Über Alli Sinclair

Alli Sinclair, verbrachte lange Zeit in Nepal, Argentinien und Peru. Ihre große Leidenschaft ist der spanische und lateinamerikanische Tanz. Für ihre Bücher wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. John Boyne, Mary Morris, Mary Basson und Kristin Hannah ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Die Tänzerin am Ufer der Seine.

Seit dem Tod ihres Verlobten ist Lily das erste Mal wieder in Paris. Hier lernt sie den Komponisten Yves kennen, der an einem Stück über eine russische Tänzerin arbeitet. Yves ist fasziniert von der verletzlichen Lily und hofft auf Inspiration – schließlich war sie selbst einmal eine gefeierte Ballerina. Zunächst weigert sich Lily, denn seit dem Tod ihres Verlobten hat sie nie wieder getanzt. Als sie jedoch eine ungeahnte Verbindung zu der russischen Ballerina Viktoria Budian entdeckt, die 1917 in Paris lebte, steht sie vor der Frage: Kann man die Leidenschaft seines Lebens einfach aufgeben?

Eine junge Ballerina, ein tragischer Verlust und die heilende Kraft der Liebe

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Alli Sinclair

Die Ballerina von Paris

Roman

Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jaric´

Inhaltsübersicht

Über Alli Sinclair

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Danksagung

Pawlowa – eine Torte mit Geschichte

Diskussionsfragen

Impressum

Für Garry, Rebecca und Nicholas.

Ich danke euch.

Ihr bringt Sonnenschein in die Welt

und Liebe in mein Herz.

Kapitel 1

Lily legte ein Bein auf die Balkonbrüstung, beugte sich langsam vor und dehnte ihre Muskeln. Ihr Blick wanderte über den Boulevard Saint-Germain zu ihren Füßen. Der Duft von Kaffee und frischgebackenem Brot stieg ihr in die Nase, und ihr Magen begann zu knurren. Unten in den Bäumen raschelte eine leichte Brise und ließ das Laub im Sonnenlicht flimmern. Auf dem Boulevard besuchten Einheimische und Touristen die kleinen Boutiquen, betraten Buchläden oder ließen sich in einem der zahlreichen Cafés zu einer ausgedehnten Mittagspause nieder.

Lily spürte, wie gut ihr die warme Herbstsonne tat. Sie krümmte ihre Zehen und spreizte sie wieder, konzentrierte sich auf jeden Muskel. Dann wiederholte sie die Übungen mit dem anderen Bein. Anschließend nahm sie die erste Position ein und ging mit den Armen alle Positionen durch, von der ersten bis zur fünften.

Zwar widerstrebte es ihr, die Schmerzen in ihrem Rücken mit ihren geliebten Ballettübungen in Schach zu halten, doch es war nicht zu leugnen, dass die Bewegungen, die sie fast ihr Leben lang durchexerziert hatte, enorm hilfreich waren. Es blieb ihr auch nichts anderes übrig, denn seit ihrer Ankunft in Paris hatte sie feststellen müssen, dass es ihr körperlich – und seelisch – doch noch nicht wieder so gutging, wie sie angenommen hatte.

Sie beendete ihre Übungen, stützte die Ellbogen auf die Balkonbrüstung und betrachtete das Stadtviertel unter ihr. Ganze Lichtjahre schien Paris von dem kleinen Rutherford Creek in Australien entfernt, wo sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte. Eigentlich war es unfassbar, dass ein Mädchen wie sie, das außer Rutherford Creek nicht viel gekannt, den Kopf aber voller Flausen gehabt hatte, vom berühmten Australian Ballet in Melbourne angenommen worden war. Noch erstaunlicher war ihre nächste Station gewesen, ein Engagement bei einer der angesehensten Tanzkompanien Europas, der Bohème Ballet Company von Paris. Als man in ihrer Heimat von diesem Angebot aus Paris erfuhr, war sie von Zeitungsreportern interviewt worden. Doch seit dem Unfall weigerte sie sich, mit Reportern zu sprechen. Trotzdem riefen sie weiter an, in der Hoffnung, irgendwann würde sie sich vielleicht doch noch über den Abend des Unfalls äußern.

Mit einem Seufzer stieß sie sich von der Brüstung ab. Es hatte sie große Überwindung gekostet, erneut ein Flugzeug nach Paris zu besteigen. Deshalb wäre es unsinnig, sich nun in einem gemieteten Apartment zu verstecken. Es würde sie auch nicht zum Ziel ihrer Reise führen. Zwar wäre sie überall lieber als in der Stadt, in der ihr Leben zerstört worden war, aber sie hatte keine andere Wahl. Man musste sich seinen Dämonen stellen. Verkrochen hatte sie sich lange genug. Und dabei hatte ihr einmal die Welt zu Füßen gelegen.

Lily kehrte in ihr Zimmer zurück, steckte den Fotoapparat in ihren Rucksack und verließ das Haus. Sie wollte das weiche Licht des Herbsttags nutzen und im Jardin Marco Polo fotografieren.

Im Park angekommen, blieb sie bei dem monumentalen Springbrunnen stehen und betrachtete die vier spärlich bekleideten Frauenfiguren aus Bronze, die eine riesige Himmelssphäre mit einer Erdkugel darin hochstemmten. Ihre Gesichter verrieten die Anstrengung, die es sie kostete. Es war eine phantastische Skulptur, der Bildhauer musste ein Genie gewesen sein.

Lily fotografierte den Brunnen aus mehreren Blickwinkeln und wählte ihre Bildausschnitte lange und mit Bedacht, nur um noch ein wenig Zeit zu schinden. Sie wünschte, das Kraftvolle, das von den Brunnenfiguren ausging, würde auf sie abfärben; denn hier in Paris schien ihr Leid erneut übermächtig zu werden. Jede Ecke erinnerte sie an Aiden, immer wieder sah sie die Bilder des Unfalls vor sich – und ihre Schwester, die sie hätte trösten können, wollte nichts mehr von ihr wissen.

Sie ging die Fotos auf dem kleinen Display der Kamera durch und war zufrieden. Seit sie das Ballett aufgegeben hatte, half ihr die Fotografie, mit den langen unausgefüllten Tagen fertigzuwerden. Zudem gab sie ihr das Gefühl, etwas kontrollieren zu können, wohingegen alles andere in ihrem Leben zunehmend aus den Fugen geriet. Wenn ihr ein Blickwinkel nicht gefiel oder ein Motiv unscharf geworden war, konnte sie das Bild löschen und neu aufnehmen. Das Leben ließ sich nicht so einfach korrigieren. Und doch würde sie es versuchen. Sie würde noch einmal zu ihrer Schwester gehen – die ihr wahrscheinlich die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Wieder einmal.

Lily fotografierte weiter. Endlich einmal hatte sie andere Motive als die rote Erde und die bewaldeten Hügel rund um Rutherford Creek.

