Über Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen betimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Bis Mitternacht oder vielmehr bis um ein Uhr morgens verlief der Abend wie jeder andere auch, ge- nauer gesagt wie an jedem Samstag, der sich von den anderen Tagen ein wenig unterschied.

Wer weiß, ob er diese Stunden nicht intensiver erlebt, sie in vollen Zügen genossen hätte, wenn eine Ahnung in ihm aufgestiegen wäre, dass es sein letzter glücklicher Abend sein würde? Auf diese Frage und auf viele andere würde er später einmal eine Antwort finden müssen. Es blieb auch noch zu klären, ob er denn je wirklich glücklich gewesen war.

Noch wusste er nichts von alledem, lebte einfach dahin, gemächlich und sorglos. Die Stunden glichen einander so sehr, dass er sie nicht bewusst wahrnahm und es ihm manchmal vorkam, als kehrten sie immer wieder.

Ganz selten schloss er seinen Laden Schlag sechs Uhr. Er ließ fast immer ein paar Minuten verstreichen, bevor er sich von seiner Werkbank erhob, wo an kleinen Haken die in Reparatur gegebenen Uhren hingen, und die mit schwarzem Hartgummi eingefasste Lupe abnahm, die er fast den ganzen Tag über wie ein Monokel in eine Augenhöhle klemmte. Nach all den Jahren war er das Gefühl noch immer nicht losgeworden, einen Chef über sich zu haben, der es ungern sah, wenn er allzu pünktlich die Arbeit niederlegte.

Dave Galloway brauchte einige Minuten, um die Uhren und Schmuckstücke aus dem Schaufenster zu entfernen und sie im Panzerschrank an der Rückwand seines Ladens zu verstauen. Er arbeitete mit den gezielten, bedächtigen Bewegungen eines Mannes, der es gewohnt ist, mit zerbrechlichen und kostbaren Gegenständen umzugehen.

Seine wertvollste Uhr kostete fast hundert Dollar, und er führte davon nur eine. Die anderen waren wesentlich günstiger. Alle seine Schmucksachen waren aus Doublégold gefertigt und mit synthetischen Steinen versehen. In der ersten Zeit hatte er versucht, Verlobungsringe mit echten, etwa halbkarätigen Diamanten zu veräußern, doch die Einwohner von Everton zogen es vor, solche Käufe in Poughkeepsie oder gar in New York zu tätigen, denn es wäre ihnen wohl peinlich gewesen, bei einem Mann aus dem Ort ihren Verlobungsring in Monatsraten abzustottern.

Den Inhalt der Registrierkasse brachte er im Panzerschrank unter, dann zog er seinen Leinenkittel aus, hängte ihn an den Haken hinter der Tür und vergewisserte sich mit einem letzten Blick, dass er nichts übersehen hatte.

Es war Mai. Die Sonne stand noch recht hoch am zartblauen Himmel, und den ganzen Tag über hatte sich kein Lüftchen geregt.

Noch an der Tür zündete sich Galloway eine Zigarette an. Er rauchte täglich etwa fünf oder sechs. Dann schritt er gemächlich um das langgestreckte Gebäude herum, in dessen Erdgeschoss eine ganze Reihe von Geschäften untergebracht war.

Seine Wohnung befand sich im ersten Stock genau über seinem Laden, doch es gab zwischen den beiden Etagen keine direkte Verbindung, sodass er nach dem Friseurgeschäft links abbiegen musste, um zum Hintereingang zu gelangen, durch den man die Appartements erreichte.

Wie fast jeden Samstag war sein Sohn am Nachmittag zu ihm in den Laden gekommen, um ihm zu sagen, dass er zum Abendessen nicht zu Hause sein würde. Er aß dann wohl irgendwo ein Hotdog oder ein Sandwich, höchstwahrscheinlich im ›Mack’s Lunch‹.

Galloway stieg die Treppe hinauf, schloss die Wohnungstür auf und öffnete gleich das Fenster, von dem aus er fast dieselbe Aussicht hatte wie von seiner Werkbank: auf die Bäume, das Reklameschild des Kinos, dessen Lichter im Sonnenschein grotesk, ja fast unheimlich anmuteten.

