Über Rob Lloyd Jones

Als Kind wollte Rob Lloyd Jones immer Indiana Jones werden. Deswegen studierte er Ägyptologie und Archäologie. Bei seiner Teilnahme an verschiedenen Ausgrabungen stieß er auf allerhand spannende Geschichten, die ihn unter anderem zu ›Jake Turner und das Grab der Smaragdschlange‹, seinem dritten Roman, inspirierten. Außerdem ist er der Autor zahlreicher Sachbücher. Rob Lloyd Jones lebt in Sussex/England.

 

 

Birgit Niehaus, geboren im äußersten Norden Deutschlands, studierte Romanistik, Hispanistik und Sprachlehrforschung in Hamburg und Bordeaux, war etliche Jahre in der Verlagspressearbeit tätig und lebt heute mit ihrer Familie als freie Übersetzerin und Lektorin in Berlin.

Über das Buch

Rasante Schatzjagd nach einer alten Mumie

 

Plötzlich sind sie allein in Kairo – der fast dreizehnjährige Jake und seine nervige Zwillingsschwester Pandora. Ihre Eltern, Forscher über das alte Ägypten, sind verschwunden. Jake und Pandora bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst auf die Suche zu machen. Schnell finden sie heraus, dass ihre Eltern entführt worden sind. Und schon stecken sie mittendrin in einem Abenteuer um eine verschollene Mumie, stoßen auf zwielichtige Grabräuber mit Hightech-Ausrüstung und geraten schließlich selbst ins Visier der Entführer …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© Rob Lloyd Jones 2016

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Titel der englischen Originalausgabe: ›Jake Atlas and the Tomb of the Emerald Snake‹,

2016 erschienen bei Walker Books Ltd, London

Umschlagbild: Max Meinzold

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43460-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71875-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434607

 

 

 

Was für ein grauenhaftes Gefühl! Zu wissen, man stirbt gleich – aber nicht zu wissen, wie. Ich war in eine Todesfalle geraten, ganz klar. Doch was für eine Falle war das?

Sand rieselte mir auf den Rücken, was an sich nicht erstaunlich war, schließlich kroch ich durch die Wüste, besser gesagt durch einen Tunnel unter der Wüste. Und genau das war das Problem: Der Sand kam nämlich aus Rissen in der Tunneldecke.

Auf meinen Ellbogen robbte ich durch den engen Gang. Die Wände rechts und links rückten immer näher, wie um mich zu zerquetschen. Gleichzeitig nahm das Rieseln von der Decke zu, der Sand strömte jetzt nur so aus den Ritzen. Der ganze Boden war schon bedeckt und die Schicht wuchs und wuchs und drückte mich nach oben. Mein Kopf stieß fast gegen die Decke.

»Mach schon!«, brüllte ich. »Schneller!«

Von oben kam eine regelrechte Sanddusche und riss mir meine Smartbrille vom Kopf. Sofort wich die grünlich

Ich bekam kaum noch Luft, sogar in meinem Mund und meiner Nase war Sand. Sand, der zum Mechanismus einer Todesfalle gehörte, die vor über fünftausend Jahren erdacht worden war, um Grabräuber aufzuhalten. Grabräuber wie mich.

»Bin gleich bei der Öffnung!«, hörte ich es vor mir. »Aber ich komme nicht durch … alles zugeschüttet.«

Es folgte, gedämpft durch den Sand, ein Schrei. Ich wandte mein Gesicht Richtung Tunneldecke, um nach Luft zu schnappen.

Und dann ging nichts mehr, gar nichts.

Wir waren lebendig begraben.

Ich versuchte weiterzubuddeln. Unmöglich. Das Gewicht des Sandes lastete tonnenschwer auf mir. Als würden mich Hunderte von Händen festhalten. Kurz meinte ich, das Licht einer Taschenlampe vor mir zu sehen, aber das war ein Trugschluss. Das Licht war in meinen Augen. Ein Warnsignal. Ich stand auf der Schwelle des Todes.

Nein, nicht so! Nicht hier und jetzt! Nicht so kurz davor!

Ich versuchte, mich zu beruhigen, klar zu denken. Wenn ich doch bloß an meinen Ausrüstungsgürtel herankäme. An die Ultraschall-Sprengvorrichtung, die dort befestigt war.

Das absolute Worst-Case-Szenario.

Noch vor wenigen Tagen war ich ein ganz normaler Junge gewesen: mit saumäßigen Schulnoten, vor allem in »Betragen«, den strengsten Eltern der Welt, einer Schwester, die kaum mit mir redete, und einem ausgeprägten Talent, Ärger magisch anzuziehen – was meine Mitmenschen regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Und jetzt war ich plötzlich als Mitglied eines Super-Hightech-Schatzjäger-Teams auf der Suche nach einem verschollenen Grab, um zu verhindern, dass meine Eltern von einer teuflischen Sekte getötet und mumifiziert wurden.

Ja, es war wirklich einiges passiert in den letzten Tagen.

Angefangen hatte alles damit, dass ich mal wieder für Chaos gesorgt und Menschen, die ich liebte, vor den Kopf gestoßen hatte. Tja, und beim Versuch, es wiedergutzumachen, hab ich wohl die entscheidenden Fallstricke übersehen.

Deshalb steckte ich jetzt hier fest, ohne den kleinsten Hauch Luft in der Lunge.

Plötzlich meldete sich eine Stimme in meinem Ohrknopf. Sie klang Lichtjahre entfernt und wurde durch Knacken und Rauschen verzerrt, aber die Panik war trotzdem unüberhörbar.

»Oh mein Gott! Jake? Hört ihr mich? Ich muss euch etwas sagen. Über eure Eltern …«

Die Stimme verstummte. Die Lichter in meinen Augen wurden gleißender. Ein wildes Durcheinander von Feuerrädern und explodierenden Raketen.

Noch einmal versuchte ich, mich zu bewegen. Nichts. Verdammt, so nahe dran.

