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12.


Ich fühlte mich leicht und war zufrieden mit der Welt, als ich am Abendbrottisch in der Mission saß. Ich aß so viel wie selten und trank einen ganzen Krug Milch leer. Das dicke Ende aber sollte noch folgen. Als ich den Küchenanbau verließ, hielt gerade der Wagen von George ­Kingsley auf dem Hof. Jay, sein Sohn, der genau wie sein Vater das Feuergefecht am Hill’s Point beobachtet hatte, saß neben ihm auf dem Bock. Ich wollte eigentlich in meine Kammer gehen. Doch da hörte ich, wie George Kingsley erzählte, dass der mexikanische Spion, hinter dem die Ranger her seien, noch immer nicht gefasst worden sei. Ich blieb stehen und lauschte auf das, was der Farmer den Padres erzählte. Die Ranger hatten im Wald nur noch ein leeres Versteck gefunden. Santoya war verschwunden, und bis jetzt war er nicht gefunden worden. Jetzt wurde es dunkel, und die Chancen des Killers, noch einmal zu entwischen, standen nicht schlecht.

Als George Kingsley davonfuhr, schlich ich mit hängendem Kopf in meine Kammer und setzte mich mit weichen Knien auf mein Bett. Santoya war noch immer frei. Für mich war klar: Er würde kommen und sich rächen. Ich dachte nicht darüber nach, dass er dazu keine ­Möglichkeiten hatte, da er ja gar nicht wusste, wo er Clay und mich finden konnte. Ich dachte in diesem Moment nur an die beiden Marshals in Mulberry. Mich überkam eine Stinkwut auf die Ranger, denen es nicht gelungen war, den Killer zu fassen. Als ich wenig später ins Bett stieg, war ich überzeugt, in dieser Nacht kein Auge mehr schließen zu können. Lange lag ich wach und starrte in die Dunkelheit. Dann schlief ich doch ein. Aber ich hatte böse Träume.


*


Ich wurde wach, wusste nicht, was mich geweckt hatte. Aber ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Angst griff mit einer eisigen Klaue nach mir. Ich schaute zum Fenster. Draußen war es dunkel. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ich schob die Decke weg und stand auf. Unschlüssig verharrte ich eine Weile neben dem Bett, ging dann zum Fenster und blickte nach draußen. Aber auf dem Hof war nichts zu sehen. Ich ging zur Tür und lauschte. Ich hörte Schritte und Stimmen. Langsam drückte ich die Klinke nieder und öffnete die Tür. Auf dem Gang draußen war es ebenfalls dunkel. Aber ich hörte immer noch die Stimmen, jetzt lauter als vorher. Ich schlüpfte auf den Gang hinaus und sah nun auch den schwachen Lichtschimmer dort, wo der Gang in den Aufenthaltsraum der Mönche mündete.

Ich spürte die Kälte des Fußbodens nicht, als ich barfuß den Gang hinunterschlich. Kurz vor der Tür, die nur angelehnt war, blieb ich stehen und lauschte. Jetzt hörte ich sie deutlich, die raue, kratzende, schwache Stimme, in der jedoch eine tödliche Drohung mitschwang.

„... werde hierbleiben“, hörte ich die Stimme sagen. „Hier wird mich keiner von den verfluchten Sternträgern suchen. Ihr werdet mich verstecken. Irgendwo. Und ihr werdet mich gut versorgen. Einer von euch wird immer als Geisel bei mir bleiben, und wenn die Anderen Mist bauen, werde ich ihn abknallen.“

„Sie werden eine Blutvergiftung kriegen, Mann“, hörte ich Padre Erastus sagen. „Sie müssen operiert werden. So, wie Sie aussehen, sterben Sie in ein paar Tagen, wenn Sie nicht operiert werden.“

„An mir schnippelt keiner herum“, sagte die raue Stimme. „Ihr wollt mich nur abschlachten. Ich kenne euch. Aber das schafft ihr nicht. Das schafft keiner.“

Ich schob mich näher an die Tür und warf einen Blick durch den schmalen Spalt, aus dem das Licht fiel. Für einen Moment schien mein Herz stillzustehen. Direkt an der Tür stand Drago Santoya. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, er sah aus wie sein eigenes Gespenst. In seiner Rechten lag der Navy-Colt.

