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Jock Serong

Fischzug

Aus dem Australischen von Robert Brack

Herausgegeben von Wolfgang Franßen

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Copyright by Jock Serong 2014
Originaltitel: Quota
First published in 2014 by The Text Publishing Company

Inhalt

MELBOURNE

DAUPHIN

DIE VERHANDLUNG

DANKSAGUNGEN

MELBOURNE

WIEDERAUFNAHME UM 14:15 Uhr:

MR. JARDIM: Euer Ehren, ich danke Ihnen für die Möglichkeit, während der Mittagspause mit meiner Klientin zu sprechen.

RICHTER: Ja. Sind Sie denn vorangekommen? Ich stelle fest, dass Ihre Klientin nicht bei Ihnen ist, Mr. Jardim.

MR. JARDIM: Ganz recht, Euer Ehren. Sie ist noch immer sehr aufgewühlt wegen des Kreuzverhörs heute Morgen und sieht sich, trotz meines Rates weiterzumachen, nicht in der Lage, in den Gerichtssaal zurückzukehren, Sir.

RICHTER: Meinen Sie damit, dass es ihr körperlich nicht gut geht, Mr. Jardim? Haben Sie ein ärztliches Attest mitgebracht oder einen Arzt?

MR. JARDIM: Nein, weder noch. Ms. Woollacott hat ja vor der Mittagspause erklärt, dass sie das Kreuzverhör als beendet ansieht. Euer Ehren liegen bereits die Aussagen meiner Klientin bezüglich ihrer gesicherten Unterkunft, ihrer Reha…

RICHTER: Kein Arzt? Dann hat Ihre Klientin ihren Antrag also zurückgezogen?

MR. JARDIM: … ihrer Rehabilitation, ihrer Sorge um ihre Kinder, die Unterstützung ih…

RICHTER: Nein, nein. Warten Sie bitte. Vielleicht verstehen Sie mich nicht richtig, Mr. Jardim. Ihre Klientin ist nicht hier, um das Kreuzverhör fortzusetzen. Also ist es sinnlos, wenn Sie weitere Anträge im Namen Ihrer Klientin stellen, da sie nun mal nicht anwesend ist. ›Nicht anwesend‹ ist für mich gleichbedeutend mit ›interessiert mich nicht‹. Also Ms. Woollacott, Sie haben vor der Mittagspause angedeutet, dass Sie, so drückten Sie es, glaube ich aus, ›fast fertig‹ seien mit Ihrem Kreuzverhör. Möchten Sie Mr. Jardims Klientin noch weitere Fragen stellen?

MS. WOOLLACOTT: Das möchte ich allerdings, Euer Ehren.

RICHTER: Und was Sie betrifft, Mr. Jardim, so könnte ich mir denken, dass Sie noch einige Nachfragen haben angesichts des Eingeständnisses ihrer Klientin bezüglich ihres Drogenmissbrauchs und, was eine vorläufige Einschätzung meinerseits ist, ihrer Tätigkeit als Prostituierte in einer Wohnung, in der sich auch zwei Kinder in ihrer Obhut befanden. Wollen Sie mir wirklich erzählen, dass Sie keine weiteren Fragen mehr haben bezüglich der Sachverhalte, die Ms. Woollacott im Kreuzverhör angesprochen hat?

MR. JARDIM: In einer idealen Welt hätte ich das vielleicht, Euer Ehren, aber sie ist nicht …

RICHTER: Sie ist nicht hier, das ist offensichtlich. Wie schön, dass ich hier bin, auch wenn ich eine Menge anderer Dinge zu tun hätte. Sie haben sicherlich nicht viel zu tun, Mr. Jardim. Ms. Woollacott vertrödelt auch nur ihre Zeit. Gerichtsdiener, haben Sie etwas zu tun? Nein, er sieht nicht sehr beschäftigt aus. Also können wir alle rein- und rausgehen, wie es uns gerade Spaß macht, habe ich recht, Mr. Jardim? Läuft das im Allgemeinen so? MR. JARDIM: Das wollte ich keineswegs andeuten, Euer Ehren. RICHTER: Es heißt ›einreichen‹, Mr. Jardim. Unter meinem Vorsitz werden keine Andeutungen gemacht, sondern Anträge eingereicht. Wenn Sie keinen Antrag stellen wollen, schweigen Sie. Wie lautet also Ihr Antrag? Soll die Beweisaufnahme abgeschlossen werden? Ich frage das, weil Sie, wie mir scheint, im Augenblick keine andere Möglichkeit haben.

MR. JARDIM: Nein, ich stelle keinen Antrag auf Abschluss der Beweisaufnahme. Ich beantrage, die Verhandlung zu vertagen oder sie zumindest so lange auszusetzen, bis ich mich vom Wohlergehen meiner Klientin überzeugt habe und sie zurück in den Gerichtssaal bringen kann.

RICHTER: Demnach ist es ein Antrag auf Unterbrechung der Verhandlung. Ms. Woollacott, ohne eine Entscheidung vorwegnehmen zu wollen, können wir davon ausgehen, dass das Sozialamt die Kosten dafür übernehmen wird?

MS. WOOLLACOTT: Nun ja, Euer Ehren, das muss erst …

RICHTER: Richtig. Also, Mr. Jardim, wie will Ihre Klientin die entstehenden Gebühren begleichen, wenn ich die Angelegenheit vertage?

MR. JARDIM: Das kann sie nicht, Euer Ehren. Sie hat kein Geld, sie hat kein Vermögen. Sie bekommt staatliche Unterstützung. Es kann hier ohnehin nicht um die Feststellung von Gebühren gehen. Sie ist nicht hier, und es könnte gute Gründe dafür geben, dass sie nicht hier ist. Das wissen wir nicht. Wichtig ist zunächst, dass dieses Gericht darüber entscheidet, wo die beiden kleinen Kinder dauerhaft untergebracht werden, und das sollte mit … mit Bedacht erwogen werden. Sie wird wieder vor Gericht erscheinen, wenn sie dazu in der Lage ist, und ihre Aussage vervollständigen, sofern man das von ihr verlangt. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass sie …

RICHTER: Ihr Antrag!

MR. JARDIM: Ich beantrage zu berücksichtigen, dass sie umfassend über alles ausgesagt hat, was für Euer Ehren von Belang ist. RICHTER: Mr. Jardim, Sie lassen mir kaum eine Wahl. Ihre Klientin ist nicht hier, und Sie können mir nicht erklären wieso. Sie verlangen eine Vertagung, aber Sie sagen gleichzeitig, dass sie nicht in der Lage sei, die Kosten zu tragen, die durch diese Vertagung verursacht werden. Sie behaupten, ihre Aussage sei umfassend gewesen, aber im gleichen Atemzug verlangen Sie von mir, den Fall in ihrer Abwesenheit nicht zu entscheiden. Ihre Anträge widersprechen sich inhaltlich. Wie wäre es, wenn Sie in der ganzen Angelegenheit endlich mal schlüssig argumentieren würden?

