3Wilhelm Heitmeyer

Autoritäre Versuchungen

Signaturen der Bedrohung 1

Suhrkamp

2Ein Gespenst geht um in der Welt — das Gespenst eines autoritären Nationalismus und Rechtspopulismus. Auch in Europa hat sich die Lage zugespitzt, mit Angriffen auf die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie. Wilhelm Heitmeyer hat diese Tendenzen frühzeitig thematisiert. 2001 warnte er, die Globalisierung gehe mit politischen und sozialen Kontrollverlusten einher, die zum Aufstieg des autoritären Kapitalismus, zu Demokratieentleerung und einem Erstarken des Rechtspopulismus führen könnten. In seinem neuen Buch knüpft er an diese Analyse an und macht sie für eine Diagnose der aktuellen Situation fruchtbar.

Wilhelm Heitmeyer, geboren 1945, war Gründer und von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Er arbeitet dort jetzt als Forschungsprofessor. In der edition suhrkamp gab er unter anderem die zehnbändige Reihe Deutsche Zustände heraus.

9Vorwort: Signaturen der Bedrohung

Die Geschichte der Menschheit kennt eine Fülle von Bedrohungen. Zunächst war es die rohe, ungebändigte Natur, durch die die Menschen gefährdet wurden und vor der sie Angst hatten. Mit zunehmender Naturbeherrschung hat diese Bedrohung abgenommen, aber sie ist nie vollständig verschwunden. Parallel haben die Menschen im gesellschaftlichen Bereich zahlreiche neue Bedrohungen geschaffen: Letztere ergeben sich vor allem durch bestimmte Herrschaftssysteme sowie durch Macht, die bei Individuen oder bei sozial, ethnisch oder religiös definierten Gruppen konzentriert ist. Viele dieser Bedrohungen haben sich tatsächlich realisiert, am Ende standen Katastrophen bis hin zur Vernichtung ganzer Gesellschaften.

Manche Bedrohungen verflüchtigen sich sehr schnell, andere können durch politische oder institutionelle Interventionen aufgelöst oder zumindest eingehegt und dadurch dauerhaft in der Latenz gehalten werden. Doch es gibt auch Szenarien, die eskalieren und sich in massiver Gewalt entladen. Solche Eskalationen können Folge einer langsamen Zuspitzung sein, sie können sich aber auch aus punktuellen, geplanten Aktionen ergeben. Bevor Gewalt ausbricht, macht sich die Bedrohung oft schon anderweitig bemerkbar — objektiv anhand von aggressiven Machtdemonstrationen, subjektiv in Form von Angst aufseiten der prospektiven Opfer.

Hinzu kommt die Unsicherheit, wann, unter welchen zeitlichen und anlassbezogenen Umständen sich die Bedrohung in Gewalt umformt. Im Moment sind viele Fragen offen: Welche alten Bedrohungen nehmen ab? Welche neuen Bedrohun10gen nehmen zu? Welche alten oder neuen Bedrohungen eskalieren?

Im vorliegenden Band soll es nicht allein um Bedrohungen gehen, sondern vor allem um deren Signaturen: Signaturen der Bedrohung, das heißt die Spuren, die Bedrohungen in Gesellschaften und bei Individuen hinterlassen. Der Begriff der Signatur wiederum (vom lateinischen signare, kennzeichnen) bezeichnet eine Markierung, die den Urheber bzw. die Urheberin eines Gegenstandes (z. ‌B. eines Schriftstücks) ausweist oder aber, zum Beispiel in Katalogsystemen, die eindeutige Identifizierung eines Objektes erlaubt. In beiden Fällen handelt es sich bei der Signatur um ein einzigartiges und dauerhaftes Erkennungszeichen. Eine besondere Bedeutung haben Signaturen im Schriftsetzerei-Handwerk: Dort bezeichnet der Begriff die Kerben auf der Rückseite von Drucklettern, mit deren Hilfe die Schriftsetzer erkennen können, ob die Buchstaben leserichtig gesetzt sind.

