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Christian Alexius / Sarah Beicht (Hg.)

Fantastisches in
dunklen Sälen

Science-Fiction, Horror und
Fantasy im jungen deutschen Film

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnd.ddb.de abrufbar.

Dieser Band geht auf das gleichnamige Symposium von FILMZ – Festival des deutschen Kinos 2017 in Mainz zurück und wurde mit freundlicher Unterstützung der ARD, Lotto Rheinland-Pfalz-Stiftung sowie der Rüsselsheimer Filmtage gedruckt.

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Schüren Verlag GmbH

Inhalt

Danksagung

Christian Alexius / Sarah Beicht

Einleitung: Der Fantastik eine Chance

Huan Vu

Lange Schatten

Genrefilm und Fantastik im Spannungsfeld der deutschen Geschichte

Marcus Stiglegger

German Angst?

Zur historischen und aktuellen Bedeutung fantastischer Genres im deutschen Kino

Lars R. Krautschick

Sozialkritik unter asozialen Bedingungen

Exemplarisches zu Gesellschaftsbetrachtungen im deutsch(sprachig)en Horrorfilm

Christian Pischel

«…daß keiner groß zu denken hätt’. / Befolgend dies ward der Trabant / ein völlig deutscher Gegenstand.»

Zu einer Kasuistik des deutschen Weltraumfilms

Rasmus Greiner

Mystifizierung des demografischen Wandels in DIE VERMISSTEN

Eine Vorlesung

Tobias Haupts

German New Weird

Über eine gewisse Tendenz im Neuen Deutschen Genrefilm

Autorin und Autoren

Abbildungsverzeichnis

Film- und Serienindex

Danksagung

Unsere Reise durch das Fantastische wäre nicht möglich gewesen, ohne all die wertvollen Begleiter und Unterstützer, denen wir hiermit ein herzliches Dankeschön aussprechen möchten:

All denjenigen, die uns bereits beim Symposium im letzten Jahr tatkräftig zur Seite gestanden haben – von den freiwilligen Helferinnen und Helfern bis hin zu unseren Vortragenden und Diskutanten auf dem Podium.

Daniel Rettig und Hendrik Schneider vom Stick Up Studio für den liebevoll gestalteten Einband, der dieses Buch mit den Farben der Nacht umgibt.

Den Autoren des Bandes, die den Raum dazwischen durch ihre unermüdliche Arbeit und Hingabe erst zum Leben erwecken.

Allen Sponsoren, die unseren Wunsch nach einem Tagungsband durch ihre finanzielle Unterstützung haben wahr werden lassen sowie unseren Kolleginnen und Kollegen von FILMZ, die den Weg wagemutig mit uns angetreten sind.

Und schließlich Annette Schüren und ihrem Team für das frühe Vertrauen, den reibungslosen Arbeitsablauf und dafür, dass das deutsche Fantastikkino nun auch auf Papier seine Spuren hinterlässt. Zu welch düsteren wie fantastischen Orten sie uns auch führen mögen …