MR. JARDIM: Ich möchte Sie vielmehr bitten, ihr noch eine Chance zu geben, Euer Ehren. Ihnen liegen bereits jede Menge Angaben vor, die ihren guten Willen dokumentieren. Ihnen ist auch bekannt, aufgrund der Informationen der Klinik, in der sie mehrfach behandelt wurde, dass sie …

RICHTER: Nein, nein, vielen Dank. Ich möchte das jetzt nicht noch einmal alles durchgehen, Mr. Jardim. Ich möchte lediglich, dass Sie mir erklären, wieso ich die Sache nicht in ihrer Abwesenheit entscheiden soll. Ich frage Sie noch einmal: Warum sollte ich das nicht tun?

MR. JARDIM: Was kann ich dazu noch sagen? Ich habe ja bereits versucht, Ihnen klarzumachen, warum es nicht richtig wäre. Sie tun ihr wirklich großes Unrecht an, wenn Sie die Angelegenheit ausschließlich unter verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten betrachten. Darum geht es aber nicht, es geht vielmehr um …

RICHTER: Mäßigen Sie Ihren Ton, Mr. Jardim. Ich habe mir während des Verfahrens einiges an Widerborstigkeit von Ihrer Seite anhören müssen und habe gesehen, wie Sie die Augen rollten und abfällige Bemerkungen machten, wenn es nicht nach Ihren Wünschen verlief. Das alles habe ich kommentarlos hingenommen. Aber jetzt muss ich Sie verwarnen, denn Sie benehmen sich grob und respektlos.

MR. JARDIM: (lacht) Haben Sie mal F. E. Smith gelesen? Wir verhalten uns beide wie Schweine, Euer Ehren, nur dass ich mir dessen bewusst bin.

RICHTER: Keine abfälligen Bemerkungen, bitte. Ihr Humor hat hier im Saal nichts verloren, Mr. Jardim. Ziehen Sie diesen Kommentar bitte sofort wieder zurück.

MR. JARDIM: Nein. Ich ziehe ihn nicht zurück, weil er ganz offensichtlich nichts mit der Sache an sich zu tun hat, genau wie auch Ihre kleingeistige Behandlung meiner Klientin nichts mit der Sache an sich zu tun hat. Was soll ich dazu noch sagen? Was? Hätten Sie die ganze Angelegenheit noch übler vermasseln können? Die Kleine ist völlig hilflos, und Sie wissen ganz genau, dass sie jetzt wieder auf der Straße ist. Das wissen Sie ganz genau, stimmt’s? Sie sind im ganzen Staat bekannt als ein herzloser alter Drecksack und Trunkenbold, und wo ich schon mal dabei bin: Die Ernennung Ihrer Schwiegertochter zur Richterin wird fast überall als das angesehen, was es ist: schmutziger, korrupter Nepotismus. Sie ist für diesen Posten ungefähr ebenso gut geeignet wie Sie. So tief wie heute sind Sie noch nie gesunken, dabei war es schon eine unglaubliche Scheiß…

RICHTER: Wachtmeister, sorgen Sie bitte dafür, dass Mr. Jardim unverzüglich den Raum verlässt und wegen Missachtung des Gerichts erst am kommenden Freitag wieder zugelassen wird. Mr. Jardim, Sie können ein paar Nächte lang in der Zelle über Ihr heutiges Benehmen nachdenken. Ich behalte mir ein Urteil in der Sache vor, und lehne, um auch das nicht zu vergessen, Ihren auf Fehleinschätzungen beruhenden Antrag auf Vertagung des Verfahrens ab. Bringen Sie ihn jetzt bitte nach draußen.

MR. JARDIM: Arschloch.

GERICHTSDIENER: DAS VERFAHREN WIRD BIS ZU EINEM NOCH FESTZULEGENDEN ZEITPUNKT AUSGESETZT. GOTT SCHÜTZE DIE KÖNIGIN.

Barry Egan wusste, mit einem dampfenden Dim Sim umzugehen: die warme weiße Papiertüte zwischen den Beinen, die kalte Dose Pasito neben die Handbremse geklemmt. Es dämmerte schon, als er Richtung Antonia Beach fuhr. Nach einigen stürmischen Tagen wirkte der Ozean geradezu erschöpft. Während er den Schotterweg zur Klippe hinaufsteuerte, breitete sich um ihn herum die Nacht aus. Aus Erfahrung wusste er, dass er die Aussicht dort oben mehr fühlen als wirklich sehen würde.

Er lenkte den Pick-up auf den Parkplatz und hielt mit der Stoßstange dicht vor dem Holzzaun am Rand der Klippe. Drehte mit seinen Wurstfingern am Senderknopf des Radios, bis er 3PF fand – Hits on the Westcoast – und schaltete den Motor aus.

Dienstagabend am Antonia Beach. Das Quiz kam um acht und kurz davor der »Rätselhafte Klang«. Diesmal handelte es sich um einen merkwürdigen hohlen Schlag, der ihn völlig ratlos machte. Bis ein alter Knacker von irgendwo an der Küste anrief und die korrekte Lösung parat hatte: das Klopfen mit dem Henkel einer Cappuccino-Tasse gegen einen Mülleimer.

Barry war kein großer Kaffeekenner und hielt das für eine echte Wichserfrage. Also nichts für ihn. Er war ein einfacher Mann und erzählte das den Leuten auch gern. Aber über ein paar Dinge wusste er ganz gut Bescheid, Dinge, die sofort ein Licht in seiner Birne angehen ließen. Autos und Alltägliches. Alltägliches und Autos. Alltägliches über Autos.

Die meiste Zeit während seiner sechsundfünfzig Lebensjahre hatte Barry Autoteile verkauft und Informationen gesammelt – vor allem läppische Tatsachen, die andere nicht für würdig hielten, sie in ihr Gedankengebäude aufzunehmen, dessen vernagelte Fassade sie eifrig pflegten. Sein Hirnkasten war eher so was wie eine Zweizimmer-Hütte aus Zementplatten und rostigen Eisenteilen, und in Lou Mantellos Quiz auf 3PF ging es meist um seine Lieblingsthemen: Naturkatastrophen, Torschuss-Rekorde, feige Politiker, Songtexte von den Bee Gees.

Er hatte keine Lust, da anzurufen, um Gottes willen. Das hatte er einmal getan, an dem Abend, als er die Sendung zum ersten Mal gehört hatte. Ihm war das Blut in den Kopf gestiegen, als eine Football-Frage gestellt wurde und er hatte sich als Keith aus Newport ausgegeben. »Wayne C-C-Carey, Lou.« Alle hier an der Küste wussten, dass Barry Egan zu stottern anfing, wenn er unter Druck stand. Er musste sich noch tagelang anhören, wie hinter seinem Rücken gekichert wurde.

Er schlang einen Dimmy runter und leckte sich die Sojasauce von den Fingern, während Lou nach der Hauptstadt von Peru fragte. »Luuuma …«, Spritzer von Kohl und Schweinefleisch landeten auf den Armaturen. Barrys Augen schweiften über die Leere hinter der Absperrung, als irgendein Idiot auf Sendung kam, nach der Lösung suchte und schließlich wagemutig hervorstieß: »Äh, San Pedro?«

»Lima, du Trottel.« Er genoss das kurze Gefühl, eine Autorität zu sein, war aber gleichzeitig verärgert.

»Tut mir leid, Kumpel. Kann mir schon denken, was du mit San Pedro hast.« Lou warf den glücklosen Anrufer aus der Leitung und nahm eine sehr kompetent klingende Frau aus Geelong in die Sendung, die gleich ins Schwarze traf.