Die Lichter verschwanden. Das Feuerwerk war vorbei. Mum, Dad … es tut mir leid. Ich hätte es fast geschafft.

 

 

Zwei Tage vorher

 

Es sollte die sensationellste Entdeckung in der Geschichte der Archäologie werden – und sie begann ausgerechnet bei Nando’s auf dem Flughafen Heathrow in London. Ich hatte Hühnchen bestellt, mit der schärfsten Soße, die sie hatten. Ich rechnete nicht damit, dass es mir schmecken und ich es aufessen würde, aber ich fand’s lustig, es zu probieren.

Meine Schwester Pan – Kurzform für Pandora – saß mir in unserer Essnische gegenüber. Sie hatte Kopfhörer auf, wie immer, und ihre rabenschwarzen Haare hingen ihr wie ein Trauerschleier vor den Augen. Wir waren kurz davor, in unser »Familienurlaubsvergnügen« zu starten, aber Pan sah eher aus, als würde sie gleich in einen Sarg klettern und noch einmal alle verfluchen, bevor sie den Deckel zuklappte.

Schweigend hockten wir da.

Dad machte sich Notizen für eine Vorlesung, die er zusammen mit Mum an der Universität von Kairo halten sollte. Mum las in einem Reiseführer. Mum und Dad sind Ägyptologen, Experten für die Geschichte des alten Ägypten. Ihr

Wenn ihr mich fragt, hätten wir eigentlich total aufgeregt sein müssen. Immerhin flogen wir nach Ägypten! Das versprach doch Abenteuer pur. Ich meine, wenn man bedenkt, wie abenteuerlich schon unser Besuch damals bei Tante Maud in Cornwall gewesen war. Aber von Aufregung keine Spur. Stattdessen großes Schweigen.

Unter dem Tisch begannen meine Beine zu zucken. Ich brauchte Bewegung. Ich musste etwas tun. Irgendwas.

Ich blickte rüber zu den anderen Essnischen, wo ebenfalls Familien saßen. Aber die unterhielten sich oder spielten »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Vielleicht würde uns das weiterhelfen? Ein Spiel.

»Wettet irgendjemand dagegen, dass ich es schaffe, mein Hähnchen in weniger als einer Minute zu essen?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Mum, ohne von ihrem Reiseführer aufzusehen.

»Um einen Zehner, okay?«

»Keiner hat Lust zu wetten, Jake.«

Ich seufzte.

Das Zucken in meinen Beinen wurde stärker.

»Ich sehe was, was du nicht siehst …«, sagte ich, »… und es beginnt mit ›D‹.«

Dad starrte mich durch seine dicken Brillengläser an. »Wo?«

»Das ist ein Spiel, Dad. Ich sehe etwas, das mit ›D‹ beginnt.«

»Die Dritte Zwischenzeit?«, fragte er.

»Häh?«

»Etwas, das mit ›D‹ beginnt. Die Dritte Zwischenzeit. Die Periode im alten Ägypten zwischen dem Tod Ramses XI. und dem Beginn der sechsundzwanzigsten Dynastie.«

»Aber … die kann ich doch nicht sehen, Dad.«

Er tippte auf seine Notizen. »Steht hier in meinen Unterlagen.«

»Ich geb dir einen kleinen Tipp.«

Mum klappte den Reiseführer zu. »Bitte, Jake, sieh lieber zu, dass du dein Hähnchen aufisst. Es sind nicht mal mehr zwei Stunden bis zum Abflug.«

»Aber Mum, wir sind doch schon am Flughafen!«

»Bitte keine Widerworte. Nicht heute.«

Gott, ich musste dringend aus dieser Essnische raus. Ich schlang mein Hähnchen hinunter.

»Kann ich mir ein bisschen die Geschäfte angucken?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete Dad.

»Auf keinen Fall«, sagte Mum.

Sie starrten einander an, ein lautloser Ringkampf mit Blicken. Schließlich seufzte Mum und wandte sich wieder ihrem Reiseführer zu. »Na gut«, sagte sie.

Dad klatschte einen Zehner auf den Tisch. »Schau doch mal, ob du ein neues T-Shirt findest. Deins ist total schmuddelig. Und dann kommst du in einer halben Stunde direkt zu Gate 15. Aber, Jake: Mach keinen Ärger!«

»Ich meine es ernst, Jake. Versprochen?«

»Dad, wir befinden uns auf einem Flughafen. Hier gibt’s jede Menge bewaffnete Polizisten. Wie viel Ärger kann man da wohl machen?«

Mums Finger krampften sich um ihr Buch. »Was für eine Schnapsidee!«, murmelte sie.

»Jane, wir waren uns einig, dass wir ihm irgendwann wieder vertrauen müssen«, murmelte Dad zurück. »Und er hat uns sein Versprechen gegeben. Stimmt’s, Jake?«

Ich nickte und wiederholte mein Versprechen. Das tat ich insgesamt noch dreimal, bevor ich aufstand. Tja, und so fing alles an. Mit einem Versprechen, das ich auf die schlimmstmögliche Weise brechen sollte.

 

 

 

Fünfundzwanzig Minuten nachdem ich versprochen hatte, keine Probleme zu machen, hatte ich ein Tablet unter mein T-Shirt gestopft und war im Begriff, es aus einem Flughafen-Shop zu klauen.

Mein »Drang« war einfach zu stark. »Drang«, das war das Wort, das mein Therapeut benutzte. Ärzte nennen es Impulskontrollstörung. Ich bin in gewisser Weise süchtig. Süchtig nach Ärger und Action.

In der Schule rutsche ich ständig auf meinem Stuhl herum und warte darauf, dass etwas passiert. Und wenn nichts passiert, helfe ich eben ein bisschen nach. Sorge dafür, dass etwas passiert. Je riskanter die Sache, desto besser. Klauen, prügeln, einbrechen, so was halt. Wenn ich ehrlich bin, sind das die einzigen Momente, in denen ich mich wirklich lebendig fühle.