Wie oft hatte ihre Mutter sie gedrängt, wieder in die Welt hinauszugehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Lily fand, dass sie zu hart mit ihr war, auch wenn sie vielleicht recht hatte. Welche Mutter wollte schon zusehen, wie sich ihre ehemals erfolgreiche neunundzwanzigjährige Tochter in einem kleinen australischen Nest verkroch?

Lily schloss die Augen, hielt ihr Gesicht in die Sonne und atmete tief ein und aus. Sie musste ruhiger werden, sich sammeln und auf die Begegnung mit Natalie vorbereiten.

Um sich noch eine Weile vor der Abfuhr zu drücken, die ihre Schwester ihr wieder erteilen würde, konzentrierte sie sich auf die Farben des herbstlichen Parks. Die letzten gelben, roten und bronzefarbenen Blätter klammerten sich an die Zweige der Bäume und wurden von der nächsten Brise zu Boden geweht. Dieser ruhige gepflegte Fleck inmitten der hohen Pariser Gebäude war ganz anders als der verwilderte Park zu Hause in Rutherford Creek, und doch konnte Lily sich vorstellen, wie sie und Natalie hier als Kinder glücklich lachend durch das bunte Herbstlaub gewatet wären, beide noch unbefangen in der Unschuld ihrer jungen Jahre. Aber diese Zeit war lange vorbei und würde auch nicht wiederkehren, ganz gleich, wie sehr sie sich das wünschen mochte.

Lily verjagte ihre wehmütigen Gedanken. Sie betrachtete die kleinen Gruppen Jugendlicher, die auf dem Weg über die breiten Kieswege auf ihren Handys tippten, die älteren Paare, die Arm in Arm spazierten, die Mütter mit kleinen Kindern. Jeder war in Bewegung, mit Ausnahme des Mannes, der nicht weit entfernt allein auf einer Parkbank saß.

Er machte Lily neugierig. Sein olivfarbener Teint bot einen hübschen Kontrast zum milden Licht des Tages, und sein brünettes, schulterlanges Haar sah aus, als wäre er mit den Fingern durchgefahren. Doch vor allem fiel ihr auf, dass er in die Ferne starrte, mit einem Stift in der Hand und einem Notizblock auf den Knien. Er wirkte so fokussiert, als hinge einiges von dem ab, was er gerade tat. Oder vielmehr nicht tat.

Es juckte Lily in den Fingern, diesen gutaussehenden Mann mit seinem starren Blick zu fotografieren, doch sie wollte ihn nicht stören oder gar verärgern. Obwohl er nicht den Eindruck machte, dass ihn die Blicke anderer Leute interessierten.

Ein arroganter Mann, dachte Lily und schalt sich sofort für den Gedanken. Jahrelang hatte man sie nur aufgrund ihres Aussehens und ihrer Bewegungen beurteilt, und nun tat sie das Gleiche bei diesem Fremden. Schuldbewusst wollte sie sich abwenden, doch in dem Moment drehte er den Kopf zu ihr um. Ihre Blicke trafen sich, seine Miene blieb ausdruckslos.

Auf der anderen Seite des Wegs stand eine freie Bank im Schatten eines Baums. Lily ließ sich darauf nieder und wühlte eine Flasche Wasser aus ihrem vollgepackten Rucksack hervor. Sie nahm einen Schluck und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den großen Springbrunnen. Die Skulpturen waren ein Meisterwerk, nicht nur die Frauenfiguren, sondern auch die gewaltigen Bronzepferde, die sich mit den Vorderbeinen aus dem Wasser erhoben. Die Körper der Tiere waren so detailgetreu, wirkten so lebensecht, dass man glauben konnte, gleich würden sie über die Einfassung des Brunnenbeckens springen.

Der attraktive Mann mit den verwuschelten Haaren hatte sich über seinen Block gebeugt und wie ein Wilder zu schreiben begonnen. Das, was ihn blockiert hatte, war offenbar verschwunden. Dann und wann sah er Lily an, wieder mit unbewegter Miene, ehe er sich erneut seiner Eingebung überließ und sein Stift wieder über das Papier flog. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, was er Wichtiges schreibe, doch dazu fehlte ihr der Mut.

Lily stand auf. Die Sonne war hinter einer Wolkenbank verschwunden, die langsam einen verdächtigen Stich ins Gräuliche bekam. Fröstelnd packte sie ihren Fotoapparat ein. Sie musste sich zum Théâtre du Châtelet aufmachen, wo Natalie mit der Bohème Ballet Company probte – derselben Tanzkompanie, der Aiden und sie selbst einmal angehört hatten. Sie nahm ihren Rucksack auf den Rücken und warf dem Mann auf der anderen Bank einen letzten Blick zu. Er kaute beim Schreiben an seiner Lippe, und Lily wunderte sich, dass er noch keinen Krampf in der Hand bekommen hatte.

Reiß dich zusammen, Lily, du hast jetzt lange genug getrödelt.

Nach einem tiefen Atemzug durchquerte sie den Park und lief über den Boulevard Saint-Michel zur Seine. In der Mitte des Pont au Change blieb sie noch einmal stehen und stützte sich auf das Geländer.

Am Ufer erhob sich die jahrhundertealte Conciergerie. Dunkle Wolken zogen über die grauen Türme hinweg. Die Conciergerie war einmal ein Palast gewesen, den man während der Französischen Revolution zu einem Gefängnis umfunktioniert hatte, die letzte Station auf dem Weg zum Schafott. Die berühmteste Insassin war Marie Antoinette gewesen. Lily bezweifelte, dass die Königin Frankreichs sich ihr Leben so vorgestellt hatte, genau wie sie selbst sich nie hätte träumen lassen, dass ihre Karriere so kurz sein und so tragisch enden würde. Nein, an diesen dunklen Ort ihrer Erinnerung wollte sie nicht wieder gehen. Sie richtete ihren Blick erneut auf das historische Gebäude. Ob das Geschichtsträchtige einer Stadt wie Paris einem jemals so sehr zur Gewohnheit werden konnte, dass man es gar nicht mehr wahrnahm? Sie würde es nicht erfahren, denn sie hatte nicht vor, lange in Paris zu bleiben. Ankommen, erledigen, was zu erledigen war, wieder abreisen. So war der Plan.

Schnellen Schritts lief sie weiter. Und dann stand sie vor dem Théâtre du Châtelet, rundum fotografierten Touristen das imposante Gebäude mit den hohen Rundbogenfenstern und dem großen Balkon. Doch Lily hatte kein Auge für die majestätische Pracht des Theaters. Als sie zuletzt hier gestanden hatte, war Aiden noch bei ihr gewesen. Sie hatten das Theater betreten, waren durch die Flure gestreift und hatten die opulente Ausstattung des Zuschauerraums bestaunt. In diesem Theater war die Musik Tschaikowskis und Richard Strauss’ gespielt worden, es hatte Aufführungen gegeben, für die Picasso die Kostüme und das Bühnenbild entworfen hatte, hier waren die grandiosen Tänzer und Tänzerinnen der Ballets Russes aufgetreten. Wie viel Geschichte und Kultur diese Wände gesehen, wie viele Dramen sie erlebt hatten.