Es war ihm nicht mehr bewusst, dass er Tag für Tag dieselben Bewegungen in einer ganz bestimmten Reihenfolge ausführte. Diese Regelmäßigkeit mochte wohl der

Wenn er seine Mahlzeit allein einnahm, las er beim Essen, aber er registrierte sehr wohl das Zwitschern der Vögel in den Bäumen, das Brummen eines anspringenden Wagens, den er sogleich identifizierte. Von seinem Platz aus konnte er die jungen Kerle sehen, die bereits zum Kino schlenderten, aber erst in letzter Minute hineingehen würden.

Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken, spülte das Geschirr und sammelte die Brotkrumen auf. Alles folgte dem üblichen Ablauf, und kurz vor sieben Uhr befand er sich wieder draußen, wo er dem Automechaniker, der zusammen mit seiner Frau in Richtung Kino schritt, einen guten Abend wünschte.

In einiger Entfernung sah er eine Gruppe von Jugendlichen, aber Ben war nicht unter ihnen. Er versuchte gar nicht erst, ihm über den Weg zu laufen, denn er wusste zu gut, dass sein Sohn es nicht mochte, wenn der Vater den Anschein erweckte, ihn zu überwachen.

Von Überwachen konnte im Übrigen nicht die Rede sein, das wusste Ben ganz genau. Hie und da legte der Vater es zwar darauf an, ihn zu Gesicht zu bekommen, aber keineswegs, um ihn zu kontrollieren, sondern weil es

Das Gebäude, in dem er seinen Laden und seine Wohnung hatte, befand sich kurz vor der Kreuzung. Er bog in die Main Street ein, kam am Drugstore vorbei, der bis um neun Uhr geöffnet hatte, dann an der Post mit dem weißen Säulenportal und dem Zeitungskiosk. Es waren viele Autos unterwegs, die kaum ihr Tempo drosselten. Manche rasten wie auf einer Landstraße dahin, als hätten die Fahrer nicht wahrgenommen, dass sie durch eine kleine Ortschaft kamen.

Er schritt an der Tankstelle vorüber, die eine knappe Viertelmeile von seiner Wohnung entfernt war. Hier bog er rechts in ein von Bäumen gesäumtes Sträßchen ein. Die weißgetünchten Häuser waren von gepflegten Rasenflächen umgeben. Diese Straße war eine Sackgasse, sodass man hier nur die Autos der Anlieger sah. Alle Fenster standen offen, die Kinder spielten noch im Freien, Männer ohne Jacketts, mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, waren mit ihren Rasenmähern an der Arbeit.

Jedes Jahr brachte diese milden, ja fast schwülen Abende, an denen man überall das Surren der Rasenmäher hörte. Mit dem Herbst kamen dann das schnarrende Geräusch der Harken im trockenen Laub und der Geruch der Blätter, die man abends vor den Häusern verbrannte, und dann dauerte es nicht mehr allzu lange, bis das

Dann und wann grüßte ihn jemand, und er winkte oder grüßte zurück.

Auch die Dienstagabende verbrachte er außer Haus, denn an diesem Tag fand im Bürgermeisteramt die allwöchentliche Versammlung des schulischen Elternbeirats statt, als dessen Schriftführer er fungierte.

An den anderen Tagen, außer sonnabends, blieb er meist in seiner Wohnung, las oder sah fern.

An diesem Samstagabend begab er sich wie immer zu Musak, der ihn sicher schon in einem der beiden Schaukelstühle auf seiner Veranda erwartete.

Musaks Holzhaus, das sich von denen in der Nachbarschaft kaum unterschied, war das letzte in der Reihe. Es war direkt an den Hang gebaut, sodass der erste Stock der Vorderseite auf der Rückseite zum Erdgeschoss wurde. Im Unterschied zu den weißgetünchten Häusern ringsum hatte Musak das seine mit einer ockergelben Farbe angestrichen. Nach kaum fünfzig Metern begann vergammeltes Brachland, wo die Leute alles abstellten, was sie loswerden wollten, wie Gitterbetten, lädierte Kinderwagen oder zerbeulte Blechbehälter.