Christian Alexius & Sarah Beicht
Mainz, im Frühjahr 2018

Christian Alexius / Sarah Beicht

Einleitung: Der Fantastik eine Chance

Genrefilm braucht Tradition. Schließlich bedarf es eines Publikums mit Seherfahrungen, das dazu in der Lage ist, wiederkehrende Erzählmuster, Handlungssituationen und Motive zu erkennen, um aus deren Variation Genuss zu schöpfen. Gerade in Deutschland fehlt allerdings eine solche Tradition, was den Genrefilm bis heute zu einem Außenseiter macht, der nur selten seinen Weg auf die große Leinwand und somit in das Bewusstsein der Zuschauerinnen und Zuschauer findet. Die Rede ist wohlgemerkt von deutschen beziehungsweise deutschsprachigen Produktionen. Denn ein grundsätzliches Genrebewusstsein scheint auch hierzulande zu existieren – zumindest, solange es sich um Filme aus den USA handelt, die sich anhaltender Beliebtheit an den Kinokassen erfreuen. Steffen Hantke zitierend verweist Lars R. Krautschick in seinem Beitrag diesbezüglich auf den fundamentalen Einfluss amerikanischer Pop-Kultur und deren Akzeptanz hierzulande, was die eigenen Filmschaffenden in eine Konkurrenzsituation bringe, die sie nur schwerlich gewinnen können. Für nationale Genreproduktionen hingegen scheint es beim deutschen Publikum keinen Bedarf zu geben. Zu sehr eingeprägt haben sich möglicherweise die unzähligen Bilder aus Übersee; zu unvorstellbar ist Vergleichbares in heimischen Gefilden. Bereits vergangene Kassenschlager wie die Edgar-Wallace-Reihe der Rialto Film oder die Karl-May-Verfilmungen um Pierre Brice als Indianerhäuptling Winnetou spielten nicht vor heimischem Hintergrund, sondern wichen nach England respektive in die Berglandschaften des damaligen Jugoslawiens aus. Eine Ausnahme stellt sicherlich die Komödie dar, die sich hierzulande in den 1980er- und 1990er-Jahren mit Titeln wie MÄNNER (D 1985) und STADTGESPRÄCH (D 1995) durchgesetzt und bis heute ihre Popularität bewahrt hat. Anders als beispielsweise die fantastischen Genres, um die es im Folgenden speziell gehen wird, funktioniert die Komödie nämlich vor allem über einen bestimmten länderspezifischen Witz und versucht nicht international verständlich zu bleiben. Demgegenüber steht die globale Ausrichtung des Genrefilms generell, samt seiner universellen Themen um Liebe, Freundschaft oder Rache, die vergleichbare Produktionen aus Deutschland obsolet erscheinen lässt. Interessanterweise scheint es den mit teils deutlich größeren finanziellen Mitteln ausgestatteten Beiträgen aus Ländern wie den USA allerdings keinen Abbruch zu tun, wenn sie beispielsweise Matt Damon in THE BOURNE IDENTITY (DIE BOURNE IDENTITÄT, USA/D/CZ 2002) in Berlin auf Identitätssuche gehen lassen oder Charlize Theron als britische Agentin in ATOMIC BLONDE (D/S/USA 2017) an gleicher Stelle auf einen feindlichen Doppelagenten zur Zeit des Mauerfalls ansetzen. Auf die Bedeutung der darauf folgenden Wiedervereinigung verweist Huan Vu in seinem Beitrag, wenn er betont, dass «exzessive Stoffe» zur Zeit dieses gesellschaftlichen Umbruchs nicht sonderlich gefragt gewesen zu sein schienen, im Gegensatz zu den bereits erwähnten Komödien, aber auch Kriminalfilmen, in denen schlussendlich zumeist für Recht und Ordnung gesorgt wird. Für die Allgegenwärtigkeit des letzteren machte Regisseur Christoph Hochhäusler in einem Interview unlängst die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen verantwortlich und konstatierte, dass jedes Land die Genres bekommt, die es verdient.1

Die Probleme des deutschen Genrefilms lassen sich allerdings nicht nur auf Seiten des Publikums finden, dem mehrheitlich einfach die notwendige Begeisterung für das Kino und den deutschen Film insbesondere zu fehlen scheint2, sondern auch auf Seiten der Produktion. Während das Genrekino weltweit den Mainstream widerspiegelt, fällt es Filmemacherinnen und Filmemachern hierzulande schwer, die Förderanstalten und Öffentlich-Rechtlichen, die in der Regel als Koproduzenten agieren, von ihren Genreprojekten zu überzeugen, insbesondere, je fantastischer die Stoffe werden. Ausmachen lässt sich hier eine grundlegende Skepsis, die auch vor den Filmhochschulen, den Ausbildungsstätten des eigenen filmischen Nachwuchses, keinen Halt zu machen scheint. Hochhäusler beispielsweise spricht von einem Generalverdacht, unter dem alles Populäre in Deutschland stehe3 – eine mangelnde Akzeptanz und Würdigung, der sich auch der Spielfilm nicht entziehen kann. Denn einen populären Unterhaltungsfilm scheint es in Deutschland, abseits der bereits genannten Krimis und Komödien, nicht mehr zu geben, ebenso wenig, wie das dafür benötigte Publikum. Hoffnung macht hier ein Blick auf die Fernsehbildschirme und Streamingportale, die deutlich stärkere Bestrebungen in diese Richtung erkennen lassen. Beispielhaft genannt sei hier die vierteilige Thriller-Reihe Stunde des Bösen im Kleinen Fernsehspiel des ZDF, in der im Oktober 2017 bereits zum zweiten Mal junge Regisseure – und in diesem Falle ausschließlich Regisseurinnen – die Gelegenheit bekommen haben, ihren eigenen Blick auf das Genre zu entwickeln. In gleich mehreren der hier versammelten Aufsätze blitzt zudem die 2017 auf Netflix gestartete und erst kürzlich mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete deutsche Mysteryserie DARK als Hoffnungsschimmer auf, gleichwohl diese ihr Publikum überwiegend im Ausland findet. Weniger als 10 % der Zuschauerschaft würde aus Deutschland kommen, wie Greg Peters aus dem Vorstand des Streaminganbieters auf einer Pressekonferenz bekannt gab.4 Der Hunger des deutschen Publikums auf Genre-Stoffe fehlt, auch abseits der großen Leinwand.