Damals hatten sie und Aiden vor ihrem neuen Leben gestanden, überschäumend vor Glück – bis ein gewaltiges Stück Metall auf Rädern in ihr Leben raste. Danach war es für Lily einfach gewesen, das Ballett aufzugeben, und damit den Traum, auf der Bühne des Théâtre du Châtelet zu tanzen. Doch nun stand sie wieder an dem Ort, auf den sich einmal ihre ganze Sehnsucht gerichtet hatte, konnte kaum noch atmen und wusste nicht mehr, ob die Entscheidung, das Ballett hinter sich zu lassen, richtig gewesen war.

Lily rieb sich den unteren Rücken. Wenn sie sich verkrampfte, nahmen ihre Schmerzen zu. Sie hatte Glück gehabt, den Unfall zu überleben und wieder laufen zu können. Doch es gab Tage, da wünschte sie, sie wäre dabei umgekommen. Es hätte ihr ein Leben mit Gespenstern und Schuldgefühlen erspart. Sie hätte sich nicht fragen müssen, ob sie es verdient hatte, weiterzuleben und wieder etwas zu finden, das ihr Dasein lebenswert machte.

Ein Leben, das nicht vergeudet war.

Eines, das es vielleicht sogar wert war, eine neue Liebe zu finden.

Ihr Blick wanderte in die Ferne, das Gebäude vor ihren Augen verschwamm. Sie sah Aiden am letzten Tag vor sich, wie der Wind ihm das Haar aus dem Gesicht blies. Sein Lächeln war voller Zärtlichkeit. Er nahm ihre Hand. Sie betraten das Theater, rannten über die Flure, kicherten wie verliebte Teenager. Aiden stieß die Tür zu einem leeren Übungsraum auf, drückte sie an die Wand und rieb sich an ihr. Er hatte den festen Körper eines Tänzers, seine Bewegungen raubten ihr fast den Verstand. Seine Lippen berührten ihren Mund und –

Jemand stieß gegen sie.

Es war eine hochgewachsene Blondine. »Excusez-moi«, sagte sie beiläufig, doch dann sah sie Lilys Gesicht und fragte, ob sie ihr weh getan habe.

»Nein, alles in Ordnung«, antwortete Lily auf Englisch. Selbst das wenige, was sie auf Französisch sagen konnte, war wie weggeblasen.

Die Frau tätschelte Lilys Schulter und eilte auf ihren Stöckelschuhen davon.

Die Bilder aus der Vergangenheit hatten Lily mit ihrer ganzen Wucht getroffen. Natürlich hatte sie die Szenen auch sonst oft vor Augen, aber nie hatten sie so real gewirkt. Ihr Blick wanderte zu dem Theatergebäude. Kein Wunder, hier war schließlich der Ort, wo jene schicksalhaften Tage begonnen hatten.

Ihr Herz zog sich zusammen. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber sie zwang sich, auf das Theater zuzugehen, setzte einen Fuß vor den anderen. Um ihre Schwester zu sehen, hatte sie eine lange Reise auf sich genommen und würde nicht in letzter Minute kneifen. Sie straffte ihre Schultern und folgte dem vertrauten Weg. Sie spürte den Schweiß, der sich in ihren Achselhöhlen sammelte, und hörte eine leise Stimme, die ihr ins Ohr flüsterte, sie solle lieber auf dem Absatz kehrtmachen. Aber das konnte sie nicht. Es hätte bedeutet, dass ihr Vorhaben gescheitert war.

Schon am Tag zuvor hatte sie versucht, mit Natalie zu reden, und sich zu ihrer Wohnung aufgemacht. Das war ein Fehler gewesen. Natalie war allein in der Wohnung, niemand konnte sehen, wie sie ihrer Schwester die Tür vor der Nase zuschlug. Im Theater, vor den Augen anderer Tänzer, würde sie ihren Zorn hoffentlich zu verbergen versuchen, und vielleicht konnte Lily sie dann dazu bringen, ihr zuzuhören.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer Kindheit. Sie hatte sich immer so liebevoll um Natalie gekümmert, dass sie nun wohl fünf Minuten ihrer Zeit beanspruchen durfte. Doch ihre Schwester war rücksichtslos und aggressiv geworden. Wie oft hatte Lily mit dem Gedanken gespielt, einen Schlussstrich unter die Beziehung zu setzen. Aber den Gedanken, ihre einzige Schwester und einstmals beste Freundin für immer zu verlieren, konnte sie nicht ertragen. Vielleicht war sie zu hoffnungsvoll, aber ein Gefühl sagte ihr, dass sie sich vielleicht doch noch versöhnen könnten.

Auf dem Weg zum Bühneneingang wurde die Erinnerung so übermächtig, dass es ihr einen Moment lang schwindelte. Der Portier war noch der alte, stellte sie fest. Wahrscheinlich erinnerte er sich nicht mehr an sie, sie hatte dem Ballett ja nur drei Wochen lang angehört. Doch jemanden aus jener Zeit wiederzusehen, verstärkte das schmerzliche Ziehen in ihrer Brust. Um sich nichts anmerken zu lassen, lächelte sie und sagte in holprigem Französisch: »Guten Tag, ich bin die Schwester von Natalie Johansson und würde gern mit ihr sprechen.«

Der Mann studierte sie unter buschigen grauen Brauen. »Lily, sind Sie das? Herzlich willkommen! Wie schön, Sie wiederzusehen. Als Sie das letzte Mal hier waren, konnte ich Ihnen leider nicht mehr sagen, wie leid es –«

»Vielen Dank, Bernard«, fiel Lily ein. Sein Englisch war seit ihrer letzten Begegnung viel besser geworden, wohingegen sich ihr Schulfranzösisch rapide verschlechtert hatte. »Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?«

Bernard strahlte. »Danke, uns geht es bestens. Die Schneiderei meiner Frau macht sich gut, vielleicht kann ich mich bald zur Ruhe setzen. Und mein Sohn wird demnächst heiraten.«

»Das freut mich.« Lily hatte Bernard nur kurze Zeit gekannt, doch ihr Interesse an seiner Familie war aufrichtig. Sie nestelte am Riemen ihres Rucksacks und schaute zu Boden. »Was meinen Sie, könnte ich vielleicht zu –«

»Zu Ihrer Schwester? Natürlich. Falls die Probe noch nicht beendet ist, finden Sie Natalie in Saal eins.« Bernard zog die schwere Metalltür auf. Sie quietschte in den Angeln, ein Geräusch, das Lily durch und durch ging. Sie trat über die Schwelle. Sofort stiegen ihr die Gerüche ihrer Vergangenheit in die Nase. Als sie aus Paris geflohen war, hatte sie alles, was sie an das Ballett erinnerte, vernichtet, doch nun atmete sie gierig die Düfte ein, denen sie hatte entkommen wollen.

