Rausch der Verwandlung

Stefan Zweig

Rausch der Verwandlung

Roman aus dem Nachlaß

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Knut Beck.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

Impressum

Reihengestaltung: bilekjaeger
Covergestaltung: Ingrid Lutterbeck

Coverabbildung: Archiv S. Fischer Verlag

 

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012

 

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ISBN 978-3-10-400199-9

Ein Dorfpostamt in Österreich unterscheidet sich wenig vom andern: wer eines gesehen, kennt sie alle. In der gleichen franziskojosephischen Zeit aus dem gleichen Fundus mit den gleichen kärglichen Einrichtungsgegenständen bedacht oder vielmehr uniformiert, entäußern sie allerorts den gleichen mürrischen Eindruck ärarischer Verdrossenheit, und bis unter den Atem der Gletscher, in die abgelegensten Gebirgsdörfer Tirols bewahren sie hartnäckig jenen unverkennbaren altösterreichischen Amtsgeruch aus kaltem Knaster und muffigem Aktenstaub. Überall ist die Raumeinteilung die gleiche: in einem genau vorgeschriebenen Verhältnis teilt eine vertikale, mit Glasscheiben durchbrochene Holzwand das Zimmer in ein Diesseits und Jenseits, in eine allgemein zugängliche und in die dienstliche Sphäre. Daß der Staat auf ein längeres Verweilen seiner Bürger innerhalb der allgemein zugänglichen Abteilung geringes Gewicht legt, wird durch das Fehlen von Sitzgelegenheiten und jeder sonstigen Bequemlichkeit augenfällig. Als einziges Möbel lehnt im Publikumsraum meist nur ein zittriges Stehpult ängstlich an der Wand, den rissigen Wachsleinwandüberzug von unzähligen Tintentränen geschwärzt, obwohl sich niemand erinnern kann, jemals in dem eingesenkten Tintenfaß etwas anderes als eingedickten, mulmigen, schreibuntauglichen Brei wahrgenommen zu haben, und wenn zufällig eine Feder zur Stelle in der gehöhlten Rinne liegt, so erweist sie sich zuverlässig als abgespragelt und schreibuntauglich. Ebensowenig wie auf Komfort legt

Respektheischender dagegen repräsentiert sich die Abteilung jenseits der dienstlichen Schranke. Hier entfaltet im engsten Beieinander der Staat symbolisch die unverkennbaren Zeichen seiner Macht und Weiträumigkeit. In der geschützten Ecke steht ein eiserner Geldschrank, und die Vergitterung der Fenster läßt vermuten, daß er zeitweilig wirklich gelegentlich beträchtliche Werte birgt. Auf dem Lauftisch blinkt als Prunkstück ein Morseapparat in wohlgescheuertem Messing, bescheidener schläft daneben auf schwarzer Nickelwiege das Telefon. Diesen beiden allein ist ein gewisser Lust- und Respektsraum zugeteilt, denn sie verbinden, an Kupferdrähte angeschlossen, das winzige und abseitige Dorf mit den Weiten des Reichs. Die andern Utensilien des postalischen Verkehrs jedoch müssen sich zusammendrängen, Paketwaage und Briefsäcke, Bücher, Mappen, Hefte, Registratur und die runden klirrenden Portokassen, Waagen und Gewichte, schwarze, blaue, rote und tintenviolette Bleistifte, Spangen und Klammern, Spagat, Siegellack, Wasserschwamm und Löschwiege, Gummiarabikum, Messer, Schere und Falzbein, das ganze vielfältige Handwerkszeug postalischen Dienstes knüllt sich auf der ellbogenengen Fläche des Schreibtisches gefährlich wirr durcheinander, und in den vielen Laden und Kasten