Im Zusammenhang soziologischer Analysen kann man den Begriff fruchtbar machen, um damit untilgbare Einkerbungen in gesellschaftliche Realitäten zu benennen: Einkerbungen, die im Gedächtnis der Menschen und Gruppen bleiben und sich nicht verflüchtigen. Krisen und Situationen, in denen Gesellschaften bzw. ihre Institutionen oder Mitglieder die Kontrolle verlieren, hinterlassen häufig sehr prägende Signaturen. Ein solcher Kontrollverlust hat oft verheerende Konsequenzen, obwohl oder gerade weil niemand diese Folgen geplant hat. Teilweise ist dann eine Rückkehr in den Zustand vor der Krise nicht mehr möglich.

Die Sehnsucht nach Sicherheit, die angesichts all dieser Bedrohungen viele Menschen hegen, findet in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen oft einen regressiven, autoritären Ausdruck und macht die Menschen empfänglich für 11die entsprechenden autoritären Versuchungen. Wenn die Verhältnisse schon nicht »zurückgedreht« werden können, dann muss — »Rette sich, wer kann!« — die Sicherheit durch autoritäre Maßnahmen hergestellt werden.

Die Situation wirkt paradox: Millionen Menschen fühlen sich bedroht. Da dieses Gefühl der Bedrohung und das ihm entsprechende Sicherheitsbedürfnis sie aber empfänglich macht für autoritäre Versuchungen, führt die erste Bedrohung letztlich zu einer zweiten: Besagte autoritäre Versuchungen können zu einer Gefahr für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie werden.

In Krisenzeiten wie der heutigen ist die Sehnsucht nach autoritären Maßnahmen erfahrungsgemäß besonders groß — und deshalb bleibt die Losung, die unserer Reihe Deutsche Zustände (2002-2011) vorangestellt war, weiterhin aktuell. Diese Losung geht zurück auf Heinrich Heine. Im Jahr 1832 veröffentlichte Heine Berichte aus dem Pariser Exil, die er für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasst hatte, unter dem Titel Französische Zustände in einem Buch. Im Vorwort formuliert er sein politisch-schriftstellerisches Programm, in dem es unter anderem heißt, es gehe ihm in diesen Arbeiten um Berichterstattungen,

 

die nur das Verständnis der Gegenwart beabsichtigen. Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Haß und Krieg verhetzen (Heine 1893 [1832], S. 11).

 

Heines Worte sind geprägt von einer Hoffnung, zu der auch wir heute Anlass haben und die wir uns zu eigen machen können. Zugleich aber ist es deprimierend, dass seit dem Verfassen dieser Zeilen fast zweihundert Jahre ins Land gingen, ohne dass — so scheint es — die Menschheit der Verwirklichung dieser Hoffnung auch nur irgendwie näher gekommen wäre. 12Dies gilt auch und ganz besonders für die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts mit all ihren autoritären Versuchungen, denen die Analysen im vorliegenden Band gewidmet sind.

Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte: Es wäre nicht denkbar ohne die Forschungsarbeiten, die in den letzten Jahrzehnten am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung durchgeführt wurden. Zusammen mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen habe ich zu Integrations- und Desintegrationsprozessen sowie zu rechtsextremistischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland geforscht. 2002 haben wir das empirische Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) gestartet, dessen Ergebnisse zum Teil in die zehnbändige Buchreihe Deutsche Zustände eingeflossen sind, die zwischen 2002 und 2011 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. An dieser Stelle möchte ich noch einmal allen Beteiligten ausdrücklich danken.

Dank gilt auch Michel Wieviorka, dem Präsidenten der Fondation Maison des Sciences de l'Homme (FMSH), der mir einen Forschungsaufenthalt in Paris ermöglicht hat. In der dortigen Maison Suger fand ich jene Ruhe, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, die Arbeit am vorliegenden Buch abzuschließen.

Ganz wichtige Unterstützung habe ich auch von meinem Kollegen Klaus Dörre von der Universität Jena erhalten. Dafür gilt ebenfalls Dank.

Außerdem ist Daniela Krause zu nennen, die als Mitarbeiterin im Langzeitprojekt wieder und wieder die notwendigen Daten aufbereitet hat und der ich deshalb Dank schulde.

Danken möchte ich auch Ulrike Rogat für die Schreibar13beiten und Daniel Schumacher für die sorgfältige Bearbeitung der Quellenverweise sowie des Literaturverzeichnisses.

