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Ewa Aukett

Stunde der Drachen - Drachenkrieg

Bluterbe 2





Elaria
80331 München

1. Kapitel

Das Land der McCallahans, Eddas Hütte

Im Nebelung, Anno 1611

 

In seinen Ohren war ein schrilles Pfeifen, das sich mit dem Wehklagen und Weinen seiner Mutter zu etwas Surrealem verband, das jeden klaren Gedanken aus seinem Kopf verdrängte. Etwas, was nicht von dieser Welt war und den schalen Nachhall des Schreies, den das Monster von sich gegeben hatte, in ihm wachhielt. Er fühlte sich wie betäubt und konnte spüren, wie er weiter und weiter rückwärts stolperte, ohne etwas dagegen tun zu können. Hände drückten sich gegen seine Brust, Angst und Panik waberten wie lichter Nebel um ihn herum.

Vor seinen Augen pulsierte das Tor in wilden Farben und er konnte das Bild nicht loswerden, das sich in seine Netzhaut gebrannt hatte. Wulf, ein Krieger groß wie ein Baum, alt, aber trotzdem noch stark wie ein Bär. Wulf, in dessen ungläubig aufgerissenen Augen das Licht erloschen war und durch dessen Brust sich von hinten eine blutbeschmierte, grausame Klaue grub, die ihm das noch schlagende Herz aus dem Leib gerissen hatte.

Es war schnell gegangen, und dennoch war das kein ehrenwerter Tod für einen Highlander wie ihn gewesen. Wulf hätte es verdient mit dem Schwert in der Hand zu sterben, nicht aufgeschlitzt von einem Monster, wie Tavish es noch nie gesehen hatte.

Der Körper dieser Kreatur war der eines Plagua gewesen, doch sein Gesicht … Tavishs Lider flatterten. Er konnte es nicht in Worte fassen, alles in ihm wehrte sich dagegen, dieses Gesicht … Er mochte den Gedanken nicht einmal zu Ende führen und doch: Es hatte etwas seltsam Menschliches gehabt. Etwas, das so nicht sein sollte, – und es hatte seinen Triumph in die Welt hinausgeschrien.

Kräftige Hände packten ihn an den Armen und zerrten ihn herum.

Er registrierte kaum, dass der Dunkelalb vor ihm stand. Das schmale, blasse Gesicht war grau vor Gram und Crafaels Lippen bewegten sich, doch Tavish verstand kein Wort. Jeder Gedanke in seinem Kopf war erloschen und immer noch lähmte ihn das herzzerreißende Schluchzen seiner Mutter. Nie zuvor hatte er sie so weinen sehen, nie zuvor solchen Schmerz in ihrem Gesicht erblickt.

Was war gerade geschehen?

War das Wirklichkeit? War das die Wahrheit?

Tavish blinzelte. Er hatte Menschen aus Annas Welt erwartet, … kein Monster, das einen von ihnen im Augenblick eines Wimpernschlages aus dem Leben riss und mit ihm in diesem Loch verschwand.

Wulf … WULF!

Er bemerkte, dass es nicht seine Gedanken waren, die den Namen immer wiederholten. Es war die Stimme seiner Mutter, die langsam seinen Verstand klärte.

„Wulf!“

Als er den Kopf zur Seite wandte, sah er seine Eltern auf dem Boden hocken. Royces Gesicht war voller Schmerz und Trauer, während er Lee fest mit beiden Armen umschlungen hielt. Die Tränen liefen ihr über das verzerrte Gesicht, sie krümmte sich und nannte in einem fort Wulfs Namen.

Tavish schluckte.

„Junge!“ Crafaels Stimme bahnte sich einen Weg in seine Gedanken. Er hob den Blick und sah dem Dunkelalb in die Augen.

Im Antlitz dieses Mannes stand der gleiche Schmerz wie in den Gesichtern seiner Eltern.

„Warum?“, flüsterte er.