»Mit welchem Schiff haben die Japaner den Hafen von Sydney angegriffen?«, drückte Lou jetzt auf die Tube. Anne aus Belmont zögerte. Barry nicht. Mini-U-Boot, Mini-U-Boot, Mini-U-Boot. Er konnte jetzt die Lichter der Entsalzungsanlage sehen und den schwach pulsierenden Lichtstrahl des Leuchtturms auf der anderen Seite der Bucht. Anne kam doch noch drauf. »War das nicht so eine Art U-Boot gewesen, Lou?« Und Lou, der nach Barrys Ansicht viel zu lax war, ließ es durchgehen.

Meine Güte. Barry nahm einen Schluck Pasito, als der letzte Dimmy sich ganz hinten in seiner Kehle noch einmal zu Wort meldete. Anne wurde jetzt richtig munter. »Ich mag deine Sendung, Lou«, sagte sie. »Ich hör jede Woche zu.«

Auch wenn sie nicht zu sehen war, wusste Barry sehr genau, wie die Landzunge zu seiner Rechten aussah mit den zerzausten Kanuka-Bäumen, dem nautischen Zeichen und den paar Norfolk-Tannen. Direkt vor der Spitze war eine Durchfahrt, wo Boote hinein- und hinausmanövrierten, sich in der Brandung hoben und senkten, während ihre Masten hektisch kreisend herumpendelten. Kaum hatten sie die Landzunge umrundet, kamen sie in ruhigeres Fahrwasser und ihre Bugwellen wurden schwächer. Bei Tageslicht konnte man von Barrys Standort aus beobachten, wie die Matrosen an Deck die Arbeitsflächen mit dem Schlauch abspritzten. Fangabfälle wurden durch die Seitenschlitze der Boote ins Meer geschwemmt.

In gerader Linie ungefähr einen Kilometer von ihm entfernt lagen draußen im Meer die Riffs, niedrige schwarze Ansammlungen von Geröll in einem teuflischen Muster angeordnet. Bei Flut waren sie nicht zu erkennen, manchmal selbst bei Ebbe nicht. Vom Strand aus konnte man sie nur sehen, wenn sich das Wasser sehr weit von der Stadt zurückzog. Dann lagen sie da, düster und tückisch, dunkle Haufen, um die sich verschlungene Priele gebildet hatten. Das Meer wogte ununterbrochen von rechts nach links über das Riff. Von West nach Ost. Es hatte mit der Strömung zu tun, die hier parallel zur Küste verlief, soweit Barry das verstand.

Wie viele Kardashian-Geschwister gibt es? Lou kicherte hinterhältig. »Drei Schwestern und ein Bruder«, gähnte Barry vor sich hin, als er den Rest des Pasito austrank.

Die Riffe wurden Gawleys Kitchen genannt, allerdings hatte Barry noch nie jemanden getroffen, der ihm den Grund dafür nennen konnte. Wenn die Wellen leise aus Südwesten heranrollten, machten sich die Surfer auf den Weg dorthin. Manche paddelten die ganze Strecke vom Fuß der Antonia-Klippen aus. Aber die meisten benutzten Tinnies oder Jet-Skis. An windstillen Tagen gehörten die Riffe und ihre Bewohner den Tauchern: feiste Langusten und glotzäugige Barsche erlegt mit einem Schuss durch die Kiemenreusen.

Im Norden und Osten der Gawleys, von Barry aus gesehen links, öffnete sich die Bucht wieder. Dort erstreckte sich eine weite sanfte Sichel bis hin zum Kap, das über dreißig Kilometer entfernt lag. Der Küstenbogen, der von der Stadt wegführte, verlief parallel zu der immerwährenden Strömung. Die Wellen wurden hier immer länger und gerader und bewegten sich unterhalb von Barrys Klippe als parallele Linien von rechts nach links. Bis sie am östlichen Ende der Bucht schließlich das Letzte, was von der mythischen Wut des Südlichen Ozeans übrig geblieben war, auf den Sandstrand schleuderten. Niemand ging dort hin. Für Spaziergänge mit dem Hund war die Strecke einfach zu weit. Auch Trail-Reiter mit ihren Pferden sah man dort unten nicht. Denn die Brandung türmte hohe Haufen von Seetang auf, die den Strand blockierten. Außer Motocross-Fanatikern und vereinzelten Fuchs-Jägern traf man niemanden. Barry selbst war auch einmal dort gewesen. Aber nur, weil er von Natur aus neugierig war.

»Okay, Darlene.« Lou hatte wieder eine neue Kandidatin auf Sendung. »Welches Gift war das noch mal, das Sokrates umgebracht hat?«

Killerfrage. Schierling? Oder Tollkirsche? Die Anrufer blieben auf der Strecke, als wären sie in einen Bombenhagel geraten. Arsen, Strychnin, Zyanid, ein Kiffer kam sogar auf Jokan-Pulver.

Irgendwas bei den Gawleys … irgendwas dort draußen in der Dunkelheit war nicht richtig dunkel. Barry machte den Fehler, noch einmal zum Leuchtturm hinüberzusehen, dann musste er blinzeln und hatte einen violetten Fleck im Sichtfeld, violett-violett-rosa-weiß-weg. Die Wasseroberfläche sah aus wie ein fleckiger Spiegel mit dunkelgrauen Striemen, dort wo sie von den Riffs durchbrochen wurde.

Schierling. Das klang so … altertümlich. Lorbeerkranz, Schierling, Toga … Er schaute an sich herab. Sojaspritzer auf dem Hemd, das war so was, worüber sich Deb gern lustig gemacht hatte. »Hast du auch was davon in den Mund bekommen, Liebling?«

Deb war lieb gewesen, träge und warmherzig. Und im letzten Frühling aus Barrys Leben verschwunden und mit ihr jede Ordnung und Häuslichkeit. Die Alkohol-Wegfahrsperre, die auf dem Armaturenbrett befestigt war, repräsentierte sozusagen seinen Verlust und seinen Schmerz, beides war immer noch da. In den Wochen nach ihrer Beerdigung hatte er sich regelmäßig mit Bier die Kante gegeben. Ein Humpen jagte den nächsten, wie er mitfühlenden Zeitgenossen gern erzählte. Ja, mir geht es gut, danke der Nachfrage. Mit zusammengekniffenen Augen, was fast wie ein Lächeln wirkte.

Man hatte ihn gewarnt, er solle nicht vom Pub nach Hause fahren. Hatte ihn beiseitegenommen, ihm gesagt, dass er damit aufhören müsste. Er hatte die Warnungen hingenommen, wie er auch die Beileidsbekundungen und die besorgten Blicke hingenommen hatte. Schließlich hatte der hiesige Bulle keine andere Wahl mehr gehabt, als ihn einzubuchten; die große Ironie dabei lag darin, dass ihm, nachdem er den Führerschein verloren hatte, auch die Lust am Trinken vergangen war. Als hätte das Laster seine Schuldigkeit getan, indem es ihn von der Straße geholt hatte, und wäre dann zu einem anderen armen Hund weitergegangen, um nun ihm auf die Schulter zu tippen.