Sie zwang sich weiterzugehen. Mit gesenktem Kopf durchquerte sie den langen schmalen Flur. Dann hatte sie den Probensaal erreicht und verharrte. Balletttänzer und -tänzerinnen liefen an ihr vorüber, ohne zu ahnen, welcher Tumult sich in Lilys Brust abspielte. Klassische Klaviermusik drang durch die Wände. Lilys Hand schwebte über der Türklinke. Würde sie mit einer neuen Zurückweisung umgehen können? War das, was sie vorhatte, der Mühe wert?

Natürlich war es das. Natalie hatte sie wie ein zerbrochenes Spielzeug fortgeworfen, doch Lily vermisste ihre Schwester. Sie hatten aneinander gehangen, hatten das Ballett schon als kleine Mädchen geliebt und zusammen tanzen gelernt. Wie oft waren sie mit ihrer Mutter zum Ballettunterricht in den Nachbarbezirk gefahren? Wie oft hatten sie sich nachts im Bett aneinandergekuschelt und sich flüsternd eine Zukunft als Tänzerinnen ausgemalt? Sie waren einander so nah gewesen, und doch war dieses Band zerrissen.

Lily klopfte an die Tür. Ein schlanker junger Mann mit schwarzem Haar öffnete, zog eine Braue hoch und fragte: »Ja, bitte?«

Er trug Übungskleidung und musste einer der Tänzer sein. »Guten Tag, ich suche –«

»Sag ihr, ich bin nicht da!«, ertönte von irgendwo Natalies Stimme.

Lily versuchte, an dem Mann vorbeizuschlüpfen, doch er verstellte ihr den Weg. »Bitte, ich bin Natalies Schwester.«

»Sie sind Lily?« Sein Blick wurde abweisend. »Natalie möchte nicht mit Ihnen sprechen.«

»Ich bin den ganzen Weg von Australien –«

Die Tür wurde ganz aufgerissen. Natalie stand im Türrahmen, in malvenfarbenem Trikot und schwarzen Beinwärmern. Das verschwitzte blonde Haar klebte an ihren Schläfen, und ihre zarten Gesichtszüge waren zu einer wütenden Grimasse verzerrt. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht mit dir reden will? Verschwinde.«

Sie knallte die Tür zu. Lily starrte auf das Holz, das sie von ihrer Schwester trennte, und spürte, dass sie zornig wurde.

Zwei junge Tänzerinnen huschten kichernd an ihr vorüber. Sie sah ihnen nach. Dass Tänzerinnen Wutanfälle bekamen und Türen zuknallten, gehörte zur Tagesordnung, darüber lachte man höchstens. Sie selbst war allerdings nie laut geworden und damit aufgefallen. Neben ihrer ausgeglichenen Art hatte es aber vor allem an ihrem Können gelegen, dass das Bohème-Ballett sie engagiert hatte, und daran, dass sie und Aiden ein Paar gewesen waren. Für das Bohème war es ein Triumph, sie beide verpflichten zu können, zumal auch berühmtere und wohlhabendere Theater um sie geworben hatten. Doch der Reiz von Paris – der Stadt des Lichts und der Liebe – lockte sie und Aiden hierher. Sie wollten ein neues Leben beginnen und ahnten nicht, wie rasch es ihnen entrissen würde.

Niedergeschlagen wandte sie sich ab und ging den Flur zurück. Es hatte keinen Sinn, hier noch länger zu bleiben. Natalie hatte sich deutlich genug ausgedrückt und würde ihre Meinung wohl nicht ändern. Lily brauchte einen anderen Plan, um sich ihr zu nähern. Obwohl sie ihre Schwester kaum noch wiedererkannte. Bitter, selbstsüchtig und anklagend war sie geworden, und nichts erinnerte mehr an das zärtliche kleine Mädchen, das seine ältere Schwester einmal angebetet hatte. Und dann bewarb sie sich auch noch um die Aufnahme in das Bohème Ballet und nahm den Platz ein, den Lily verloren hatte. Für Lily war es wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Wie oft hatte sie sich nach dem Grund für Natalies Verhalten gefragt und nicht verstanden, warum sie sich so brutal über Lilys Gefühle hinwegsetzte. Irgendetwas war mit Natalie geschehen, und sie musste herausfinden, was es war. Wenn sie es nicht schaffte, bliebe sie für immer in der Vergangenheit stecken, unfähig, ihre Zukunft in Angriff zu nehmen.

Am Ausgang schluckte sie ihre Tränen hinunter und lächelte Bernard an, der ihr die Tür aufhielt.

»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Mademoiselle Johansson.«

»Das wäre schön, Bernard.« Auf der Straße blendete sie die sinkende Sonne. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und winkte dem Portier zum Abschied.

Wenig später war sie erneut auf dem Pont du Change und froh, die Begegnung mit ihrer Schwester hinter sich zu haben. Doch ihr Rücken brannte nun wie Feuer. Sie beschleunigte ihren Schritt, versuchte, ihre Muskeln zu lockern, und wusste, sie sollte dankbar sein, dass sie sich überhaupt wieder bewegen konnte.

Als die Sonne hinter den hohen Gebäuden am Ufer der Seine versank, wurde es kühler, und Lily wünschte, sie hätte einen Schal eingesteckt. Sie legte noch einen Schritt zu. Die Menschen, die aus den Büros und Geschäften strömten, nahm sie nur am Rand wahr. Erst als sie in Vanves war, wurde ihr bewusst, wie weit sie gelaufen war. Über eine Stunde war sie unterwegs gewesen. Sie sah sich um. Auf der Straße reihte sich Auto an Auto. Sie war an der Ecke Rue Jean Bleuzen und Rue Danton gelandet. Das hatte sie nicht gewollt. Ihr Herz begann ängstlich zu zucken. Warum hatte sie nicht aufgepasst, und seit wann ließ sie sich einfach von ihren Füßen tragen? Es hatte Zeiten gegeben, da waren sie ihr wichtigstes Körperteil gewesen, hatten ihr geholfen, sich perfekt zu bewegen, statt sie zu einem Ort zu führen, an dem sie nicht sein wollte.