Strenggenommen müßte in diesem schreibmaschinierten Gegenstandsverzeichnis auch der Jemand verzeichnet sein, der alltäglich morgens um acht Uhr die Glasscheibe hochzieht und die bisher leblosen Utensilien in Bewegung setzt, der die Postsäcke öffnet, die Briefe stempelt, die Anweisungen auszahlt, die Empfangsscheine schreibt, die Pakete wiegt, der die blauen, die roten, die tintenfarbigen Stifte und merkwürdigen Geheimzeichen über das Papier laufen läßt, der vom Telefon den Hörer befreit und dem Morseapparat die Spule ankurbelt. Aber aus irgendeiner Art Rücksichtnahme ist dieser Jemand, vom Publikum meist als Postassistent oder Postmeister angesprochen, auf der Pappliste nicht verzeichnet. Sein Name steht

Innerhalb dieses, durch den Amtsadler geheiligten Dienstraums ereignet sich niemals sichtbare Veränderung. An der ärarischen Schranke zerschellt das ewige Gesetz von Werken und Vergehen; während außen um das Haus Bäume blühen und wieder kahl werden, Kinder aufwachsen und Greise sterben, Häuser zerfallen und in andern Formen wieder erstehen, erweist das Amt seine bewußt überirdische Gewalt durch zeitlose Unabänderlichkeit. Denn jeder Gegenstand innerhalb dieser Sphäre, der sich abnützt oder verschwindet, der sich verwandelt und zerfällt, wird durch ein anderes Exemplar genau derselben Type von der vorgesetzten Behörde angefordert und geliefert und somit dem Wandelhaften der übrigen Welt ein Beispiel der Überlegenheit des Staatlichen gegeben. Der Inhalt verfließt, die Form bleibt beständig. An der Wand hängt ein Kalender. Jeden Tag wird ein Blatt abgerissen, sieben in der Woche, dreißig im Monat. Ist am 31. Dezember der Kalender dünn und zu Ende, so wird ein neuer angefordert, gleichen Formats, gleicher Größe, gleichen Drucks: das Jahr ist ein anderes geworden, der Kalender derselbe geblieben. Auf dem Tisch liegt ein Abrechnungsbuch mit Kolonnen. Ist die Seite links volladdiert, so wird der Betrag auf der rechten Seite weitergeführt, und so von Blatt zu Blatt. Ist das letzte vollgeschrieben und das Buch beendet, so wird ein neues begonnen, gleicher Type, gleichen Formats, vom früheren nicht zu unterscheiden. Was verschwindet, ist am nächsten Tage wieder da, gleichförmig wie der Dienst, und so liegen auf derselben Holzplatte unabänderlich die gleichen Gegenstände, immer wieder die gleichförmigen Blätter und Bleistifte und Spangen und

In der Amtsstube Klein-Reifling, einem belanglosen Dorf unweit Krems, etwa zwei Eisenbahnstunden von Wien, gehört im Jahre 1926 dieser auswechselbare Einrichtungsgegenstand ›Beamte‹ dem weiblichen Geschlecht an und wird behördlicherseits, da diese Station einer niederen Zählklasse angehört, mit dem Titel Postassistentin angesprochen. Durch die Glasscheibe erspäht man von ihr nicht viel mehr als ein sympathisch unauffälliges Mädchenprofil, ein wenig schmal an den Lippen, ein wenig blaß an den Wangen, etwas grau unter den Augenschatten; abends, wenn sie die scharf markierende elektrische Lampe anschalten muß, merkt ein genauer Blick an Stirn und Schläfen schon einige leichte Kerben und Falten. Aber immerhin, mit den Malven am Fenster und dem breiten Holunderbusch, den sie sich heute in die blecherne Waschschüssel getan hat, stellt dieses Mädchen noch immer den weitaus frischesten Gegenstand inmitten der Postamtsutensilien von Klein-Reifling dar, mindestens noch fünfundzwanzig Jahre scheint sie diensthaltbar. Tausend und aber tausend Mal wird diese