Der Dunkelalb presste die Lippen aufeinander und schloss für den Bruchteil eines Augenblickes seine Lider.  „Es tut mir leid“, wisperte Crafael. „Es tut mir so unfassbar leid.“

Tavish schüttelte den Kopf. „Wieso? Ihr kennt uns nicht.“

Als der Mann vor ihm den Blick hob und Tavish in die Augen sah, verspürte er plötzlich Scham. Crafaels trauriges Lächeln traf ihn bis in die Eingeweide. „Er war mein Sohn.“

Ungläubig starrte er den Dunkelalb an.

„Was? Wulf war ein Findelkind“, raunte Tavish. „Das hat er uns immer wieder erzählt.“

„Das ist eine komplizierte Geschichte“, erwiderte Crafael leise. Sein Blick glitt hinüber zu Lee und Royce und Tavish entging keineswegs, dass seine Augen plötzlich verdächtig glänzten, als er die Arme sinken ließ und sich abwandte.

Er machte einen Schritt auf den Dunkelalb zu. „Warum seid Ihr hier?“

Der Mann zögerte kaum merklich. „Weil Sijrevan mich rief.“

„Das ist nicht der einzige Grund.“ Tavishs Finger bohrten sich in den Arm des Fremden. „Sagt mir, was Euch tatsächlich hergeführt hat.“

Crafaels Schultern sanken hinab und er warf ihm einen bedauernden Blick zu. „Meine Sehnsucht.“

„Wonach?“

Ein neuerliches Lächeln legte sich über das Gesicht des Dunkelalben. Ein Lächeln, so voller Trauer und Schmerz, dass Tavish das Atmen schwerfiel. Crafael blickte abermals hinüber zu Tavishs Eltern – doch er sah nicht Royce an, sondern Lee. „Nach ihr, … aber sie ist gegangen, vor langer Zeit. Ich war zu spät.“

 

 

 

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Die Rough Hills, Grenze zwischen Highlands und Lowlands

Im Nebelung, Anno 1611

 

Sie fröstelte.

Ein seltsames Gefühl beschlich sie, Unwohlsein und sachte Beklemmung vereinten sich in ihrem Bauch. Unruhig trat sie an den Ausgang der Höhle und blickte hinunter in die Schlucht, die sich zwischen den Bergen hindurch von den Highlands bis hinab zu den Lowlands zog.

Nichts. Keine Menschenseele war an diesem Tag unterwegs. Niemand außer ihr füllte die Stille und Einsamkeit dieses Ortes mit Leben.

Deirdre verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln und sah in den grauen Himmel hinauf. Schon bald würde der Winter kommen. Der Geruch nach Schnee lag in der Luft und die Kälte ließ den Atem sichtbar werden.

Sie sog die Kühle tief in ihre Brust und schloss die Augen. Für einen Moment ließ sie es zu, dass ihre Gedanken sich verselbstständigten, während sie der Ruhe lauschte. Sie verdrängte das Gefühl des Alleinseins, das sie in letzter Zeit zunehmend übermannte. So oft hatte ein Teil von ihr sich schon zurückgewünscht an den Ort ihrer Kindheit … und immer wieder musste sie sich erinnern, dass sie dort nie wirklich daheim gewesen war.

Vor fünf Jahren hatte sie allem den Rücken gekehrt, was sie gekannt hatte. Sie hatte sich der Aufgabe nicht gewachsen gefühlt, die für sie angedacht gewesen war. Zu groß war die Verantwortung, zu groß der Preis. Ihre Freiheit, ihre Seele – all das wäre einem Ort und einem Clan verpflichtet gewesen, dem sie sich nie so verbunden gefühlt hatte, wie sie es hätte sein sollen.

Sie schlug die Augen auf und betrachtete die Wolken, die sich schwer und nass am Himmel ballten und eine undurchdringliche Wand zu bilden schienen. Ihre Mutter war bei Deirdres Geburt gestorben und ihr Vater in dieser grauenvollen Schlacht gefallen. Keinen von beiden hatte sie je kennenlernen dürfen. Familie war nur ein Wort, dessen wahre Bedeutung ihr Geist nicht begreifen konnte.

Nichts als Erzählungen und Mythen waren ihr geblieben. Erinnerungen waren wie die Asche auf einer weiten, brachliegenden Ebene, die zwischen ihren Fingern zu Staub zerrann.