Würde sie nur noch wenige Schritte weiter gehen, wäre sie auf der Avenue Victor Hugo, der Straße, in der sie den Mann verloren hatte, den sie hatte heiraten wollen, mit dem sie eine strahlende Zukunft erträumt hatte. Schon der Name »Victor Hugo« ließ sie schaudern. Aiden hatte das Werk des Schriftstellers geliebt, aus »Der Glöckner von Notre-Dame« konnte er ganze Passagen aufsagen. An jenem Abend überredete er sie, mit ihm zu der Straße zu laufen, die nach ihm benannt worden war. Sie hatten einen langen Probentag hinter sich, und eigentlich hatte sie keine Lust, durch Paris zu laufen, doch sie tat Aiden den Gefallen und begleitete ihn. Wenn sie sich doch nur durchgesetzt und ihn auf einen anderen Tag vertröstet hätte. Dann würde er noch leben.

Ein Hupkonzert holte sie in die Gegenwart zurück. Die Autos standen in zwei Reihen im Stau, die Fahrer fuhren die Seitenfenster herunter und brüllten sich an. Lily wandte sich ab und machte sich auf den Rückweg. Ihr Herz raste, und ihr war übel. Ihre Schritte beschleunigten sich, und rennend entfernte sie sich von der Avenue Victor Hugo.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen trugen Lilys Füße sie erneut zu einem Ort, den sie eigentlich nicht hatte aufsuchen wollen. Doch sie lief so selbstvergessen durch die Pariser Straßen, bewunderte die eleganten Gebäude entlang der breiten Boulevards, durchstreifte kleine Parks und kopfsteingepflasterte Gassen, bis sie sich plötzlich am Jardin Marco Polo wiederfand, als hätte jemand sie an einer unsichtbaren Leine gezogen.

Sie spazierte durch den Park, fotografierte Skulpturen, ein Stück Wiese, das von Sonnentupfern gesprenkelt wurde, Bäume, auf die zarte Lichtstrahlen Spitzenmuster malten. Lily widmete sich der Fotografie so hingebungsvoll wie früher einmal dem Ballett. Beides brauchte Begabung, Übung und konzentrierte Arbeit, um perfekt auszufallen.

Nach einer Weile holte sie eine Tüte Croissants aus dem Rucksack. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie trotz allem noch immer Appetit hatte, aber vielleicht brauchte sie die Leckereien, die Paris zu bieten hatte, als Seelennahrung. Sie biss in das erste knusprige Gebäckstück. Sie liebte den leicht süßen Buttergeschmack. Aus der Ferne drangen Kinderstimmen an ihr Ohr, sonst hörte sie nur Vogelgezwitscher und ihre Schritte auf dem kiesbestreuten Weg.

Hinter der nächsten Biegung sah sie den Mann vom Vortag wieder. Wie zuvor saß er mit gezücktem Stift und einem Block auf den Knien auf seiner Bank und starrte in die Ferne. Falls er den Park als sein Büro betrachtete, schien es mit seiner Produktivität nicht immer zum Besten zu stehen.

Auch Lily ließ sich wieder auf ihrer Bank nieder und zog ihre Wasserflasche aus dem Rucksack hervor. Sie nahm einen Schluck. Ihr Blick glitt über den Springbrunnen mit den mächtigen Frauenfiguren und den Pferden. Dann schaute sie noch einmal zu dem Mann hinüber. Nun schrieb er wieder wie ein Getriebener, das Haar hing ihm ins Gesicht, und seine Zungenspitze war zwischen die Lippen geklemmt. Das war sympathisch. Auch bei ihr sah man die Zungenspitze, wenn sie sich konzentrierte. Wie oft hatte ihr ein Ballettmeister zugerufen: »Lily, zieh die verdammte Zunge ein.«

Der Mann schaute auf. Ihre Blicke trafen sich. Diesmal nahm er sie wahr, auf seinen Lippen deutete sich ein Lächeln an. Als es seine Augen erreichte, wirkte er noch sympathischer.

Er beugte sich wieder über seinen Block und schrieb weiter. Doch dann und wann hob er den Kopf und sah Lily an. Sie studierte ihn ganz offen. Es gab ihr das Gefühl, zu jemandem Kontakt aufzunehmen, und linderte ihre Einsamkeit. Selbst auf die Gefahr hin, dass er ihr Starren als aufdringlich empfand, konnte sie nicht damit aufhören. Seit ihrer Ankunft hatte sie mit kaum jemandem gesprochen, nur die üblichen Floskeln von sich gegeben, wenn sie ein Geschäft oder ein Café betrat. Aber ihr Französisch reichte ohnehin nicht aus, um längere Gespräche führen zu können. Abgesehen davon war ihr kaum nach Reden zumute, dazu schwirrten ihr zu viele Gedanken durch den Kopf. Und allein war sie eigentlich schon, seit sie nach Rutherford Creek zurückgekehrt war. Mit wem hätte sie dort auch reden sollen? Die meisten ihrer alten Schulfreunde arbeiteten in Sydney oder in Melbourne, und diejenigen, die zu Hause geblieben waren, schufteten sieben Tage in der Woche auf ihren Feldern, um ihren kargen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihre Freunde aus dem Australian Ballet wiederum waren inzwischen in alle Winde verweht, auf Tourneen oder mit Proben beschäftigt. Australien war riesig, die Entfernungen so groß, dass man sich leicht isoliert fühlen konnte.

Mit einem Seufzer steckte sie die Wasserflasche zurück und stand auf. Der Mann hob den Kopf. Sie schulterte ihren Rucksack, nickte ihm kurz zu und wandte sich zum Gehen. Der Mann räusperte sich.

»Excuse-moi«, sagte er. »Darf ich dich etwas fragen?«

Lily drehte sich um. Er war ebenfalls aufgestanden und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Es war eine attraktive Geste, vielleicht hatte er sie vor dem Spiegel geübt.

»Es tut mir leid«, antwortete sie. »Aber ich kann kein Französisch.« Wie oft sie diesen Satz schon hatte sagen müssen, und jedes Mal hatte sie es komisch gefunden, auf Französisch zu sagen, dass sie die Sprache nicht konnte.

»Das war doch nicht schlecht«, antwortete er auf Englisch. »Man darf einfach keine Hemmungen haben.«

Seine Stimme gefiel ihr, sie war tief und melodiös. »Ich fürchte, mehr als den kurzen Satz habe ich nicht zu bieten. Das heißt, Kaffee, Croissants und Wein kann ich auch bestellen. Und Käse kaufen. Wenn ich Käse und Baguette kaufe, bin ich richtig klasse.« Lily errötete. So war das, wenn man einsam war, man traf jemanden und redete wie ein Wasserfall, auch wenn man den anderen gar nicht kannte. Sie musste öfter unter Menschen gehen. Viel öfter.