Schließlich ist in besonderer Weise die Arbeit von Frerk Blome zu würdigen, der die Dokumentenverwaltung und die Umsetzung von Daten aller Art in Grafiken souverän erledigt und darüber hinaus Textteile kritisch kommentiert hat.

Zwischen dem Abschluss des Manuskriptes im November 2017 und dem Erscheinungstermin 2018 haben sich weitere radikalisierende Entwicklungen vollzogen, die zwar prognostiziert wurden, aber nicht mehr im Detail dargestellt werden können.

Bielefeld/Paris, im November 2017

W. ‌H.

14Neue deutsche Brüche

In Gestalt der Alternative für Deutschland (AfD) betritt 2017 der autoritäre Nationalradikalismus die Bühne des Bundestages.

In der Nachkriegsgeschichte der alten Bundesrepublik gab es zu Beginn einige kleinere Rechtsaußen-Parteien im Parlament. Die Deutsche Partei (DP) etwa zog bei den Wahlen 1949 und 1957 mit je 17, bei der Wahl von 1953 mit 15 Sitzen ins Parlament ein.1 Die rechtsextreme NPD scheiterte 1969 vergleichsweise knapp am Einzug in den Bundestag. Seit 2017 ist erstmals wieder eine weit rechts platzierte Partei im Bundesparlament vertreten: Die AfD stellt im 19. Deutschen Bundestag 92 Abgeordnete.

Damit zeichnen sich neue deutsche Brüche ab. Das betrifft die politische Unkultur, die sich schon seit einigen Jahren gezeigt hat, vor allem durch höchst aggressive Konfliktaustragungen auf Demonstrationen. Die Brüche haben sich zuletzt weiter vertieft und machen sich immer stärker bemerkbar. Dies gilt insbesondere für den Bundestagswahlkampf 2017 in Ostdeutschland, in dem auch Rechtsextreme an der Hassbeschallung maßgeblich beteiligt waren. Insofern bekommt das »Deutsch-Sein«, auf das zahlreiche Demonstranten mit 15ihren Parolen Bezug nahmen, in jüngsten Jahren wieder einen bedrohlichen Klang. Außerdem zeigt sich eine wahlpolitische Spaltung der Republik. Einzelnen kleinräumlichen Wahlerfolgen der AfD in Westdeutschland stehen flächendeckende Erfolge und sogar Wahlsiege über die »Volksparteien« CDU und SPD in Ostdeutschland gegenüber. Wechselseitige Vorwürfe bezüglich einer angeblichen »Deutschversessenheit« im Osten und einer »Deutschvergessenheit« im Westen spiegeln diese Brüche.

Letztere kommen allerdings nicht aus dem Nichts, sondern die Einstellungen und Mentalitäten, die da auseinanderdriften, sind bei den jeweiligen Teilen der Bevölkerung über Jahre oder gar Jahrzehnte herangereift.

161. Ein Schritt zur Gesellschaftsanalyse: Der autoritäre Nationalradikalismus als Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie

Diverse politische Akteure streben autoritäre Veränderungen an, welche die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie in ihrem Kern berühren. Diese Akteure stellen das politische Angebot und locken mit autoritären Versuchungen, die eine große Anziehung auf Millionen von Bürgerinnen und Bürgern ausüben, da diese ihrerseits autoritäre Sehnsüchte an den Tag legen. Zur Realisierung des autoritären Projekts sind beide Seiten notwendig: einerseits autoritäre Akteure in politischen Parteien, sozialen Bewegungen und intellektuellen Milieus; andererseits autoritäre Einstellungen bei erheblichen Teilen der Bevölkerung. Während in anderen europäischen Ländern bereits (spätestens) ab den späten Neunzigerjahren ein Erstarken von Nationalismen festzustellen war — man denke nur an den Wahlerfolg der FPÖ, die 1999 bei den Wahlen zum österreichischen Nationalrat zweitstärkste Kraft wurde, oder an den französischen Front National —, bildete sich in der politischen Landschaft der Bundesrepublik erst in den letzten Jahren ein autoritärer Nationalradikalismus heraus (siehe Kapitel 9).