Ich kann euch nicht mal sagen, wie es genau passiert ist. Eigentlich bin ich nur in den Elektronik-Shop rein, um zu schauen, was es so Neues gibt. Doch dann hab ich die zwei

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich die Alarmsicherung für das Tablet ausgeschaltet habe, um das Gerät aus dem Laden zu schmuggeln. Mein Herz wummerte vor Aufregung. Ich fühlte mich wie ans Stromnetz angeschlossen: bis in die Fingerspitzen elektrisiert.

Okay, ich hatte meinen Eltern, meinem Therapeuten, den Lehrern und sogar der Polizei geschworen, so was nie mehr zu machen. Aber es war wie eine Droge. Ich brauchte Action, also sorgte ich für Action. Das kommt euch vielleicht verrückt vor, aber ihr lebt ja auch nicht mit meinen Eltern zusammen. Bei denen ist nie was los – null, niente.

Ich presste das Tablet fester an mich und stiefelte den Gang mit dem Computerzubehör entlang Richtung Ausgang. Im Spiegel erhaschte ich einen Blick auf den Ladendetektiv. Der Typ war das reinste Filmklischee, Typ Actionheld, mit zurückgegeltem Silberhaar und bartstoppeligem Quadratkiefer. An einer Stelle wuchsen keine Bartstoppeln – da, wo ihm eine purpurfarbene Narbe quer über die Wange lief. Eine Schneise, wie mit der Axt in den Wald gehauen. Beobachtete er mich? Hatte er etwas bemerkt?

Die Schmetterlinge in meinem Bauch verwandelten sich in Flugsaurier, die an meinen Eingeweiden nagten.

Schweiß lief mir über den Rücken.

Vor mir versperrte ein Zwillingsbuggy den Weg.

»Hey, du! Warte!«

Mein Herz setzte aus, nur um gleich darauf doppelt so schnell weiterzurasen.

Alle drehten sich um. Selbst die zwei Kinder verstummten und starrten mich an. Es war nicht der Detektiv, der gerufen hatte, sondern der Filialleiter. Der, der aussah wie ein Frettchen: runde Nase, vorstehende Nagezähne, verschlagener Blick.

»Du hast ein Tablet gestohlen!«, brüllte er.

Mein Gesicht fühlte sich an wie die Sonnenoberfläche, aber irgendwie brachte ich trotzdem einen entgeisterten »Wer? Ich?«-Ausdruck zustande.

»Unter deinem T-Shirt«, fügte der Typ hinzu.

Die Polizisten drehten sich um. Einer von ihnen nickte und machte mir ein Zeichen, das Hemd zu heben.

Ich atmete einmal tief durch und lüftete mein T-Shirt.

Kein Tablet.

Ihr glaubt jetzt wahrscheinlich, ich wäre verrückt, die Polizisten waren schließlich bewaffnet. Ich hatte das Tablet nicht weiter nach oben geschoben. Nein, ich hatte mir etwas Besseres überlegt.

Ich warf dem Filialleiter einen vernichtenden Blick zu, schickte ein Augenrollen in Richtung der Polizisten – nach dem Motto: Unglaublich, auf was für Ideen manche Leute kommen – und spazierte aus dem Laden.

Ich fühlte mich, als hätte ich gerade das Siegtor im WM

Aus sicherer Entfernung sah ich, wie die Mutter ihren Zwillingsbuggy aus dem Laden schob. Die Kinder spielten immer noch Giraffen-Tauziehen. Plötzlich ließ der eine Kleine das Tier los und es fiel auf den Boden. Wie der Blitz war ich zur Stelle und legte es zurück in den Buggy. Gleichzeitig nahm ich das Tablet heraus, das ich dort zwischengelagert hatte.

Was für ein irres Gefühl! Mein Plan hatte funktioniert. Der Detektiv, die Polizisten, der Filialleiter … ich hatte sie alle verarscht. Vor allem den Filialleiter.

Und dann sah ich ihn plötzlich. Den Filialleiter.

Er starrte mich an.

Er hatte alles gesehen.

Die zwei kleinen Kinder fingen wieder an rumzuschreien, aber da war ich schon weg.

Ich raste durch den Duty-Free-Shop und die Rolltreppe hinauf zu den Snack-Läden und Restaurants – die Polizisten gnadenlos im Nacken. Ich war gerade hinter ein paar Tischen abgetaucht, da hörte ich den Aufruf für einen Flug nach Kairo. Mein Flug! Scheiße, Mum und Dad erwarteten mich am Gate!

In dem Moment traf es mich wie ein Schlag.

Was zum Teufel hatte mich geritten?

Ich hatte es hoch und heilig versprochen. Geschworen hatte ich es.

Aber mein »Drang« hatte mal wieder das Kommando

Verdammt, was jetzt? Wohin mit mir? Dad hatte meinen Pass, ich konnte den Flughafen also nicht verlassen. Was ja auch blöd gewesen wäre, schließlich wollten wir in den Urlaub fliegen!

Mich zu stellen, war auch keine Option. Nein, meine einzige Chance war, mich irgendwie ins Flugzeug zu retten.

Ich spähte über die Tischkante. Die Polizisten hatten sich aufgeteilt und suchten die Burger-Restaurants und Sandwich-Theken ab! Der Anblick reichte und mein Instinkt übernahm die Kontrolle – zum Glück, denn sofort verwandelte sich die schlammbraune Panikpfütze in meinem Kopf in einen kristallklaren Pool, und ich wusste, wie ich mich aus der Sache herauslavieren konnte. Ich würde in die Burger-Bude stürmen, irgendetwas anschmoren lassen und einen Feueralarm auslösen. Das würde die Polizisten eine Weile auf Trab halten …

»Vergiss es«, sagte eine Stimme.

Ich wirbelte herum. Wer sprach da mit mir?

»Hör mir zu, Jake Turner.«

Da kapierte ich.