Ein mangelndes Bewusstsein für das Genrekino wird zudem auch in der filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen deutschen Film sichtbar. So lässt ein Blick in Veröffentlichungen der jüngeren Vergangenheit den Eindruck entstehen, dass es Genrefilme hierzulande zurzeit gar nicht erst gäbe oder sie zumindest keiner wissenschaftlichen Betrachtung wert sind. Egal ob Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms (Schick, Ebbrecht 2011), Ansichtssache. Zum aktuellen deutschen Film (Mühlbeyer, Zywietz 2013)5 oder Good Bye, Fassbinder. Der deutsche Kinofilm seit 1990 (Gras 2014): In den Inhaltsverzeichnissen all dieser Werke stellt der Genrefilm eine Leerstelle dar, verlorengegangen irgendwo zwischen Berliner Schule und German Mumblecore.

Basierend auf dem gleichnamigen Symposium von FILMZ – Festival des deutschen Kinos aus dem vergangenen Jahr, versucht Fantastisches in dunklen Sälen diesem selbst ausgerufenen Forschungsdesiderat nachzugehen. Mit dem Fokus auf die fantastischen Genres, sprich Science-Fiction-, Horror- und Fantasyfilm, folgt der Band dabei einem populären Verständnis des Genrebegriffs, dem sich auch Genrefestivals wie das Fantasy Filmfest verschrieben haben. Fantastisches Spannungskino steht nicht nur dort, sondern auch in einschlägigen Filmzeitschriften im Zentrum, womit klassische Genres wie die Komödie, der Kriegsfilm, aber auch spezifisch deutsche Spielarten wie der Heimatfilm – der aktuell in Form einer Reihe an Bergfilmen wie DIE EINSIEDLER (D/A 2016) und DREI ZINNEN (I/D 2017) wieder Einzug in die Kinos hält6 – oder die Sexreporte der 1970er-Jahre in der Regel ausgespart werden. Dieser eng gefasste Genrebegriff steht auch im Zentrum des Neuen Deutschen Genrefilms, einer 2012 von Filmemacherinnen und Filmemachern gegründeten Plattform, mit dem Ziel, den Genrefilm aus Deutschland, aber auch Österreich, Luxemburg, Liechtenstein sowie der Schweiz zu fördern, zu präsentieren und wieder in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Dass der Blick in die nationale Filmgeschichte dabei wenig Anknüpfungspunkte für das eigene Schaffen bietet, ist ihren Mitgliedern durchaus bewusst. So wie ihre zumeist unabhängig, mit eigenen Geldern und den damit einhergehenden künstlerischen Freiheiten realisierten Filme deutlich stärker im Ausland rezipiert und auch gewürdigt werden, beziehen sie sich selbst wiederum vor allem auf internationale Regisseure wie Steven Spielberg, Ridley Scott oder James Cameron. Zu weit zurück liegen die mittlerweile als Klassiker des Fantastischen betrachteten Werke aus der Weimarer Republik wie NOSFERATU, EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (D 1922) oder METROPOLIS (D 1927), um noch aktiv an sie anschließen zu können.

