scheinbaren Doppelgänger. Es gab natürlich Unterschiede, aber die waren zu unbedeutend, als dass sie einem gleich auffielen. Auf den ersten Blick erkannte Telzey keine. Das Mädchen war ebenso gekleidet wie sie, trug ihr Haar so wie sie das ihre.

»Hallo«, sagte Telzey so gleichmütig wie möglich. »Was soll das Spiel?«

Ihr Double kam auf sie zu, musterte sie und trat zwei Schritte zurück.

»An was erinnerst du dich zuletzt, bevor du hier aufgewacht bist?«, fragte sie.

Auch ihre Stimme? Jedenfalls ziemlich ähnlich. »An etwas wie einen weißen Blitz im Gehirn«, sagte Telzey vorsichtig.

Das Mädchen nickte. »In der Stadt Sombedaln?«, fragte sie.

»In Sombedaln. Ich befand mich in einem Gebäude und ging auf eine Tür zu.«

»Du warst etwa zehn Meter von der Tür entfernt«, sagte ihr Double. »Und dahinter war der Zuschauerraum des Martritheaters. Das ist auch meine letzte Erinnerung. Wie steht es mit deinem Psi? Ist es weg?«

Telzey studierte sie einen Augenblick. »Wer bist du?«

Das Double zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, Telzey Amberdon zu sein. Aber das selbe Gefühl könnte ich auch haben, wenn ich es nicht wäre.«

»Wenn du Telzey bist, wer bin dann ich?«, fragte Telzey.

»Setzen wir uns«, sagte das Double. »Ich bin seit einer halben Stunde wach, und man hat mir einiges gesagt. Das hat mich ziemlich fertiggemacht. Wahrscheinlich wird es dich auch schockieren.« Sie saßen nebeneinander auf der Couch. Das Double fuhr fort: »Im Augenblick ist es, glaube ich, nicht möglich, zu beweisen, dass ich die echte Telzey bin. Aber vielleicht können wir beweisen, dass du es bist.«

»Wie?«

»Psi«, sagte das Double. »Telzey hatte Psi-Kräfte. Ich kann sie jetzt nicht einsetzen. Nichts passiert. Wenn du...«

»Ich kann es auch nicht«, sagte Telzey.

Das Double seufzte. »Dann wissen wir es nicht«, sagte sie. »Man hat mir gesagt, dass eine von uns Telzey ist und die andere eine Martrikopie, die sich für Telzey hält. Eine Puppe namens Gaziel. Sie ist während der letzten zwei Tage entstanden, so wie andere Puppen auch, aber sie ist so konstruiert, dass sie zu einem genauen Duplikat von Telzey wird. Sie hat die gleichen Erinnerungen wie Telzey und auch ihre Persönlichkeit. So hat man sie programmiert. Deshalb fühlt sie, dass sie Telzey ist.«

Telzey schwieg ein paar Augenblicke. Dann fragte sie: »Ti?«

»Ja. Wahrscheinlich gibt es sonst niemand, der das getan haben könnte.«

»Ja, wahrscheinlich nicht. Warum hat er das getan?«

»Er sagte, er würde es uns beim Mittagessen verraten. Er sprach mit mir, als er auf dem Bildschirm beobachtete, wie du aufwachtest. Dann schickte er mich hierher, damit ich dir sage, was geschehen ist.«

»Also hat er zugesehen?«, fragte Telzey.

Das Double nickte. »Er wollte deine Reaktion sehen.«

 

»Was die Frage angeht, wer von Ihnen Telzey ist«, sagte Ti, »und wer Gaziel, so habe ich für den Augenblick nicht vor, Ihnen das zu verraten!« Er lächelte gewinnend. »Theoretisch wäre es selbstverständlich durchaus möglich, dass Sie beide Puppen sind und dass die ursprüngliche Telzey jemand anderer ist. Allerdings brauchen wir für die nächste Zeit eine Möglichkeit, Sie beide auseinanderzuhalten.«

Er zog einen Ring vom Finger, hielt beide Hände unter den Tisch und brachte sie als Fäuste wieder herauf. »Sie«, sagte er zu Telzey, »werden jetzt raten, in welcher Hand der Ring ist. Wenn Sie richtig raten, werden Sie für die nächste Zeit als Telzey bezeichnet, und Sie«, fügte er zu dem Double gewandt hinzu, »als Gaziel. Einverstanden?«

Beide nickten. »Links«, sagte Telzey.