Von der Terrasse aus konnte man den Sportplatz der Gemeinde überblicken, wo an jedem Sommerabend die Baseballmannschaft trainierte.

Die beiden Männer verkehrten ohne jede Förmlichkeit miteinander. Galloway konnte sich nicht erinnern, Musak je die Hand gereicht zu haben, und dieser stieß bei seinem Eintreffen nur einen Grunzlaut aus und wies auf den zweiten Schaukelstuhl.

»Ein schöner Abend!«, hatte Galloway nur kurz bemerkt, nachdem er auf seinem Schaukelstuhl Platz genommen hatte.

Und ein wenig später hatte Musak gemurmelt:

»Wenn die nicht endlich ihren gottverdammten Pitcher auswechseln, sind wir am Ende der Saison auf der Rangliste wieder einmal ganz unten.«

Was immer Musak auch sagte, seine Stimme klang stets bärbeißig, und er lächelte fast nie. Dave Galloway konnte sich nicht daran erinnern, dass er je geschmunzelt hätte. Allerdings brach er dann und wann in ein dröhnendes Gelächter aus, das denjenigen, die ihn nicht kannten, einen Schrecken einjagen mochte.

Im Ort fürchtete sich keiner mehr vor Musak, da man sich inzwischen an ihn gewöhnt hatte. Anderswo lief er Gefahr, für einen der entflohenen Häftlinge gehalten zu werden, deren Fotos in Vorder- und Seitenansicht an den Wänden der Postämter unter der Aufschrift »Der FBI sucht« aushingen.

Galloway, der nicht einmal wusste, wie alt Musak war, hätte sich nie herausgenommen, ihn danach zu fragen. Ebenso wenig hatte er in Erfahrung zu bringen versucht, aus welchem europäischen Land er stammte. Ihm war nur bekannt, dass er als Kind zusammen mit seinen Eltern und fünf oder sechs Geschwistern an Bord eines

Offenbar war er verheiratet gewesen, denn er hatte eine Tochter irgendwo in Südkalifornien, die ihm von Zeit zu Zeit schrieb und Fotos von ihren Kindern schickte. Sie hatte ihn nie besucht, und auch er war nie zu ihr gefahren.

Ob Musak geschieden war oder gar verwitwet?

Eine Zeitlang hatte er in einer Klaviermanufaktur gearbeitet, mehr wusste Galloway nicht, aber bei seiner Übersiedlung nach Everton musste er etwas Geld gehabt haben, sonst hätte er sich kein Haus kaufen können.

Er schätzte ihn auf sechzig Jahre oder auch ein wenig darüber. Manche behaupteten, er sei schon über siebzig, was auch nicht ausgeschlossen war.

Er arbeitete von morgens bis abends in seiner Werkstatt, die sich auf der Rückseite des Hauses befand, auf derselben Höhe wie der erste Stock der Frontseite, sodass er von seinem Arbeitsplatz direkt in sein Schlafzimmer gelangte. Im Winter, wenn es auf der Veranda zu ungemütlich war, hielten sie sich oft in der Werkstatt auf. Musak beendete dann mit seinen riesengroßen Händen, denen man ihre Geschicklichkeit nie zugetraut hätte, immer irgendeine knifflige Arbeit. In der Mitte des Raumes, der vollgestellt war mit Werkbänken, thronte ein gusseiserner Ofen, auf dem Leim im Wasserbad erhitzt wurde, und der Fußboden war mit Hobelspänen übersät.

Die beiden Männer saßen oft lange beieinander, ohne ein Wort zu sprechen, und blickten zufrieden zu den herumrennenden Spielern hinüber, während die Sonne langsam hinter den Bäumen verschwand und die Luft allmählich dieselbe bläuliche Färbung annahm wie der Himmel.

Was für Dave Galloway die Winterabende in der Werkstatt kennzeichnete, das war der Geruch der Hobelspäne, der sich mit dem des Leims vermischte.