Dem vorliegenden Band liegt die Annahme zugrunde, dass die Erfolge rechter Bewegungen und Parteien nicht möglich gewesen wären ohne bestimmte Entwicklungen im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus, im politischen System der Demokratie und im sozialen System der Gesellschaft. Deshalb soll das Zusammenwirken von autori17tärem Kapitalismus, sozialen Desintegrationsprozessen und politischer Demokratieentleerung als Ursachenmuster für die Realisierung autoritärer Sehnsüchte analysiert werden. Die Untersuchung zielt konzeptuell auf Verbindungen zwischen drei Momenten: 1) strukturelle Entwicklungen, 2) Mechanismen subjektiver Verarbeitung seitens der Bevölkerung und 3) deren Zusammenhang mit dem Aufkommen autoritärer politischer Angebote.

Die Untersuchung der »deutschen Zustände« und ihrer Entwicklung erfolgt im vorliegenden Band in zwei Schritten: Im ersten Schritt werden ältere Erkenntnisse zur Bedrohung offener Gesellschaften und liberaler Demokratien zusammengefasst. Diese Erkenntnisse stammen aus dem Jahr 2000 und wurden in einem bereits veröffentlichten Aufsatz dokumentiert, der seinerseits als Ankertext für den vorliegenden Band fungiert (siehe Kapitel 2). In einem zweiten, darauf aufbauenden Schritt analysiere ich die Verläufe, Verarbeitungen und Folgen der ökonomischen, sozialen und politischen Krisen der Jahre 2000-2017 anhand empirischer Daten und interpretiere sie mithilfe verschiedener sozialwissenschaftlicher Theorien.

Zur zeitlichen Einordnung ist zunächst ein Blick auf die Geschichte moderner Gesellschaften notwendig. Er zeigt, dass Letztere zumindest phasenweise von autoritären Ideologien und Organisationsangeboten mitsamt individueller autoritärer Folgebereitschaft geprägt sein können.

Nach 1945 haben soziale Bewegungen, bisweilen auf durchaus konflikthafte Weise, in westlichen Gesellschaften vielfältige Liberalisierungen und Reformen erkämpft. Diese waren so umfassend, dass rasch extrem optimistische Zukunftsprognosen aufkamen, zumal man davon ausging, dass Bedrohungen durch Gewalt und Kriege sowie Verletzungen der 18Menschenwürde schon bald der Vergangenheit angehören würden. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems wurde dann gar das »Ende der Geschichte« ausgerufen, das heißt der endgültige Sieg der liberalen Demokratie mit entsprechenden Verfassungen, Freiheitsrechten, Minderheitenschutz etc. (vgl. Fukuyama 1992). Solche überschwänglichen Gesten des Triumphs bedeuteten zwar nicht, dass sämtliche Versprechen der liberalen Demokratie nun tatsächlich eingelöst worden wären; aber eine erhebliche Liberalisierungstendenz war dennoch nicht von der Hand zu weisen. Andererseits hat der große Soziologe Ralf Dahrendorf bereits 1997 hellsichtig darauf hingewiesen, dass die Globalisierung und ihre sozialen Folgen zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit werden könnten. Dahrendorf zufolge befanden sich unsere Gesellschaften damals an der »Schwelle zum autoritären Jahrhundert« (Dahrendorf 1997a, S. 14f.).

Dahrendorfs Argumentation basierte vor allem auf dem Zusammenhang zwischen 1.) ökonomischer Globalisierung, 2.) sozialem Zusammenhalt und 3.) Demokratie. Gerade die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bereitete Dahrendorf Sorgen: »Globalisierung bedeutet, daß Konkurrenz groß- und Solidarität kleingeschrieben wird« (ebd.). Und ein paar Absätze weiter:

 

Es ist schwer zu sagen, an welchem Punkt Ungleichheiten, insbesondere des Einkommens, Solidarität in einer Gesellschaft zerstören. Sicher aber ist, daß keine Gesellschaft es sich ungestraft leisten kann, eine beträchtliche Zahl von Menschen auszuschließen. In modernen Staatsbürgergesellschaften bedeutet solcher Ausschluß die praktizierte Leugnung von sozialen Grundwerten. Das heißt aber, daß solche Gesellschaft nicht mehr überzeugend verlangen kann, daß ihre Mitglieder sich an die Regeln von Recht und Ordnung halten. Die Beeinträchtigung von Recht und Ordnung ist also eine Folge der 19Tatsache, daß die Mehrheit eine Minderheit verdrängt und vergißt (ebd.).

