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SCHLANGENTÖCHTER

Als Hartmut Alles, Pfleger für Reptilien im Frankfurter Zoo, an einem Dezembertag des Jahres 1963 erfährt, dass ihm seine Frau statt des erwarteten Sohnes eine Tochter geboren hat, hält er gerade eine giftige Schlange in Händen: Lachesis mutus, besser verständlich als »Stumme Schicksalsgöttin«, die den Wutentbrannten beißt, der partout keine Tochter will, schon gar nicht an einem Freitag, den Dreizehnten. Zur gleichen Zeit wird seiner Frau Milla eröffnet, dass ihr Kind mit einem Schlangenschwanz zur Welt gekommen ist. Ein Fingerzeig der Natur? Obwohl die kleine Tonie ihren Schlangenschwanz durch das Missgeschick ihrer Tante Christine, die einen heißen Backstein in der Wiege des Babys vergisst, schnell und vor der Zeit verliert, bleibt er dem heranwachsenden Mädchen erhalten: als sprechender Geist, der mit diebischer Freude jede Ordnung durcheinanderbringt. Großmutter Elsbeth, Hüterin eines Familiengeheimnisses, sucht Rat bei ihrer Schwester, die im Amazonasgebiet als Nonne eine geheimnisvolle Existenz führt …

Deutschland der sechziger und siebziger Jahre: Das Gift des Zweiten Weltkrieges zirkuliert in den Herzen und droht die Familie Alles zu lähmen. Mutter Milla kocht und backt, das Rezept dazu heißt Totschweigen. Jeden Sonntag ein Sahnehäubchen auf das schlechte Gewissen, jeder Konflikt in Kaffee ertränkt. Und so muss Tonie selbst herausfinden, warum ihr Vater weder an Gott noch an die Menschen glaubt, warum ihre Halbschwester Hannah ständig Bauchschmerzen hat und Christine sich hinter einem undurchdringlichen Panzer verschanzt.

HEIKE KÜHN

SCHLANGENTÖCHTER

ROMAN

Wenn man an das Meer denkt, müsste man
auch Horizont, Himmel und Strand aussprechen.
Und doch ist alles enthalten, wenn man »Meer« sagt.
Ohne meinen Mann wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.

KAPITEL 1

»Wir werden ihn Tonie nennen. Wie meinen Großvater. Anton Alles hat alles. Was Sie bei uns nicht kriegen, brauchen Sie nicht, stand auf der Tonne mit den Heringen, und wenn die Polen kamen und zu viert einen Heringsschwanz kauften, ist Christine immer um die Tonne rum und hat ihnen das vorgelesen. Da war sie acht und schon giftiger als du. Nu halt doch mal still. Man könnte ja meinen, es ist das erste Mal.« Der Schwanz der Schlange peitschte den Arm des Wärters, als seine rechte Hand sich dem rautenförmigen, zu den Schläfen hin dunkel bebänderten Kopf des Tieres näherte und die linke sich bereitmachte, das Fangeisen aus dem Erdreich des Terrariums zu ziehen. Bevor die Schlange sich den Moment der Lockerung zunutze machen konnte, fixierten kundige Finger ihren Schädel über dem Glasrand einer Petrischale. Daumen und Mittelfinger ihres Gegners massierten sanft ihre Giftdrüsen. Reflexartig dehnte sich der Rachen. Die langen, am Unterkiefer befestigten Fangzähne blitzten im Neonlicht. Sie lenkten von den unscheinbaren Röhren der Giftzähne ab, die sich mitsamt der verkürzten, um neunzig Grad verstellbaren Oberkieferknochen aus ihrem Versteck am Gaumen des Tieres lösten und klappmesserartig zum Vorschein kamen. Noch ein Druck auf den massigen, zum Hals hin schmaler werdenden Schädel, und die Schlange verbiss sich in den Glasrand. Anerkennend musterte Hartmut Alles die dickflüssig hervorperlende Flüssigkeit. Zehn Tage hatte er das Weibchen vor dem Melken hungern lassen. Das dottergelbe Gift in ihren Drüsen hätte Beute bedeutet. Nun würde es sich in Heilung verwandeln. Bedächtig zog er den weit aufgerissenen Rachen des Tieres zurück, drückte den Kopf erneut auf den Boden des Terrariums und unter die Gabelung des Fangstocks. »Muss bald so weit sein«, sagte er, während seine Hände über den vibrierenden Schlangenleib strichen und dabei entlang der schwarzbraunen, leuchtend gelb gesäumten Rauten- und Dreiecksflecke auf dem rotbraunen Schuppenkleid die Reste einer unlängst vollzogenen Häutung abschilferten. Als das Telefon in der Futterküche klingelte, zuckten Mann und Schlange zusammen, im Gleichklang einer Bewegung. »Heinz, geh ran, ich hab Fenster fünf offen. Heinz!« Seine Stimme wand sich durchs Frankfurter Exotarium, kroch in die Ecke hinter dem kleinen Futterhäuschen, stieß auf den Lehrling, der auf der Riesenschildkröte saß und ihren rissigen Panzer ölte. Aufgeschreckt faltete der Junge seinen Lappen zusammen und schwang sich über die hüfthohe Glaswand. Durch die oberen Sprossenfenster der Futterküche, die sich den Besucherströmen als gläserner Tempel entgegenstellte und auf dem Weg zu der Riesenschildkröte umgangen werden musste, konnte der Lehrling seinen Ausbilder sehen. Nicht einmal am Abend der Inventur ließ sich Hartmut Alles davon abbringen, das Gift für den Serumsbestand der Uniklinik einzustreichen.