An den Sommerabenden, die sie auf der Terrasse zubrachten, dominierte der Geruch des Pfeifenrauchs. Musak, der unablässig paffte, bezog von irgendwoher eine seltene Tabakmischung, die einen streng herben und doch angenehmen Geruch verbreitete. Dieser vermengte sich mit dem Duft von frischgemähtem Gras aus den Gärten ringsherum. Der Tabakgeruch hing in Musaks Kleidung, schien seinem Körper selbst zu entströmen, und auch sein Wohnzimmer war damit gesättigt.

Was mochte nur diesen Mann mit den geschickten Händen, der alles, was er in Angriff nahm, mit peinlichster Genauigkeit zu Ende führte, bewogen haben, ausgerechnet seine Lieblingspfeife mit einem einfachen Draht zu reparieren? Bei jedem Zug drang ein wenig Luft durch den Riss, sodass ein merkwürdiger Pfeifton entstand, der an die mühsamen Atemzüge von Schwerkranken erinnerte.

»Gegen welche Mannschaft spielen sie morgen?«

»Von denen werden sie in die Pfanne gehauen.«

Jeden Sonntag fand ein Baseballspiel statt. Galloway begab sich dann zum Sportplatz und nahm in einer der Sitzreihen Platz, während der alte Musak sich damit begnügte, von seiner Veranda aus zuzuschauen. Er hatte erstaunlich scharfe Augen. Trotz der Entfernung erkannte er jeden Spieler, und am Sonntagabend hätte er alle Einwohner Evertons aufzählen können, die dem Spiel beigewohnt hatten.

Die Gestalten auf dem Gelände bewegten sich langsamer, die Stimmen klangen weniger schrill, und der Schiedsrichter pfiff immer seltener. In der Dämmerung ließ sich gerade noch der Ball unterscheiden. Es wurde allmählich kühl. Man gewann fast den Eindruck, dass die Luft, die sich bislang nicht geregt hatte, bei Anbruch der Nacht zum Leben erwachte.

Eine kaum merkliche Spannung zeigte an, dass die beiden Männer dem Augenblick entgegenfieberten, da sie endlich ins Haus traten, um wie jeden Samstagabend ihrer Spielleidenschaft zu frönen, aber als hätten sie sich abgesprochen, warteten sie das Signal ab. Keiner rührte sich von der Stelle, bis sich alle Sportler in ihren Trikots am Rande des Geländes versammelt hatten, um den kritischen Bemerkungen des Trainers zu lauschen.

Es war nunmehr beinahe stockdunkel. Aus den Nachbarhäusern dröhnten die Radios lauter, hinter manchen Fenstern flammten Lichter auf, andere blieben wegen des Fernsehens dunkel.

Erst in diesem Augenblick begegneten sich gewöhnlich ihre Blicke, und einer von ihnen schien zu sagen:

Die beiden verband eine seltsame Freundschaft. Weder Galloway noch Musak hätten sagen können, wie es begonnen hatte, und auch der Altersunterschied von zwanzig Jahren schien ihnen nicht bewusst zu sein.

»Wenn ich mich nicht irre, hab ich bei Ihnen noch eine Revanche gut.«

Eine Schwäche hatte der Tischler doch: Er war ein schlechter Verlierer. Er wurde nicht wütend, schlug nicht mit der Faust auf den Tisch. Meist sagte er keinen Ton, aber er sah dann wie ein schmollendes Kind aus. Es kam auch vor, dass er nach einem Abend, an dem er haushoch verloren hatte, zwei oder drei Tage lang über Galloway hinwegschaute, wenn er ihm auf der Straße begegnete.

Er schaltete das Licht an, und sie tauchten nun in eine andere Atmosphäre ein, in ein Reich der Stille, das sie noch heimeliger umfing als die Nacht draußen. Das Wohnzimmer mit den auf Hochglanz polierten Möbeln war gemütlich und gepflegt, als würde eine Frau hier walten. Nie hatte Galloway die geringste Unordnung wahrgenommen.

Das Backgammonspiel stand wie immer auf dem niedrigen Tischchen zwischen den beiden Sesseln bereit, beleuchtet vom Lichtkegel einer Stehlampe. Den übrigen Raum ließen sie im Halbdunkel, das nur ab und zu von Schatten belebt wurde.