In seinen Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen, und dann prustete er los. »Dann werden wir nur auf Französisch sprechen, wenn es um Essen geht, alles andere auf Englisch. Kommst du aus England?«

»Aus Australien.« Warum hielt jeder sie für eine Engländerin? Vielleicht wegen ihrer blassen Haut, die im heißen australischen Sommer schnell verbrannte, falls sie nicht aufpasste.

Er legte den Kopf schief, sein Haar glänzte in der Sonne. Wirklich ein gutaussehender Mann.

»Ich dachte, du wolltest mich etwas fragen.« Lily schaute an sich hinunter und wischte Plunderteigflocken von ihrer Strickjacke und ihrem verknitterten Rock. So wie sie aussah, dürfte er kaum vorhaben, sie um ein Date zu bitten, und wie ein Vergewaltiger, der sie gleich ins Gebüsch zerren würde, kam er ihr auch nicht vor.

Einen Moment lang wirkte er unsicher. Dann deutete er auf seine Bank. »Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich würde dir gern zeigen, was ich geschrieben habe.«

Lily sah sich um. Im Park waren einige Leute, manche so nah, dass sie ihren Hilferuf im Ernstfall hören würden. Außerdem war sie neugierig.

»Okay.« Sie folgte ihm zu seiner Bank. Er hatte breite Schultern und lange Beine, stellte sie fest, und er bewegte sich geschmeidig. Er setzte sich auf die Bank und klopfte auf den Platz an seiner Seite.

»Mein Name ist übrigens Yves Rousseau.«

Lily reichte ihm die Hand. »Lily Johansson.«

Seine Hand war glatter, als Lily erwartet hatte. Und gepflegt. Ein Mann, der etwas auf sich hielt.

Er tippte auf seinen Block. »Das ist eine Partitur.«

»Bist du Komponist?«

Er nickte und reichte ihr die Seiten so behutsam, als wären sie zerbrechlich. »Kannst du Noten lesen?«

Im ersten Moment sah Lily nur die Notenschlüssel und ein Meer von schwarzen Punkten, entweder in Rot oder Schwarz geschrieben.

»Ja.« Sie sagte ihm nicht, dass sie in der Schule Musikunterricht gehabt hatte, denn mit einem Mal fühlte sie sich doch ein wenig unbehaglich. Warum sollte dieser Yves eine vollkommen Fremde in einem Park bitten, sich seine Noten anzuschauen?

Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber nach den richtigen Worten zu suchen. Sie sah ihn abwartend an. Als sich ihr Schweigen dehnte, reichte sie ihm die Seiten zurück.

»Du inspirierst mich«, sagte er leise.

Lily glaubte, sich verhört zu haben. »Was hast du gesagt?«

Er räusperte sich und sagte lauter: »Du inspirierst mich.«

Lily lachte auf. »Aber das ist doch –« Sie brach ab, als sie den Ernst in seinem Blick erkannte. »Du kennst mich doch gar nicht.«

»Nein, wir kennen uns nicht, aber irgendetwas an dir ist besonders. Sogar in einer Menschenmenge würdest du mir auffallen.«

Vielleicht stand er auf Frauen, die aussahen, als hätten sie in ihrer Kleidung geschlafen. Aber selbst wenn, sie war nicht nach Paris gekommen, um in einem Park mit einem Fremden zu reden, auch wenn sie zugeben musste, dass er ihr gefiel. Es war das erste Mal seit Aidens Tod, dass sie wieder auf einen Mann reagierte.

»Danke, dass du mir deine Arbeit gezeigt hast.« Sie stand auf. »Ich wünsche dir viel Erfolg.«

Er fasste ihren Arm. »Geh noch nicht.«

»Lass mich los.« Sie schüttelte seinen Arm ab.

»Entschuldige, das wollte ich nicht.« Er hob die Hände und sah sie entschuldigend an. Seine Augen waren blau wie das Meer an einem Sommertag.

In ihrem Kopf begannen Warnleuchten zu blinken. Er hatte etwas sehr Anziehendes – oder war er vielleicht doch eher schräg? Aber sein Blick war freundlich und hielt sie davon ab, zum nächsten Ausgang zu laufen. Darüber hinaus schmeichelte es ihr, dass er sie für etwas Besonderes hielt. Und dass sie ihn inspirierte, Musik zu komponieren. Trotzdem …

»Ich muss weiter.« Selbst wenn er sie nicht angefasst hätte, drängte es sie, sich zu verabschieden. Vor zwei Jahren hatte sie sich von der Welt abgekapselt, und nun spürte sie, dass sie noch nicht bereit war, sich auf irgendetwas einzulassen, da mochte jemand noch so nett und attraktiv sein.

Ob sie es jemals aus ihrem Kokon heraus schaffen würde?

Dieser Yves Rousseau hatte ihr nichts getan, wollte bloß mit ihr reden. Sie sollte nachsichtiger werden – auch sich selbst gegenüber.

Er sah sie bittend an, und ihr Herz machte einen Stolperschritt. Nein, nun konnte sie erst recht nicht länger bleiben.

»Ich muss wirklich los.« Sie wandte sich ab und hastete davon. Ihr schoss durch den Kopf, dass sie überreagierte. Aber sie war so lange allein gewesen, dass sie nicht mehr wusste, wie man sich anderen gegenüber normal verhielt.

»Lily!«

Als sie ihn ihren Namen rufen hörte, stockte ihr Schritt, doch sofort beschleunigte sie ihn wieder. Dann hatte sie den Park hinter sich und lief die erstbeste Straße hinunter. Sie warf einen Blick zurück. Yves folgte ihr mit großen Schritten. Sie stürzte auf die Fußgängerampel zu, wollte die Straße überqueren. Die Ampel schaltete auf Rot. Vor dem Unfall wäre sie trotzdem losgelaufen, doch so viel Mut hatte sie nicht mehr. Sie blieb stehen.

»Lily!« Yves kam neben ihr zum Stehen und war nicht im Geringsten außer Atem. An ihren Schläfen hatten sich dagegen kleine Schweißperlen gebildet.

»Bitte, lass mich.« O Gott, warum klang sie nur so übertrieben panisch?

»Ich möchte mich entschuldigen. Ich hätte dich nicht anfassen dürfen.«

»Nein, hättest du nicht, aber darum geht es nicht.« Wann wurde die verdammte Ampel endlich grün?

»Um was dann?«

Lily schüttelte den Kopf. Endlich wurde grün, und sie rannte über die Straße. Wenn sie sich nicht irrte, lag hier irgendwo ein Hotel. Sie würde sich in die Bar setzen und ein Glas Wein bestellen. Dafür war es zwar noch ein wenig früh am Tag, aber in Melbourne war es schließlich schon Abend.