Vielleicht sinnt hinter ihrem Glasfenster die aschblonde Postassistentin in dieser lautlosen Sommervormittagsstunde selbst solchen Zukünftigkeiten nach, vielleicht träumt sie nur lose vor sich hin. Jedenfalls ihre Hände sind vom Arbeitstisch unbeschäftigt nieder in den Schoß geglitten, dort ruhen sie zusammengefaltet, schmal, müde, blaß. An einem so blau brennenden, so feurig brütenden Julimittag hat die Post von Klein-Reifling wenig Arbeit zu befürchten, der Morgendienst ist erledigt, die Briefe hat der bucklige, tabakkauende Briefträger Hinterfellner längst ausgeteilt, vor abends kommen keine Pakete und Warenproben von der Fabrik zu spedieren, und zum Schreiben haben die Landleute jetzt weder Lust noch Zeit. Die Bauern harken, mit meterbreiten Strohhüten bewehrt, weit draußen in den Weingärten, die Kinder tummeln sich schulfrei mit nackten Beinen im Bach, leer liegt das buckelige Steinpflaster vor der Tür in der brodelnden, messingenen Glut des Mittags. Gut ist es jetzt, zu Hause zu sein und gut träumen zu dürfen. Im künstlichen Schatten der herabgelassenen Jalousien

Da plötzlich: Tack! Sie schreckt auf. Und nochmals, härter, metallener, unduldsamer: Tack, Tack, Tack. Der Morse hämmert ungebärdig, das Uhrwerk schnarrt: ein Telegramm – seltener Gast in Klein-Reifling – will respektvoll empfangen sein. Mit einem Ruck reißt sich die Postassistentin aus dem duseligen Faulenzergefühl, springt hin zum Lauftisch und schaltet den Streifen ein. Aber kaum sie die ersten Worte der rundlaufenden Schrift entziffert, braust ihr das Blut hoch bis unters Haar. Denn zum erstenmal, seit sie hier Dienst tut, sieht sie ihren eigenen Namen auf einem telegrafischen Blatt. Sie liest einmal, zweimal, dreimal die nun schon fertig gehämmerte Depesche, ohne den Sinn zu verstehen. Denn wie? Was? Wer telegrafiert da aus Pontresina an sie? »Christine Hoflehner Klein-Reifling, Österreich, aufrichtig

Immer wieder erweist sich die Schnelle des elektrischen Funkens unausdenkbar, weil sie geschwinder als unsere Gedanken. Denn diese zwölf Worte, die wie ein weißer, lautloser Blitz im dumpfen Brodem des österreichischen Amtsraums landeten, waren erst wenige Minuten vorher

Folgendes war dort geschehen: Anthony van Boolen, Holländer, aber seit vielen Jahren eingesessener Baumwollmakler in den amerikanischen Südstaaten, Anthony van Boolen also, ein gutmütiger, phlegmatischer und im Grunde höchst unbeträchtlicher Mann, hatte eben sein Frühstück auf der Terrasse – ganz aus Glas und Licht – des Palace Hotels beendet. Nun kam des Breakfasts nikotinische Krönung, die knollige, schwarzbraune Havanna, eigens in luftdichter Blechdose vom Pflanzort herübergebracht. Um den ersten allererquicklichsten Zug mit dem gelernten Behagen eines erfahrenen Rauchers zu genießen, polsterte der etwas fettleibige Herr seine Beine auf einem gegenüberliegenden Korbsessel hoch, dann entspannte er das riesige, quadratische Papiersegel des ›New York Herold‹ und entreiste mit ihm ins unermeßliche Letternmeer der Kurse und Maklernotierungen. Seine Gattin, ihm am Tisch quer gegenüber, Claire, früher höchst simpel Klara genannt, zerteilte inzwischen gelangweilt die morgendliche Grapefruit. Sie wußte aus vieljähriger Erfahrung, daß jeder Versuch, mit einem Gespräch die allmorgendliche Papierwand zu durchbrechen, bei ihrem Gatten völlig aussichtslos blieb. So geschah es nicht unwillkommen, daß der putzige Hotelboy, braunbekappt und apfelwangig, plötzlich scharf mit der Morgenpost auf sie losschwenkte: das Tablett enthielt nur einen einzigen Brief. Immerhin, sein Inhalt schien sie lebhaft zu beschäftigen, denn, unbelehrt von vielfachen Erfahrungen, versuchte sie die Morgenlektüre des Mannes zu unterbrechen: »Anthony, einen Augenblick«, bat sie. Die Zeitung rührte sich nicht. »Ich will dich nicht stören, Anthony,