Das Wissen um die fehlende Genretradition des Landes sowie die selbstgestellte Frage danach, wie ‹deutsch› ein Neuer Deutscher Genrefilm angesichts dessen überhaupt sein kann, spiegelt sich exemplarisch im Beitrag des Filmemachers und Mitbegründers der Bewegung, Huan Vu, wider, der diesen Band eröffnet. Auf der Suche nach einem Grund für die herrschenden Vorbehalte gegen das Fantastische im deutschen Film kommt er zu der These, dass eine grundlegende Fantastikfeindlichkeit im deutschen Kulturbetrieb schon lange Tradition hat. Ausgangspunkt seiner historischen Auseinandersetzung ist dabei die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871, die, so Vu, das Bedürfnis nach Identifikationsfiguren mit sich brachte, um dem neu erwachten Nationalbewusstsein Ausdruck zu verleihen. Literaten wie Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Schiller wurden zu Aushängeschildern für das ‹Land der Dichter und Denker› und mit einer sinnstiftenden Funktion aufgeladen, die womöglich den Ursprung eines bis heute nachwirkenden elitären Denkens darstellt, das alle als trivial und niedere Unterhaltung betrachteten Werke strikt ablehnt. Dazu zählte damals auch die im 19. Jahrhundert immer populärer werdende Literatur des Fantastischen, die mit Alfred Kubin, Kurd Laßwitz oder Paul Scheerbart durchaus auch deutsche Autoren vorzuweisen hat, welche allerdings bereits zu Lebzeiten einen schweren Stand hatten und heute so gut wie in Vergessenheit geraten sind. Dass auch der fantastische Film es unter diesen Vorzeichen nicht leicht haben würde, erscheint so trotz seiner Hochphase in der Weimarer Republik vorprogrammiert: von den Restriktionen im Nationalsozialismus, bis hin zu den noch immer anhaltenden pädagogischen Vorbehalten aus der Nachkriegszeit. Das Genre des Fantastischen konnte hierzulande somit nie richtig Wurzeln schlagen oder gar eine glühende Anhängerschaft finden, weshalb auch aktuelle Beispiele für den Science-Fiction-, Horror- und Fantasyfilm aus Deutschland Einzelerscheinungen bleiben.

Nahtlos an Vus Auseinandersetzung mit der deutschen Fantastik in einem Zusammenspiel aus Literatur und Film knüpft Marcus Stiglegger an. Den Fokus zugunsten des letzteren verschiebend, stellt er die Frage nach der für seinen Beitrag titelgebenden ‹German Angst›, worunter spätestens seit den 1980er-Jahren eine unkonkrete Zukunftsangst verstanden wird. Eine «deutsche Krankheit», die kennzeichnend für die Mentalität des Landes sei und möglicherweise den Ausgangspunkt für Fremdenhass und Selbstzerstörung darstellt: «Nach außen hin bürgerlich und geordnet, ist die deutsche Gesellschaft von einem alles umfassenden Todestrieb durchzogen» – so erscheint es Stiglegger folgend zumindest nach der Sichtung des Triptychons GERMAN ANGST (D 2015) von Jörg Buttgereit, Michal Kosakowski und Andreas Marschall. Zu Beginn seiner exemplarischen Analyse dieses Films, wie auch der daran anschließenden von DER NACHTMAHR (D 2015), steht aber die Beschäftigung mit dem Begriff des ‹Genres› selbst. Bei seinen ausführlichen Reflexionen über Theorie und Geschichte der Genres sowie der Genreforschung kommt Stiglegger zu dem Ergebnis, dass die klassischen Genrekategorien mittlerweile nur noch als Orientierung für Produktionsfirmen und Publikum dienen, analytisch aber kaum noch relevant sind. Um die Probleme einer konservativen und oft essenzialistischen Genretheorie zu überwinden, plädiert er im Angesicht der zunehmenden Auflösung klassischer Genregrenzen für einen differenzierten Genrediskurs. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen dabei die fantastischen Genres, die eine besondere Konstante in der Filmgeschichte darstellen. Während der Science-Fiction-Film positive oder negative Gesellschaftsutopien behandelt, setzt der Horrorfilm die Begegnung mit dem Unheimlichen in Szene und konfrontiert die Zuschauerinnen und Zuschauer mit ihren ureigenen Ängsten. Der Fantasyfilm hingegen speist sich aus internationalen Märchen, Legenden und Mythen und stellt durchaus positiv staunend das Wunderbare dar. Seine Ausführungen zu den drei Genres knüpft Stiglegger wiederum an die Frage nach ihrer Rolle im deutschen Film und damit schlussendlich auch an die bereits von Vu gestellte Frage nach den Gründen für den Zustand des fantastischen Films heute.