Auch die Whiskyflasche und die dazugehörigen Gläser fehlten nicht. Jetzt mussten nur noch die Eiswürfel aus der Küche geholt werden, und das Spiel konnte beginnen.

»Auf Ihr Wohl.«

»Auf das Ihre.«

Jeder würfelte einmal.

»Eine Sechs! Ich fange an.«

Fast zwei Stunden lang stand ihr Leben im Bann der dumpf aufschlagenden Würfel, der gelben und schwarzen Steine, die sie auf dem Brett bewegten. Die Pfeife machte ihr säuselndes Geräusch. Ihr beißender Qualm hüllte Galloway allmählich ein. Hie und da ließ einer der Männer einen Satz fallen wie:

»John Duncan hat sich ein neues Auto gekauft.« Oder: »Mrs. Pinch soll Meadow Farm für fünfzigtausend Dollar verkauft haben.«

Antworten erübrigten sich, ebenso Fragen oder Kommentare.

Sie spielten bis um halb zwölf. Es wurde selten später. Musak verlor die erste Partie, gewann die drei folgenden, sodass sie, wenn man die Spiele der vorhergehenden Woche mit einbezog, ungefähr gleich standen.

»Hab ich Ihnen nicht gesagt, dass ich Ihnen eins auf den Deckel geben werde? Ich verliere nur, wenn es bei mir an der Konzentration hapert. Ein letztes Gläschen?«

»Nein, danke.«

Der Tischler schenkte sich noch eines ein. Dieses letzte Glas trank er immer in einem Zug leer. Wie sonst auch ging an diesem Abend sein Atem am Ende der Partie schwer, und seiner Nase entwichen die gleichen Geräusche wie seiner Pfeife. Vermutlich schnarchte er nachts, was niemanden störte, da er ja allein im Haus lebte.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

»An Ihrem Sohn haben Sie weiterhin Freude?«

»Ja, sehr.«

Jedes Mal, wenn Musak ihn nach Ben fragte, fühlte Galloway sich unbehaglich, obwohl er sich ganz sicher war, dass sein Freund es gut meinte, keine arglistigen Gedanken hegte und auch nicht den geringsten Grund zur Eifersucht hatte. Vielleicht bildete er sich auch alles nur ein, aber er konnte sich doch des Eindrucks nicht erwehren, dass Musak nicht viel von der stillen Art seines Sohnes hielt, der den Vater nie in Ungelegenheiten gebracht hatte.

War er früher mit seiner Tochter nicht zurechtgekommen? Oder hätte er auch gern einen Sohn gehabt?

Sobald Musak auf Ben zu sprechen kam, klang seine Stimme irgendwie anders, und auch in seinen Blick trat ein Ausdruck, als wollte er sagen:

›Warten wir mal ab, wie lange das noch gutgeht!‹

Vielleicht meinte er auch, dass Galloway seinen Sohn in einem völlig falschen Licht sah?

»Spielt er nicht mehr Baseball?«

»Nein, dieses Jahr nicht.«

Noch ein Jahr zuvor hatte sich Ben in der Mannschaft der Highschool als einer der besten Spieler hervorgetan, doch dann plötzlich beschlossen, den Sport an den Nagel zu hängen. Die Beweggründe hatte er für sich behalten. Sein Vater wollte ihn nicht drängen. So waren doch alle Kinder! Während eines Jahres sind sie auf ein Spiel oder

Galloway war darüber natürlich keineswegs glücklich. Es hatte ihm sehr zugesetzt, als Ben den Baseball aufgab, denn er kannte nichts Schöneres, als den Wettkämpfen der Schulmannschaft zuzusehen, selbst wenn er dreißig oder vierzig Meilen weit fahren musste.

»Nun, er ist sicher ein guter Junge«, sagte Musak.

Warum klangen seine Worte so, als zöge er einen Schlussstrich unter eine Diskussion, als beendete er ein Gespräch? Was wollte er mit diesem Satz wirklich sagen?