„Wir können Sie nicht verstecken. Verstehen Sie doch“, erklärte Padre Emanuel eindringlich.

„Ihr könnt“, entgegnete Santoya. Ich konnte die ­Padres nicht sehen. Aber irgendetwas schien Santoya nervös zu machen, denn er schrie plötzlich: „Stehen bleiben, ihr verdammten Pfaffen. Ich schieße ...“ Er taumelte vor Schwäche und zog mit dem Daumen den Hammer des Revolvers zurück. Da durchzuckte mich die wilde Angst, dass den Padres etwas geschehen könnte. Ich warf mich mit aller Kraft gegen die Tür. Es war eine schwere, massive Eichentür. Sie schwang wuchtig nach innen und traf mit der Kante den rechten Ellenbogen des Mörders.

Ein Schuss löste sich, der sich in eine Wand bohrte, aber niemanden verletzte. Dann flog der Revolver quer durch den Aufenthaltsraum. Santoya stieß einen lang gezogenen, klagenden Schrei aus, torkelte wie ein Betrunkener und brach zusammen. Er wollte sich noch einmal aufrichten, verlor jedoch das Bewusstsein und blieb regungslos liegen.

Sekunden später lag ich in den Armen von Padre ­Ambrosius, der mir immer wieder über den Kopf strich und beruhigend auf mich einsprach. Die anderen ­Padres schleppten den Banditen weg. Sie versorgten seine Wunde und sperrten ihn in einem Kellerraum ein.

Jetzt war wirklich alles vorbei.


*


Ich will es kurz machen. Am nächsten Tag benachrichtigte Padre Emanuel die Ranger, die die ganze Nacht vergeblich den Wald durchsucht hatten. Gegen Mittag ritten die Ranger auf den Hof der Mission und holten Drago Santoya ab. Er leistete nur schwachen Widerstand.

Ich wurde noch einmal von Captain Wallace gelobt und hörte dann, wie der Captain Padre Emanuel erklärte, dass Santoya als Kurier und Saboteur für den mexikanischen Geheimdienst gearbeitet hätte. Colonel Stephens hatte seine hohe militärische Stellung ausgenutzt, um geheime Unterlagen, Pläne von Forts, Magazinen, Statistiken über Mannschaftsstärken, Bewaffnung und Ausrüstung, politische Informationen und vieles mehr an Mexiko zu verkaufen. Damit war er reich geworden, was ihm nun allerdings auch nichts mehr nutzte.

Ich verstand nicht viel davon, aber ich sah, wie sich alle freuten, dass Santoya gefasst war. Ich freute mich auch darüber. Später hörten wir, dass Drago Santoya zwei Tage vor seiner Hinrichtung gegen einen amerikanischen Agenten in mexikanischer Gefangenschaft ausgetauscht worden und so noch einmal mit dem Leben davon­gekommen war. Da war jedoch längst wieder der Alltag im Pease River Valley eingekehrt. Die Ernte war eingebracht. Es wurde Herbst. Alle feierten das Erntedankfest. Wieder neigte sich ein Jahr zu Ende.

Zu vermerken wäre noch, dass Napoleon nicht eingesperrt wurde. Als das Herrenhaus von Colonel Stephens verkauft wurde, übernahm der neue Besitzer auch Nap. Aber das ist eine andere Geschichte.

RONCO


In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Ich werde gejagt

2702 Der weiße Apache


Dietmar Kuegler



Ich werde gejagt






Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-150-2

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!


Vorwort


Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New ­Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack.

Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte.

Er nannte sich Ronco. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, dass er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pionier­geschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauer und wilder, als wir sie bisher gesehen haben.

Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe Ronco gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes Ronco offenzulegen, haben wir uns entschlossen, die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich Ronco nannte, seine eigene Geschichte.


13. August 1878.

Ich werde gejagt. Im Grunde habe ich damit mein Leben bereits beschrieben. Aber ich bin kein Verbrecher, und dadurch wird die Sache problematisch. Überhaupt ist das der Grund, warum ich heute anfange, ein Tagebuch zu schreiben.