»Links stimmt!«, antwortete Ti und strahlte sie an, während er die Hand öffnete und den Ring zeigte. Er steckte ihn wieder an den Finger und fragte Linden, der auch am Tisch saß: »Glauben Sie, dass sie geschummelt hat und Psi einsetzt?«

Linden blickte bloß finster drein, sagte aber nichts. Ti lachte. »Linden mag Telzey im Augenblick nicht. Wussten Sie, dass Sie ihn beinahe zwei Stunden außer Gefecht gesetzt haben, als er versuchte, Ihre Gedanken zu lesen?«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Gaziel.

»Er möchte Ihnen das gern heimzahlen«, fuhr Ti fort. »Seien Sie also auf der Hut, meine Lieben, sonst erlaube ich es ihm. Und was nun Ihre Zukunft angeht: Telzeys Abwesenheit ist bis jetzt noch nicht entdeckt worden, und wenn es dazu kommt, wird eine gut vorbereitete Spur zu irgendeinem anderen Planeten führen und den

Anschein geben, als wäre Telzey unter Begleiterscheinungen verschwunden, die darauf hindeuten, dass sie nicht mehr am Leben ist. Wissen Sie, ich beabsichtige nämlich, Telzey für immer zu behalten.«

»Warum?«, fragte Telzey.

»Weil sie etwas bemerkt hat«, sagte Ti, »Es wäre nicht wichtig gewesen, hätte Linden nicht festgestellt, dass sie Telepathin ist.«

»Dann war das Ihre Puppe, die mir im Restaurant aufgefallen ist«, sagte Gaziel. Sie blickte zu Telzey hinüber und fügte hinzu: »Die einer von uns aufgefallen ist.«

»Die uns beiden aufgefallen ist«, verbesserte Telzey. »So ist es, glaube ich, einfacher.«

Ti lächelte. »Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen beiden. - Ja, es war meine Puppe. Wir brauchen die Sache im Augenblick nicht weiter zu erörtern. Als Telepath und mit ihrer Neugier wäre Telzey vielleicht ein ernsthaftes Problem für mich geworden. Deshalb habe ich sofort entschieden, sie in meine Sammlung aufzunehmen, statt den einfacheren Weg einzuschlagen, sie beseitigen zu lassen. Ich forschte also in ihrer Vergangenheit, was die positive Meinung bestätigte, die ich während unserer ersten Unterhaltung gewonnen hatte. Sie versprach ein sehr nützliches Versuchsobjekt zu werden, und im Laufe der vergangenen Stunde hat sie eine weitere wertvolle Eigenschaft gezeigt.«

»Und die wäre?«, fragte Telzey.

»Psychische Stärke«, erklärte Ti. »Ich interessiere mich seit einiger Zeit für Psi-Personen, und mit Lindens Hilfe ist es mir schon früher gelungen, mir einige dieser Leute zu verschaffen.« Er schüttelte den Kopf. »Im allgemeinen schlechtes Material. Manche ertrugen nicht einmal die Erkenntnis, dass ich ein Duplikat von ihnen hergestellt hatte. Sie brachen zusammen und wurden nutzlos. Die Duplikate natürlich ebenso. Aber bei Ihnen beiden ist das anders! Sie haben sich sofort der Situation angepasst, haben mit gutem Appetit gegessen und schmieden zweifellos schon Pläne, dem alten Ti zu entfliehen!«

»Was haben Sie mit uns vor«, fragte Telzey.

Ti lächelte. »Das wird sich gleich erweisen. Es hat aber keine Eile.«

»Noch eine Frage«, sagte Gaziel. »Wieso legen Sie Wert darauf, dass Telzey eine Psi ist, obwohl Sie ihre Psi-Fähigkeiten unterdrückt haben?«

»Oh, das ist kein andauernder Zustand, den man nicht wieder ändern könnte«, antwortete Ti. »Die Fähigkeit wird zurückkommen. Man muss sie nur solange unterdrücken, bis ich gelernt habe, wie man sie - sozusagen - lenken kann.

»Und das Duplikat wird sie auch besitzen, nicht nur das Original?«, fragte Gaziel.

Ti nickte. »Das ist genau einer der Punkte, die ich klären möchte. Meine Puppen erledigen verschiedene Aufträge für mich. Bedenken sie doch, wie wertvoll Puppen mit Telzeys Psi-Talenten sein könnten - ein sehr ausgeprägtes Talent, wie Linden hier bezeugen kann!«

Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Ihre Fragen haben mir Freude gemacht. Aber jetzt muss ich wieder arbeiten. Sehen Sie sich in Ihrer neuen Umgebung um. Sie befinden sich auf meiner Privatinsel. Zwei Drittel davon sind beinahe unberührte Wildnis. Das restliche Drittel ist ein gepflegtes Anwesen, durch Mauern vom Wald getrennt. Sie bleiben innerhalb der Umfriedung. Falls Sie versuchen sollten, in den Wald zu flüchten, wird man Sie fangen. Es gibt Strafen für Ungehorsam und, was noch wichtiger ist, der Wald beherbergt ganz besondere Puppen - experimentelle Spielereien, denen Sie, wie ich meine, nicht so gern begegnen möchten. Innerhalb der Mauern können Sie sich frei bewegen. Orte, die Sie im Augenblick nicht besuchen dürfen, sind Ihnen ohnehin nicht zugänglich.«

 

»Die wissen natürlich, welche von uns die richtige ist«, sagte Gaziel zu Telzey. Sie gingen zwischen blühenden Ziersträuchern spazieren.