Die beiden Filme GERMAN ANGST und DER NACHTMAHR spielen auch für die Überlegungen Lars R. Krautschicks eine Rolle, der sich in seinem Beitrag mit dem deutschsprachigen Horrorfilm auseinandersetzt. In den Tabubrüchen des Genres sieht er das Potenzial, unangenehme und verdrängte Themen ans Licht zu bringen und dadurch letztlich sozialkritische Positionen gegenüber dem menschlichen Zusammenleben einzunehmen. Diese können von den Filmschaffenden entweder direkt angesprochen oder aber indirekt, verborgen, in ihre Geschichten beziehungsweise Inszenierungsweisen hinein gearbeitet werden. Deutlich wird bereits an dieser Stelle, dass Filme für Krautschick Medien ästhetischer Kommunikation darstellen, die Aussagen der Filmemacherinnen und Filmemacher an das Publikum weitergeben können. Im Anschluss an Noël Carroll betrachtet er Filme als «visuelle Metaphern», die nicht nur bestehende Metaphoriken aufgreifen, sondern sie auch selbst generieren können. Im Falle des Horrorfilms wären das Metaphern für soziale Gefüge, die das Genre zu Gedankenexperimenten über unsere Gemeinschaft, vor allem jedoch über die Ängste innerhalb dieser machen. Um zu überprüfen, ob jüngere Horrorfilme aus dem deutschsprachigen Raum sich dessen kinematografische Mittel zunutze machen, um spezifische Probleme der Bundesrepublik anzusprechen, richtet er seinen Blick neben den beiden bereits genannten Beispielen auf BEYOND THE BRIDGE (D/CH 2015) sowie mit RAMMBOCK (D 2010) und BLUTGLETSCHER (A 2013) insbesondere auf zwei Filme Marvin Krens. Zutage treten dabei sowohl universale Ängste und Missstände wie soziale Kälte, Klimakatastrophen und die Probleme Heranwachsender, als auch Auseinandersetzungen, die ganz konkret auf die deutsche Geschichte rekurrieren, etwa die Zeit des Nationalsozialismus. Gleichwohl die Filme durchaus Ängste der deutschen Bevölkerung thematisieren, lassen sich diese zumeist aber auch in vergleichbaren Kulturkreisen und somit deren Horrorproduktionen finden. Fernsehfilme und andere lokalorientierte Produktionen, die nicht nach einer globalen Vermarktung streben, würden demgegenüber allerdings ein besonderes Potenzial für die ‹German Angst› bieten.

Vom Horror- zum Science-Fiction-Film geht Christian Pischel mit seinem Beitrag über. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte des deutschen Weltraumfilms, der hierzulande über so gut wie keine Relevanz verfügt. Anstelle einer fortschreitenden Genreentwicklung gibt es sodann auch nur vereinzelte Beispiele zu entdecken, die wie verlorengegangene Sonden am deutschsprachigen Firmament erscheinen. Dass sich deren nähere Betrachtung trotzdem lohnt, macht Pischel in seiner Kasuistik deutlich, die Titel wie FRAU IM MOND (D 1929), DER SCHWEIGENDE STERN (DDR/PL 1960) oder DAS ARCHE NOAH PRINZIP (D 1984) weniger als Vertreter eines Subgenres, sondern vielmehr als Ursprung des größeren Medienkomplexes und Imaginationsraums Weltraum betrachtet. Eine wichtige Rolle spielen in seinen Ausführungen daher immer auch das Wechselspiel und die gegenseitige Beeinflussung von Inszenierungsstrategien des Genres auf der einen und der medialen Berichterstattung über Ereignisse wie die Mondlandung auf der anderen Seite. Was das Genre anbelangt, zog die innerdeutsche Grenze nach dem Zweiten Weltkrieg hier unterschiedliche Entwicklungen nach sich. In der DDR sahen sich die Filmemachenden damit konfrontiert, dass ihre Werke nicht in Konkurrenz zu den politischen Prognosen des Marxismus-Leninismus treten durften, während sich im Neuen Deutschen Film der Bundesrepublik lediglich Alexander Kluge mit Filmen wie WILLI TOBLER UND DER UNTERGANG DER 6. FLOTTE (D 1972) äußerst reflexiv auf das Genre bezog. Erst in den 1980er-Jahren kommt es in Westdeutschland zu einem kurzzeitigen Aufleben des Weltraumfilms durch Wolfgang Petersen und Roland Emmerich, die sich mit ihren Filmen stark an Hollywoodproduktionen der damaligen Zeit und der darin gezeigten Verfinsterung des Alls orientieren – eine Entwicklung, die auch noch in aktuelleren Beispielen wie der Schweizer Independent-Produktion CARGO (2009) nachhallt, die die Weiten des Weltraums zum Schauplatz für den Überlebenskampf der eigenen Spezies werden lassen. Inwieweit deutschsprachige Produktionen auch in Zukunft den amerikanischen Vorbildern nacheifern und der medialen Aufmerksamkeit folgen, die sich seit der Jahrtausendwende zugunsten des Planeten Mars verschoben hat, bleibt mit Spannung abzuwarten, trotz oder vielleicht auch gerade wegen seiner leider nur sporadisch aufblitzenden Beispiele.