Die Zeit ohne Führerschein hatte ihm keine Probleme bereitet, abgesehen von den Fahrten zum Antonia Beach. Die Alkohol-Wegfahrsperre allerdings empfand er als Angriff auf seinen Lebensstil. Das Ding schien sich genau die Momente auszusuchen, in denen es ihm gerade mal gut ging, und fing dann laut zu jaulen an, ließ die Hupe tuten und die Lichter blinken, weil es eine Atemprobe haben wollte. Es gab erst dann Ruhe, wenn er sich hinübergebeugt und es wie einen jammernden Säugling gestillt hatte. Anschließend brauchte er immer einige Minuten, bis er sich von dem Schock erholt hatte und den Motor wieder einschalten konnte.

Er suchte unter dem Fahrersitz nach dem Fernglas. Es dauerte eine Weile, bis er etwas sah und das Ziel in der Dunkelheit ausgemacht hatte. Zunächst konnte er nur einige dünne Linien in der Gischt am äußersten Rand der Gawleys erkennen, aber dann fand er das Ding, das seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Orange.

Auf den Riffs gab es keine Warnlichter – musste es auch nicht geben, denn sie waren deutlich genug zu sehen. Die Fischerboote hatten zwei Positionslichter, rot an Backbord, grün an Steuerbord, sonst nur weiß.

Aber das hier war orange und es bewegte sich. Mal größer, mal kleiner.

Bewegte es sich oder flackerte es? Es war irgendwie unregelmäßig, wurde größer und verging wieder, dann pulsierte es hell. Noch war es ein ganzes Stück weit draußen, hinter der entlegensten Uferlinie der Gawleys. Das Licht des Leuchtturms, ein kalter weißer Strahl, durchschnitt die Luft und erfasste das Ding kurz, dann noch einmal. Barry erkannte, dass er das Dollbord eines Boots vor sich hatte, die Seite mit der Kabine. Und dann kam ihm ganz folgerichtig der entscheidende Gedanke. Das Boot war nicht da, wo es sein sollte.

Er schaltete das Radio aus. Probierte es mit dem Fernlicht, aber das verlor sich irgendwo auf halber Distanz. Ein Fetzen Zeitungspapier klatschte gegen die Vorderseite seines Pick-ups, als hätte es einen Schreck bekommen. Barry sah ihm nach – der Wind kam jetzt wieder aus Südwesten, schleuderte heftige Böen durch die Stille und zog lange, kältere Luftströme hinter sich her. Die träge Stille des Abends war vorbei und der Wetterumschlag würde die Ordnung der Dinge wieder herstellen.

Er schaltete die Scheinwerfer aus und wartete geduldig, dass er etwas erkennen konnte. Dann beugte er sich vor. Kniff die Augen zusammen, bis er unterhalb der Augenbrauen einen leichten Schmerz verspürte, weil er das Fernglas so sehr dagegen drückte. Er knüllte die fettige Papiertüte zusammen und warf sie nach hinten auf die dunkle Ladefläche, wo der Hund zusammengerollt lag. Wenige Augenblicke später zeichneten sich die hellen und dunklen Umrisse deutlicher ab und ergaben nun einen Sinn. Er griff nach dem Telefon auf dem Beifahrersitz und tippte eine Nummer ein.

Charlie versuchte sich vorzustellen, wie sie unterwegs zu ihm war – es war ja nur eine kurze Fahrt mit der Tram von einem Ende der Collins Street zum anderen. Er malte sich aus, wie sie durch die Drehtür der Lobby rannte, um die 109 zu kriegen. Sie hasste es, zu spät zu kommen.

Er nahm sich eine Zeitung von dem Ständer neben der Tür, als der Kellner sich näherte. »Ich habe einen Tisch für zwei reserviert für Jardim.«

Am Tisch angekommen überflog er die Seite mit der Innenpolitik, war aber abgelenkt, da er immer wieder an Anna denken musste. Sie war sicher hochkonzentriert, bemüht, ruhig zu bleiben, und bereitete sich vor, während die Straßenbahn nach Westen fuhr. Sie würde sich einreden, dass es wichtig war, alles längerfristig zu betrachten, und es gute Gründe für das gab, was sie vorhatte. Gute Gründe zu haben, war für sie eine Grundtugend, dachte er, und genau der Punkt, an dem ihre Welten auseinanderdrifteten. Weil er gute Gründe verachtete, während sie großen Wert auf Vorausdenken und logische Zielsetzung legte.

Er vermutete, dass es nur wenige Frauen im Alter von achtundzwanzig Jahren gab, die sich mit ihrem Partner eine Wohnung teilten, einen Klunker am Finger trugen und, ohne zu zögern, alles hinschmissen. Anna hatte seine Wutausbrüche und Schweigeanfälle toleriert und vorsichtig versucht, einen Wandel herbeizuführen; gelegentlich gab sie Kommentare ab über seinen Mangel an Verständnis, seine Unnahbarkeit. Vor sich selbst konnte er das alles zugeben, sagte aber nichts, weil er störrisch war. Was zu der heutigen Verabredung geführt hatte.

Die Zeitung mit ihren abgedroschenen Phrasen regte ihn jetzt auf. Er starrte die Buchstaben an, ohne sie zu lesen. Beobachtete die anderen Gäste an den Nebentischen, Männer mit ihren Freundinnen oder Ehefrauen. Verglich ihre Gesten, manche wurden absichtlich gemacht, andere eher unbewusst: die Hand auf einer Schulter oder eine Körperdrehung, die ungeteilte Aufmerksamkeit signalisieren sollte. All das fehlte bei ihm und Anna, das wusste er. Die zunehmende Last der vielen missglückten Gesten hatte nach und nach zu der Entscheidung geführt. Das Urteil stand fest, sie kam nur, um es zu verkünden.

Er faltete die Zeitung zusammen und schob sie beiseite. Am Ende der Straße verblasste das restliche Tageslicht über den Apartmentgebäuden der Docklands. Draußen warf die Leuchtreklame von Renfrey gelbes Licht auf das Kopfsteinpflaster.

Die Tür schwang mit einem leisen Klingeln auf und sie stand vor ihm, leicht gehetzt, wie er es erwartet hatte. Sie lächelte kurz, bevor ihr Blick auf sein Weinglas fiel. Die Art, wie er es hielt, den Stiel zwischen Mittel- und Ringfinger geklemmt, war eines der ersten Dinge gewesen, die ihr an ihm auf die Nerven gegangen waren. Schon damals, als die Glut der Begierde noch über allem lag, war das eine kleine Dissonanz gewesen. Sie hatte es auf Dinner-Partys zum Thema gemacht, halb ironisch.

Als er aufstand und sich zu ihr beugte, drehte sie sich leicht zur Seite, um sicherzugehen, dass sein Kuss auf ihrer Wange landete. Das war so ihre Art, durch etliche kleine Zeichen vermied sie, dass etwas ausgesprochen werden musste – damit hatte es angefangen. Er griff nach der Speisekarte und versteckte sich dahinter, weil er vorausgesehen hatte, dass sie ihn über den oberen Rand hinweg anschauen würde. Direkten Augenkontakt hatte er noch nie gemocht, egal bei wem, und er erinnerte sich, wie es ihn überrascht hatte, dass er sich während der ersten Wochen ihrer Bekanntschaft tief in ihre Augen versenken konnte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Für sie war so etwas normal gewesen. Wer zusammen Sex hatte, gab sich logischerweise auch anderen Intimitäten hin. Einmal hatte sie gesagt, sie könnte das verlorene Kind sehen, das in ihm steckte.