Ich weiß nicht, wer diese Aufzeichnungen einmal lesen wird. Ich bilde mir nicht ein, dass sie so wichtig sind, dass sie unbedingt gelesen werden müssten. Aber wer sie auch immer liest: Er soll die Wahrheit über mich erfahren, über mich und die Männer, die mich jagen, die auch jetzt, während ich schreibe, bereits wieder auf meiner Spur reiten, um mich zu töten. Erst vor ein paar Tagen bin ich gerade noch einmal davongekommen. Ich habe von diesem Kampf noch eine Wunde am linken Arm. Es ist ein Streifschuss, nicht allzu schlimm. Ich habe Schlimmeres durchgestanden. Die Schmerzen sind zu ertragen. Es wird nicht meine letzte Wunde sein.

Meine Lage ist ziemlich verfahren. Ich will aufschreiben, wie es dazu gekommen ist, obwohl das eine sehr lange Geschichte ist.

Ich sitze in einem schmutzigen Hotelzimmer in ­Steeple Rock, New Mexico, Steeple Rock ist eine Stadt, die nur aus wenigen Hütten besteht und in der Männer wie ich nicht auffallen. Ich hoffe, hier einige Tage Ruhe zu haben.

Ich habe ein Schulheft vor mir liegen, das ich von einem fahrenden Händler für fünf Cents gekauft habe. Es wird nicht ausreichen, um alles aufzunehmen, was mir durch den Kopf geht. Gleichzeitig aber habe ich das Gefühl, dass ich einen Fehler begehe.

Vielleicht wird man später, wenn ich nicht mehr lebe, diese Aufzeichnungen lesen und darüber lächeln. Weil ich nie gelernt habe, zu formulieren, und weil ich nur eine Missionsschule besucht habe, in der man nicht mehr gelernt hat, als Lesen und Schreiben. Aber selbst das war schon viel für die Zeit, in die ich hineingeboren wurde, und das Land, in dem ich aufgewachsen bin.

Vielleicht wird man mir auch nicht glauben, weil sich in fünfzig oder hundert Jahren vieles ändert und man sich nicht vorstellen kann, wie das Leben zu meiner Zeit verlief. Aber eigentlich glaube ich das nicht. Denn dazu müssten sich die Menschen ändern, und ich habe wenig Vertrauen zu den Menschen, wie jeder verstehen wird, der meine Geschichte kennt.

Ich will nicht, dass später einmal von mir gesagt wird, ich sei ein Verbrecher gewesen. Ich habe niemals etwas getan, dessen ich mich schämen müsste. Darum, und das allein ist der Grund, schreibe ich heute auf, wie es wirklich war in meinem Leben. Ich, Ronco ...



1.


Der Treck befand sich unweit der Wüste, die man Staked Plains nennt – oder auch Llano Estacado –, als das linke Vorderrad des ersten Wagens brach.

Der ganze Treck geriet ins Stocken und eine alte Frau meinte, dass es ein böses Omen sei. Der Treckführer hielt von solch abergläubischem Gewäsch nicht viel. Er fluchte nur und sagte sonst gar nichts weiter. Einige Männer begannen, den Wagen zu reparieren.

Die Arbeit dauerte länger und war schwieriger, als es zunächst ausgesehen hatte. Das Ersatzrad ließ sich nicht aufziehen. Der Zapfen der Achse hatte sich bei dem Unfall leicht verbogen.

Die Männer standen um den Wagen herum, mit verschränkten Armen oder mit den Fäusten in den Hüften, und redeten eine Menge dummes Zeug. Denn sie verstanden von allen möglichen Dingen etwas, nur nichts von Planwagenachsen, was kein Wunder war, da die meisten erst vor Kurzem ein solches Gefährt zum ersten Mal bestiegen hatten.

Ein Mann namens Gourdet kroch auf allen vieren wie ein Jagdhund um die Achse herum, während die anderen redeten. Er war erst vor ein paar Wochen mit seiner Familie, die aus seiner Frau und zwei zehn und zwölf Jahre alten Jungen bestand, im Zwischendeck eines Auswandererschiffes aus Frankreich gekommen. Gourdet sprach keine zwanzig Worte Englisch, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, mit einem Planwagen durch halb Amerika zu reisen. Als er schließlich aufstand, wischte er sich mit großer Geste die Hände an der einfachen ­Leinenhose ab und sagte: „Attention, Messieurs, attention!“

Er hatte einen Kopf wie eine Runkelrübe. Sein Haar stand wirr wie ein Blätterstrunk von seinem Schädel ab, nur, dass es nicht grün war. Die Männer verstummten und schauten ihn abwartend an.