 

Daraus zieht Dahrendorf den Schluss, dass die »Globalisierung und ihre sozialen Folgen eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub leisten würden. […] Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert« (ebd.; Hervorhebung W. ‌H.).

Und tatsächlich: Schon wenig später, spätestens mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts und den Anschlägen von New York und Washington am 11. September 2001 als Signalereignis, standen Entwicklungen an, mit denen die Religion durchschlagend auf die Weltbühne zurückkehrte: »Die bittere Ironie besteht darin, dass die seinerzeit skizzierten Globalisierungsrisiken in den Folgejahren allesamt real wurden […], man aber dennoch politisch nicht darauf vorbereitet war« (Geiselberger 2017, S. 11).

Die Entwicklung ist nicht abgeschlossen, ja: Es steht zu befürchten, dass der Autoritarismus sich weiter ausbreitet, zumindest wenn man die beschleunigte ökonomische Globalisierung betrachtet, die durch die Gesellschaften fegt — und dabei sowohl ökonomische Integration als auch soziale Desintegration erzeugt hat und diese auch weiterhin verstärkt: »soziale Desintegration als Preis der wirtschaftlichen Integration« (Rodrik 2000, S. 87).

Warum geht eine Deregulierung im ökonomischen System mit autoritären Entwicklungen von gesellschaftlichen und politischen Systemen einher? Ist etwa die Entwicklung eines autoritären globalisierten Kapitalismus mit seinen großen (oft verdeckten) Kontrollgewinnen über Produktionsstandorte, Lohnniveaus, Arbeitsbedingungen gegenüber national20staatlichen Politiken geradezu eine »Blaupause« für autoritäre gesellschaftliche Entwicklungen mit entsprechenden Kontroll-, Desintegrations- und Ausschließungspraktiken?

Das sind zentrale Fragen dieses Bandes. Wie kommen heute autoritäre Versuchungen international und auch in Deutschland wieder auf die Tagesordnung? Warum sind solche Versuchungen für die Akteure in den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Einflussbereichen so faszinierend? Wie kommen »neue« oder zeitweilig verdeckte autoritäre Einstellungen in den Bevölkerungen (wieder) an die gesellschaftliche Oberfläche und in die Öffentlichkeit? Wie werden diese Einstellungen politisch gebündelt und normalisiert? Zur Beschreibung und Erklärung dieser autoritären Versuchungen soll die sozialwissenschaftliche Konzeption dieses Bandes einen Beitrag leisten.

Gefühlte oder tatsächliche Bedrohungen können als Kontrollverlust interpretiert werden — ob es nun eine Person ist, die die Kontrolle über ihre Biografie zu verlieren glaubt, oder eine Gesellschaft, der angeblich oder tatsächlich die Kontrolle über die soziale Ordnung entgleitet. In solchen Situationen können Menschen in Versuchung geraten, politische Aktivitäten und Organisationen zu unterstützen, die darauf abzielen, bisher geltende Normen der offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie so zu verändern oder gar umzustürzen, dass eine andere soziale und politische Ordnung entsteht. Diese Aktivitäten sind oft auf Überwachung, kompromissloses Durchgreifen (»law and order«) und die Festigung von Hierarchien ausgerichtet — letztlich auf eine geschlossene Gesellschaft und eine an nationalen Interessen orientierte, »formale« Demokratie, deren oberstes Ziel in der Wiedererlangung der Kontrolle besteht.

21Dass Teile der Bevölkerung autoritäre Versuchungen hegen, heißt jedoch nicht automatisch, dass die entsprechenden Inhalte auch umgesetzt werden.

Zu einer solchen Umsetzung wäre es, wie gesagt, vielmehr notwendig, dass autoritäre Einstellungen seitens der Bevölkerung mit autoritären politischen Angeboten von Eliten, Mobilisierungsexperten und kollektiven Bewegungen bzw. Parteien zusammenwirken. Deshalb wäre es zu kurz gegriffen, die Entstehung von autoritären Versuchungen nur aus Fehlentwicklungen des politischen Systems erklären zu wollen. Das Grundmuster der Analyse hebt deshalb auf Interdependenzen zwischen dem ökonomischen, politischen und sozialen System ab, das heißt auf wechselseitige Einflüsse und Auswirkungen. Abbildung 1 zeigt das Analyseschema.