Dave Galloway reagierte wohl zu empfindlich, wenn es sich um Ben handelte. Es war doch nichts dabei, wenn die Leute einen fragten:

»Wie geht es Ihrem Sohn?«

Oder:

»Ben habe ich aber schon lange nicht mehr gesehen.«

Er neigte dazu, aus solchen harmlosen Bemerkungen einen Hintersinn herauszuhören.

»Ich kann mich nicht über ihn beklagen«, antwortete er meistens.

Das stimmte auch. Ben gab ihm keinen Anlass zu Klagen. Nie hatte er mit ihm Ärger gehabt. Es gab keinen Streit zwischen ihnen. Ganz selten kam es vor, dass Galloway seinem Sohn ins Gewissen reden musste, und wenn dies doch einmal nötig war, dann tat er es ohne Erregung, sprach von Mann zu Mann mit ihm.

»Gute Nacht.«

»Bis Samstag.«

»Ja, bis Samstag.«

Sie sahen sich ein Dutzend Mal in der Woche, vor allem im Postamt, das sie fast jeden Tag um die gleiche Zeit aufsuchten, um ihre Briefe abzuholen. Galloway hatte ein Schild mit der Aufschrift »Bin gleich zurück« angefertigt, das er jedes Mal, wenn er eine Besorgung zu machen hatte oder in seine Wohnung musste, an die Tür hängte.

Sie begegneten einander auch in der Autowerkstatt oder beim Zeitungskiosk. Trotzdem sagten sie beim Abschied am Samstagabend unweigerlich:

»Bis Samstag.«

Der herbe Tabakgeruch folgte Galloway noch an die zehn Meter weit. Er durchschritt das Sträßchen in Richtung Main Street. Fast alle Lichter waren erloschen, nur aus zwei Häusern erscholl das Getöse derselben Boxkampfübertragung.

Er brauchte sechs Minuten bis zu seiner Wohnung. Nicht einmal ganz. Nur im ›Old Barn‹, der Schenke am Ortsausgang, deren rote und grüne Lichter selbst von weitem an Bier- und Whiskymarken erinnerten, herrschte noch Betrieb.

Er ging um das Gebäude, um zum Hintereingang zu gelangen. Er hatte schon den Friseursalon hinter sich gelassen und wollte gerade ins Haus treten, als ihm zum Bewusstsein kam, dass er kein Licht im Fenster gesehen hatte.

Er erinnerte sich nicht, den Kopf gehoben zu haben, aber das hatte er bestimmt getan, denn wenn er spät nach Hause kam, blickte er immer automatisch nach oben. Das

Doch als er sich jetzt zur Treppe wandte, hätte er schwören mögen, dass es hinter dem Fenster dunkel gewesen war. Dabei gab es an diesem Abend weder eine Tanzveranstaltung noch eine Party, überhaupt keinen Anlass, der Ben außer Haus festgehalten hätte.

Er erklomm einige Stufen und war mit einem Mal ganz sicher, dass in seiner Wohnung kein Licht brannte, denn sonst hätte er einen hellen Streifen unter der Tür gesehen.

War Ben früh nach Hause gekommen und hatte sich schlafen gelegt? Wer weiß, am Ende fühlte er sich nicht gut?

Er drehte den Schlüssel im Schloss, stieß die Tür auf und rief:

»Ben!«

An der Art, wie seine Stimme in den Räumen widerhallte, erkannte er sofort, dass keiner da war, aber er wollte es sich nicht eingestehen, knipste das Licht im Wohnzimmer an und ging hinüber zum Zimmer seines Sohnes. Er gab sich Mühe, jede Gemütsbewegung aus seiner Stimme zu verbannen.

»Ben!«

Er durfte seine Sorge nicht zeigen, denn wenn Ben zu Hause war, wenn er wirklich schon im Bett lag, dann würde er ihn betroffen anblicken und in gereiztem Ton fragen:

»Was ist denn los?«

Gar nichts war los, selbstverständlich! Was sollte schon los sein? Man durfte schließlich nicht einen Jungen, der bald ein Mann sein würde, mit seinen Befürchtungen behelligen.

Er zwang sich zu einem Lächeln, als würde sein Sohn ihm ins Gesicht sehen.