Sentimentaler Quatsch. Seit sie das mit seinem kleinen Bruder herausgefunden hatte, kam es Charlie so vor, als hätte sie beschlossen, ihn auf dieses Thema festzunageln. Sie kam ihm in den seltsamsten Momenten damit – nach längerem Schweigen im Auto, nachts im Dunkeln im Bett. Vermisste er ihn? Hatte er damals viel geweint? Besuchte er manchmal sein Grab? Es gab durchaus Tage, an denen er tatsächlich darüber sprechen wollte. Aber sie deckten sich nie mit dem Zeitpunkt, den sie für ihre Fragen wählte.

Sie legte die Hände flach auf den Tisch.

»Also …« Sie suchte nach einem Anfang. »Das ist jetzt also das Gespräch, das wir dringend führen müssen.«

»Du meinst das Trennungsgespräch?« Viel zu schnell. Das war ihm so rausgerutscht wie eine Bemerkung dazu, dass er den Lachs nehmen würde. »Ist es wegen Alex Reimers?«, fragte er halb ernst, halb amüsiert.

»Nein, es ist nicht wegen Alex Reimers, Charlie. Es ist wegen dir.« Ihr Tonfall signalisierte, dass sie verletzt war, sich vielleicht sogar ein wenig schuldig fühlte, tief im Innersten. Alex Reimers, der arrogante Drecksack, war ihr während der Weihnachtsfeier im Büro ganz schön auf die Pelle gerückt. Aber soweit er wusste, war sie nicht zu weit gegangen.

»Du wirst ja rot.«

»Ich werde rot, weil ich wütend bin. Du weißt ganz genau, wie ich es hasse, ins Kreuzverhör genommen zu werden. Es geht um dich, Charlie. Dich. Ich werde bestimmt nicht zulassen, dass du alles auf mich schiebst, denn nicht ich bin schuld. Ich habe es immer wieder versucht. Ich habe mir deine ständigen Klagen darüber angehört, dass alle Leute dich enttäuschen …«

Sie schaute sich verstohlen um, weil sie bemerkt hatte, dass sie laut geworden war. Dann sprach sie mit gesenkter Stimme weiter. »Niemand kann die Erwartungen erfüllen, die du in andere setzt. Man kann dich nur enttäuschen. Bestimmt glaubst du, ich hätte dich im Stich gelassen, aber das ist nicht wahr. Ich habe immer zu dir gehalten und dich ermutigt und ich, ich … Ach, Scheiße, Charlie. Ich kann einfach nicht mehr.«

Er fuhr mit dem Zeigefinger über das Muster auf der Tischdecke. Diese Show hier werden wir nicht mal bis zur Vorspeise durchhalten, dachte er. Was ihre Aussage über seine Erwartungen betraf, so lag sie allerdings verdammt richtig.

»Das stimmt nicht«, erwiderte er trotzdem. »Diesen ganzen Mist hast du dir nur ausgedacht, um einen Grund zu haben. Wenn du nicht sechs Tage in der Woche arbeiten würdest, wenn wir ein gemeinsames Leben hätten, dann wäre es vielleicht nicht so schwer. Was zum Teufel willst du eigentlich mit deinem Leben anfangen?«

»Was meinst du damit?«

»Was ich damit meine? Möchtest du eine Beziehung eingehen, damit du sieben Tage die Woche arbeiten kannst? Willst du achthundert Riesen im Jahr verdienen, damit du eine Familie haben kannst, die dich nie zu Gesicht bekommt?«

»Jetzt übertreib mal nicht. So was nennt man, sich eine Zukunft aufbauen, Charlie. Du hast anscheinend nicht die Geduld dafür.«

»Was für eine Zukunft soll das denn sein?« Charlie schrie es beinahe vor Empörung, war sich der Lautstärke aber gar nicht bewusst. Sie sah sich erneut um und überprüfte, ob sie inzwischen die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich gezogen hatten. »Es geht um mich und dich! Es gibt keine Kinder, auch fast keine Eltern, nicht mal eine beschissene Katze. Wenn du nicht mal jetzt an dich denkst, Annie-Baby, wann willst du es denn dann tun? Du bist besessen davon, dein Leben zu verbuddeln, bloß weil’s ein bisschen regnet. Meine Güte.« Er vergrub das Gesicht in den Händen und spürte seine Stirnlocke zwischen den Fingern.

Jetzt sollte sie eigentlich gemerkt haben, dass ihm der bevorstehende Verlust naheging. Der einzige Tiefschlag, den er gelandet hatte, einen ziemlich feigen noch dazu, war, sie Annie-Baby zu nennen.

Er lehnte sich zurück und ließ seinen Finger wieder über das Tischtuch gleiten.

»Richtig vermasselt habe ich es mit dieser Lefcovics-Sache, stimmt’s? Ist ziemlich unangenehm, mit einem Anwalt zusammen zu sein, dem ein Disziplinarverfahren bevorsteht, was? Jede Wette, dass die Nachricht schon in den großen Firmen die Runde macht …«

»Du überschätzt deine eigene Bedeutung, Charlie. Ich glaube nicht, dass irgendjemand im Büro die Sache mir gegenüber überhaupt erwähnt hat.« Das war gelogen, das wussten sie beide. Die E-Mail war ziemlich schnell rumgegangen, noch bevor einer der Kollegen einschreiten konnte, die von ihrer Beziehung mit »dem Anwalt mit dem Hirnschaden« wussten.

»Wenn du mich fragst, könnte das ein Symptom der eigentlichen Problematik sein, aber nicht das Problem selbst. Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, wenn du diesem alten Esel gegenüberstehst, dann hat das was mit deiner persönlichen Verfassung zu tun. Und die ist nicht gut, Charlie. Wirklich.«

»Der Scheißkerl wusste genau, worauf es hinausläuft.« Er seufzte hörbar und hielt nach dem Kellner Ausschau. »Was ist mit der Wohnung?«

»Ich hab nachgefragt. Wir können kündigen, aber vielleicht willst du ja dort wohnen bleiben. Das ist deine Entscheidung. Ich kann eine Weile bei meinem Vater unterkommen, falls das einfacher sein sollte.«

»Und die Einrichtung? Du hast eine Menge Möbel gekauft.«

»Die sind auf Kredit gekauft. Das musst du doch wissen. Ich zahle sie ab, von unserem gemeinsamen Konto. Du kannst sie genau wie die Wohnung behalten, wenn du die Zahlungen übernimmst. Du darfst nur nicht länger als zwei Jahre abzahlen, sonst wollen Sie doch noch die Zinsen haben.« Charlie fühlte sich plötzlich erniedrigt, weil sie ihm erklärte, was er zu tun hätte.

»Was ist mit dem Ring?« Er war regelrecht angewidert.

Sie streckte die linke Hand aus und drehte an dem vermaledeiten Ding herum, bis der Smaragd an der richtigen Stelle saß. Zuerst antwortete sie nicht, und er sah, wie ihr Tränen in die Augen traten. Er machte rücksichtslos weiter.