„Wir müssen machen Wagen leer“, sagte Gourdet, schwerfällig nach Worten suchend, sehr energisch erst, dann leicht. „You understand me? Wir legen Achse auf Amboss und hauen gerade mit Hammer. Ich Amboss in Wagen. Alles andere Scheiße.“ Er drehte sich würdevoll um und ging zu seinem Wagen in dem Bewusstsein, den anderen Idioten gezeigt zu haben, wie man Planwagen repariert.

Die Männer schauten ihm nach und fragten sich, warum sie nicht selbst darauf gekommen waren. Dann begannen sie, den Wagen zu entladen.

Es war ein Conestogaschoner mit verstärkten Bracken und Eisenbeschlägen. Auch als er entladen war, war er noch immer so schwer, dass fünf Männer nötig waren, um ihn anzuheben, als Gourdet seinen Amboss brachte und ihn so ins Gras stellte, dass das linke Ende der Vorderachse daraufgelegt werden konnte.

Die Habseligkeiten der Familie Hancock aus dem ersten Wagen lagen im Gras herum. Es war überflüssiger Plunder, wie der Treckführer meinte, unnötiger Ballast, der den Wagen nur zusätzlich belastete und eigentlich gar nicht wieder aufgeladen werden sollte. Er meinte damit vor allem ein altes eisernes Bettgestell mit Messingbeschlägen und eine Kiste mit Büchern, die so schwer war, dass zwei Männer sie kaum tragen konnten.

„Das Bett kommt mit“, sagte Mrs. Hancock sehr energisch. „Meine Mutter ist darin gestorben.“

„Wenn Sie Pech haben, werden auch Sie drin sterben“, sagte der Treckführer und ließ es damit bewenden, während Mrs. Hancock vor Empörung nach Luft schnappte.

Mr. Hancock sagte gar nichts. Er sagte überhaupt nur selten etwas, was vermutlich daran lag, dass seine Frau ihn nie zu Wort kommen ließ. Er war ein schmächtiger, blasser Bursche, der, Lehrer von Beruf, stets mit einem Gesicht herumlief, das jeden zu fragen schien: Was soll ich hier bloß?

Als die Achse endlich gerichtet war und das Ersatzrad aufgesetzt werden konnte, war es Mittag geworden. Die Sonne brannte gnadenlos auf das Land, das noch nie von einem Pflug berührt worden war. Es war gutes Land. Das Gras wuchs kniehoch, und überall wucherte bunter ­Salbei und Mesquite.

Die Frauen hatten ein Feuer angefacht und Essen gekocht. Die Kinder spielten zwischen den Wagen und rannten lachend über die Hügel links und rechts des Trails.

Manche Frauen hatten auch Säuglinge bei sich, und eine war im achten Monat schwanger, wechselte aber noch immer jeden Tag ihren Mann auf dem Wagenbock beim Lenken des Vierergespanns ab und arbeitete wie ein Pferd. Sie stammte aus Irland, und in Irland, so wird gesagt, sind die Menschen besonders zäh.

Das Land gefiel den Männern. Sie untersuchten den Boden, ließen schwarze, fettklebrige Erdkrumen durch ihre Finger gleiten und meinten, dass hier meter­hohes Getreide wachsen müsse und Kartoffeln, dick wie Kinderköpfe. Aber keiner konnte sich entschließen, zu ­bleiben. Denn sie alle waren auf dem Weg nach ­Kalifornien, wo ein Mann namens Sutter im Frühjahr Gold gefunden haben sollte. Und Gold erschien ihnen besser und wichtiger als Kartoffeln, und wenn sie dick wie Kürbisse gewesen wären.

Nach dem Essen gingen sie wieder daran, den Wagen der Hancocks zu reparieren. Die Kinder spielten noch immer auf den Hügeln und hinter den Büschen und veranstalteten einen Heidenlärm, während die Frauen langsam ungeduldig wurden.