Sie war mit Sorgfalt und Achtsamkeit erzogen worden. Man hatte sie das Kämpfen gelehrt und ihr alles beigebracht, was notwendig war, um in dieser Welt zu überleben, - doch das, was sie sich am meisten ersehnt, wonach ihr Herz gegiert hatte, das hatte ihr niemand geben können … oder wollen.

Zuneigung, Geborgenheit und Liebe waren Sehnsüchte, die Deirdre zu empfinden vermochte, aber die niemand ihr gegenüber erwiderte. So oft hatte sie sich danach gesehnt … nach einer tröstenden Umarmung, einem liebevollen Lächeln … manchmal sogar nach den Schlägen, die sie vom einstigen Schwertmeister des Clans bekommen hatte.

Da war sie zehn gewesen. Sie hatte seine Anweisungen missachtet, sie hatten diskutiert und gestritten und schließlich hatte sie ihm trotzig die beiden Dolche vor die Füße geworfen. Einer hätte ihm fast den linken Knöchel durchbohrt. Er hatte ausgeholt und ihr links und rechts eine Ohrfeige verpasst - danach war er erschütterter gewesen als sie selbst. Stammelnd hatte er sich entschuldigt und war in sein Quartier geeilt.

Sein Handeln war nachvollziehbar gewesen, aber dass er die Hand ausgerechnet gegen sie erhoben hatte … Sie hatten ihn fortgeschickt und danach war alles noch viel schlimmer geworden. Sie hatte früh begriffen, warum alle einen Bogen um sie machten, warum niemand ihr zu nahe kommen wollte, aber alle ihre Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen versuchten.

Sie war die einzige Tochter des in der Schlacht von Fallcoar gefallenen Bearach Kinnon, letzte Überlebende eines aussterbenden Geschlechts … und sie war gezeichnet. Sie war unantastbar durch ihre Herkunft und das Feuermal, das sich über ihr halbes Gesicht und ihren Körper zog.

Sie hatte gelernt eine unsichtbare Mauer um ihr Inneres zu bauen. Eine Mauer, über die niemand zu ihr hereinblicken, niemand ihre Gefühle erkennen konnte. Sie hatte ihr Herz fest in eine kleine, dunkle Kiste in diesem imaginären Kerker geschlossen und den Schlüssel versteckt.

Nichts fühlen zu wollen, war eine Sache, nichts fühlen zu können, eine andere. Sie hatte gelernt zu verdrängen, zu ignorieren und sich selbst zu hassen … also hatte sie irgendwann ihr Bündel geschnürt, die Burg an den östlichen Küstengewässern hinter sich gelassen und sich auf die Suche nach sich selbst gemacht.

Sie wusste, sie war ihrem Ziel noch lange nicht nah – aber sie hatte gelernt die Einsamkeit als Freundin anzunehmen und seit fast einem Jahr lebte sie nun in dieser kleinen Höhle in den Rough Hills, hoch über der Schlucht, die zwei Landstriche miteinander verband, zwischen denen ein Jahrzehnte andauernder Waffenstillstand herrschte.

Mit vierundzwanzig Lenzen verdingte sie sich als bezahlter Herold und lebte das Leben eines Heimatlosen. Das war kein Leben, das sie sich als Kind erträumt hatte, aber sie war zufrieden mit ihrem Los. Niemand verlangte ihr hier mehr ab, als sie zu geben bereit war, und sie hatte nur wenig Kontakt zu anderen Menschen.

Über die Schulter blickte sie in das Halbdunkel ihres Heims zurück. Ein kleines Feuer brannte in der Mitte der Höhle und halb darüber hing ein Kessel voll schmackhaftem Kräutersud.

Each und Faol ruhten beide am äußeren Höhlenrand und schliefen, eng aneinandergedrückt. Ihrem Pferd und ihrem Wolf hatte sie es zu verdanken, dass sie hier draußen nicht durchdrehte. Sie hörten ihr zu, wenn Deirdre reden wollte, sie schenkten ihr vorbehaltlos die Zuneigung, die die Menschen ihr aufgrund ihres Äußeren verwehrten. Sie waren die einzigen Wesen, denen Deirdre wirklich vertraute.

Am Morgen hatte Bran sie erreicht.