Es war das Tablet. Das geklaute Tablet in meiner Hand, dessen Bildschirm jetzt aufleuchtete. Daraus blickte mir ein nur allzu bekanntes Gesicht entgegen: silbernes Haar, bartstoppeliges Kinn, leuchtend rote Narbe.

»Der Ladendetektiv?«, keuchte ich.

»Nicht wirklich, Jake«, antwortete der Mann. »Aber ja, ich war in dem Laden und hab dich beobachtet.«

Ich starrte auf den Monitor und schnappte nach Luft wie

»Für so was haben wir jetzt keine Zeit.« Der Typ sah nicht nur aus wie ein Filmstar, er klang auch so, ziemlich vornehm jedenfalls. »Mittlerweile sind vier Polizisten hinter dir her. Ich sehe ihre Standorte auf meiner Multi-Sensor-Wärmebildkamera. Weißt du, was das ist?«

»Ich … häh? Was?«

»Wenn du genau tust, was ich dir sage, dann schaffe ich dich zu Gate 15, wo deine Eltern und deine Schwester auf dich warten.«

»Wie kommen Sie in das Tablet?«

»In drei Sekunden gehst du rüber zu der Sushi-Bar.«

»Was?«

»Hör auf, andauernd ›was‹ zu sagen.«

»Was

»Jetzt geh, Jake!«

Also stolperte ich hinter den Tischen hervor und rannte zu dem Sushi-Laden, wo ich mich hinter einem ratternden Laufband versteckte, auf dem Schälchen mit rohem Fisch in die Runde fuhren.

»Warte«, wies mich der Mann an. »Warte … warte … und jetzt duck dich.«

Ich tauchte ab. Im selben Moment ging ein Polizist auf der anderen Seite des Laufbandes entlang.

»Die suchen mich«, keuchte ich.

»Hör endlich auf, wertvolle Zeit mit blödem Gequatsche zu verschwenden«, zischte der Narbige.

»Bitte … Wer sind Sie?«

»Hast du nicht gehört, was ich gerade gesagt hab?«

»Klar, alles nur Spaß. Die Flughafenpolizei findet es irre lustig, hochkomplexe digitale Abfangprogramme auf Tablets zu laden. Damit verbringt sie ihre Zeit.«

»Wusste ich’s doch!«

»Das war ironisch gemeint. Und jetzt hör mir zu. Ich werde dir genau sagen, was du zu tun hast, und du tust es.«

Blieb mir etwas anderes übrig? Ich schnappte mir das Tablet und schlug einen großen Bogen um den Polizisten, indem ich von einem Versteck zum nächsten huschte: vom Sonnenbrillengeschäft über den Buchladen zur Rolltreppe. Die hastete ich hinab.

Als ich unten in einem Klamottenladen untertauchte, wurde es noch verrückter.

»Sag der Frau an der Kasse, dass du Peregrine heißt«, befahl das Narbengesicht.

»Was? Wieso Peregrine?«

»Weil du ihr sicher nicht deinen richtigen Namen nennen willst.«

»Aber warum Peregrine

»Willst du jetzt wegen des Namens streiten, oder was?«

»Das ist ein total bescheuerter Name!«

Eigentlich wusste ich selbst nicht, warum ich mich wegen einer solchen Nebensächlichkeit aufregte. Vielleicht weil ich so geschockt war. Und verwirrt. Weil ich das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Also befolgte ich zähneknirschend auch diese Anweisung und die Kassiererin reichte mir ein rot-gelb geblümtes Hawaiihemd.

»Ist schon bezahlt«, erklärte das Narbengesicht. »Die

»Wie haben Sie …?«

»So, der Weg zu Gate 15 ist frei. Behalt das Tablet bei dir. Das hier ist erst der Anfang.«

»Der Anfang? Von was?«

Doch der Bildschirm war schon erloschen. Ich drückte auf den Einschaltknopf, aber das Einzige, was ich sah, war mein Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte – entgeistert, atemlos, erschrocken.

Wieder tönte mein Flug durch die Lautsprecher. Letzter Aufruf. Ich streifte das Hawaiihemd über, stopfte mir das Tablet hinten in die Jeans und tat, was der Mann gesagt hatte.

Ich rannte zum Gate.

 

 

 

Im Flugzeug schwirrte mir der Kopf. Meine Gedanken liefen heiß. Was zum Teufel war da gerade passiert? Oder hatte ich mir das Ganze nur eingebildet? Aber der Mann im Tablet hatte meinen Namen gekannt. Und er hatte mir geholfen. Warum hatte er das getan? Und wie?

Ich wäre das Tablet liebend gern losgeworden, aber keine Chance. Als ich endlich zum Gate gekommen war, hatte mir Dad erst mal eine Predigt über Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit gehalten. Kein idealer Moment, um das Tablet hinten aus meiner Jeans zu ziehen und in irgendeinem Mülleimer zu entsorgen.

Nachdem das Flugzeug schließlich abgehoben hatte, waren meine Eltern wieder in ihr altbekanntes Schweigen verfallen. Es sollte der letzte ruhige Moment sein, bevor die Dinge endgültig aus dem Ruder liefen. Ein guter Zeitpunkt, um euch ein bisschen was über meine Familie zu erzählen.

Dad ist an die zwei Meter groß, weshalb er während des halben Fluges über die mangelnde Bein- und Armfreiheit

Mum saß mit Pan in der Reihe vor uns. Sie las in ihrem Reiseführer und fummelte an dem goldenen Amulett herum, das sie um den Hals trug. Es stellt eine kniende Figur mit ausgebreiteten Flügeln dar und soll Isis, die ägyptische Muttergöttin, verkörpern. Inzwischen weiß ich das, damals wusste ich es noch nicht. Wenn Mum sich über Pan oder mich aufregt, reibt sie immer an dem Amulett herum, als wäre es eine Wunderlampe, mit der sie sich die Probleme vom Hals wünschen kann. Dad brüllt uns in solchen Fällen immer an. Mum nicht. Mum wird nie wütend, immer nur traurig.