Damit war es plötzlich vorbei, als zwei Jungen den Hügel herunterstürmten und laut schrien, dass sich von Süden Reiter näherten.

Die Männer stellten ihre Arbeit ein. Die Frauen schwiegen. Und die Kinder spielten nicht mehr.

Der Treckführer bestieg sein Pferd und ritt auf den Hügel. Hier hielt er kurz, spähte nach Süden und kehrte sofort wieder zurück. Als er zu reden begann, verstummten alle und hörten ihm zu. Und dann schlich sich Angst in die Züge der Menschen.

„Indianer!“

Bevor Panik ausbrechen konnte, befahl der Treckführer den Frauen, sich mit den Kindern sofort in die Wagen zu begeben und sich dort flach auf den Boden zu legen. Dann sollte eine Wagenburg gebildet werden. Aber dazu kam es nicht. Denn niemand hatte daran gedacht, den Wagen der Hancocks, der noch immer nicht repariert war, aus dem Weg zu schaffen. Jetzt war es zu spät, denn als die Frauen und Kinder gerade in die Wagen gestiegen waren, war der dumpfe Hufschlag von vielen unbeschlagenen Pferden bereits zu hören.

Die Männer liefen zu ihren Wagen und kramten ihre Waffen hervor. Es handelte sich zumeist um umständlich zu handhabende Vorderladergewehre, die bisher nur dazu benutzt worden waren, den Speisezettel des Wagenzuges durch frisches Wild zu ergänzen.

Manche hatten vor dem Aufbruch des Trecks, irgendwo östlich des Mississippi, damit geprahlt, dass sie Indianer, falls welche auftauchen sollten, wie die Hasen abschießen und in die Flucht schlagen würden. Davon sprach jetzt keiner mehr.

Einige der Männer besaßen ein paar der neuen mehrschüssigen Revolver, die ein Mann namens Samuel Colt erfunden hatte und die wahre Wunderwaffen sein sollten. Sie konnten das nicht beurteilen, denn sie hatten noch nie damit geschossen. Manchem wurde klar, dass es zum Üben nun zu spät war, aber das nutzte ihnen nichts mehr. Denn die Indianer waren bereits da, gerade, als die neuen Coltrevolver geladen waren.


*


Die Kinder begannen zu schreien, als die ersten Schüsse krachten. Bald weinten sie nur noch leise, und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden übertönten sie.

Die Indianer sprengten über die Hügel, ohne von der ersten Gewehrsalve aus den Planwagen ernsthaft gefährdet zu werden.

Es waren Apachen. Untersetzte, sehr muskulöse Männer mit breitflächigen Gesichtern und schmalen Augen. Lange, fettige schwarze Haare fielen ihnen bis auf die Schultern oder wurden von breiten handgewebten Tüchern, die sie um die Stirn trugen, gehalten.

Ihre bronzefarbenen Oberkörper waren nackt und glänzten, denn sie waren zum Schutz gegen die stechende Sonne mit Büffelfett eingerieben. Sie trugen groblederne Leggins und Mokassins mit kniehohen Schäften und saßen in flachen, gepolsterten Woilachs auf den Rücken ihrer kleinen, gescheckten, langmähnigen Ponys, als wären sie angewachsen.

Einige der Indianer besaßen Gewehre, die meisten waren mit Pfeilen und Bogen bewaffnet.

Erst feuerten die Gewehrschützen. Dann ging ein Regen von Pfeilen auf den Treck nieder. Wie reitende Teufel preschten die Krieger auf die Planwagen zu, schrilles, kollerndes Geheul ausstoßend, das den Rufen der wilden Truthähne ähnelte.

„Feuer!“, schrie der Treckführer. „Immer auf die Körper halten. Das sind die größten Ziele!“

Die Männer schossen. Mit grimmig verzerrten Gesichtern zielten sie auf die Angreifer. Sie drückten ab, und manche hatten ein merkwürdiges Gefühl dabei, denn die meisten schossen zum ersten Mal in ihrem Leben auf Menschen.

Es donnerte, krachte und stank fürchterlich. Als sich die erste Pulverwolke verzogen hatte, schien es, als hätte die Salve keinerlei Wirkung gehabt. Doch es lagen einige Körper reglos im hohen Gras, und reiterlose Pferde stürmten in der Phalanx der Angreifer mit.