Yves blieb an ihrer Seite. »Wenn ich über meine Musik spreche, geht es manchmal mit mir durch. Habe ich dich erschreckt?«

»Nein, überhaupt nicht.« Sie hatte sich lange genug in Künstlerkreisen bewegt und war sonderbares Verhalten gewöhnt. Es tat ihr auch leid, vor ihm wegzulaufen, doch ihre Angst vor Empfindungen, mit denen sie nicht mehr umzugehen wusste, war zu groß. Ihr war bewusst, dass sie sich eigenartig benahm, aber das konnte sie nicht ändern.

»Ich danke dir, dass du dich entschuldigt hast, aber du hast damit nichts zu tun. Es liegt an mir.« Sie lief wieder los.

»Bitte, Lily, hör mir zu.«

Beinah wäre sie stehen geblieben, doch sie eilte weiter. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie das Hotel, das sie gesucht hatte.

Yves blieb einen Schritt hinter ihr. »Du wirst das nicht verstehen, aber es ist nicht einfach, Ballettmusik zu schreiben.«

Lily erstarrte. Langsam drehte sie sich zu ihm um. »Ballettmusik?«

Ein winziges Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ja, für die Bohème Ballet Company. Vielleicht sagt dir der Name etwas.«

Lily schluckte. »Ja, der sagt mir etwas.«

»Jeden Tag habe ich im Park gesessen und versucht, die Musik zu komponieren. Normalerweise arbeite ich im Theater am besten, aber diesmal war ich total blockiert. Ich dachte schon, meine Muse hätte mich verlassen, und dann hast du mir plötzlich gegenübergesessen. Und ich konnte wieder schreiben.«

Sie sah ihn vor sich, wie er in die Ferne gestarrt und dann drauflos geschrieben hatte. An Musen glaubte sie allerdings nicht. Kreativität bedeutete harte Arbeit, sie musste geübt und gepflegt werden. Sie war kein Phänomen, das nach Lust und Laune erschien, um jemanden zu inspirieren oder ihm die Inspiration zu verweigern.

»Ich brauche deine Hilfe, um meine Komposition zu beenden.«

Lily schüttelte den Kopf. »Es war Zufall, dass ich auf der Bank saß, als sich deine Blockade gelöst hat, weiter nichts.«

Yves zog die Brauen zusammen. »Das sehe ich anders. Normalerweise kann ich mich auf meine Muse verlassen, nur bei dieser Ballettmusik hat sie mich im Stich gelassen. Ich brauche dich, Lily.«

Lily merkte, wie Röte über ihren Hals in ihr Gesicht kroch. »Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen. In ein paar Tagen fliege ich wieder nach Hause, und bis dahin bin ich beschäftigt.«

»Womit?«

Das ging ihn nun wirklich nichts an. »Mit allem Möglichen.«

»Ich bezahle dich für deine Zeit.«

Lily zog die Brauen hoch. Was war denn das für ein Komponist, der jemanden bezahlen wollte, nur damit er bei ihm saß, wenn er komponierte? Er musste wirklich verzweifelt sein. Oder nicht mehr ganz bei Trost.

Sie verspürte ein leises Mitgefühl, doch das änderte nichts an ihrem Entschluss. »Es tut mir leid«, sagte sie so freundlich wie möglich. »Aber ich kann dir nicht helfen. Ballett interessiert mich nicht.«

Yves betrachtete sie erstaunt. »Das glaube ich nicht. Ballett ist etwas Großartiges – die Musik, die Choreographie, das perfekte Zusammenspiel von Tänzern und Tänzerinnen. Wie kann man das nicht mögen?«

Was sollte sie darauf antworten?

»Wir haben nicht alle den gleichen Geschmack, und ich gehöre eben zu den Leuten, die es nicht mögen.«

»Vielleicht kann ich dich umstimmen.« Er lächelte einnehmend, und die Haarsträhne fiel ihm wieder ins Gesicht. Lily konnte noch immer nicht sagen, ob er seinen Charme bewusst einsetzte oder ob er einfach zu ihm gehörte, doch so oder so tat er seine Wirkung.

Nein, bitte nicht.

Yves strich die Strähne zurück. »Was muss ich tun, damit du deine Meinung änderst? Soll ich mir ein ärztliches Attest besorgen, in dem steht, dass ich nicht verrückt bin?«

Lily musste lachen.

»Ich kann wirklich nichts für dich tun«, sagte sie. »Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, und ich wünsche dir viel Erfolg.« Sie schaute rasch nach allen Seiten, huschte über die Straße und lief in das Hotel auf der anderen Straßenseite.

Im Empfang spähte sie vorsichtig durch eines der großen Fenster auf die Straße. Yves hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Passanten hasteten an ihm vorüber, doch er stand einfach da und schaute mit hängenden Schultern zu Boden.

Wieder spürte Lily ihr Mitgefühl, sogar stärker als zuvor. Vielleicht hätte sie ihn nicht abweisen sollen. Was wäre, wenn sie ihn tatsächlich inspiriert hatte? Aber wie? Und warum musste sie in einer Millionenstadt ausgerechnet auf einen Komponisten stoßen, der ein Musikstück für das Tanztheater schrieb, das sie einmal so sehr geliebt hatte?

Sie sah noch einmal über die Straße, doch Yves war nirgends mehr zu sehen. Bedrückt wandte sie sich ab. Ihr war, als hätte sie eine Chance vertan, die sie noch nicht genau begreifen konnte.

Kapitel 3

Paris, 1917

An diesem Tag würde Viktoria zum ersten Mal am Training der berühmten Ballets Russes teilnehmen. Noch war der Übungsraum im Théâtre du Châtelet leer, doch sie spürte bereits, wie sie vor Aufregung zu schwitzen begann. Mit zittrigen Händen schnürte sie ihre Spitzenschuhe und kämpfte gegen ihre Nervosität an. Es hatte einmal Zeiten gegeben, als sie voller Selbstvertrauen gewesen war, doch da hatte sie noch zu Hause in Russland gelebt und nicht mutterseelenallein in einem fremden Übungsraum gesessen, in einer Stadt, in der sie noch niemanden kannte. Sie vermisste ihre Familie und ihre Freunde und das Leben, das sie aufgegeben hatte.

In Russland herrschte Bürgerkrieg, der mit Aufständen gegen die Zarenherrschaft begonnen hatte. Hinzu kam das Leid, das durch den Weltkrieg entstanden war. Das Leben zu Hause war hart, das riesige Land stand am Abgrund. Doch nun, allein im grauen Pariser Vorfrühling, vergaß Viktoria den Schrecken und sehnte sich nach ihrer Zeit im Kaiserlichen Ballett, nach dem Mariinski-Theater, der leuchtenden Farbenpracht Sankt Petersburgs, sogar nach dem Nebel, der von der Newa aufstieg und sich wie ein Schleier über die Bäume vor dem Winterpalast legte. Aber das Schicksal fragte nicht nach Sehnsüchten. Sie hatte sich entschieden, Russland zu verlassen, und auch wenn sie nun nicht mehr wusste, ob die Entscheidung richtig gewesen war, sie war nicht mehr zu ändern. Sie lebte nun in Paris, und ihre Familie in Russland brauchte ihre Hilfe, um das Land ebenfalls verlassen zu können. Sie schuldete es ihr – und der Erinnerung an ihre geliebte Dina –, die Möglichkeiten ihres neuen Lebens zu nutzen und das Beste daraus zu machen. Und das Heimweh, das immer wieder überhandnehmen wollte, würde sie verdrängen.