Und jedes Mal, wenn ich sie so erlebe, schwöre ich mir: Ich baue nie wieder Scheiß. Aber bis jetzt habe ich es noch jedes Mal versaut.

Mum merkte, dass ich sie beobachtete, und packte den Reiseführer zurück in die Plastiktüte mit dem albernen Pharao vorne drauf, der nicht nur blöd grinste, sondern obendrein noch einen fetten Okay-Daumen hochhielt. Ehrlich gesagt eine ziemlich untypische Tüte für Mum. Mum ist nämlich nicht gerade dafür bekannt, das antike Ägypten von der lustigen Seite zu nehmen. Im Gegenteil: Oft hat man den Eindruck, dass sie nicht das kleinste bisschen Spaß an ihrem Forschungsthema hat.

Mum und Dad waren inzwischen beide eingenickt, und plötzlich sah ich, wie Pan verstohlen den Reiseführer aus der Tüte zog und zu lesen begann. Nein, sie las nicht, sie scannte, sie blätterte alle paar Sekunden um.

Pan ist ein Genie, und das sage ich jetzt nicht, um mit meiner Schwester anzugeben oder so. Sie hat einfach ein fotografisches Gedächtnis. Sie zieht sich einen Backstein von einem Buch in zwei, drei Minuten rein. Da können einem manchmal echt Zweifel kommen, ob wir tatsächlich Zwillinge sind. Okay, wir sehen uns schon ziemlich ähnlich. Wir haben beide Mums blasse Haut und Dads sandfarbenes, widerborstiges Haar – was man bei Pan allerdings nicht sieht, weil ihre Haare schwarz gefärbt sind und sie sich das Gesicht mit schwarzer Schminke zukleistert. Sie ist eher so der Grufti-Typ.

Pan hasst mich, und das aus gutem Grund. Sie hat nicht vergessen, was ich ihr vor ein paar Jahren eingebrockt habe. Stichwort »Ameisenfarm-Vorfall«. Damals wurde sie in der Schule ziemlich gehänselt, einfach nur wegen ihrer Klugheit. Eines Tages sah ich, wie die Mobber hinter ihr herliefen, ihr die Bücher aus der Hand schlugen und sich totlachten, als sie sie wieder aufhob.

Und dann, na ja, dann hab ich das Ding über ihnen ausgeleert. Man muss dazu sagen, dass es sich um Feuerameisen handelte, die kleinen roten. Richtig fiese Teile mit Wehrstachel und allem Drum und Dran. Ihr hättet das Geschrei hören sollen. Das ist so ziemlich das Einzige, woran ich mich noch erinnere.

Danach war jeder, wirklich jeder, sauer auf mich: die Mobber, die Eltern der Mobber, die Lehrer und natürlich Mum und Dad. Dad brüllte und tobte und Mum verfiel in ein einwöchiges Schweigen und nestelte pausenlos an ihrem Isis-Amulett herum.

Aber meine Schwester war am sauersten.

Denn nicht nur ich wurde von der Schule geworfen, Mum und Dad nahmen auch Pan runter und steckten sie in eine Akademie für Hochbegabte, wo sie sich wie in einer Freak-Show vorkommt. Das hat sie unseren Eltern nie verziehen – und mir natürlich erst recht nicht. Aus Protest kleidet sie sich seitdem wie Dracula: schwarz mit einem Hauch schwarz. Und sie tut so, als würde sie sich einen Dreck um Bücher und Lernen scheren. Aber in Wahrheit ist ihr das nicht egal. Mum und Dad wissen nur nichts davon. Sie haben keine

Schon komisch: Während ich zu verbergen versuche, wie grottenschlecht ich in der Schule bin, tut Pan alles, um ihr Genie zu verheimlichen. Vielleicht sollten wir uns mal zusammentun und einen Durchschnitt bilden, oder so.

Aber okay, zurück zur Geschichte.

Wir saßen also im Flugzeug nach Kairo. Das Tablet bohrte sich in meinen Rücken und ich dachte darüber nach, was mir das Narbengesicht am Flughafen gesagt hatte.

Dass das hier gerade erst der Anfang war.

Nee, Mister, keine Chance. Das hier ist definitiv nicht der Anfang, das ist das Ende!

Ich war weit weg vom Tatort, von der Polizei und vom Narbengesicht. Und da meine Eltern schliefen, konnte ich das Tablet endlich ungestört auf dem Klo entsorgen und die Reise genießen.

Ich kletterte über Dad hinweg auf den Gang und war schon auf dem Weg zur Toilette, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Die Gardine, die die Business- von der Economy-Class trennte, stand einen Spaltbreit offen – und gab den Blick frei auf das Narbengesicht.

Er saß auf einem der noblen Loungesessel, das Basecap über die Augen gezogen, und schlief. War das Zufall? Oder war mir der Typ gefolgt?

Ein Dutzend Notfallpläne rasten mir durch den Kopf – und alle endeten damit, den Kerl am Kragen zu packen und zur Rede zu stellen. Vielleicht hätte ich das sogar getan, hätte mein Vater nicht genau in dem Moment einen seiner ultralauten Schnarcher ausgestoßen, die sich ein bisschen wie

Also sauste ich zurück zu meinem Platz und tat so, als würde ich schlafen.

Das Tablet ließ ich erst mal, wo es war.

 

 

 

Als wir am Nachmittag auf dem Internationalen Flughafen von Kairo landeten und durch die Passkontrolle gingen, hatten wir vier immer noch kein Wort miteinander gewechselt.

Während wir auf unser Gepäck warteten, hielt ich immer wieder nach Narbengesicht Ausschau. Hatte er wirklich mit uns im Flugzeug gesessen? Wahrscheinlich hätte ich die ganze Sache für einen schlechten Traum gehalten, wenn ich das Tablet nicht hinten in meiner Jeans gespürt hätte. Ich wollte das Ding immer noch loswerden, aber ich traute mich nicht alleine auf die Toilette. Was, wenn mir Narbengesicht dort auflauerte?