Die Frauen luden mit fliegenden Fingern die Gewehre nach, deren Läufe bald heiß geschossen waren. Die Kinder pressten sich hart an die rauen Bodendielen der Wagen und schrien vor Angst.

Bald schossen die Männer immer schneller. Sie trafen auch häufiger. Pulverdampf staute sich stinkend unter den Wagenplanen und schwebte in grauen Dunst­schwaden über den Leichen, die auf dem grünen Gras lagen.

Auch drei Männer im Treck waren tot, ebenso eine Frau, als der erste Angriff der Apachen zurückgeschlagen war. Die Indianer zogen sich hinter die Hügel zurück. Bald stiegen dünne Rauchfahnen in den heißen Himmel.

Im Treck waren mehrere Männer verletzt, unter ihnen Bill Hancock, der Schullehrer aus Boston. Ein Pfeil hatte ihn in die Brust getroffen. Es war ein Pfeil mit Widerhaken, der durchgestoßen werden musste. Ihm war nicht mehr zu helfen. Nach einer knappen Stunde begann er, Blut zu spucken. Wenig später war er tot.

Er hatte Glück.

Bei den anderen dauerte es länger, und ihnen wurde es nicht so leicht gemacht.

Nach einer fast endlos langen Pause, in der nichts geschah und nur das monotone Hämmern von Trommeln zu hören war, zischten plötzlich Brandpfeile über die Hügel. Die Wagenplanen fingen sofort Feuer. Die ersten Brände wurden gelöscht. Dann aber griffen die Apachen an, und zum Löschen blieb keine Zeit mehr.

Die hochschwangere Irin erlitt eine Fehlgeburt und verblutete, weil ihr niemand helfen konnte. Um sie herum starben auch die anderen.

Ein Wagen nach dem anderen fing Feuer. Einige Verwundete verbrannten. Immer schwächer wurde der Widerstand.

Der Treckführer starb, als er mit einem Kind im Arm einen brennenden Wagen verließ. Ein Pfeil durchbohrte seinen Hals. Gurgelnd stürzte er zu Boden und begrub das schreiende Kind unter sich.

Das Feuer fraß sich wütend von Wagen zu Wagen. Die Flammen schlugen immer höher, prasselnd, knackend, fauchend. Eiserne Felgen und Achsenteile verbogen sich in der Hitze. Irgendwo explodierte ein Munitionsvorrat und zerriss einen Apachen, der von seinem Pferd auf den Wagenbock gesprungen war.

Schreie von Frauen und Kindern übertönten das Feuer und das Krachen der Schüsse. Die Apachen fielen über den Treck her, zerschnitten die Geschirrriemen der vor Angst fast verrückten, grell wiehernden Gespannpferde und stürzten sich auf die noch lebenden Männer, Frauen und Kinder.

Auch die Frauen kämpften jetzt. Sie schlugen mit Knüppeln, leergeschossenen Gewehren und eisernen Feuerhaken auf die Angreifer ein. Sie warfen sich über ihre Kinder und wehrten sich wie wilde, waidwund geschossene Tiere.

Die Männer starben alle. Mit schweren Schädel­brechern gaben die Apachen den Verletzten den Rest. Wer von den Frauen und Kindern noch lebte, wurde gefangen genommen.

Die Apachen trugen die gefesselten, in wahnsinniger Angst schrill kreischenden Frauen über die Hügel, während andere zwischen den Toten neben den brennenden Wagen umhergingen und ihnen die Skalps abrissen.

Sie nahmen auch die Kinder mit. Die größeren, die sich wehrten, wurden auf der Stelle getötet.

Einige Krieger sprangen in die brennenden Wagen und bargen noch lebende Säuglinge.

Als die Sonne im Westen unterging, ritten die Apachen mit ihren Gefangenen davon. Die Trümmer des Trecks und mehr als zwei Dutzend skalpierte Leichen blieben zurück.

Das Feuer, das die Wagen verzehrt hatte, sank in sich zusammen. Es gab nichts mehr in diesem Treck, was noch verwendbar gewesen wäre.

Aber ein Wagen mitten im Zug war nicht verbrannt.

Nur die Plane war dem Feuer zum Opfer gefallen, das Eisengestänge hatte sich verbogen, und die Seiten­bracken waren rußgeschwärzt und leicht verkohlt.