Dem Tag der Listenfüller brachte Hartmut Alles die Verachtung eines Provinzfürsten für seine Steuereintreiber entgegen. Sollten doch die übrigen Tierpfleger des Frankfurter Zoos gemeinsam mit Ärzten und Biologen Hufen und Tatzen hinterherlaufen, die flinken Erdmännchen mit Infrarotstrahlern aus der Dezembererde herauslocken und tränende Augen auf vielfarbig vibrierende Kolibris richten, die sich flügelschlagend zu verdoppeln schienen. Mochten Lehrlinge wie der fünfzehnjährige Heinz im Erdgeschoss des Exotariums entlang der tief in die Erde hineingebauten Süß- und Salzwasserreviere an Schwärmen kleiner Fische verzweifeln, die nicht die Chuzpe hatten, sich leuchtend wie der giftige Rotfeuerfisch von Korallen und Seegras abzuheben.

Die illuminierte Treppe hinauf zu Hartmuts Reich herrschten andere Gesetze. In Plastikstufen eingelassene grüne Neonröhren glommen wie ewige Lichter, mählich ansteigend wie Kerzen auf einem Opferstock, bis sie vom feuchtwarmen Gleißen des subtropischen Paradieses im Obergeschoss aufgesogen und übertrumpft wurden. Hier, im Himmel der Echsen und Krokodile, unter den künstlichen Sonnen, die Vipern und Königsnattern hitzeschwer mit der steinernen Kulisse ihrer Behausungen verschmelzen ließen, galt Hartmut Alles’ Wort als elftes Gebot: Liebe die Geschöpfe, die dir anvertraut sind, mehr als deinen Nächsten.

Abgesehen von den Blattschneiderameisen, die am hinteren Ausgang des Exotariums Gänge in die Erde trieben, ohne sich an der Glasscheibe zu stören, die Licht in ihre Geheimnisse fallen ließ, abgesehen von dem Gewimmel der Rosenkäfer und anderer Bewohner des Insektariums kannte Hartmut Alles jedes seiner Tiere. Der Alleswisser, zuckte es in den Gesichtern seiner Mitarbeiter, wenn Hartmut Prognosen über die zu erwartenden Neuzugänge abgab. Nie entging ihm, wo ein Tier sich im Minidschungel eines Terrariums oder unter dem Sand einer zwei Meter breiten Kammerwüste verbarg. Im Geist nummerierte er den Nachwuchs seiner Schlangen bereits, wenn die Leiber der Lanzenottern und Mambas von Eiern anschwollen und die lebendgebärende Gabunviper begann, wie ein aufgerollter orientalischer Teppich auszusehen.