Die Zeitung rührte sich nicht. Claire wurde ungeduldig. »Nun, was meinst du, soll man sie kommen lassen? … Schaden möchte es dem armen Ding nicht, ein paar Löffel frischer Luft zu trinken, und schließlich, es gehört sich doch. Wenn ich einmal hier herüben bin, sollte ich doch wirklich das Kind meiner Schwester kennenlernen, man hat ja gar keinen Zusammenhang mehr. Hast du etwas dagegen, daß ich sie kommen lasse?«

Die Zeitung knisterte ein wenig. Erst stieg ein Havannakringel über die weiße Kante, rund, schön blau, dann erst kam in schwerfälliger und gleichgültiger Stimme nach: »Not at all. Why should I?«

Mit diesem lakonischen Bescheid war das Gespräch beendet und ein Schicksal begann. Ein Zusammenhang war erneuert über Jahrzehnte hinweg, denn trotz des beinahe adelig klingenden Namens, dessen »van« nur ein gewöhnliches holländisches war, und trotz der ehelichen englischen Konversation war jene Claire van Boolen niemand anderes als die Schwester der Marie Hoflehner und demnach unbezweifelbar Tante der Postassistentin in

Nun aber die Einladung auf die Tochter übertragen

Quer um die Ecke, eine dunkle knarrende Holzstiege hinauf, und schon ist Christine daheim in dem gemeinsamen kleinfenstrigen Mansardenzimmer eines engbrüstigen Bauernhauses. Ein breit vorgeschobener Dachgiebel, Schneefang im Winter, kargt dem Oberstocke tagsüber jeden Faden Sonne weg; nur abends kriecht manchmal ein dünner und schon kraftloser Strahl bis zu den Geranien des Fensterbrettes. Immer muffelt es darum in der düstern Dachbodenstube nach Sumpfigem und Dumpfem, nach faulem Firstholz und modrigen Laken; uralte Gerüche sitzen wie Pilze im Holz; wahrscheinlich hätte in gewöhnlichen Zeitläuften diese Kammer nur als Speicher gedient.

Diese kranken, zu breiten Klumpen gequollenen Beine, die unter den Flanellbandagen gefährliches Venenblau zeigen, dankt die abgemüdete, früh gealterte Frau dem zweijährigen Dienst in einem nicht unterkellerten Bodengelaß eines Kriegsspitals, dem sie (man mußte verdienen) als Beschließerin zugeteilt war. Seitdem ist ihr Gehen nur mehr ein mühsames Sichfortkeuchen, und immer wenn sie sich anstrengt oder aufregt, muß die massige Frau sich plötzlich ans Herz greifen. Sie wird, das weiß sie, nicht alt. Ein Glück darum, daß nach dem Umsturz der Schwager Hofrat noch rechtzeitig die Posthilfsstelle aus dem Wirrwarr für die Christine herausfischte, erbärmlich zwar bezahlt und in einem ganz abseitigen Nest. Aber immerhin: eine Handvoll Sicherheit, ein paar Schindeln über dem Kopf, ein Stück Raum für den Atem, knapp ausreichend zum Leben und eher Gewöhnung schon an den noch engern Sarg.

Immer riecht es nach Essig und Feuchtem, nach Krankheit und Bettlägerigkeit in dem schmalen Geviert, und von der winzigen Küchenkammer nebenan kriecht durch die schlecht schließende Tür ein fader Geruch und Dunst von aufgewärmten Speisen wie ein schwelender Schleier herein. Die erste unwillkürliche Bewegung, kaum daß sie das Zimmer betritt, ist, daß Christine das geschlossene Fenster aufreißt. Von dem klirrenden Ruck erwacht die