»Eine Sache habe ich gelernt«, sagte er, und es war das erste Mal, dass er aufrichtig klang. »Man kann nicht verletzt werden, wenn man sich nicht hingibt, Annie. Das meine ich nicht persönlich, es ist einfach die Wahrheit. Ich habe Harry vergöttert. Ich habe sogar die Luft vergöttert, die er atmete. Ich habe das ganze Zeug vergöttert, das auf dem Tisch neben seinem Bett stand, einfach nur, weil es ihm gehörte. Unsere Eltern haben ihn auch angehimmelt. Alle haben das getan. Und als er wegging, war es, als wäre die Sonne erloschen.«

Für lange Zeit brach Schweigen zwischen ihnen aus.

»Und dann haben sie sich gegenseitig zerfleischt, die liebe Mum und der liebe Dad. Haben sich fertiggemacht, bis sie nicht mal mehr im selben Raum miteinander sein konnten. Das ist die Grundlage jeder Tragödie: Es gibt einen, der sich hingegeben hat. Eltern, Liebhaber, Kind, ganz egal wer. Liebe ist die Wurzel allen Übels, ein beschissener wackeliger Drahtseilakt, und je mehr man davon abkriegt, umso schwieriger wird es, wieder runterzukommen.«

Sie presste die Lippen zusammen, Tränen schossen ihr in die Augen. »Wegen des Rings spreche ich mit dem Juwelier.« Sie lächelte ihn schwach an. »Keine Ahnung, ob die so was wie eine Überdenkungsfrist haben.«

Dann brach sie in Tränen aus.

Als Barry Egan am Fischereihafen ankam, hatten sich bereits eine Menge Schaulustige zusammengefunden. Der Südwestwind hatte an Stärke zugenommen und beugte die Bäume, bis sie stöhnten. Die Leute standen mit Wollmützen und dicken Jacken bekleidet im Regen. Die meisten waren aus dem Pub gekommen, unterhielten sich und deuteten in die gleiche Richtung. Auf dem Boot der Lanegans ist Feuer ausgebrochen und einer von den Jungs ist verbrannt.

Die Schaulustigen hatten ihre Autos kreuz und quer auf dem Parkplatz abgestellt, weil sie es so eilig hatten, zum Schauplatz des Geschehens vorzudringen. Manche hatten sogar die Fahrertür offen gelassen. Scheinwerferlicht drang durch den Regen und beleuchtete die Menge.

Barry schlenderte zu ihnen, nickte und grüßte hier und da, die Hände tief in den Taschen vergraben. Auf der betonierten Kaimauer hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Am Rand des Kais stand ein junger Polizist, einen Fuß auf einem Poller, um den ein Tau geschlungen war. Das Tau gehörte zur Caravel, dem Haifischfänger der Lanegans. Der Bulle telefonierte und ignorierte die unruhige Menschenmenge. Er schien sich nicht sehr darüber zu wundern, dass ein erfahrener Fischer in Sichtweite zum Hafen auf dem eigenen Boot verbrannt war, und auch nicht darüber, dass er ohne Crew rausgefahren war. Es war eigentlich kein schlechter Abend, dachte Barry. Bloß halt kein Abend, an dem man ganz allein zum Fischen rausfuhr. Er atmete tief durch und streckte sich. Im Duft, der von den regennassen Nadelbäumen ausging, hing noch etwas anderes, scharf und beißend. Verbranntes Plastik, Holz und noch etwas.

Die Caravel stieß sanft gegen die Kaimauer, als die Männer über das Deck liefen. Ihre hölzernen Aufbauten waren schwarz verbrannt und sahen aus wie Holzkohle. Die Planken waren zerborsten, manche vollständig durchgebrannt. Barry fand es eigenartig, dass der Brand offenbar am Dollbord ausgebrochen war und nicht in der Nähe des Motors. Von dort aus hatte sich das Feuer in die Kabinenwand gefressen und war weiter zum Dach gewandert, über das Deck und durch die ganze Ausrüstung. Die Plastikabdeckungen waren zu bizarren Stalaktiten verschmort. Im Rumpf gab es große Löcher, die aussahen, als wären sie ausgestanzt worden. In der Mitte des verkohlten Bereichs rauchten die Planken immer noch ein bisschen.

Zwischen den beiden Männern an Deck lag ein Toter. Die Leiche war mit einer Jeans bekleidet. Eins der Hosenbeine war bis zur Hüfte verbrannt, das andere nur bis zur Mitte des Oberschenkels. Die Beine waren schwarz, die Socken an den Knöcheln verkohlt und an den Füßen komplett weggebrannt. Es waren Überreste von verschmorten Zehen zu erkennen. Der Oberkörper war größtenteils unversehrt. Barry konnte genug von dem Gesicht der Leiche sehen, um den jungen Mags zu identifizieren, den grobschlächtigen ältesten Sohn des verstorbenen Ehepaars Dennis und Trish Lanegan. So kann’s gehen, dachte er. Er hatte immer geglaubt, dass es den jüngeren Bruder mal treffen würde, den labilen Patrick, dem er eher ein solch grausiges Ende im Regen zugetraut hätte.

Eine dicke, schwarz glänzende Blutlache hatte sich unter dem rechten Ohr der Leiche gebildet. Sie dehnte sich zu einem breiten blutigen Streifen aus, als die Männer die Leiche zu einer blauen Plane zerrten. Bei diesem Anblick erhob sich ein Gemurmel in der Menge. Die Stimmen wurden lauter und übertönten den Regen, als der tote Körper unter der Plane verschwand. Allen Anwesenden war klar, dass es sich hier nicht um irgendeinen Unfall auf See handelte.

Einige Männer aus der Menge wurden gebeten mitzuhelfen, den Toten über den Bootsrand auf den Kai zu heben. Ein kleiner Mann in einem schweren Wollpullover versuchte, den Arm der Leiche runterzudrücken und wich ängstlich zurück, als dieser Widerstand leistete. Barry nahm die Leute genauer in Augenschein: Laurie vom Sportgeschäft und seine Frau Sue waren da, die beiden gönnten sich ab und an einen Drink vor dem Abendessen, gehörten aber nie zu denen, die bis tief in die Nacht zechten; vier oder fünf Betrunkene aus dem Normans Woe, die das ständig taten; ein paar Feriengäste in raschelnden Gore-Tex-Klamotten, von denen einer sein Handy auf die Plane richtete, bis der Mann im Wollpullover ihn anschnauzte; zwei Kids auf BMX-Rädern. Und Mick McVean. Mistkerl, dachte Barry. Keine Freunde, keine Manieren und abgesehen davon, kein Interesse an irgendwas. Er war ein Einzelgänger, der wenig redete, ständig arbeitslos war und immer misstrauisch wirkte. Seine einzige reguläre Beschäftigung waren Botengänge für die Murchisons; abends hockte er auf einem Barhocker im Normans Woe, starrte die Frauen an und trank ein Bier nach dem anderen. Er war groß und stämmig und hätte von der Statur her schon sechzig sein können: runde Schultern und Hängebacken, schütteres Haar mit tiefen Geheimratsecken und einem Haarbüschel auf der Stirn; fetter Hängebauch über dem Gürtel der Jeans.

