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Übersetzung aus dem Französischen von Julia Schoch

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Das Zitat von Louis-Ferdinand Céline zu Beginn stammt aus:

Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel, Reinbek, Rowohlt 2004. S. 86.

ISBN 978-3-492-99256-5

© Frédéric Beigbeder et les Editions Grasset & Fasquelle, 2018

Titel der französischen Originalausgabe:

»Une vie sans fin« bei les Editions Grasset & Fasquelle, Paris, 2018

© Frédéric Beigbeder et les Editions Grasset & Fasquelle, 2018

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München nach einem Entwurf von JF Paga

Covermotiv: bortonia/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Widmung

Zitate

Kurze, aber wichtige Vorbemerkung

1. - Sterben ist keine Option

Bei klarem Himmel ...

Meine Auferstehung begann ...

In diesem Jahr ...

Romy war ausgesprochen ...

Am nächsten Tag ...

Das Leben ist ...

Eins kapiere ich ...

Ich war wie ...

Vor- und Nachteile des Todes

Seit Beginn der ...

2. - Gonzo Gesundheits-Check

Romy und Lou ...

Ich erlaube Romy ...

Kennen Sie viele ...

»Du hast eine ...

3. - Mein umprogrammierter Tod

Regelmäßig sucht mich ...

Immer häufiger treffe ...

In Manhattan (1979) ...

Ergänzung zu Woody Allens Liste der Gründe, am Leben zu bleiben

Als auf Morandinis ...

Als ich wieder ...

4. - Nobody fucks with the Jesus

Woran sterben wir ...

Die Businessclass, die ...

Der Atheismus ist ...

Auf die Gefahr ...

Anschließend plünderte Romy ...

Einige Unterschiede zwischen dreißigjährigem Single und fünfzigjährigem Vater

5. - Wie man ein Übermensch wird

Wie wir in ...

Zwei Taxis und ...

Meine Vorliebe für ...

Die weißen Boote ...

Léonore schrieb mir: ...

Idee für eine ...

Transhumaner Lobgesang

Am nächsten Morgen ...

Die wichtigsten Unterschiede zwischen Mensch und Roboter

6. - GVM = Gentechnisch veränderter Mensch

Die vierte narzisstische ...

Am nächsten Tag ...

Zum selben Zeitpunkt ...

7. - Umkehrung des Alterungsprozesses

Am Morgen unserer ...

Die wichtigsten Unterschiede zwischen Mensch und Posthuman

8. - Bewusstseinsübertragung auf eine Festplatte

Checkliste zur Immortalisierung ...

Weiße Schmetterlinge tanzten ...

Trotzdem habe ich ...

9. - UBERMAN

In den ersten ...

Angesichts meines sich ...

Da war ich ...

Wenn man in ...

Epilog

Danksagung

Die Reise zur Unsterblichkeit in neun Schritten

Anmerkungen

Für Chloë, Lara und Oona

»Der allmächtige Gott erbarme sich unser.

Er lasse uns die Sünden nach und führe uns zum ewigen Leben.«

»Amen.«

Text in der katholischen Messe

»Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.«

Osama bin Laden

»Und selbst wenn sie neunhundertfünfundneunzig Millionen wären und ich ganz allein, sie hätten trotzdem unrecht, Lola, und ich habe recht, denn ich bin der Einzige, der weiß, was ich will: Ich will nicht sterben.«

Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht

Kurze, aber wichtige Vorbemerkung

»Der Unterschied zwischen Fiktion und Realität ist, dass die Fiktion glaubhaft sein muss«, sagt Mark Twain. Doch was, wenn die Realität es nicht mehr ist? Die Fiktion ist heute weit weniger abgedreht als die Wissenschaft. Dies hier ist ein »Science-non-Fiction«-Buch. Sämtliche technischen Entwicklungen, die in diesem Buch beschrieben sind, entstammen den Wissenschaftsmagazinen Science oder Nature. Die Gespräche mit Medizinern, Forschern, Biologen oder Genetikern, allesamt real, wurden so übernommen wie sie in den Jahren 2015 – 2017 aufgezeichnet worden sind. Alle im Buch erwähnten Personen, Firmen, Adressen, Entdeckungen, Start-ups, Geräte, Medikamente und klinischen Einrichtungen existieren tatsächlich. Ich habe lediglich die Namen meiner Familienangehörigen geändert, um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

Als ich mit meinen Recherchen zum Thema »Der unsterbliche Mensch« begann, hätte ich nie gedacht, wohin mich das führen würde.