Umständlich, jede Bewegung tut weh, tastet die verwitterte Hand nach der Brille auf dem Nachtkasten, es dauert, bis sie die stahlgeränderten Gläser unter dem Apothekerkram gefunden und vor die Augen gestülpt hat. Aber kaum die alte Frau das Blatt entziffert, fährt’s wie ein elektrischer Schlag durch den schweren Leib, die ganze breite Masse jappt auf, ringt nach Atem, taumelt und wirft sich schließlich mit ihrer ganzen unwiderstehlichen Wucht auf Christine. Heiß hält sie sich an der erschrockenen Tochter, schauert, lacht, keucht, will reden und vermag es noch nicht, schließlich sinkt die alte Frau erschöpft, die Hände ans Herz gepreßt auf den Sessel, atmet tief und hält eine Minute keuchend inne. Dann aber bricht es heraus aus dem zuckenden, zahnlosen Munde, wirr, nur halbverständlich in zitternden, stotternden und halbverschluckten Satztrümmern, immer wieder überschwemmt von wirrem und triumphierendem Lachen, und während sie, statt sich verständlich zu machen, immer heftiger stammelt und gestikuliert, fließen ihr schon die Tränen breit über die Backen in den welken und zuckenden Mund. Durcheinander wirft sie einen erregten Wortschwall auf die von dem lächerlich wilden Anblick völlig verwirrte Tochter; Gott sei Dank, jetzt sei alles

Immer wieder torkelt sie auf, die alte, aufgeschwemmte, in Tücher und Unterröcke schwer eingemummte Frau, und schwankt und stapft auf ihren elefantischen Beinen hin und her, daß die Dielen krachen. Immer muß sie wieder das große rote Taschentuch sich vor die Augen stopfen, denn die Tränen schluchzen ihr in den Jubel hinein, immer heftiger gestikuliert sie, und immer muß sie in ihrer tumultuarischen Begeisterung innehalten, um sich wieder hinzusetzen, zu stöhnen, sich zu schneuzen und für neuen Wortschwall Atem zu holen. Und immer fällt ihr noch etwas Neues ein, immer redet und redet und lärmt und jubelt sie und stöhnt und schluchzt durcheinander über ihre gelungene Überraschung. Da plötzlich, in einem Augenblick der Erschöpfung, merkt die Mutter, daß Christine, der sie all diesen Jubel zuwirft, ganz blaß, benommen und geniert dasteht, die Augen verwundert und eher verwirrt, und gar nicht weiß, was sie antworten soll. Das ärgert die alte Frau. Mit Kraft fährt sie noch einmal vom Sessel empor und auf sie zu, herzhaft packt sie die Verstörte an, küßt sie fest und feucht, reißt sie an sich, schüttelt und rüttelt sie hin und her, als wolle sie die Erschreckte aus dem Schlaf aufwecken: »Ja, warum sagst du denn nichts? Wen geht’s denn an als dich, was hast denn, du Dummerl? Stehst ja wie ein Holz und sagst nichts und red’st nichts, und so ein Glücksfall! So freu dich doch! Ja, warum freust dich denn nicht?«

Das Reglement verbietet strengstens allen Postangestellten ein längeres Verlassen des Dienstraumes während der Amtsstunden, und auch der wichtigste private Umstand besteht nicht vor dem ärarischen Gesetz: erst das Amt, dann der Mensch, erst der Buchstabe, dann der Sinn. So sitzt nach flüchtiger Unterbrechung die Postassistentin von Klein-Reifling wenige Minuten später wieder pflichtbereit hinter der Glasscheibe. Niemand hat unterdessen nach ihr verlangt. Verschlafen wie vordem liegen die losen Schriftblätter auf dem verlassenen Tisch, stumm und gelb glänzt der abgestellte Telegrafenapparat, der ihr eben noch so viel Hitze ins Blut gejagt, im dämmerigen Raum. Gottlob, niemand ist gekommen, nichts ist versäumt. Guten Gewissens kann die Postassistentin nun der verwirrenden Nachricht nachsinnen, von der sie im Tumult der Überraschung noch gar nicht begriffen hat, ob sie peinlich oder willkommen aus den Drähten ins Haus sprang. Erst allmählich ordnen sich die Gedanken. Sie soll fort, zum erstenmal fort von der Mutter, für vierzehn Tage, vielleicht für länger, zu fremden Leuten, nein, zur Tante Klara, der Schwester ihrer Mutter, in ein vornehmes Hotel. Sie soll Urlaub haben, wirklichen ehrlichen Urlaub, nach unzähligen Jahren einmal ausruhen dürfen, einmal die Welt sehen, etwas Neues, etwas anderes. Sie denkt nach, immer wieder, immer wieder. Es ist eigentlich doch gute Botschaft, und die Mutter hat recht, wirklich, sie hat recht, wenn sie darüber so froh ist. Ehrlich gedacht doch die beste Nachricht seit Jahren und Jahren, die ihr ins Haus kam. Zum erstenmal sich vom Dienst abhalftern zu dürfen, frei sein, neue Gesichter sehen, ein Stück Welt, ist das nicht wirklich Geschenk aus blauem Tag? Und plötzlich klingt sie ihr im Ohr, die staunende, erschreckte, fast zornige Frage der Mutter: »Ja, warum freust du dich denn nicht?«