Der Flughafen war tipptopp sauber, bis an den Gefrierpunkt runterklimatisiert und wimmelte nur so von Touristen. Ägypter mit Turbanen und farbigen Gewändern kümmerten sich um das Gepäck der Ankommenden.

»Warum tragen die Männer hier lange Kleider?«, fragte ich.

»Die ›Kleider‹ heißen Djellaba«, erklärte Dad. »Es ist das traditionelle ägyptische Kleidungsstück.«

»Ägypter finden wahrscheinlich, dass du dich bekloppt anziehst«, schaltete sich Mum ein. »Wie der Sensenmann höchstpersönlich.«

»Ägypter glauben überhaupt nicht an den Sensenmann«, erwiderte Pan. »Die muslimische Verkörperung des Todes nennt sich ›Malak al-Maut‹.«

»Ha!«, rief ich. »Punkt für dich!«

Ich streckte die Hand aus, um Pan abzuklatschen, aber die ließ meine fünf Finger in der Luft hängen.

Dad warf Mum einen vielsagenden Blick zu und auf seinen Wangen zeichneten sich kleine Lachgrübchen ab. Doch Mum schüttelte den Kopf. Steig jetzt nicht weiter in die Diskussion ein, sollte das wohl heißen.

»Tatsächlich sind Djellabas ziemlich luftig und leicht«, erklärte Dad. »Perfekt, um bei dieser Hitze zu arbeiten.«

Hitze? Welche Hitze? Auf dem Flughafen war es so eisig, dass ich mich fragte, ob wir nicht versehentlich in der Arktis gelandet waren. Aber sobald wir aus dem Flughafengebäude traten, kapierte ich, was Dad meinte. Es war, als hätten wir die Tür zu einer Sauna geöffnet. Mein Hals war sofort wie ausgedörrt und mein Rücken schweißnass. Das Tablet rutschte tiefer in die Jeans.

»Fühlt sich an wie tausend Grad«, meinte Pan.

Klar, für sie musste es die Hölle sein, so ganz in Schwarz.

Als ich mich erneut nach Narbengesicht umblickte, passierte schon wieder etwas Verrücktes.

Mum lächelte.

Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Augenblicklich wirkte ihr Gesicht um Lichtjahre jünger. Ihre Falten waren verschwunden und ihre Augen strahlten. Sie war echt hübsch.

Aus irgendeinem Grund fing Dad plötzlich auch an zu grinsen, was bei ihm wiederum ziemlich trottelig aussah. Sein ganzes Gesicht knautschte dabei zusammen, sodass ihm fast die Brille von der Nase rutschte.

Und da es schön war, die Turner-Familie so gut gelaunt zu erleben, grinste ich auch. Vielleicht war das ja wirklich der Auftakt zu einem echten Familienurlaub? Ich stieß Pan an, damit sie mitgrinste, aber die seufzte nur und stöpselte sich die Ohrhörer zurück in die Ohren.

Egal, ich hatte trotzdem die Hoffnung, dass es von jetzt an besser werden würde. Was mal wieder zeigt, wie naiv ich bin. Hätte ich nur ansatzweise geahnt, wie sich die Dinge entwickeln würden, ich hätte nie einen Fuß aus dem Flughafen gesetzt. Stattdessen hätte ich wahrscheinlich irgendetwas von Bomben gebrüllt und dermaßen Krawall gemacht, dass die Polizei sich genötigt gesehen hätte, uns zurück ins Gebäude zu zerren und in den nächstbesten Flieger nach Hause zu setzen.

 

 

 

Die Fahrt zum Hotel war so etwas wie eine Nahtoderfahrung. Jedenfalls hab ich mich noch nie so sehr mit einem Bein im Grab gefühlt wie in diesem Taxi. Unser Fahrer musste entweder blind sein oder selbstmordgefährdet oder beides. Noch nie hatte ich so viele Autos auf einem Haufen gesehen, und alle hupten wie die Irren. Es war inzwischen später Nachmittag und die ganze Stadt schien auf dem Weg von der Arbeit nach Hause zu sein. Es gab elegant gekleidete Männer in Sportwagen und mit Handy am Ohr, Eselskarren, auf denen sich Wassermelonen türmten, und Busse, die so vollgestopft mit Leuten waren, dass sich einige von ihnen am Heck festklammern mussten. Autofahrer hingen halb aus dem Fenster und brüllten sich an. Unser Fahrer hielt es offenbar nicht für notwendig zu blinken. Er streckte nur kurz den Arm aus dem Fenster, wedelte vage in die entsprechende Richtung und heizte drauflos.

Mum und Dad schauten lächelnd aus dem Fenster. Mir fiel auf, dass Mum ziemlich schnell Luft holte, als würde

»Kairo hat vierzehn Millionen Einwohner«, bemerkte Dad. »Beinahe doppelt so viele wie London.«

Fasziniert drückte ich mein Gesicht an die Scheibe. Auf den Gehwegen war fast genauso viel los wie auf den Straßen. Vor einer Moschee hatte sich eine Gruppe Männer versammelt. Die vielen Cafés waren gerappelt voll. Dicht an dicht saßen dort Menschen an flachen Tischen und rauchten komische Pfeifen – sogenannte Shishas, wie ich später erfahren sollte. Wir kamen an einem Straßenmarkt vorbei, an dessen Ständen riesige Mengen an Datteln und Gewürzen angeboten wurden. Schlachter zerhackten Fleischklumpen, Wespen umschwärmten klebrig aussehende Süßigkeiten.

Es war einfach genial!

»Und wo sind jetzt die Pyramiden?«, fragte ich. »All das antike Zeug?«

Ich hatte erwartet, an jeder Straßenecke mindestens eine Pyramide, einen Tempel oder eine Grabanlage zu sehen.