Der Autor übernimmt keinerlei Verantwortung hinsichtlich der Folgen dieses Buches für die Menschheit (im Allgemeinen) oder für die Lebensdauer seines Lesers (im Speziellen).

F. B.

1.

Sterben ist keine Option

»Der Tod ist idiotisch.«

Francis Bacon zu Francis Giacobetti

September 1991

Bei klarem Himmel lässt der Tod sich Nacht für Nacht beobachten. Man braucht nur nach oben zu schauen. Das Licht erloschener Gestirne hat die Galaxie durchquert. Ferne, seit Jahrtausenden versunkene Sterne senden uns beharrlich eine Erinnerung am Himmelszelt. Manchmal kommt es vor, dass ich jemanden anrufe, der gerade beerdigt worden ist, und ich höre seine kerngesunde Stimme auf der Mailbox. Eine solche Situation erzeugt ein bizarres Gefühl. Wie lange dauert es, bis das Leuchten weniger wird, nachdem ein Stern aufgehört hat zu existieren? Wie viele Wochen braucht eine Telefongesellschaft, um den Anrufbeantworter einer Leiche zu löschen? Zwischen Ableben und Verlöschen liegt eine Zeitspanne: Die Sterne sind der Beweis, dass man nach dem Tod weiterglänzen kann. Ist der Light gap vorbei, kommt zwangsläufig der Moment, da der Schein einer längst vergangenen Sonne zu flackern beginnt wie die Flamme einer Kerze, die erlischt. Das Licht stockt, der Stern ermüdet, der Anrufbeantworter verstummt, die Flamme flackert. Wer den Tod aufmerksam beobachtet, kann erkennen, dass die verschwundenen Sterne etwas schwächer funkeln als die lebenden. Ihr Lichthof wird matter, das Glänzen blasser. Der tote Stern beginnt zu blinken, als würde er uns einen verzweifelten Hilferuf senden … Er versucht durchzuhalten.

Meine Auferstehung begann in dem Pariser Viertel, wo die Anschläge stattgefunden haben, an einem Tag mit besonders hoher Feinstaubbelastung. Ich hatte meine Tochter in ein Neo-Bistrot namens Jouvence mitgenommen. Sie aß einen Teller Bellota-Wurst, ich trank ein Hendrick’s Tonic mit Gurke. Seit Erfindung des Smartphones haben wir es verlernt, uns zu unterhalten. Sie checkte ihre WhatsApp, ich folgte Topmodels auf Instagram. Ich fragte sie, was sie sich am meisten zum Geburtstag wünschen würde. Sie sagte: »Ein Selfie mit Robert Pattinson.« Meine erste Reaktion war Fassungslosigkeit. Aber wenn man’s genau nimmt, verlange ich in meinem Job als Fernsehmoderator auch Selfies. Ein Typ, der vor laufender Kamera Schauspieler, Sänger, Sportler und Politiker interviewt, macht im Grunde nichts anderes als lange Aufnahmen neben Persönlichkeiten, die interessanter sind als er selbst. Im Übrigen bitten mich die Leute auf der Straße auch ständig um ein Foto mit mir, und wenn ich mich bereitwillig darauf einlasse, dann nur, weil ich gerade im Scheinwerferlicht in meiner Sendung das Gleiche getan habe. Wir führen alle dasselbe Nicht-Leben, wir wollen im Licht der anderen glänzen. Der moderne Mensch ist ein Haufen aus 75 000 Milliarden Zellen, die danach gieren, in Pixel umgewandelt zu werden.