Sie hat recht, die Mutter, wirklich recht: warum freue

Mit starren Augen, mit matten Schultern sitzt sie und starrt auf die fremde kalte Wand, und wartet und wartet, ob, so stark angerufen, nicht doch eine verspätete Freude sich rühre. Unbewußt hält sie den Atem an und horcht

Und plötzlich, das alles schwarz und ausgelöscht wie ein erdrückter Docht. 1914, ersten August. Nachmittags war sie im Schwimmbad gewesen; wie einen hellen Blitz hatte sie, in der Kabine aus dem Hemd fahrend, ihren straffen sechzehnjährigen Körper nackt gesehen, voll sich rundend, weiß, heiß, geschmeidig und gesund. Herrlich hatte sie ihn dann gekühlt, patschend und schwimmend, mit den Freundinnen wettjagend auf den knatternden Planken – noch hört sie das Lachen und Prusten des halben Dutzends halbwüchsiger Mädchen. Dann war man heimgetrabt, rasch, rasch, mit flinken Schritten, denn selbstverständlich hatte man wieder die Zeit verpaßt, und sie sollte der Mutter doch Einpacken helfen: in zwei Tagen sollten sie hinüber ins Kamptal auf Sommerfrische. Drei Stufen auf einmal war sie darum die Treppen hinauf, jagenden Atems geradehinein in die Tür. Aber sonderbar, kaum sie eintrat, hörten Vater und Mutter mitten im Wort zu sprechen auf, beide blickten heftig an ihr vorbei. Der Vater, den sie ungewohnt laut sprechen gehört, beginnt mit einem verdächtigen Eifer Zeitung zu lesen, die Mutter muß geweint haben, denn nervös knüllt sie das Taschentuch und geht hastig zum Fenster. Was ist geschehen? Haben sie Streit gehabt? Nein, nie, das kann nicht stimmen, denn jetzt wendet der Vater sich plötzlich um und legt der Mutter, nie hat sie ihn so zart gesehen, die Hand auf die zuckende Schulter. Aber die Mutter hebt nicht den Blick zurück, nur heftiger flackert das Zucken unter der stummen Berührung. Was ist geschehen? Keiner von beiden kümmert sich um sie, keiner von beiden sieht sie nur an. Noch jetzt, nach zwölf Jahren erinnert sie sich an ihre Angst von damals. Sind sie ihr böse? Hat sie am Ende etwas angestellt? Erschreckt – immer steckt ja ein Kind randvoll mit Angst und Schuldgefühl – schleicht

Und dann 1915: siebzehn Jahre. Die Eltern gealtert um ein Jahrzehnt. Der Vater, als ob irgendeine Lauge innen an ihm zehrte, schrumpft zusammen, gelb und gebückt quält er sich von einem Zimmer ins andere, und alle wissen, er hat Sorgen mit dem Geschäft. Seit sechzig Jahren, noch vom Großvater her, gab’s keinen in der ganzen Monarchie, der Gamskrickel so zu richten und Waidbeute so kunstvoll auszustopfen verstand als Bonifazius Hoflehner und Sohn. Den Esterházy, den Schwarzenberg, den

1916