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Abb. 1: Analyseschema

Das Untersuchungskonzept operiert, wie oben angedeutet, auf drei Ebenen:

a) Zunächst sind strukturelle Entwicklungen im ökonomischen, sozialen und politischen Bereich zu beschreiben.

22b) Von zentraler Bedeutung ist dann, wie die Erfahrungen und Wahrnehmungen der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung aufseiten der Bevölkerung subjektiv verarbeitet werden. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Integration bzw. Desintegration, also auf Positionen und Anerkennungsverhältnisse, aus denen heraus schließlich politische Konsequenzen gezogen werden.

c) Auch auf der Angebotsseite, das heißt bei den autoritären Bewegungen und Parteien, liegen autoritäre Versuchungen vor, die zu entsprechenden Einstellungen und Entscheidungen führen, was seinerseits Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammenleben und für politische Voten hat.

Die Verarbeitungsmechanismen — wenden die Menschen sich autoritären Versuchungen zu oder weisen sie sie zurück? — sind nach dieser Konzeption durch die gesellschaftliche Integrations- und Desintegrationsdynamik bedingt. Letztere wird in Kapitel 6 näher betrachtet. Dabei spielen folgende Faktoren und Fragen eine Rolle:

— Sicherheit oder Unsicherheit der materiellen Reproduktion, der Anerkennung, des Statusaufstiegs, der Statussicherung bzw. des Statusabstieges, und ein Gefühl der Kontrolle über die eigene Biografie.

— Wird die eigene Stimme bzw. die Stimme der sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe, der Personen sich zugehörig fühlen, von den Regierenden wahrgenommen oder vielmehr ignoriert?

— Verlässlichkeit oder Erosion sozialer Beziehungen und Anerkennung der eigenen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe durch Dritte, um emotionale Zugehörigkeit zu sichern.

Insbesondere Kontrollverluste sowie Defizite in der Wahrnehmung und Anerkennung durch politische Akteure sind 23in der skizzierten Konstellation von großer Bedeutung. Die zentrale These der Analyse von 2001 lautete, dass das Zusammenwirken von autoritärem Kapitalismus, sozialer Desintegration und Demokratieentleerung einem rabiaten Rechtspopulismus Vorschub leisten würde. Die These des vorliegenden Buches nun lautet, dass sich dies tatsächlich ereignet hat und sich heute empirisch zeigen lässt. Autoritärer Kapitalismus, Desintegration und Demokratieentleerung haben bei Teilen der Bevölkerung tiefe Spuren hinterlassen, die aus individueller Latenz in manifeste kollektive Bewegungen umgesetzt werden können, wenn die entsprechenden autoritären Organisationsangebote vorhanden sind. Zusammengefasst: Ein zunehmend autoritärer Kapitalismus verstärkt soziale Desintegrationsprozesse in westlichen Gesellschaften, erzeugt zerstörerischen Druck auf liberale Demokratien und befördert autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime.

Für die Analyse wird ein Theoriegerüst aufgebaut, das sich aus mehreren disziplinären Zugängen zusammensetzt. Die zu untersuchenden Zusammenhänge und Prozesse können nämlich nicht mit einem einzigen theoretischen Zugriff beschrieben und erklärt werden, da sie — wie erwähnt — auf unterschiedliche Strukturentwicklungen bezogen und mit individuellen und kollektiven Verarbeitungen verbunden sind.

Mit dem Ziel, die Einstellungs- und Verhaltenskonsequenzen hinsichtlich autoritärer Versuchungen und der Nachfrage nach autoritären Angeboten auszuleuchten, werden zunächst autoritarismustheoretische Arbeiten herangezogen und einige Überlegungen zur sogenannten »Ambivalenz der Moderne« angestellt (vgl. Kapitel 3). Betrachtet man die Jahre 2000-2010, dann sind angesichts der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrisen auch Krisentheorien heranzuziehen (vgl. Ka24pitel 4), um etwa im Zusammenwirken mit anderen Faktoren die »Pfade« von den Krisen über Desintegrationsängste bzw. Desintegrationserfahrungen bis hin zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit2 und schließlich zu autoritären Versuchungen zu verfolgen. Anschließend werden kapitalismustheoretische Ansätze aufgerufen (vgl. Kapitel 5), die sich auf Entwicklungen seit der Jahrtausendwende konzentrieren, um so die einschlägigen Überlegungen aus dem Ankertext von 2001 fortzuschreiben.