Der Rabe hatte vor der Höhle gehockt, mit seinem Schnabel geklappert und einen Zettel an seinem Bein getragen. Sie hatte die geschwungene Schrift sofort erkannt, dennoch hatten die Worte sie überrascht. Ein Botengang in den Norden gehörte nicht gerade zu ihren liebsten Aufträgen, aber für einen Säckel Gold würde sie auch das übernehmen. Zwei Tage, höchstens drei, dann würde der Bote aus Saint Farlane sie erreichen … Sie war neugierig, welches Ziel ihr Auftraggeber für sie vorgesehen hatte.

Als sie sich wieder in ihr Versteck begeben wollte, vernahm sie Hufgetrappel. Stirnrunzelnd wandte sie sich erneut der Schlucht zu und blickte hinüber zu dem Ausgang, der sich in die Lowlands öffnete. Es war kein Reiter zu sehen und sie wäre zugegebenermaßen verwundert gewesen, wenn der Bote bereits jetzt eingetroffen wäre.

Als sie ihren Blick in die andere Richtung lenkte, trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück in den Schatten ihrer Zuflucht.

Was war das?

Sie erkannte einen einzelnen Reiter, aber irgendetwas war seltsam an ihm und seinem Pferd - als würden die Konturen ihrer Gestalten sich an den Rändern auflösen. Dunkler Nebel waberte um sie herum, breitete sich aus und zog sich wieder zurück, als würden dürre, lange Finger den Weg und die felsigen Wände abtasten.

Ein Grollen erklang hinter ihr in der Höhle. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, dass Faol sich aufgerichtet hatte und die Haare auf seinem Rücken sich aufstellten. Sie gab ihm stumm das Zeichen still zu sein. Ihm war anzusehen, wie widerwillig er ihrer Aufforderung folgte und sich flach auf den Boden legte.

Das wenige Licht des Feuers spiegelte sich in den gelben Augen und ließen sie regelrecht erglühen, während er die Ohren spitzte und stumm dem Geschehen in der Schlucht lauschte.

Deirdre kroch auf allen Vieren wieder nach draußen, presste sich am Ende ihres kleinen Felsvorsprungs auf den Boden und linste über den Rand in die Tiefe hinab. Sie erstarrte.

Der Reiter war stehen geblieben … und er war nicht mehr allein.

Sie mochte ihren Augen kaum trauen, aber der Nebel, den sie eben noch für ein Hirngespinst gehalten hatte, verdichtete sich, wurde fest und zwei weitere, vollkommen identische Reiter tauchten wie aus dem Nichts neben dem ersten auf.

Bei den Göttern! Was ging da unten vor sich?

 

 

 

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Deutschland im Dezember

Gegenwart

 

Frank zog sich die Brille von der Nase, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und sah zum Fenster hinüber. Er seufzte.

Halb neun.

Draußen war es stockdunkel. Weil es sich den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein immer wieder zugezogen und der Himmel sich verfinstert hatte, hatte er einfach die Zeit vergessen.

Eigentlich hatte er schon lange Feierabend. Früher hätte Janett ihn bereits erbost angerufen, weil sie mit den Kindern und dem Abendessen auf ihn wartete. Er senkte den Blick auf die Brille zwischen seinen Fingern und holte tief Luft. Dummerweise gehörte das mittlerweile der Vergangenheit an.

Vor einem Monat hatte sie ihm abends den Koffer ins Wohnzimmer gestellt und ihm gesagt, dass er ausziehen solle. Sie hatte die Nase voll davon gehabt, dass er immer zu spät heimkam und selbst die magere Freizeit nicht mehr mit ihr und der Familie verbrachte, sondern allein daheim in seinem Büro hockte.

Sie kamen auch gut ohne ihn klar, hatte sie gemeint. Dabei war ihr Blick voller Enttäuschung und Bitterkeit gewesen.

Frank wusste, dass das alles seine Schuld war. Er wusste, dass er die Verantwortung für diesen Bruch trug. Er hätte mit ihr reden sollen, viel früher schon, aber die Sorgen hatten ihn fast erdrückt und er hatte die Probleme, die die Arbeit betrafen, nicht mit nach Hause nehmen und bei ihr abladen wollen. Er hatte alles allein schaffen wollen, so wie immer.