Der Wagen war mit Kupfervitriol gestrichen, weil sein Besitzer gedacht hatte, besonders klug zu sein. Er musste sich sehr sicher in seinem feuerfesten Wagen gefühlt haben. Jetzt war er dennoch tot und lag irgendwo zwischen den Leichen im Gras, das rot gesprenkelt war von Blut.

Sein Wagen war fast noch unversehrt. Drei erloschene Brandpfeile steckten in der nach Süden gewandten Seiten­bracke. In dem Wagen lag ein Deckenbündel, blut­besudelt von oben bis unten, angesengt und rußgeschwärzt.

Aus den Decken heraus schaute das Gesicht eines Kindes, eines sehr kleinen Kindes. Es rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich, denn der beißende Rauch hatte es betäubt. Sein kleines Gesicht trug Spuren eingetrockneten Blutes, das aber nicht von ihm selbst zu stammen schien.

Als es nach einiger Zeit aufwachte, war es Nacht, und es fing an zu schreien. Es hatte Hunger. Es begriff ja nicht, was passiert war. Aber niemand kam, um es zu füttern und zu trösten.

Es brüllte, bis es heiser war, und wurde dann still. Tränen liefen aus seinen Augen und trockneten auf seinen Wangen. Es wimmerte nur noch leise, während ein kühler Nachtwind von den Hügeln heranfächelte und den scharfen Brandgeruch, den Gestank von Tod und Fäulnis forttrieb. Es weinte, bis es müde wurde und wieder einschlief.


*


Das Kind war ich. Und so begann alles. Genau so. Die verschiedensten Menschen haben mir später diese Geschichte immer wieder erzählt. Es waren Menschen, die keinen Grund hatten, mich anzulügen.

Manchmal glaube ich, mich schwach an die Vorfälle zu erinnern. Es ist jetzt etwa dreißig Jahre her. Mir scheint, dass meine ersten Eindrücke von diesem Leben bis zu jenem Überfall zurückgehen. Aber ich kann mir das natürlich auch nur einbilden, weil ich die Geschichte so oft gehört und selbst so oft und lange darüber nach­gedacht habe.

Es war im 48er Jahr. Im Spätsommer. Die Goldfunde in Kalifornien hatten damals die ganze Welt um den Verstand gebracht.

Ich habe nie begriffen, warum die Menschen dem Gold nachlaufen, und ich habe Menschen gesehen, die die Sucht nach Gold verrückt gemacht hat.

Die Indianer sind da anders. Ich habe nicht einen Indianer kennengelernt, der verrückt nach Gold gewesen wäre, obwohl die meisten von ihnen zahllose Plätze kannten, an denen man das Gold nur vom Boden aufzuheben brauchte. Ich selbst glaube nicht, dass Gold das Wichtigste ist, was es gibt, obwohl es mir oft dreckig gegangen ist und ich manches Mal habe hungern müssen. Trotzdem habe ich nie einen Sinn darin gesehen, großen Reichtum zu erwerben.

Damals aber brachen überall Menschen auf, packten ihre Sachen oder ließen auch alles, was sie besaßen, stehen und liegen, und gingen nach Kalifornien. Zahllose Trecks zogen durch die Weiten des Westens, die zu jener Zeit noch so gut wie unerforscht waren.

Westlich vom Mississippi, nannte man dieses Gebiet. Einen anderen Namen trug es noch nicht. Und das sagt im Grunde schon alles über das Land, das man sich wild, gefährlich und primitiv vorstellte. Ich will es einmal dahingestellt sein lassen, ob es wirklich so war oder ob das Land erst wild, gefährlich und primitiv wurde, als die weißen Siedler wie Ameisenschwärme den ­Mississippi überschritten und den unberührten Weiten des Westens die sogenannte Zivilisation brachten. Damals jedenfalls wagten sich die ersten Trecks aus dem Osten über den Mississippi. Die Gier nach dem Gold ließ die Menschen ihre Furcht vor dem unbekannten Land überwinden.

Meine Eltern waren dabei. Und ich auch. Auch wenn ich zu jener Zeit noch ein kleiner Kerl war, ein Hemdenmatz, der nicht wusste, was geschah, weil er noch nicht sehr lange auf der Welt war. Vielleicht erst ein Jahr oder auch zwei Jahre.