Besonderes Augenmerk liegt zudem auf der Theorie sozialer Desintegration, die sich mit den negativen Auswirkungen der genannten Entwicklungen für das Leben von Einzelnen und Gruppen sowie für das Zusammenleben in heterogenen, multiethnischen und religiös vielfältigen Gesellschaften beschäftigt (vgl. Kapitel 6). Damit wird eine anomietheoretisch informierte Analyse verbunden (insbesondere in Anlehnung an die Institutional Anomy Theory), um das Eindringen kapitalistischer Prinzipien in soziale Verhältnisse zu erhellen. In diesem Zusammenhang müssen auch Bewegungstheorien 25sowie Ansätze zur Erklärung politischer Bündelungen (wie etwa die Theorie sozialer Identität) in das Theoriegerüst eingebaut werden, weil die autoritären Versuchungen schließlich nicht individuell bleiben, sondern in Bündelungen wie sozialen Bewegungen oder Parteien auftreten und dadurch ihre Brisanz erhalten.

Da angesichts der Krisen des kapitalistischen Wirtschaftssystems Fragen nach den Interventionsmöglichkeiten demokratischer und nationalstaatlicher Institutionen ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt sind, liegt es nahe, dies auch im Lichte demokratietheoretischer Ansätze zu betrachten (vgl. Kapitel 7).

Eine zentrale Aufgabe der Analyse wird darin bestehen, hinreichend genau darzulegen, wie sich soziologische und sozialpsychologische Ansätze zur Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklungen ergänzen. Darüber hinaus gilt es, möglichst präzise die Zusammenhänge und Vermittlungen zwischen den verschiedenen Erklärungsfaktoren und -ebenen darzustellen und zu analysieren: zwischen autoritärem Kapitalismus und Ungleichheit, zwischen Ungleichheit und sozialer Desintegration, zwischen Desintegration und Demokratieentleerung, zwischen Demokratieentleerung und rabiaten autoritären Versuchungen.

Was bedeuten gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen für das Leben der Einzelnen? Wie laufen die Vermittlungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Individuen ab, in deren Folge Letztere ihre politischen Einstellungen ändern? Gibt es »neue« Formen des Autoritarismus in der Bevölkerung, das heißt eine neue Bereitschaft, autoritären politischen Angeboten zu folgen? Falls ja: Könnte man sagen, dass autoritäre politische Angebote und autoritäre Bereitschaft in der Bevölkerung sich ge26genseitig »hochschaukeln« und das gesellschaftliche Klima dadurch vergiftet wird, bis die liberale Demokratie selbst in Gefahr ist?

Diese Fragen sind also zu verfolgen, wobei es immer zu betonen gilt, dass die Prozesse nicht »automatisch« und linear verlaufen, sondern mit »Brechungsfaktoren«. Das hat damit zu tun, dass sie von individuellen, ökonomischen oder politischen Krisen beschleunigt werden und es dadurch zu zeitlich verdichteten Problemkonzentrationen kommen kann. Immer wieder ist im Rahmen der Analyse auf die Treiber negativer Entwicklungen, aber auch auf deren Gegenkräfte zu verweisen. Dazu gehören die sozialen Netzwerke mit ihren zum Teil asozialen Bündelungsmöglichkeiten, die medialen Akteure mit ihrer Vermittlungs- und Vervielfältigungsmacht sowie unterschiedliche mediale, ökonomische, intellektuelle und politische Eliten, die durch das Einbringen autoritärer Elemente zu einem aggressiven, vergifteten Klima in der politischen Öffentlichkeit beitragen.