Während Barry ihn musterte, warf McVean einen letzten Blick auf die Plane und ging auf seinem Smartphone tippend davon. Er sah niemanden an, während er sich den Weg durch die Menge am Kai bahnte. Anstatt aber zum Parkplatz zurückzukehren, steuerte er den Landungssteg an. Unterdessen wurde die Leiche auf die Ladefläche des Streifenwagens gepackt. Aus Kostengründen waren in dieser Gegend die Krankenwagen den Lebenden vorbehalten, Betrunkene und Verstorbene mussten mit dem Transporter der Cops vorliebnehmen. Die Türen knallten zu. Nur wenige Schaulustige blieben noch auf dem Kai, um weiterhin das Boot anzustarren, als der Transporter vorsichtig durch die Menge rollte und sich das rote und blaue Blinklicht sehr hübsch in den fallenden Regentropfen brach.

Barry saß auf einem Haufen Hummerkörbe und beobachtete McVean, der direkt zur Open Quest, dem Boot der Murchisons, gegangen war. Es interessierte ihn, was die Leute so trieben, und soweit er das einschätzen konnte, hatte McVean um diese Zeit dort eigentlich nichts zu suchen. Der große Kerl betrat das Deck der Open Quest, das wesentlich höher und breiter war als das der Caravel. Das Schiff hob und senkte sich unter seinem Gewicht. Eins der Taue klatschte auf die Wasseroberfläche. McVean suchte etwas. Er hob den Lukendeckel an und tastete die herumliegenden Netze ab. Hier und da blieb er stehen, um Kübel mit Ausrüstungsgegenständen zu durchsuchen oder mit seinen groben Händen unwirsch herumliegende Deckel beiseitezuschieben.

Schließlich kletterte er schwerfällig die Leiter aufs Dach des Ruderhauses hoch und stieg über einen schwarzen Kunststoff-Scheinwerfer, der auf eine Konsole montiert war. Er schob eine Eisenstange darunter und versuchte, das Ding abzustemmen. Als ihm dies gelungen war, trampelte er wieder nach unten und ging den schmalen Gang am Ruderhaus vorbei Richtung Bug. Bei einem blauen Plastikfass, das an der Wand des Ruderhauses befestigt war, blieb er stehen, legte den Scheinwerfer auf den Boden und schraubte den Deckel auf. Dann spähte er hinein. Barry war so gebannt, dass ihm kurz der Atem stockte.

Kurz danach schraubte McVean den Deckel wieder auf das Fass und verharrte daneben. Einen Moment lang hielt er sich an einem Haken fest, der aus der benachbarten Wand ragte. Er schien nachzudenken. Schließlich holte er mit dem Fuß aus und trat mit voller Kraft gegen die Stahlwand der Kabine. Er warf die Arme in die Höhe, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und legte die Hände in die Hüften. Ein zweiter Stiefeltritt galt dem Scheinwerfer, den er mit lautem Scheppern über das Deck kickte. Dann schaute er zum Parkplatz und entdeckte Barry.

»Was glotzt du denn da, Arschloch?«, brüllte er über die dreißig Meter hinweg, die sie voneinander trennten. Seine Stimme wurde vom Wind getragen.

Barry sprang von den Hummerkörben auf und lief, ohne etwas zu entgegnen, zum Parkplatz zurück. Die Kaimauer im Rücken, horchte er ängstlich, ob das Geräusch von McVeans schweren Stiefeln sich näherte.

Wieder trug ihm der Wind die Worte zu, die wie beiläufig gesprochen wurden: »Gut so, Egan, lauf einfach weiter, du Scheißkerl.« McVean folgte ihm mit großen Schritten über die Planken des Stegs und die Betonmauer, während Barry zu seinem Pick-up hastete.

Er schob sich auf das abgewetzte Vinyl des Fahrersitzes, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um, während er aufs Gaspedal drückte. Nichts. Automatik auf P? Ja. Er schaute hoch. McVean wurde immer schneller, sein Mund stand leicht offen, er atmete schwer. Barrys Hände glitten über das Armaturenbrett. Was? Was?

Die verfluchte Wegfahrsperre!

Er grabschte nach dem Handset und atmete panisch hinein. Warum hatte denn kein anderer McVean beobachtet? Scheiße, Scheiße, Scheiße. Nach einer langen und quälenden Stille leuchtete das Display der Sperre auf und die Zündung ging an. McVean hatte ihn erreicht. Er hob eine Faust und schlug mit voller Kraft auf die Kühlerhaube, sodass es laut dröhnte. Durch die schmutzige Windschutzscheibe starrte er Barry an. Dieser hörte voller Erleichterung, wie der kleine Pick-up zum Leben erweckt wurde, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr davon.

Charlie Jardim stapfte durch die Straßen von Melbourne. Seine schwere Ledertasche hing so tief, dass sie beinahe die Pfützen streifte. Die Hitze des späten Februars war von einer Kaltfront verscheucht worden, die Regenschauer brachte und den Staub und Dreck der Stadt in die Kanalisation spülte. Er hielt kurz an, um einen Kaffee zu kaufen und blickte über die Lonsdale Street auf die lange Schlange von Gefangenentransportern am Straßenrand, die die Angeklagten ins Gericht brachten.

Im Aufzug hing noch immer die kalte Morgenluft, als er gedankenverloren in den achten Stock hinauffuhr. Er ignorierte das Schwarze Brett an der gegenüberliegenden Seite der Kabine. Wenn er hingeschaut hätte, wären ihm die Nachrufe auf zwei seiner Kollegen ins Auge gefallen. Männer mit grauen Haaren und einer langen Geschichte von Siegen und Niederlagen, deren Herzen beziehungsweise Lebern angewidert ihren Dienst aufgegeben hatten.

Charlie hatte zwei Wochen am Rand des beruflichen Ruins gelebt. Zwei Nächte in einer Arrestzelle waren kein Problem. Tatsächlich waren die vorbeikommenden Cops ihm auf verschiedene Arten behilflich gewesen oder hatten sich köstlich amüsiert. Sein greisenhafter Vorgesetzter, Richter Maurice Lefcovics, hatte ihn eingebuchtet, aber ohne viel Begeisterung. Charlie hatte sogar den Eindruck gehabt, dass Lefcovics ihn etwas bedauerte, als er wie ein armer Sünder vor ihm stand. Beim Verlassen des Gerichtssaals war Charlie um 2500 Dollar ärmer.

Erst nach der Anhörung wurde ihm klar, dass es diesmal eng werden würde. Die Aufsichtsbehörde teilte ihm schriftlich mit, dass er einer Vorladung wegen standeswidrigen Verhaltens Folge leisten musste. Ein Brief von der Staatsanwaltschaft informierte ihn über seine Suspendierung von allen anwaltlichen Tätigkeiten vor Gericht. Und seine Berufshaftpflichtversicherung verlangte eine Stellungnahme bezüglich des Vorfalls bei Lefcovics. Charlie war so müde, dass er all dem mit einer gefährlichen Gleichgültigkeit begegnete. Einerseits hätte er gern einen Riesenskandal verursacht, andererseits war er einfach nur apathisch. Vielleicht lag es daran, dass er etwas über sich herausgefunden hatte: Er hegte eine ziemlich kleinliche Wut und war unfähig, Berufliches von Privatem zu trennen. Der ganze Ärger und die überall herrschende Scheinheiligkeit hörten einfach nie auf, und Charlie wurde immer deutlicher bewusst, dass er als Anwalt nicht überleben würde. Er konnte sich einfach nicht beherrschen. Meine Güte, eines Tages würde er noch die Zähne zusammenbeißen müssen, um nicht loszuheulen.