Das Selfie, das in den sozialen Netzwerken präsentiert wird, ist die neue Ideologie unserer Zeit. Der italienische Schriftsteller Andrea Inglese nennt sie »die einzige legitime Leidenschaft, die der permanenten Eigenwerbung«. Das Selfie etabliert eine aristokratische Hierarchie. Die Einzel-Selfies, auf denen man sich vor einer Sehenswürdigkeit oder einer Landschaft zur Schau stellt, bedeuten: Ich war an diesem Ort und du nicht. Das Selfie ist ein visueller Lebenslauf, eine elektronische Visitenkarte, ein soziales Sprungbrett. Das Selfie an der Seite eines Promis ist bedeutsamer. Der Selfie-Macher will beweisen, dass er eine größere Berühmtheit getroffen hat als sein Nachbar. Kein Mensch bittet einen Unbekannten um ein Selfie, es sei denn, er hat irgendeine körperliche Besonderheit zu bieten: Zwerge, Wasserköpfige, Elefantenmenschen oder Verbrennungsopfer. Das Selfie ist eine Liebeserklärung, aber nicht nur: Es ist auch ein Identitätsnachweis (»the medium is the message« hatte McLuhan vorausgesagt, ohne zu ahnen, dass irgendwann jeder zum Medium werden würde). Wenn ich ein Selfie von mir mit Marion Cotillard poste, drücke ich nicht dasselbe aus, wie wenn ich mich an der Seite von Amélie Nothomb verewige. Das Selfie gibt einem die Möglichkeit, sich darzustellen: Schaut nur, wie schön ich bin, vor dieser Sehenswürdigkeit, mit dieser Person, in dieser Gegend, an diesem Strand, außerdem strecke ich euch die Zunge raus. Jetzt kennt ihr mich besser: Ich liege in der Sonne, lege den Finger auf die Spitze vom Eiffelturm oder hindere den schiefen Turm von Pisa am Umfallen, ich reise, ich nehme mich nicht so wichtig, ich existiere, weil ich eine Berühmtheit getroffen habe. Das Selfie ist der Versuch, sich einen höheren Bekanntheitsgrad zu verschaffen und die Blase der Aristokratie platzen zu lassen. Das Selfie ist ein Kommunismus: Es ist die Waffe des Fußsoldaten im Kampf um Glamour. Man posiert nicht neben irgendwem: Man will, dass die Persönlichkeit des anderen auf einen selbst abfärbt. Das Foto mit einem Promi ist eine Form des Kannibalismus: Es verleibt sich die Aura des Stars ein. Es katapultiert dich auf eine neue Umlaufbahn. Das Selfie ist die neue Sprache eines narzisstischen Zeitalters: Es ersetzt Descartes’ »Cogito ergo sum«. »Ich denke, also bin ich« wird zu »Ich posiere, also bin ich«. Wenn ich zusammen mit Leonardo DiCaprio ein Foto mache, bin ich dir überlegen, schließlich posierst du bloß mit deiner Mutter beim Skifahren. Im Übrigen würde auch deine Mutter liebend gern ein Selfie mit DiCaprio machen. Und DiCaprio mit dem Papst. Und der Papst mit einem Kind, das das Downsyndrom hat. Bedeutet das etwa, dass die wichtigste Person auf der Welt ein Kind mit Downsyndrom ist? Halt, ich verzettle mich: Der Papst ist die Ausnahme, die die Regel von der Maximierung der Berühmtheit durch die Handyfotografie bestätigt. Der Papst hat das System des ego-aristokratischen Dünkels zerschlagen, das 1506 von Dürer mit seinem Gemälde Das Rosenkranzfest eingeführt wurde, auf dem der Künstler sich selbst über Maria, der heiligen Mutter Gottes, gemalt hat.