An einen ganz konkreten Topos internationaler Science-Fiction-Filme knüpft Rasmus Greiner mit seinen Ausführungen zu DIE VERMISSTEN (D 2012) an. Die darin gezeigte Dystopie einer kinderlosen Gesellschaft sowie ihren damit einhergehenden Zusammenbruch inszenieren unter anderem Filme wie CHILDREN OF MEN (USA/GB/JP 2006) oder aktueller noch die Serie THE HANDMAIDS TALE (THE HANDMAIDS TALE: DER REPORT DER MAGD, USA 2017–). In DIE VERMISSTEN sieht sich die deutsche Bevölkerung damit konfrontiert, dass die eigenen Kinder aus unerklärlichen Gründen von zu Hause weglaufen und, wie sich herausstellt, aufs Land ziehen, um dort eine neue Lebensgemeinschaft zu bilden. Der Film setzt sich daher, so die Lesart Greiners, mit dem demografischen Wandel innerhalb der Bundesrepublik und der daraus resultierenden Überalterung der Gesellschaft auseinander – ein Hintergrund, vor dem die von Anfang an als Leerstelle fungierenden Kinder den Erwachsenen endgültig abhanden zu kommen drohen. Es ist ein Film, an dessen Beispiel Greiner gleichzeitig auch die Grenzen des fantastischen Films auslotet, handelt es sich auf den ersten Blick doch um ein Sozial- oder Gesellschaftsdrama. DIE VERMISSTEN kann daher als eine «Camouflage des Fantastischen» verstanden werden, zeigt der Film sich doch in seiner Dramaturgie und Ästhetik von den inszenatorischen Mitteln des Endzeitfilms beeinflusst. Der Einsatz letzterer kann zudem stellvertretend dafür stehen, wie mediale Dispositive nach Greiner hier zu einer Art von Mystifizierung oder Narrativisierung des demografischen Wandels führen.

Ein anderer Film aus den letzten Jahren, der das mysteriöse Verschwinden von Kindern thematisiert, ist Sebastian Hilgers WIR SIND DIE FLUT (D 2016), mit dem sich Tobias Haupts im Rahmen eines German New Weird auseinandersetzt. Ausgehend von der literarischen Tradition des Old Weird in den Werken H. P. Lovecrafts zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der daran seit den 1990er-Jahren anschließenden Bewegung des New Weird, versteht er darunter Filme, die ebenfalls Elemente des Absurden, Grotesken, aber auch Komischen miteinander verbinden. Zu den Wegbereitern dieser möglichen Strömung innerhalb des Neuen Deutschen Genrefilms zählt er neben WIR SIND DIE FLUT auch DER BUNKER (D 2015) sowie DER SAMURAI (D 2014), die alle eine «Atmosphäre der bedrohlichen Irritation» schaffen, Ambivalenzen aufrechterhalten und Bilder generieren, die verstörend, seltsam und komisch zugleich sind. Alle drei operieren zwar im Modus des Fantastischen, entziehen sich allerdings klaren Genrezuweisungen und lassen sich nicht einmal mehr als Genrehybride verstehen, wie Haupts in seinen Analysen der Filme herausarbeitet. Zu Beginn seiner Ausführungen kehrt er allerdings noch einmal grundsätzlich zur Bewegung des Neuen Deutschen Genrefilms und der fehlenden Tradition des fantastischen Kinos in Deutschland zurück. Deren Abwesenheit setzt er mit dem in den 1960er-Jahren aufkommenden Neuen Deutschen Film in Bezug, für deren Filmemacherinnen und Filmemacher das Genrekino damals lediglich ein Produkt der «Altbranche» darstellte, die für sie in einer Tradition mit dem Unterhaltungskino der Nationalsozialisten stand.7 Eine nur auf den ersten Blick überraschende Verbindung sieht Haupts allerdings dennoch zwischen den Oberhausenern und der Bewegung des Neuen Deutschen Genrefilms bestehen. Denn mit den Forderungen nach einer Erneuerung des zeitgenössischen deutschen Genrefilms ergänzt letztere mehr als fünfzig Jahre später deren Postulate nach einem grundlegenden Neuanfang im deutschen Filmschaffen nach 1945.