Und dann war da auch noch Anna.

Noch so eine aus dem Ei gepellte Juristin, eine Schmarotzerin, hatte er gedacht. Bis sie ihn mit ihrem Esprit und ihrer sanften Ironie angenehm überrascht hatte, sogar immer noch überraschte. Anna, die ihn mit Liebe und Anerkennung überschüttete und bewirkte, dass er allen selbstzerstörerischen Anwandlungen, sie zurückzustoßen, widerstehen konnte. Die ihm zugehört und geantwortet hatte, wenn er seine Wut- oder Angstanfälle bekam.

Sie war einfach perfekt, ja, das war sie. Und in Bezug auf ihre Karriere zielstrebig und geduldig. Im Gegensatz zu ihm kämpfte sie nicht vehement gegen die langsamen Mühlen der untersten Gerichte. Verhandlungen an den Magistrates’ Courts von Broadmeadows, Heidelberg und Melbourne – Wochenenden mit Kaffee zum Wachwerden und Alkohol zum Runterkommen, Zeitunglesen und dann die Vorbereitung der Gerichtsunterlagen für Montag. Sonntagnachmittags ließ sie sich nie gehen, weil sie wusste, dass sie am nächsten Morgen die Straßenbahn nehmen musste, um dann wieder mit allem von vorne zu beginnen. Sie würde Monate, Jahre und den größten Teil ihres Lebens darauf verwenden und sich so dem nähern, was ein erfülltes Leben angeblich ausmachte.

Von sich konnte er das nicht behaupten. Beneidete er sie darum? War das der Grund für den Spott gewesen, der in ihm gärte und gelegentlich überschäumte? Er hatte es ihnen beiden gestern Abend ganz schön schwer gemacht; aber wie konnte man ein solches Gespräch schon einfach gestalten? Er sollte sie anrufen. Genau, aber was würde er sagen? War das der Grund, aus dem die Leute in solchen Fällen lieber eine SMS schickten?

Der Aufzug wurde langsamer. Er wandte sich wieder den beruflichen Angelegenheiten zu, dem Anruf, den er erhalten hatte, nachdem Anna gegangen war: eine Anklagevertretung von gewisser Bedeutung. Der Oberste Staatsanwalt hatte bis spät abends gearbeitet und den Antrag per Kurier erhalten. Anschließend hatte er kurz über Charlies Situation nachgedacht und zum Telefonhörer gegriffen. Charlie fragte sich, ob dieser Fall womöglich alles änderte. Würden nun die Fahrten im Aufzug, der ewige Kaffee, dieses latente Würgen im Hals, die Straßenbahn und das ganze Scheißspiel aus seinem Leben verschwinden wie die Pappmaschee-Kulisse eines Theaters und etwas enthüllen, das diese sinnlosen Rituale seiner Arbeitswoche beendete?

Zuerst hatte er vermutet, es müsse sich um einen Job als Verteidiger handeln: Aber es erschien ihm mehr als unwahrscheinlich, dass die Staatsanwaltschaft ihm irgendwas von Bedeutung zuschanzen würde. Man hatte ihm ja gerade erst schriftlich mitgeteilt, sein Erscheinen auf dem Gericht sei unerwünscht. Er gehörte nicht zu der Kaste der Verteidiger mit ihrer ritualisierten Sprache und ihrer Doppelmoral bezüglich des Drogenkonsums. Niemand, den er kannte, würde ihm eine Verteidigung in einem Mordfall zutrauen.

Na gut, dann ging es vielleicht doch um eine Anklagevertretung. Das Vorstrafenregister in einem Mordfall zusammenzustellen, konnte Monate in Anspruch nehmen und ihn von den nervigen Wortgefechten beim Schiedsgericht erlösen. Staatlich garantiertes Honorar ohne lästiges Hickhack bezüglich der Gebührenordnung.

Ein solcher Auftrag mitten im kalten Winter seiner Suspendierung konnte eigentlich nur von Harlan kommen. Wenn Harlans Name auf dem Umschlag stand, dann wusste Charlie, was er zu erwarten hatte. Er würde Hunderte von Kilometern fahren, um dem alten Mistkerl zuzuarbeiten, der sich dann als vermeintliches Genie feiern lassen würde. Korrekte Arbeitsteilung, dachte er.

Der Aufzug entließ ihn zusammen mit einem Schwall Straßenluft in den achten Stock. Er schlenderte durchs Foyer auf die Tür zu, die seinen Namen trug. Drinnen schmiss er den Mantel auf den einen, die Tasche auf den anderen Stuhl und warf einen Blick auf den Aktenwagen in der hinteren Ecke des Zimmers. Alle sonstigen Objekte in seinem Büro – Anna konnte es nicht leiden, wenn er sein Zimmer »Kammer« nannte – kannte er in- und auswendig: die Aktenschränke, die externe Festplatte, die Gesetzestexte, die Reihe mit den gerahmten Urkunden.

Der Aktenwagen mit den zahlreichen Mappen stand lauernd da wie ein Eindringling. Er hatte keine Ahnung, was in den Ordnern steckte, aber er konnte die beiden aufgedruckten Namen lesen: Murchison. McVean. Die Königin vs. Murchison und McVean – Mord.

Die Ringbücher wurden vom weißen Band der Anklage zusammengehalten, auf dem ersten stand Harlans Name, er war der zuständige Vertreter der Staatsanwaltschaft. Also hatte er den Daumen drauf. Auf dem Register prangte der sechseckige Stern der Polizeibehörde von Victoria. Die Zeugenliste enthielt ein Dutzend unbekannter Namen, gefolgt von einigen, die er kannte – Ermittler, Wissenschaftler, der Fotograf.

Charlie ließ den Daumen über den Rand der Fotomappe gleiten, die in das Königsblau der Spurensicherung geschlagen war. Totale vom Tatort, Rückseite eines Fibro-Hauses, ein Boot. Noch ein Boot, das abgebrannt war. Plastikwannen auf saftigem, grünem Gras, so sah es hier in Melbourne nicht aus, das war eher wie in, hm, Irland? Etwas Schleimiges, ordentlich in Reihen angeordnet auf einem weißen Plastiktablett – Muschelfleisch? Ein Entsorgungsbehälter. Eine Aufnahme vom Innern dieses Behälters, eine Art elektronisches Instrument mit einem leeren Bildschirm, darüber das Wort Navmaster. Eine Einstiegsöffnung in einer Zimmerdecke, Isolierplatten, ein schwarzes Objekt, das teilweise verdeckt darunter lag. Charlie drehte die Broschüre ein wenig, um das Ding zu identifizieren. Abfalleimer waren die Schatzkisten der Spurensicherung. Weir hatte ihm mal gesagt, die Strafjustiz sei geradezu besessen von weggeworfenen Sachen. Zwei Hände, die Handflächen nach oben, viele Schnitte und Prellungen.