Aus dieser Zeit weiß ich nichts.

Ich weiß nicht, wer meine Eltern sind, die wie hunderttausend andere Menschen vom Goldfieber gepackt wurden. Ich weiß nicht, woher sie kamen, was sie vorher getan haben und was sie für Menschen waren.

Ich weiß gar nichts. Als Kind hat mich das immer gestört. Auch heute frage ich mich oft, ob nicht vieles in meinem Leben anders verlaufen wäre, wenn ich bei meinen Eltern aufgewachsen wäre.

Ich bin mir als Kind immer ziemlich jämmerlich vorgekommen. Alle Kinder, die ich kannte, hatten Eltern. Nur ich nicht. Das war ein böses Gefühl.

Ich glaube, keiner von denen, die wohlbehütet und in geordneten Verhältnissen aufwachsen, kann sich vorstellen, was in einem Kind vorgeht, das unter fremden Leuten aufwächst. Ich habe es früh verlernt, zu weinen oder zu klagen.

Ich erinnere mich, dass ich als Vier- oder Fünfjähriger in dem Wald nahe der Mission, in der ich aufgewachsen bin, ein Eichhörnchen entdeckt hatte. Es gelang mir, es zu zähmen. Es war ein wirklich feines Eichhörnchen. Außer mir hatte es niemand geschafft, sich mit ihm anzufreunden.

Eines Tages kam ich in den Wald, als ein Bussard auf die Lichtung niederstieß, auf der ich immer auf das kleine Tier wartete. Er erwischte das Eichhörnchen bei der Futtersuche, packte es und schleppte es mit. Ich konnte ihm nicht helfen, aber ich habe heute noch das Pfeifen im Ohr, das das Eichhörnchen ausstieß, als es im Schnabel des Bussards starb.

Ich glaube, weder vorher noch nachher habe ich jemals stärker meine Mutter vermisst. An diesem Tag habe ich das Weinen verlernt. Ich begriff so stark wie nie zuvor, dass ich keine Mutter hatte und allein fertig werden musste.

Manchmal habe ich meine Eltern, die ich nicht kenne, verflucht, weil sie mich in diesem Leben allein gelassen haben. Dabei hatten sie bestimmt nicht die Absicht, zu sterben, und, wenn ich es recht bedenke, sie hatten sicher vor, mir eine glänzende Zukunft zu schaffen.

Warum hätten sie sonst in die Goldfelder Kaliforniens ziehen sollen? Was immer sie auch vorher getan haben mögen – eine lohnende Sache scheint es nicht gewesen zu sein. Sonst hätten sie sich kaum mit einem alten Prärieschoner einem der vielen Trecks nach Kalifornien angeschlossen. Kalifornien – das war damals ein Zauberwort. Dort bestanden die Berge aus Gold, es fielen Nuggets vom Himmel, und die Straßen waren mit Dollars gepflastert.

Meine Eltern wollten reich werden.

Heute steht ein Kreuz dort, wo alles zu Ende war, noch ehe es richtig begonnen hatte, wo alle Träume begraben werden mussten. Es ist aus einer Wagendeichsel gefertigt, und ringsherum liegen noch ein paar morsche Wagentrümmer und Räder, deren verbogene eiserne Felgen durchgerostet sind. Das alles ist mit Büffelgras überwuchert. Dazwischen blüht Salbei. Ich glaube, dass sich in den vergangenen dreißig Jahren kaum etwas dort geändert hat.

Ich bin schon lange nicht mehr dort gewesen, dort, wo für mich ein neues Leben anfing, obwohl ich doch erst knapp zwei Jahren zuvor angefangen hatte, zu leben.

Ich lag in einem Planwagen. Müde, hungrig und voller Angst. Ich hatte gute Aussichten, zu verhungern oder von den Aasvögeln gefressen zu werden, die, wie man mir später erzählte, bereits am anderen Morgen nach dem Massaker über dem ausgebrannten Treck und den Leichen kreisten. Dass es nicht dazu kam, verdanke ich denen, die mir diese Geschichte, den Anfang meiner eigenen Geschichte, erzählt haben.