Dass ihn ausgerechnet das seine Familie kosten würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte es ihr an jenem Abend erklären, ihr sagen wollen, was los war, - aber Janett war logischerweise einfach nicht mehr bereit gewesen, ihm zuzuhören.

So viele Wochen hatte sie sich bemüht, war verständnisvoll gewesen und hatte versucht etwas aus ihm herauszubekommen, weil er so still gewesen war, wenn er heimkam. Immer wieder hatte er abgeblockt und gemeint, es sei nichts weiter und werde schon alles gut.

Doch nichts war gut geworden.

Er hatte sich am Stadtrand von Bad Bergschaumm ein winziges, möbliertes Zimmer mit Bad gesucht und seinen Koffer dort in einer Ecke auf den Stuhl gepackt. Da lag er heute noch, aufgeklappt, zur Hälfte hingen die Klamotten raus. Er hatte nicht die Kraft, irgendwas davon ordentlich in den Schrank zu hängen oder die Kommode zu nutzen, die im Zimmer stand. Sein Abendessen war seit vier Wochen eine Mischung aus Instantsuppe und Dosenbier, in der Hoffnung, ein bisschen zu vergessen.

Tagsüber kämpfte er um die weitere Existenz seiner Zeitung und seiner beruflichen Karriere. Aber er war nur noch einen Fingerzeig davon entfernt, dass alles den Bach herunterging, weil die Auflagen im Keller waren und niemand mehr an einem kleinen lokalen Magazin interessiert war. Die Leute wollten ihre Nachrichten online konsumieren und die Leserschaft, die noch das Gefühl von knisternden Zeitungsseiten zwischen ihren Fingern genoss, wurde zusehends kleiner.

Dass sein Privatleben dieser Scheiße zum Opfer fiel, war nicht der Plan gewesen. Blöderweise konnte er aber auch nicht alles hinwerfen und sich dafür entscheiden, nur noch für Janett und die Kinder da zu sein, gerade jetzt nicht … Immerhin hingen von seinem Versagen auch die Existenzen von mehr als einem Dutzend Mitarbeiter und deren Familien ab. DIE interessierte verständlicherweise in erster Linie, ob sie zum nächsten Ersten noch ihren Lohn bekamen und einen Job hatten.

Vor zwei Monaten hatte er einen Grafiker und einen IT-Spezialisten entlassen müssen, die beide noch in der Probezeit gewesen waren. Er hatte sich schwergetan mit der Entscheidung, aber hätte er sich nicht dazu durchgerungen, wären die personellen Ausgaben weiter explodiert. Es hatte Getuschel in der Belegschaft gegeben, doch niemand hatte nachgefragt – sie alle waren froh, dass es überhaupt weiterlief – und ja, er war dankbar dafür, denn sie alle ahnten, wie schlimm es um die Zeitung stand und dass sich etwas ändern musste.

Er stützte den Ellbogen auf die Armlehne, legte die Stirn gegen seine Finger und schloss die Augen. Manchmal war er so müde. Er wollte einfach nur einschlafen und nicht mehr aufwachen.

Der Tag heute hatte unter der Schlagzeile von Dreinaeheim stehen sollen, … stattdessen würde morgen überall zu lesen sein, was tatsächlich passiert war: „Journalistin vermisst! Reporterin des Bergschaummer Anzeigers in gewaltigen Krater in Dreinaeheim gestürzt.“ Das war genau die Art von reißerischer Schlagzeile, die er für seine Zeitung nie hatte ausschlachten wollen, … aber ihm blieb keine Wahl.

Er wollte sich so nicht mehr fühlen, so nutzlos und klein.

Was für eine furchtbare Woche. Als wären das Erdbeben und die Katastrophe in Dreinaeheim nicht schon schlimm genug gewesen, war auch noch Anna verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Natürlich war das Unsinn – sie war in dieses verdammte Loch gefallen und vermutlich lag ihr lebloser Körper zerschmettert zwischen all den zahllosen Trümmern.

Er schüttelte den Kopf bei der Vorstellung. Grauenvoll, einfach nur grauenvoll.