Die Selfie-Logik lässt sich in etwa so zusammenfassen: Bénabar hätte gern ein Selfie mit Bono, aber Bono will kein Selfie mit Bénabar. Also tobt ein neuer Klassenkampf, jeden Tag, in sämtlichen Straßen dieser Welt, dessen einziges Ziel die mediale Herrschaft ist, die Präsentation einer höheren Beliebtheit und der Aufstieg auf der Leiter des Bekanntheitsgrads. Der Kampf besteht darin, die Anzahl der MAP (Mediale-Aufmerksamkeits-Punkte), über die ein jeder verfügt, zu vergleichen: Auftritte im TV oder Radio, Fotos in der Presse, Likes auf Facebook, Klicks auf YouTube, Retweets usw. Es ist ein Kampf gegen die Anonymität, bei dem sich die Punkte leicht zählen lassen und die Gewinner die Verlierer von oben herab behandeln. Man sollte diese neue Gewalt Selfismus taufen. Es ist ein Weltkrieg ohne Armee, in dem es keinen Waffenstillstand gibt und der rund um die Uhr tobt: der von Thomas Hobbes beschriebene »Krieg jeder gegen jeden«, »bellum omnium contra omnes« – nun ist er technisch umgesetzt und kann unmittelbar erfasst werden. Auf seiner ersten Pressekonferenz nach seiner Amtseinführung im Januar 2017 wollte der amerikanische Präsident Donald Trump nicht etwa seine Vision von Amerika oder die Geopolitik der zukünftigen Welt darlegen: Er hat nur die Zuschauerzahlen seiner Vereidigungszeremonie mit den Zuschauerzahlen seines Vorgängers verglichen. Ich nehme mich keineswegs von diesem existenziellen Kampf aus: Ich selbst habe stolz meine Selfies mit Jacques Dutronc oder David Bowie auf meiner Fan-Page gepostet, die 135 000 Likes zählt. Trotzdem halte ich mich seit ungefähr fünfzig Jahren für extrem einsam. Außerhalb von Selfies und Dreharbeiten pflege ich keinen Kontakt zu Menschen. Der Wechsel zwischen Einsamkeit und dem allgemeinen Weltgetöse schützt mich vor unangenehmen Fragen über den Sinn meines Lebens.

Um festzustellen, ob ich noch am Leben bin, bleibt mir oft nur die Möglichkeit, auf meiner Facebook-Seite nachzuschauen, wie viele Personen meinen letzten Post gelikt haben. Bei über 100 000 Likes kriege ich bisweilen eine Erektion.

Was mir an jenem Abend bei meiner Tochter Sorgen machte, war, dass sie nicht davon träumte, Robert Pattinson zu küssen, geschweige denn, sich mit ihm zu unterhalten oder ihn kennenzulernen. Sie sehnte sich nur danach, ihr Gesicht neben seinem im Netz zu posten, um ihren Freundinnen zu beweisen, dass sie ihn auch wirklich getroffen hatte. Wir alle befinden uns genau wie sie in diesem Rausch. Ob groß oder klein, jung oder alt, reich oder arm, berühmt oder unbekannt, die Veröffentlichung unserer Fotos ist wichtiger geworden als unsere Unterschrift auf einem Scheck oder Ehevertrag. Wir gieren nach Gesichtserkennung. Ein Großteil der Erdbewohner schreit sein unstillbares Verlangen, gesehen oder einfach nur bemerkt zu werden, ins Leere hinaus. Wir wollen angeschaut werden. Unser Gesicht sehnt sich nach Klicks. Und habe ich mehr Klicks als du, ist das der Beweis für mein Glück, genauso wie ein Fernsehmoderator mit höheren Einschaltquoten denkt, er würde mehr geliebt werden als seine Kollegen. Das ist die Logik des Selfietums: die Vernichtung der anderen durch die Maximierung öffentlicher Liebe. Etwas ist im Zuge der digitalen Revolution geschehen: Die Ichbezogenheit ist zur globalen Ideologie mutiert. Da wir keine Macht mehr über die Welt haben, bleibt uns nur noch der individuelle Horizont. In früheren Zeiten war die Herrschaft dem höfischen Adel vorbehalten, später den Filmstars. Seitdem jeder Mensch zum Medium geworden ist, will alle Welt über seinen Nächsten herrschen. Überall.