Endlich hatte sie es geschafft, ihre Spitzenschuhe zu binden. Sie atmete tief durch, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Stille im Raum. Auch draußen auf dem Flur war noch kein Laut zu hören. Die Verspannungen ihres Körpers lösten sich ein wenig.

Sie öffnete die Augen, stand auf und begann mit ihren Dehnübungen – Nacken, Arme, Beine, Rücken. Vor ihr lag eine Zukunft, in der sie vielleicht wieder glücklich werden konnte. Das Problem war nur, dass sie in den Ballets Russes den Mann wiedersehen würde, der sie verlassen hatte.

Stell dich nicht so an, befahl sie sich. Es gab so viele, denen es schlechter ging als ihr. Sie dachte an Dina, die tot war. Die altbekannten Schuldgefühlte drohten sie zu überrollen, und sie musste sich zwingen, nicht wieder in einem Strudel hilfloser Selbstvorwürfe zu versinken.

Die Tür flog auf. Mit wehendem Pelzmantel kam ein hochgewachsener schwergewichtiger Mann mit glatt zurückgekämmtem schwarzem Haar und schmalem Oberlippenbart herein. Es war Sergei Djagilew, Gründer und Impresario der Ballets Russes. Drei elegant gekleidete Männer folgten ihm. In Russland hatte Djagilew sich als Maler, Musiker und Komponist versucht, bevor er seine Gabe, finanzkräftige Kunstmäzene zu finden, entdeckte. Mit ihren Geldern waren die Ballets Russes entstanden.

»Sie sind zu früh«, sagte er mürrisch.

Viktoria errötete. »Ich – es tut mir leid.« Sie nestelte an dem rosaroten Tuch um ihre Taille und hoffte, er würde ihre Nervosität nicht bemerken. Djagilew war dafür bekannt, dass er die Unsicherheiten anderer Menschen ausnutzte. Sie straffte die Schultern und erklärte betont forsch: »Ich bin gern als Erste da. So kann ich mich in Ruhe auf den Tag vorbereiten.«

»Ach ja?« Mit kritischem Blick schaute Djagilew sich um.

Viktoria wartete darauf, dass er sich ihr vorstellte. Als das nicht geschah und er offenbar davon ausging, dass sie ihn erkannte, sagte sie: »Ich danke Ihnen, dass Sie mich in Ihre Kompanie aufgenommen haben.«

Er zuckte mit den Schultern, ihr Dank schien ihn nicht zu interessieren. Sein Blick blieb auf dem rosaroten Tuch haften. »Was ist das?«

»Ein Tuch«, antwortete sie und kam sich albern vor, etwas so Offensichtliches zu benennen.

»Das ist gegen die Kleidervorschrift«, sagte er ungehalten.

Viktoria fühlte die Verunsicherung in sich größer werden, doch sie war entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich trage das Tuch, weil ich damit besser tanze.«

Djagilew zog die Brauen hoch. »Und wie kommt das?«

Das Tuch hatte Dina gehört, doch seine Geschichte würde sie Djagilew nicht erzählen. Sie gab die Antwort, die sie immer gab, wenn sie nach dem Tuch gefragt wurde. »Das weiß ich nicht. Ich habe nur festgestellt, dass mir neue Schrittfolgen und Bewegungsabläufe mit diesem –«

Djagilew winkte ab. »Ich mag das Tuch nicht.« Er wandte sich zu einem seiner Begleiter um, einem gutaussehenden schlanken Mann mit großen braunen Augen und dunklem gewelltem Haar. »Léonide, kümmere dich darum.«

Mit großen Schritten verließ Djagilew den Raum. Zwei der Männer folgten ihm. Viktoria blieb mit Léonide Massine zurück, dem Mann, dessen Auftritte und Choreographien als brillant galten. Als junges Mädchen hatte sie ihn in Moskau auf der Bühne erlebt, da war er noch Solotänzer des Bolschoi-Balletts gewesen, ein Mann, der mit der Eleganz seiner Bewegungen, seiner Präzision und seiner Kraft alle anderen im Bolschoi überragte.

Massine reichte ihr die Hand. Auch er schien anzunehmen, dass sie wusste, wer er war, doch er lächelte wenigstens freundlich. »Sie sind Viktoria Budian, nicht wahr?«

Viktoria nickte.

»Herzlich willkommen. Machen Sie sich wegen des Tuchs keine Sorgen. Sergei Djagilew hat viel im Kopf. Bis zum Mittag hat er es vergessen.«

Viktoria bezweifelte das. »Danke, aber ich möchte nicht unangenehm auffallen.«

»Dazu braucht es mehr als ein Tuch.« Massine warf einen Blick auf die große Wanduhr. »Die anderen werden gleich hier sein. Ich hoffe, Sie haben sich auf einen langen, harten Arbeitstag eingestellt.«

»Natürlich.«

»Gut, die Ballets Russes sind nämlich nichts für Jammerlappen. Sie kommen aus Sankt Petersburg, richtig?«

»Ja.«

»Das sollten Sie nie vergessen. Leute wie Sie und ich gelten in Russland als Vaterlandsverräter und können nicht mehr zurück.«

»Das weiß ich.« Als sie die Grenze von Russland nach Polen überquert hatte, war ihr klargeworden, dass hinter ihr eine Tür zugefallen war und vor ihr nur noch die ungewisse Zukunft lag. Sie studierte Massines Miene und versuchte, ihn einzuschätzen. Normalerweise traute sie niemandem, den sie nicht kannte, dazu hatte sie zu viele Enttäuschungen erlebt, aber in seinen Augen – und in seiner Stimme – war etwas, das ihr Mut machte.

»Tänzer, die alles zu verlieren haben, sind die besten.« Massine sah zur Tür hinüber. »Wussten Sie, dass Pablo Picasso das Bühnenbild und die Kostüme für mein Ballett entworfen hat?«

»Picasso? Aber das ist –«

»Unglaublich«, beendete Massine ihren Satz und lächelte zufrieden.

Wieder öffnete sich die Tür. Diesmal kam eine große Gruppe zierlicher Tänzerinnen herein. Sie nickten Viktoria freundlich zu. Viktoria schenkte ihnen ein scheues Lächeln. Massine winkte sie mit sich zu einer mageren Frau, die ihr graues Haar in einem strengen Knoten trug.