Arme Anna!

Mayas Schweigen im Auto, als sie zurück in die Redaktion nach Bad Bergschaumm gefahren waren, hatte ihm zugesetzt. Sie hatte nichts gesagt, aber er hatte ihren stummen Vorwurf fast körperlich gespürt.

ER hatte Anna nach Dreinaeheim geschickt. ER hatte sie aufgefordert einen Bericht über die scheiß eingestürzte Klinik zu schreiben. Dabei wäre das Rainers Aufgabe gewesen.

Rainer … dieses arrogante Arschloch!

Aber Rainer hatte sich letzte Woche eine Auszeit erbeten. Er hatte gemeint, er wäre da an einer Sache dran, an was Großem, und er müsse recherchieren und dazu brauchte er ein paar freie Tage. Auch wenn dieser Kerl ein Unsympath war, war er gut in seinem Job, und Frank hatte gehofft, wenn Rainer tatsächlich an was Spektakulärem dran war, dann wäre das auch gut für die Zeitung.

Sie brauchten dringend einen aufregenden Artikel, der ihre Auflage steigerte … oder ein Wunder.

Tief durchatmend richtete Frank sich in seinem Drehstuhl auf und fuhr sich mit einer Hand durch das wirre Haar. Für heute war genug. Er schaltete den Computer aus und erhob sich. Er konnte ohnehin nichts tun. Die Einsamkeit war besser in seinen spärlichen vier Wänden zu ertragen, wo er sich mit Bier betäuben und von irgendeinem hirnlosen TV-Programm berieseln lassen konnte.

 

Nachdem er seine Jacke übergeworfen und seine Tasche an sich genommen hatte, schaltete er die Lichter aus und verließ das Büro. Zerstreut lief er den Korridor zu den Fahrstühlen entlang. Die Stille im Gebäude war geradezu erdrückend. Früher war jeden Abend das Reinigungspersonal im Haus gewesen, mittlerweile hatte er das auch auf zweimal die Woche beschränken müssen.

Zum Kotzen!

Der rechte Fahrstuhl wartete bereits auf ihn, als er die Glastür zur Redaktion sorgfältig hinter sich abschloss und im Dunkel des Treppenhauses in den beleuchteten Innenraum der Kabine trat. Ohne hinzusehen, drückte er den untersten Knopf und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die polierte Stahlwand in seinem Rücken.

Die Türen schlossen sich mit leisem Surren und der Lift setzte sich sanft in Bewegung. Wie lang würde er das noch erleben dürfen?

Als er die Redaktion vor fast sechsundzwanzig Jahren übernommen hatte, war der Bergschaummer Anzeiger nicht mehr gewesen als ein Anzeigenblättchen, in dem die Leute ihre ungewollten Haustiere verschenken und ihren Hausrat inserieren konnten. Er hatte dafür gesorgt, dass daraus eine respektable Zeitung geworden war – lokale Nachrichten, fundierte Berichte, unterhaltsame Artikel.

Er war damals so alt gewesen wie Anna heute, fünfundzwanzig, alles schien möglich zu sein und er war so stolz gewesen auf „seine“ Zeitung.

Vielleicht war der Bergschaummer Anzeiger immer noch nur ein lokales Nachrichtenmagazin, aber sie hatten sich durchaus einen bekannten Namen gemacht und waren für lange Zeit in der Region die erste Adresse gewesen, was beachtenswerte Informationen betraf.

Frank war immer wichtig gewesen, dass sie sich nicht durch reißerische Schlagzeilen und irgendwelche Falschmeldungen hervortaten. Er hatte mit seiner Zeitung nie zu dieser Sorte von Revolverblatt werden wollen.

Aber die Zeiten änderten sich. Das Publikum schien heute weit weniger an Fakten und Wahrheit interessiert. Es wollte unterhalten werden und sich in irgendeiner Weise daran aufreiben. Die Aussagen, die teilweise in den Kommentarbereichen und im Gästebuch der Internetseite Bergschaummer Anzeiger auftauchten, sprachen oft genug eine deutliche Sprache.