»Ha!«, machte Dad. Er klang aufgeregt wie ein kleines Kind. »Kairo ist eine mittelalterliche Stadt, Jake, keine antike.«

Vom Beifahrersitz aus schaltete sich Mum ein. »Kairo wurde auf den Ruinen der antiken Stadt Memphis errichtet. Die Gräber der frühen ägyptischen Pharaonen, die Pyramiden, lagen außerhalb von Memphis, an einem Ort, der heute Gizeh heißt.«

Man hörte ihrer Stimme an, wie tief sie auf einmal in der Geschichte drinsteckte. Wenn sie zu Hause über das alte Ägypten sprach, dann klang sie gelangweilt, fast widerwillig,

»Stopp!«, rief sie plötzlich. »Hallo! Anhalten!«

Ich weiß nicht, was den Taxifahrer am Ende zum Halten brachte, ob es Mums Griff ins Lenkrad war oder ihr Zerren an der Handbremse, jedenfalls kamen wir rutschend und quietschend zum Stehen. Pan und ich schrien immer noch, als das Taxi längst am Straßenrand parkte, genau an der Stelle, die Mum sich ausgeguckt hatte.

»John«, keuchte sie, »schau mal, da!«

Dad beugte sich vor und sah aus dem Fenster. »Oh mein Gott«, murmelte er.

Wir standen vor einer Moschee mit türkisfarbener Kuppel und einem schlanken weißen Turm, dem Minarett, das wie ein Speer in die Luft ragte. Neben der Moschee befand sich ein Touristenhotel mit einer albernen Leuchtreklame, die mich vom Stil her an den grinsenden Pharao auf Mums Plastiktüte erinnerte. Über dem Hinweis auf preiswerte Bauchtanzaufführungen zeigte das Reklameschild eine in Seide und Pailletten gehüllte Tänzerin.

Ich blickte zur Spitze des Minaretts hinauf. »Was ist das?«

»Das«, erklärte Dad, »ist der Ort, an dem deine Mutter und ich geheiratet haben.«

»Die Moschee? Aber ihr seid doch gar keine …«

»Nein«, unterbrach mich Dad. »Der Bauchtanz-Club. Die Zeremonie fand in voller Bauchtanzmontur statt.«

»Wie bitte?«, riefen Pan und ich wie aus einem Mund. Warum zum Teufel erfuhren wir das erst jetzt? Das war mit

»Wie cool ist das denn!«, sagte ich.

Auch Pans Augen waren weit aufgerissen, was sie natürlich gleich hinter ihrem Haarvorhang zu verbergen suchte.

»Das ist nicht cool, das ist verrückt«, nuschelte sie.

»Was meinst du, Jane?«, fragte Dad. »Sollen wir da nicht mal kurz reinschauen? Wir alle vier?«

Mums Hand lag schon auf dem Türgriff. Aber dann verschwand ihr Lächeln und ihre Hand wanderte zu dem Isis-Amulett an ihrem Hals. Die Mauer war wieder hochgezogen.

»Nein, lass uns zum Hotel fahren.«

Ich wollte protestieren, aber der Taxifahrer hatte es offenbar eilig und manövrierte uns schon wieder ins Verkehrsgewühl. Dad warf einen Blick zurück auf den Bauchtanz-Club. Die tanzende Frau spiegelte sich in seinen Brillengläsern. Mum blickte starr geradeaus, während ihre Finger fahrig an dem Amulett herumkneteten.

Keiner von beiden sah zur anderen Straßenseite hinüber. Keiner von beiden bemerkte den schwarzen Lieferwagen, der zeitgleich mit uns gehalten hatte und jetzt gemeinsam mit uns anfuhr. Und ich selbst hatte natürlich auch keine Ahnung, was hier los war, nicht die geringste Vorstellung von der Gefahr, in der wir schwebten, und davon, wie sehr sich unser Leben ein für alle Mal ändern sollte.

 

 

 

Das Taxi ließ uns direkt vor unserem Hotel raus. Eine Zeit lang standen wir mit offenem Mund auf dem Gehweg und glotzten das Gebäude an. Eine Ratte flitzte unter einem flackernden Neonschild mit dem Schriftzug Kairos große alte Lady entlang.

»Bitte sag, dass das nicht unser Hotel ist«, stöhnte Pan.

Die Lady mochte ihre große Zeit gehabt haben, aber die war definitiv vorbei. Jetzt litt sie unter einer fiesen Hautkrankheit. Der Putz war großflächig abgeplatzt, darunter kamen fleckige, feucht glänzende Ziegelsteine zum Vorschein. Die Fenster waren blind vor Dreck, und auf allen Vorsprüngen und Simsen lag zentimeterdick Taubenkacke.

Ich wartete darauf, dass Mum Dad wegen des Hotels anmeckern würde, aber keine Spur. Im Gegenteil: Sie lächelte. Schon wieder. Als wären wir gerade vor einem Luxus-Resort abgesetzt worden.

»Kennt ihr diesen Laden etwa auch?«, fragte ich misstrauisch.

»Nein«, sagte Mum.

Super, dann wäre das also geklärt.

Ich war schon auf dem Weg zum Eingang, als Pan mich am Arm fasste. »Warum grinst Mum die ganze Zeit? Das macht mich wahnsinnig.«

»Vielleicht ist sie einfach glücklich?«

»Mum? Glücklich?«

Ich zuckte die Achseln und wir betraten das Hotel. Nach einem flüchtigen Blick in die Lobby musste ich mich korrigieren: Die alte Lady hatte keine Hautkrankheit – sie war schon vor Jahrzehnten gestorben und ihr Körper rottete immer noch vor sich hin. Es roch modrig und nach altem Schweiß. Überall lösten sich die Tapeten von den Wänden und der Teppich strotzte nur so vor dunklen Flecken, die verdächtig nach Blut aussahen.