»Es wäre Zeitverschwendung, wenn wir uns bemühten, das herauszufinden«, antwortete Telzey. Gaziel war der gleichen Meinung. Das Martriduplikat ließ sich vielleicht mit bestimmten Instrumenten erkennen. Die menschlichen Sinne jedenfalls versagten.

»Würde es dich sehr stören, wenn sich herausstellen sollte, dass du nicht das Original bist?«, fragte Gaziel.

Telzey lächelte. »Ganz bestimmt. Und dich?«

Gaziel nickte. »Ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht, aber ich habe immer das Gefühl, dass ich zu etwas gehöre, das es schon sehr lange gibt. Es wäre gar nicht gut, jetzt festzustellen, dass das ein falsches Gefühl war, dass ich nur ich selbst bin, ein Wesen ohne Vergangenheit.«

»Jemand, der vor ganz kurzer Zeit überhaupt noch nicht existiert hat«, fügte Telzey hinzu. »Das wäre bestimmt unangenehm! Aber eine von uns beiden wird das schließlich erfahren. Und, wie Ti bemerkte, es ist ja auch möglich, dass wir beide Duplikate sind. Du weißt, unser Geist arbeitet fast identisch.«

»Fast«, sagte Gaziel. »Von dem Augenblick an, als wir aufwachten, müssen unsere Gehirne begonnen haben, unabhängig voneinander zu denken, aber es wird noch eine Weile dauern, bis die Unterschiede wirklich bedeutsam werden.«

»Das dürfen wir nicht vergessen«, sagte Telzey. Sie hatten die Sträucher hinter sich gelassen und sahen jetzt den Berg in der Ferne, der hinter den Bäumen des Urwaldes aufragte. Der gepflegte Landsitz schien eine ziemlich große Fläche der Insel einzunehmen. Als sie das weiße Gebäude durch eine Seitentür verlassen hatten, hatten sie die Grenzen des Anwesens nicht erkennen können, weil in allen Richtungen Baumgruppen die Sicht verwehrten. Aber den Berg konnten sie sehen, und den hatten sie sich als vorläufiges Ziel gesetzt. Wenn sie auf diesem Weg weitergingen, würden sie die Mauer erreichen, die den Landsitz umgab.

»Da ist noch etwas«, sagte Telzey. »Wir wissen nicht, ob nicht Ti oder jemand anders alles mithört, was wir sagen.«

Gaziel nickte. »Wir müssen es riskieren.«

»Ja«, meinte Telzey. »Wir würden nicht weit kommen, wenn wir uns jetzt eine Zeichensprache einfallen lassen müssten«.

Zehn Minuten später erreichten sie die Mauer. Sie ließ auf den ersten Blick alle gefassten Pläne zu Flucht sinnlos erscheinen. Die glatte weiße Wandfläche war gute zehn Meter hoch. Kein Baum stand dichter als dreißig Meter an der Mauer. Sie bogen nach links ab. Entweder gab es irgendwo ein Tor, oder man benutzte Flugzeuge, um in den Wald zu kommen.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Tor erreicht hatten. Von verschiedenen Stellen aus führten Fahrspuren durch das Gras. Es war ein Schiebetor, aber nirgends war ein Öffnungsmechanismus zu sehen.

»Vielleicht wird es vom Haus aus bedient.«

Vielleicht. Jedenfalls schien das Tor regelmäßig benutzt zu werden. Sie setzten sich ins Gras und warteten. Nur ein paar Minuten verstrichen, dann glitt das Tor lautlos in die Mauer zurück. Ein kleines geschlossenes Bodenfahrzeug kam herein, und das Schiebetor schloss sich wieder. Das Fahrzeug fuhr noch ein paar Meter und hielt dann an. Sie hatten nicht sehen können, wer darin saß. Jetzt öffnete sich vorn eine Tür. Linden trat heraus und ging mit finsterer Miene auf sie zu. Sie standen auf.

»Was tun Sie hier?«, fragte er.

»Wir sehen uns um. Ti hat es uns erlaubt«, sagte Gaziel.