Hass, Neid und Angst ließen die Menschen jede Art von Anstand und Moral verlieren und die Anonymität, mit der sie sich online durch das Internet zu bewegen glaubten, vermittelte ihnen offenbar ein Gefühl von Sicherheit. Viele wähnten sich in einem rechtsfreien Raum.

Frank seufzte. Als ob der Tag nicht schon grässlich genug wäre, musste sein Kopf sich jetzt auch noch mit diesem Mist beschäftigen.

Das leise Klingeln des Aufzugs riss ihn aus seinen Gedanken.

Er stieß sich von der Wand ab und wandte sich dem Ausgang zu. Doch statt des Foyers sah er den Kellerbereich der Redaktion vor sich.

„Was zur Hölle?“ Irritiert machte er einen Schritt nach vorn und schaute sich um. Hatte er den falschen Knopf gedrückt? Wieso war hier unten alles hell erleuchtet? War noch jemand hier? „Hallo?“ Als er einen weiteren Schritt nach vorn machte, bemerkte er am Ende des Korridors das Fluttor zum Archiv offenstehen.

Hatte nicht irgendjemand gesagt, dass Rainer hier oft Stunden verbrachte, um in alten Unterlagen nach Informationen zu suchen? An welcher Schlagzeile war er dran, dass er bis mitten in der Nacht arbeitete?

Stirnrunzelnd ging Frank zu den Räumen des Archivs hinüber. Er trat durch den Eingang. „Hallo?“ Nichts. „Rainer?“ Keine Antwort. Bis auf das leise Summen der alten Glühbirnen, die unter der Decke hingen, herrschte eine nahezu gespenstische Stille. Frank fröstelte. Irgendwie hatte er die Räume hier unten nicht so kalt in Erinnerung.

Wo war Rainer? Vielleicht hatte er schon Feierabend gemacht und war gegangen. Aber warum ließ er dann das Licht brennen und das Fluttor geöffnet? Es gab die strikte Regel, dass das Archiv immer verschlossen zu sein hatte, wenn es nicht genutzt wurde.

Frank trat langsam zwischen die Regale. Vielleicht hing Rainer auch über den alten Papieren und war so vertieft in seine Recherche, dass er wieder nichts von seiner Umgebung mitbekam. Es war Monate her, da hatte er auch mal hier unten herumgelungert, auf der Suche nach irgendwelchen kryptischen Informationen, die er dann wohl doch nicht gefunden hatte.

Sein Blick wanderte über die Regale voller Kartons, Kisten und Ordner. Hier unten waren unglaublich viele Zeitungsartikel und Notizen gelagert, gesammelt über einen Zeitraum, der weit bis in die 1860er-Jahre zurückreichte. Wonach Rainer auch immer forschte, es war vermutlich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, denn digitalisiert worden war das Archiv bisher noch nicht.

Als er seine Augen wieder nach vorn wandte, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. „Mein Gott!“

Der Gang war mit zerstreuten Papieren und vergilbten Unterlagen regelrecht zugeschüttet. Ein Teil der Kisten war in den Regalen umgestoßen und Kartons aufgerissen worden, einer sah aus, als hätte jemand mit einem Messer darauf eingehackt und ihn zerfetzt.

„Was ist denn hier los?“

Er legte die letzten Meter im Eiltempo zurück und ging vor dem Chaos in die Hocke. Wer hatte das getan? Seine Finger griffen nach dünnen, alten Zeitungen, die sich schon geradezu porös anfühlten.

Lieber Himmel, das waren teilweise seltene Einzelexemplare aus kleinen Druckauflagen, die in den späten 1930er-Jahren erschienen waren. Zeugen einer dunklen Zeit und ebenso hochbrisant, weil sie einen gefährlichen Mann kritisiert hatten, der sich zum Weltherrscher berufen gefühlt hatte.

Eine der Seiten löste sich in Franks Fingern regelrecht in ihre Einzelteile auf. Ärger machte sich in ihm breit. Diese Unterlagen hatten einen unschätzbaren Wert.

Welcher blöde Idiot hatte dieses Chaos angerichtet?

Er hob den Kopf, blickte den Gang entlang und folgte mit den Augen der Spur der Verwüstung, die sich fast bis zum Ende hinzog. Überall versprengte Papiere. Er wollte gar nicht wissen, was dieser sinnlosen Zerstörungswut noch alles zum Opfer gefallen war.