Aber Ben war nicht da. Ein leeres Zimmer, ein unberührtes Bett.

Hatte er ihm eine Nachricht auf dem Tisch hinterlassen? Das war schon vorgekommen.

Nichts lag auf dem Tisch. Die Neonreklame des Kinos gegenüber war erloschen, die zweite Vorführung seit einer guten halben Stunde beendet, und die letzten Autos hatten den Parkplatz verlassen. Auf dem Heimweg war Dave Galloway keiner Menschenseele begegnet.

Nur zweimal war Ben nach Mitternacht heimgekommen, ohne ihm vorher Bescheid zu geben. Beide Male hatte Galloway im Sessel auf ihn gewartet, außerstande, ein Buch zu lesen oder Radio zu hören. Erst als er die Schritte seines Sohnes auf der Treppe vernahm, hatte er hastig nach einer Zeitung gegriffen.

»Ich bin spät dran. Sei mir nicht böse.«

Er sagte das leichthin, als wollte er die Sache verharmlosen. War er auf Vorwürfe, auf eine Szene gefasst gewesen? Dave hatte nur gemurmelt:

»Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Was hätte mir schon passieren sollen? Ich war mit Chris Gillispie im Auto unterwegs, und wir hatten eine Panne.«

»Warum hast du nicht angerufen?«

»Es gab keine Häuser in der Nähe, und wir mussten den Schaden selber reparieren.«

Das war Anfang Winter gewesen. Beim zweiten Mal – zwischen Weihnachten und Neujahr – hatte er Ben mit

»Tut mir leid … Bin noch bei einem Freund gewesen … Warum bist du noch nicht schlafen gegangen? … Wovor hast du bloß immer Angst?«

Seine Stimme klang fremd. Zum ersten Mal spürte Dave, dass mit Ben eine Veränderung vorgegangen war, dass er ihm gegenüber eine gewisse Feindseligkeit an den Tag legte. Eine solche Haltung und solche Gebärden kannte er nicht an ihm. Er tat jedoch so, als hätte er nichts bemerkt. Nach einer unruhigen Nacht hatte Ben am Sonntagmorgen lange ausgeschlafen. Als er in der Küche erschien, war seine Gesichtsfarbe aschfahl.

Sein Vater ließ ihn in Ruhe frühstücken, spielte nach besten Kräften den Unbekümmerten, und erst als sein Sohn zu Ende gegessen hatte, sagte er leise:

»Du hast getrunken, nicht wahr?«

Das war bisher noch nicht vorgekommen. Dave lebte eng genug mit seinem Sohn zusammen, um zu wissen, dass er vorher nie ein Glas Alkohol angerührt hatte.

»Mach mir bloß keine Vorwürfe, Dad.«

Sie schwiegen eine Weile, dann fügte Ben mit tonloser Stimme hinzu:

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich tu’s nie wieder. Ich wollte halt nicht aus der Reihe tanzen. Ich finde es grauenhaft.«

»Bist du ganz sicher?«

Ben hatte gelächelt, ihm offen ins Gesicht gesehen und gesagt:

»Ganz sicher.«

»Hast du keinen Hunger?«

Der Vater ging in die Küche, machte Sandwiches und schenkte zwei Gläser eisgekühlte Milch ein.

Er öffnete das Fenster, um Bens Schritte schon von weitem hören zu können, und setzte sich an denselben Platz, wo er die beiden anderen Male auf ihn gewartet hatte. Von draußen strömte kalte Luft ins Zimmer, aber er mochte das Fenster nicht schließen. Er spielte kurz mit dem Gedanken, seinen Mantel überzuziehen, sagte sich dann aber, dass Ben, wenn er ihn so vermummt im Sessel vorfände, entsetzt sein würde.

Das erste Mal war er um Mitternacht nach Hause gekommen, das zweite Mal gegen ein Uhr morgens.

Er zündete sich eine Zigarette an, dann eine zweite und eine dritte. Er rauchte mit hastigen Zügen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Einmal schaltete er den Fernseher ein, aber auf dem Bildschirm tat sich nichts. Alle Sender, die man in Everton empfangen konnte, hatten bereits Sendeschluss.