Trotz der skizzierten Diskussionen um eine fehlende Genretradition in Deutschland, Finanzierungsschwierigkeiten und dem großteils mangelnden Interesse von Seiten des Publikums, lassen sich in den letzten Jahren aber auch einige Lichtblicke ausmachen, die auf ein neues, mannigfaltiges und nachhaltiges Filmemachen im Zeichen des Fantastischen hoffen lassen: Mit der Genrenale stellen Mitglieder des Neuen Deutschen Genrefilms seit 2013 in Berlin jährlich ein eigenes Festival auf die Beine, das parallel zur Berlinale stattfindet und sich ausschließlich dem deutschen Genrekino widmet. Erst im Frühjahr dieses Jahres konnte mit LAURIN (D/HU 1989) von Robert Sigl zudem ein dunkel-romantisches Schauerstück in einer neuen 2K-Abtastung in den Kinos wiederentdeckt werden – stellvertretend für eine Reihe an Produktionen, die in der deutschen Filmgeschichte für sich alleine stehen und Filmschaffenden heute vielleicht doch noch einen möglichen Anschlusspunkt bieten können. Bei der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) schaffen es mittlerweile auch Genreproduktionen wie THE VVITCH: A NEW-ENGLAND FOLKTALE (THE WITCH, USA/GB/CAN/BRA 2015), der bereits erwähnte ATOMIC BLONDE oder aus Deutschland jüngst der Psychothriller FREDDY/EDDY (2016) mit den Prädikaten «wertvoll» und «besonders wertvoll» ausgezeichnet zu werden. Neben der schon angekündigten zweiten Staffel von DARK wurde vom Streaminganbieter Sky mit HAUSEN zudem eine zehnteilige deutsche Horrorserie unter der Federführung von Till Kleinert angekündigt, deren Dreharbeiten voraussichtlich Anfang 2019 beginnen sollen.8 Und während ein Fortbestehen des deutschen Genreschaffens in naher Zukunft auf den Bildschirmen somit gesichert sein sollte, stehen beim Schreiben dieser Zeilen mit dem Zeitreisethriller REWIND: DIE ZWEITE CHANCE (D 2017) und HAGAZUSSA – DER HEXENFLUCH (D/A 2017) bereits zwei weitere fantastische Genrefilme kurz vor ihrem Kinostart.

Die in diesem Band versammelten Beiträge decken gewiss nicht das komplette deutschsprachige Schaffen im Bereich des Science-Fiction-, Horror- und Fantasyfilms ab. So bleibt etwa die lange Tradition des Fantastischen im Kinder- und Jugendfilm – aktuell etwa zu sehen an der Romanverfilmung DIE KLEINE HEXE (CH/D 2018) – nur eine Randnotiz; Parodien auf die fantastischen Genres wie Michael Bully Herbigs (T)RAUMSCHIFF SURPRISE – PERIODE 1 (D 2004) oder etwa die für ProSiebens Funny Movie-Reihe entstandenen H3: HALLOWEEN HORROR HOSTEL (D 2008) sowie BISS ZUR GROSSEN PAUSE – DAS HIGHSCHOOL VAMPIR GRUSICAL (D 2011) werden gänzlich ausgespart. Eine vollständige Betrachtung soll und kann aber auch gar nicht der Anspruch dieser Publikation sein – die damit verbundene Hoffnung ist eine gänzlich andere. Im besten Falle macht sie neugierig auf Filme, denen man ansonsten vielleicht keine Chance geben würde, schafft ein (neues) Bewusstsein für das Genrekino vor der eigenen Haustür und öffnet möglicherweise sogar den Blick für deutschsprachige Filmproduktionen insgesamt: über alle Genregrenzen hinweg.

1Vgl. Frank Castenholz: Christoph Hochhäusler: «In Deutschland gibt es kein hungriges Publikum». In: me.Movies 2, 2016 (online unter: https://bit.ly/2Bg7Zzy, 11.05.2018).

2Filme wie IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS (D 2014), PHOENIX (D/PL 2014) oder WESTERN (D/BG/A 2017) liefen in den französischen Kinos beispielsweise erfolgreicher als hier in Deutschland. Auf dem Kongress «Zukunft Deutscher Film» des Lichter Filmfests 2018 war gar von der internen Studie eines Filmverleihers zu hören, nach der rund 50 % der Zuschauerinnen und Zuschauer den Saal verlassen, sobald sich bei Sneak Previews herausstellt, dass es sich um einen deutschen Film handelt. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle aber auch, dass mit FACK JU GÖHTE 3 eine deutsche Komödie im letzten Jahr sechs Millionen Zuschauer in die Kinos locken konnte und damit der erfolgreichste Film des Kinojahres hierzulande war. Generell sind die Besucherzahlen in den deutschen Kinos 2017 um 2,5 % gegenüber dem durchaus schwachen Vorjahr gestiegen.