Stirnrunzelnd bemerkte er, dass das letzte Regal auf der linken Seite fast komplett ausgeräumt und nach vorn gerückt war. Dahinter stand eine alte Tür offen.

Frank stutzte.

Wieso war da eine Tür?

Er kannte dieses Archiv seit mehr als zwei Jahrzehnten. Vor fünfzehn Jahren hatte er selbst mit angepackt, als sie die ganzen morschen, alten Holzregale gegen modernere aus Stahl ausgetauscht hatten. Aber hier war nie eine solche Tür verbaut gewesen.

Oder?

Er schüttelte irritiert den Kopf und stand auf. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern und ernsthaft, so ein antiquiertes, verwittertes Exemplar wäre ihm doch aufgefallen. Aber wenn sie vorher nicht dort gewesen war, musste sie doch irgendwo herkommen.

Mit langen Schritten versuchte er einen Weg durch die Papiere am Boden zu finden, ohne darauf zu treten und noch mehr Schaden anzurichten. Schließlich hatte er das schlimmste Chaos hinter sich gelassen und seine Finger berührten angejahrtes, raues Holz.

Er war sich hundertprozentig sicher, dass diese Tür ihm noch nie aufgefallen war. Als er den Kopf daran vorbeischob, um nachzusehen, was dahinter lag, stutzte er und starrte verwirrt die seltsame Nische an.

Welchen Sinn machte es, eine Tür vor eine Nische zu bauen? Hatte Rainer irgendwelche seltsamen Ideen gehabt und versuchte hier einen blöden Scherz zu machen?

Frank trat ganz um die Tür herum und musterte die Nische. Ob die schon vorher da gewesen war, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Allerdings waren die quaderförmigen Steine nicht in der gleichen Farbe gestrichen wie die Wände des Archivs. Das war merkwürdig … sehr merkwürdig. Stirnrunzelnd kniff er die Augen zusammen. Ein feiner Riss zog sich von oben rechts nach unten links durch die gesamten Steine. Als hätte das Erdbeben vom Wochenanfang hier einen kaum sichtbaren, aber doch vorhandenen Schaden hinterlassen.

Wirklich merkwürdig!

Etwas streifte eiskalt seinen Nacken und Frank fuhr erschrocken herum. Nichts. Niemand war da. Er war völlig allein in diesem Chaos und mit dieser Tür vor sich.

Ein Zittern überlief ihn.

Es fühlte sich plötzlich falsch an, hier zu sein.

Überhaupt war das alles irgendwie nicht richtig. Sein Blick irrte unstet über die verstreuten Papiere, über Kartons, Regale und weiße Steinwände. Die Luft schien für einen Moment zu flirren. Als wäre das alles hier nur ein Trugbild und unter allem, was er zu sehen glaubte, war nichts als kalter, schwarzer Stein, über den sich eine gallertartige Masse aus finsterem Schleim bewegte.

Frank stolperte einen Schritt rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Kante der Tür. Der Schmerz verscheuchte das beängstigende Bild vor seinen Augen, aber nicht das Gefühl von Furcht, das in ihm heraufkroch.

Er sollte nach Hause gehen, so rasch wie möglich.

Ohne sich weiter um die Tür oder die zerstreuten Zeitungen zu kümmern, hastete er durch das Archiv und zurück zum Fluttor. Er war noch zehn Meter davon entfernt, als das Licht über ihm zu flackern begann und das Tor sich wie von Geisterhand langsam schloss.

Irgendwo zwischen den Regalen schien sich plötzlich etwas zu bewegen und ein leises, rasselndes Geräusch war zu hören – als würde etwas nass und schwer einatmen.

Panik machte sich in ihm breit.

Frank begann zu rennen. Gerade als seine Hände das Tor berührten und er sich mit aller Kraft dagegen zu stemmen versuchte, rastete das Schloss ein und der Weg war ihm versperrt.

Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich um und starrte zurück in das Archiv. Seine Fantasie spielte verrückt. Hier war nichts. Hier war niemand.

Über ihm erlosch das Licht.