»Er hat ihnen aber nicht gesagt, dass Sie hier sitzen und das Tor anstarren sollen, oder?«

»Nein«, sagte Telzey. »Aber er hat es uns auch nicht verboten.«

»Dann verbiete ich es Ihnen«, sagte Linden. »Geht weiter! Ich will Sie hier nicht mehr sehen!«

Sie gingen weiter. Als sie sich nach einer Weile umsahen, war das Fahrzeug verschwunden.

»Der mag uns wirklich nicht«, bemerkte Gaziel nachdenklich.

»Ja, da hast du recht«, sagte Telzey. »Klettern wir auf einen Baum und sehen wir uns den Wald an.«

Sie suchten sich einen geeigneten Baum aus und kletterten hinauf, bis sie über die Mauer sehen konnten. Eine gepflasterte Straße führte vom Tor auf den Berg zu. Dieser Teil der Insel schien fast völlig von dichtem tropischem Urwald bedeckt zu sein. Aber auch drüben wuchsen die Bäume wenigstens zehn Meter von der Mauer entfernt. Spuren von tierischem Leben sahen sie nicht, bloß ein paar kleine Vögel.

Nach einer Weile meinte Telzey: »Wahrscheinlich wird das Tor vom Wagen aus geöffnet.«

»Hm - und Lindens Wagen war gepanzert.« Gaziel hatte sich ein wenig umgesehen. »Da, schau hin!«

Telzey tat es. »Gärtner«, sagte sie nach einer Weile. »Vielleicht erfahren wir von denen etwas.«

 

Ein Geschwader von sechzehn flachen Apparaten schwebte wenige Zentimeter über dem Rasen zwischen den Bäumen heran. Auf jeder Maschine saß eine Bedienungsperson. Zwei Männer zu Fuß gaben über Funksprechgeräte Anweisungen.

Gaziel deutete mit der Hand. »Schau dir den an!«

Die beiden Mädchen waren vom Baum heruntergeklettert. Man hatte sie bis jetzt nicht gesehen. Aber nun kam eine der Maschinen von der Seite her auf den Baum zu, hinter dem sie standen. Der Fahrer hätte sie eigentlich sehen müssen, aber er achtete überhaupt nicht auf sie.

Sie musterten ihn bestürzt. Seine Bewegungen wirkten ganz normal. Die Augen bewegten sich zwar auch, aber alles andere schien wie tot. Der Mund stand halb offen; die Lippen waren kraftlos, die Wangen wirkten schlaff. Die Maschine kam dicht an den Baum heran, bog im rechten Winkel ab und schlug einen anderen Kurs ein.

Telzey sagte leise: »Die Fahrer der anderen Maschinen scheinen in der gleichen Verfassung zu sein wie dieser da. Aber die Aufseher wirken normal. Wollen sehen, ob sie reden können.«

Sie traten hinter dem Baum hervor und gingen auf den ihnen am nächsten stehenden Mann zu. Er sah sie kommen und pfiff, um seinen Begleiter auf sie aufmerksam zu machen. »Nun«, sagte er und lächelte freundlich. »Dr. Tis neue Gäste, nicht wahr?« Sein Blick ging zwischen beiden hin und her. »Und - äh - Zwillinge. Welche von euch beiden ist denn der Mensch?«

Der andere Mann, ein großer, breitschultriger Bursche, war inzwischen herangekommen. Telzey zuckte die Achseln. »Wissen wir nicht.«

Die Männer starrten sie an. »Und Sie können es nicht feststellen?«, fragte der Große.

»Nein«, sagte Gaziel. »Wir fühlen uns beide menschlich.« Dann fügte sie hinzu: »Nach allem, was Dr. Ti uns gesagt hat, sind Sie vielleicht auch keine echten Menschen, nur dass Sie es gar nicht wissen.«

Die beiden sahen einander an und lachten.

»Höchst unwahrscheinlich«, sagte der Große. »Ein Drahtkopf hat kein Bankkonto«.

»Haben Sie denn eins? Draußen?«

»Mhm. Ziemlich dickes sogar. Ich heiße übrigens Remiol. Der Knirps da heißt Eshan.«

»Wir sind Telzey und Gaziel«, stellte Telzey vor. »Und Sie könnten unter Umständen Ihre Bankkonten noch etwas dicker machen.«

Die beiden sahen sie an und schüttelten dann entschieden den Kopf. »Wir helfen Ihnen nicht bei der Flucht, falls Sie das meinen«, sagte Remiol. Und Eshan fügte hinzu: »Und selbst wenn er wollte, ginge es nicht. Vergessen Sie das lieber und bleiben Sie hier. Wenn man hier keinen Ärger macht, lebt es sich gar nicht so schlecht.«

»Sie brauchten uns eigentlich gar nicht bei der Flucht zu helfen«, sagte Telzey. »Wie oft kommen Sie aufs Festland?«