Wie einleitend erwähnt, weist die Analyse eine ungewöhnliche Architektur auf, weil sie einen älteren, bereits veröffentlichten Ankertext (vgl. Kapitel 2) als Ausgangspunkt nimmt. Dabei handelt es sich um »Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. Eine Analyse von Entwicklungstendenzen«. Der Artikel wurde 2000 verfasst und ist 2001 in dem Band Schattenseiten der Globalisierung erschienen.3

Dass ein solcher Ankertext als Ausgangspunkt verwendet wird, soll dazu dienen, den damaligen Erkenntnisstand zu 27dokumentieren, um ihn dann in ein Verhältnis zur Gegenwart zu setzen. Die zentrale Botschaft des Ankertextes lautet: Der globalisierte Kapitalismus hat in den letzten Jahren zunehmend autoritäre Züge angenommen und einen immensen Kontrollgewinn für ökonomische Akteure mit sich gebracht, welcher mit Kontrollverlusten für nationalstaatliche, demokratisch legitimierte Politik einhergegangen ist. Diese weitgehend ungehinderte Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen führt sowohl zu sozialer Desintegration als auch zu Demokratieentleerungen und politischer Entfremdung seitens der Bevölkerung(en). Die Pointe der These lautete damals, dass der rabiate Rechtspopulismus zum Gewinner dieser Entwicklung werden würde.

Nun ist es angesichts der bekannten Komplexität ökonomischer, politischer und sozialer Zusammenhänge — mit unkalkulierbaren Ereignissen wie Finanzkrisen, Terroranschlägen, Kapriolen auf dem Arbeitsmarkt etc. — äußerst riskant, Prognosen für die Zukunft anzustellen. Dieses Risiko war jedoch aus wissenschaftlicher Verantwortung einzugehen, um frühzeitig gesellschaftliche bzw. politische Trends zu thematisieren und Chancen für Interventionen zu eröffnen. Heute — mehr als 15 Jahre nach Erscheinen des Ankertextes — stellen sich diverse Fragen, die an die damalige Prognose anknüpfen:

— Wie hat sich das Verhältnis von ökonomischer Globalisierung und liberaler Demokratie seit der Jahrtausendwende unter dem Druck der Finanzkrisen entwickelt?

— Welche sozialen Desintegrationsprozesse haben sich unter dem Eindruck von ökonomischen, sozialen und politischen Entsicherungen für bestimmte Sozialgruppen verschärft und mit welchen politischen Entfremdungen gegenüber der liberalen Demokratie gehen sie einher?

28— Welche Folgen haben Demokratieentleerung sowie eine verschärfte Sicherheits- und Kontrollpolitik (wie sie etwa anlässlich der Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre vorangetrieben wurde) für die Offenheit und Liberalität unserer Gesellschaft?

— Welche Erfolgschancen haben rechtsautoritäre Politikangebote und Folgebereitschaften in der Bevölkerung — auch vor dem Hintergrund autoritärer Entwicklungen in Europa (siehe Kapitel 12)?

Es geht also in dieser Analyse um Fortschreibungen des Analysestandes von 2001, stellenweise um Korrekturen und auch um das Einfügen neuer Einflussfaktoren: etwa das Internet, die angenommenen Entwicklungsfolgen der Digitalisierung der Arbeit, die Flüchtlingsbewegungen — oder auch die Fernwirkungen aus den USA.

Um diesen Fragen nachzugehen, kann die Analyse auf mehrere Veröffentlichungen und Forschungsprojekte zurückgreifen, an denen der Autor in unterschiedlichen Funktionen beteiligt war. Insbesondere die Langzeitstudie zur sogenannten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat mit ihren jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen ergiebiges Daten- und Analysematerial erbracht. Diese Datenbestände werden in der vorliegenden Arbeit verwendet, um Langzeitverläufe sichtbar zu machen, und teilweise werden angesichts der heutigen gesellschaftlichen und politischen Lage Neuauswertungen des vorliegenden Materials vorgenommen. Der Ansatz, der im vorliegenden Band vorgeschlagen und verfolgt wird, bildet — indem er sich auf gesamtgesellschaftlich verbreitete Einstellungsmuster konzentriert — eine Ergänzung zu den zahlreichen wichtigen neueren Publikationen aus Politikwissenschaft und Journalistik, die vor allem auf die Ideologie der Neuen Rechten, auf Parteistruktur 29und -entwicklungen der AfD sowie auf die Aktivitäten von Pegida gerichtet sind.

Beginnen wir also mit der Rückblende ins Jahr 2001.