Als Robert Pattinson nach Cannes kam, um seinen neuen Film Maps to the stars zu promoten, konnte ich ihm zwar kein Selfie mit meiner Tochter Romy, aber immerhin ein Autogramm für sie abluchsen. In der Maske meiner Sendung schrieb er mit rotem Filzstift folgende Notiz auf sein Porträt, das ich aus der Vogue gerissen hatte: »To Romy with love xoxoxo Bob«. Als Dankeschön begnügte sie sich mit der Frage:

»Und du hast das Foto auch wirklich nicht selbst unterschrieben?«

Wir haben eine Generation von Zweiflern hervorgebracht. Was mich jedoch am meisten kränkte, war, dass meine Tochter noch nie, absolut niemals ihren Vater um ein Selfie gebeten hat.

In diesem Jahr hatte meine Mutter einen Herzinfarkt, und mein Vater ist in der Lobby eines Hotels gestürzt. Allmählich bin ich zu einem Stammgast in den Pariser Krankenhäusern geworden. Auf diese Weise erfuhr ich, was ein Gefäß-Stent ist, und machte die Entdeckung, dass es Knieprothesen aus Titan gibt. Ich fing an, das Alter zu hassen: das Vorzimmer zum Sarg. Ich hatte einen überbezahlten Job, eine hübsche zehnjährige Tochter, eine Wohnung über drei Etagen mitten in Paris und einen BMW Hybrid. Ich hatte es nicht sonderlich eilig, all diese Annehmlichkeiten zu verlieren. Irgendwann, ich war gerade von der Klinik zurück, kam Romy mit einer hochgezogenen Augenbraue in die Küche.

»Stimmt es, Papa, dass jeder mal stirbt? Zuerst Opa und Oma, dann Mama, du, ich, die Tiere, die Bäume und Blumen?«

Romy starrte mich an, als wäre ich Gott, während ich doch nur ein mononuklearer Familienvater war, der gerade einen Crashkurs in der Abteilung für Gefäß- und orthopädische Chirurgie absolvierte. Ich musste aufhören, Lexomil-Pillen in meiner morgendlichen Cola aufzulösen, und ihr aus ihrer Angst heraushelfen. Ich schäme mich, es zugegeben, aber ich hatte nie in Betracht gezogen, dass mein Vater und meine Mutter irgendwann mal achtzig sein könnten und dass danach ich an der Reihe wäre und danach Romy. Was Mathe und Altern angeht, war ich nie besonders gut. Zwischen Mikrowelle und dem summenden Kühlschrank füllten sich zwei blaue Kugeln unter dem blonden Schopf eines perfekten Püppchens mit Tränen. Mir fiel wieder ein, was für einen Aufstand sie gemacht hatte, als ihre Mutter erzählt hatte, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt: Romy hasst Lügen. Sie fügte einen überaus netten Satz hinzu:

»Papa, ich hab keine Lust, dass du stirbst …«

Wie köstlich es doch ist, seinen Schutzpanzer abzulegen … Diesmal war ich es, dem die Tränen in die Augen schossen, und ich verbarg mein Gesicht im sanften Mandarinen- und Limonenduft ihres Shampoos. Es war mir immer noch ein Rätsel, wie aus einem solch hässlichen Mann eine so hübsche Tochter hatte hervorgehen können.

»Kein Sorge, Liebling«, antwortete ich, »von jetzt an stirbt niemand mehr.«

Wir waren ein schöner Anblick, wie traurige Leute oft. Das Unglück verschönert den Blick. »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich«, schreibt Tolstoi zu Beginn von Anna Karenina und fügt hinzu: »aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.« Da bin ich anderer Meinung: Der Tod ist ein ziemlich gewöhnliches Unglück. Ich räusperte mich, wie mein soldatischer Großvater, wenn er spürte, dass er in seinem Haus wieder für Ordnung sorgen musste.

»Süße, du täuschst dich gewaltig: Es stimmt, jahrtausendelang sind die Leute, Tiere und Bäume gestorben, aber von uns an ist Schluss damit.«

Jetzt galt es nur noch, dieses leichtsinnige Versprechen zu halten.