3Vgl. Hochhäusler bei Castenholz.

4Vgl. Janko Roettgers: Netflix’s Drama DARK May Be From Germany, but 90 % of Its Viewers Are Not. Variety. 06. März 2018, https://bit.ly/2Kpr8oI (11.05.2018).

5Mitherausgeber Bernd Zywietz berichtete bei der Podiumsdiskussion des FILMZ-Symposiums 2017 von der Idee, einen Nachfolgeband herauszubringen, der sich ausschließlich dem deutschen Genrekino widmet. Aus unterschiedlichen Gründen wurde dieser letztlich jedoch nicht realisiert. Eine Videoaufzeichnung der Podiumsdiskussion sowie aller im Rahmen des Symposiums gehaltener Vorträge kann unter https://bit.ly/2K97DAz (05.05.2018) eingesehen werden.

6Für aktuelle Überlegungen zum Bergfilm vgl. Georg Seeßlen: Der Kampf um die Berge. Der Bergfilm: Extrem-Tourismus am Everest. In: epd Film 9, 2015 (online unter: https://bit.ly/2HmXoXq, 13.05.2018).

7Mit der einschneidenden Bedeutung des Neuen Deutschen Films für das Genrekino der damaligen Zeit setzen sich auch Dominik Graf und Johannes F. Sievert in ihren beiden Dokumentationen VERFLUCHTE LIEBE DEUTSCHER FILM (D/F 2016) sowie OFFENE WUNDE DEUTSCHER FILM (D 2017) auseinander. Darin spüren sie den betont physischen und schmutzigen Arbeiten eines Roland Klick oder Klaus Lemke beispielsweise nach, die sich klar in Opposition zu den stilisierten, Idylle heraufbeschwörenden Filmen der Nachkriegszeit als auch dem intellektuellen Filmemachen der Oberhausener setzen.

8Vgl. News: Neue Sky Original Production: Horrorserie HAUSEN. Sky. 19. Februar 2018, https://bit.ly/2KSNJdn (11.05.2018).

Huan Vu

Lange Schatten

Genrefilm und Fantastik im Spannungsfeld der deutschen Geschichte1

Trotz einiger Lichtblicke und einer grundsätzlich positiven Tendenz in den letzten Jahren ist nach wie vor eine geringfügige wirtschaftliche wie auch kulturelle Rolle des Genrefilms innerhalb des deutschen Filmschaffens zu konstatieren. Welche historischen Faktoren haben möglicherweise zu dem heutigen Stand beigetragen? Weshalb hat sich der deutsche Film gerade in diesem Bereich nur zaghaft und nicht nachhaltig entwickelt?

Bevor wir uns eingehender mit dieser Fragestellung auseinandersetzen können, gilt es zunächst den Begriff «Genrefilm» zu beleuchten. Dieser bildete sich bereits zu Anbeginn des klassischen Hollywoodkinos in Form vielfältiger, leicht wiedererkennbarer Grundmuster heraus, beispielsweise als Western, Thriller, Science-Fiction-, Fantasy-, Horror-, Action- oder Abenteuerfilm. Diese Klassifizierungen entstanden zunächst zum Zwecke der Werbung und Vermarktung, entwickelten sich dann jedoch im Austausch zwischen Publikum, Filmschaffenden, Kritikerinnen und Kritikern sowie Produzierenden dynamisch und vielfältig weiter. Heute wird von einer Vielzahl verschiedener Genres, vor allem aber auch von Mischformen ausgegangen, da sich Filme oft nicht mehr nur einer Kategorie zuordnen lassen, sondern unterschiedlichste Genreelemente miteinander verbinden. Innerhalb dieses Wechselspiels aus Konfektionierung auf Seiten der Vermarkter, Erzähltradition auf Seiten der Kreativen und Erwartungshaltung auf Seiten des Publikums hat sich nichtsdestotrotz ein harter Kern an Genres herausgebildet, der sich als besonders einprägsam und erfolgreich herausgestellt hat.

Darunter zu nennen sind auch Musical, Kriminalfilm und Komödie, die nach wie vor in der angloamerikanischen Filmindustrie als «genre movies» gelten, jedoch nur selten im Programm ausgewiesener genre film festivals