Nur der Rezeptionstresen schien neu zu sein: eine weiße Marmorplatte mit purpurnen Verzierungen. Obendrauf lag ein Mann, dessen gewaltiger Bauch sich mit jedem rasselnden Schnarcher hob und senkte.

Dad räusperte sich. Nichts passierte.

Dann räusperte sich Mum. Wieder nichts.

Schließlich rüttelte ich den Mann an der Schulter und endlich wachte er auf. Besser gesagt: Er fiel vom Tresen.

Schlaftrunken rappelte er sich hoch, griff nach einer Dose Red Bull, leerte sie in einem Zug und rülpste. Nicht ausgeschlossen, dass wir den Hotelmanager höchstpersönlich vor uns hatten.

»Willkommen in Kairos großer alter Lady«, begrüßte er uns. »Wo Stil gepaart mit …«

»Sie haben umdekoriert«, stellte Dad mit einem kleinen Klaps auf den Marmortresen fest.

»Pharaonenstil«, erklärte der Manager und klopfte ebenfalls auf den Tresen, etwas kräftiger als Dad.

Sogar ich ahnte, dass verzierter Marmor so was von überhaupt nichts mit Pharaonen zu tun hatte, da wird Dad es erst recht gewusst haben – aber er lächelte nur.

»Die beiden waren schon mal hier«, erklärte ich dem verschlafenen Typen.

»Vor langer Zeit«, ergänzte Mum.

Dads Grinsen wurde breiter und ließ seine Brille von der Nase rutschen. Mit affenartiger Geschwindigkeit schoss seine Hand vor und fing sie auf. Und dann begann er zu singen. Ohne Scheiß – mein Dad stimmte ein Lied an!

»Vor langer, langer Zeit, als die Welt noch aus Sand bestand …«

Er knuffte Mum aufmunternd in die Rippen – sie sollte wohl in diesen bekloppten Geschichtssong einfallen.

»… bevor die Erste Dynastie ihr Ende fand …«

Ein Lächeln kräuselte Mums Lippen, aber sofort wandte sie den Kopf ab, damit wir es nicht bemerkten.

Pan starrte Dad an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank, doch der trällerte unbeirrt weiter.

»Damals, als der Nil …«

»Wir haben zwei Zimmer reserviert«, unterbrach ihn Mum. »Auf den Namen Turner.«

Wir bekamen unsere Schlüssel ausgehändigt und Mum, Pan und ich zwängten uns in den winzigen Fahrstuhl mit Gittertür. Für Dad war leider kein Platz, deshalb musste er –

Ihr werdet inzwischen mitbekommen haben, dass wir nicht die allergesprächigste Familie sind. Aber jetzt, mit dem ganzen Gegrinse und Gesinge, schien sich die Sache etwas zu beleben. Also nutzte ich unsere Fahrstuhlfahrt für ein bisschen Small Talk.

»Wo findet deine Vorlesung morgen statt, Mum?«

Kurz dachte ich, ich hätte sie mit der Frage so erschreckt, dass ihr der Veranstaltungsort entfallen wäre.

»Oh, äh … an der Uni«, sagte sie schließlich. »An der Amerikanischen Universität von Kairo.«

»Können wir zuhören?«

»Nein! Das ist doch ein Vortrag für Studierende, Jake. Da würdet ihr euch nur langweilen. Ihr schlaft besser aus. Bis ihr aufwacht, sind wir längst zurück.«

Ich versuchte, enttäuscht auszusehen, aber eigentlich war ich heilfroh, dass wir nicht mitmussten. Ich hatte das Thema ja nur angesprochen, um die Stimmung zu verbessern. »Und worum geht’s in der Vorlesung?«

»Um … äh … um prädynastische Könige.«

Ich nickte, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, was prädynastische Könige waren. »Haben die die Pyramiden gebaut?«

»Nein, die haben noch in der Zeit vor den Pyramiden gelebt.« Mums Stimme klang jetzt entspannter und ihre Augen funkelten. Wieder sprach sie über das alte Ägypten, als wäre es ihr absolutes Herzensthema.

Und da wurde mir plötzlich etwas klar: Meine Mutter liebte alte Geschichte, auch wenn sie es zu Hause nicht zeigte.

»Das muss man sich mal vorstellen, Jake«, fuhr sie fort. »Eine Zeit, in der noch kein Mensch an Pyramiden dachte!«

»Ist die Sphinx hier auch irgendwo in der Nähe?«

»Ist sie. Die Große Sphinx von Gizeh. Halb Löwe, halb König. Sie bewacht die Pyramiden vor Grabräubern, wusstest du das?«

»Vor Räubern?«

»Ja, Typen wie dir, Jake«, murmelte Pan.

Ich ging über die Bemerkung hinweg. Auf Museumsbesuche war ich nicht gerade scharf, aber auf die Pyramiden schon, die wollte ich unbedingt sehen. »Wann fahren wir dahin?«

»Wie wär’s mit morgen?«, schlug Mum vor. »Nach der Vorlesung. Wie sieht’s mit dir aus, Pandora, hast du Lust?«

»Nicht wirklich.«

Mums Stimme wurde einen Tick schärfer. »Was meinst du mit ›nicht wirklich‹?«

»Das sind doch nur große, olle Steinhaufen.«

»Jetzt tu doch nicht so, als würde dich das alles nicht interessieren«, sagte ich. »Du weißt wahrscheinlich mehr darüber als Mum und Dad zusammen, bei all den Büchern, die du dir heimlich reinziehst.«

»Halt die Klappe«, zischte Pan.

»Es reicht«, ging Mum dazwischen. »Wir besprechen das beim Abendessen, okay?«

»Müssen wir dazu rausgehen?«, maulte Pan. »Ich bin müde.«

»Nur dass wir keine ganz normale Familie sind. Normale Familien mögen sich.«

»Jetzt krieg dich mal wieder ein, Pan«, sagte ich. »Hättest ja zu Hause bleiben können.«