Heinz hastete zum lichten Raum der Futterküche, dessen Front rechts und links von der Tür die Schaukästen der Skorpione bildeten. Entlang der gläsernen Seitenwände stapelten sich die Behälter mit den Botschaftern des Spinnenreichs. Das grüne Telefon, das an der gegenüberliegenden Wandverschalung hing, war verstummt. Heinz setzte sich auf den blankgescheuerten Tisch, auf dem das Futter für die Tiere zubereitet wurde, und ließ die Beine spinnenwärts baumeln. Neben dem Telefon, zu dem sein Kopf zwischen zwei kurzbeinigen Schlenkern herumschwang, war die Tabelle angepinnt, die seit Wochen für Nervosität sorgte. Kein Pfleger hielt es für ratsam, dagegenzuhalten, wenn der Alleswisser nach den Quoten für die Mambas die Geburt seines ersten Sohnes festsetzte.

Nicht einmal der alte Pinguin-Paul, den das Rheuma gezwungen hatte, seine kugelbäuchigen Freunde gegen das Kassenhäuschen einzutauschen, erlag der Versuchung, auf eine Laune der Natur zu tippen. Konnten aus einem Gelege von zwanzig Eiern nicht siebzehn Schlänglein hervorgehen? Konnte das Kind, mit dem Hartmuts Frau Milla nun schon eine Zoo-Inventur lang rang, nicht ein Mädchen sein? »Nicht in diesem Leben«, versicherte Hartmut. Einen Alles wolle er, einen Alles bekäme er. Und was anderes als ein Junge könnte seine Frau dazu bringen, derart viel Fleisch zu essen?

»Wie kann er das wissen?«, dachte Heinz und holte seine Zunge zurück, die über seine rosigen Kinderlippen fuhr. Auch jetzt, da er sich aus dem Futterhäuschen nicht herauswagte, fühlte Heinz sich hin- und hergerissen. Seit vier Wochen beobachtete er den Alleswisser. Selbst der Fünfminutentod in Gestalt der schwarzen Mamba schien sich Hartmuts Gemütskälte zu fügen. Dass in Hartmuts Adern Gift floss, galt als ausgemacht. Wie eine Speikobra, die ihren ätzenden Speichel meterweit ins Auge des Gegners schleudert, konnte er in einer Ecke des Exotariums losbrüllen und am anderen Ende den Gescholtenen treffen. Seine Beleidigungen saßen fest wie die Giftzähne, die manche Schlangen beim Zubeißen zurückließen. Die Pfleger rissen Witze über ein Anti-Alles-Serum. Heinz mochte nicht mitlachen. Hartmut Alles war seiner Bewerbung zuvorgekommen. Vor ihm hatte der Alleswisser begriffen, dass Heinz unter Schlangen keinen Arbeitsplatz suchte, sondern ein Zuhause. Wenn er jetzt hinausginge, würde es klingeln. Besser, das durchdringende Geräusch kündigte einen Jungen an. Oder jemand anderes nähme ab. Vor vier Wochen hätte er den Hörer noch gar nicht anrühren dürfen.

Heinz starrte auf die Tür der Futterküche, bis die Erinnerung sich termitengleich durchs Holz fraß, Zeit und Raum durchlöcherte. Er hätte nicht sagen können, was ihm seltsamer vorkam, der eigene Körper auf der anderen Seite der Tür oder das Gefühl, sich auf seinem Horchposten nicht von der Stelle bewegt zu haben. So hatte er gestanden, einer von außen, dem noch kein Innerstes Zutritt gewährt hatte. »Das hier«, hatte sein abgeklärter Kollege Rufus gesagt und mit dem Finger auf die in Augenhöhe angenagelte Verkündigung der zu erwartenden Eiablage getippt, »solltest du auswendig lernen.« Heinz hatte gehorcht und sich verschluckt. »Wie kann er das wissen?« »Der ist dabei gewesen«, hatte Rufus sich über den kleinen Heinz gefreut, der ihn dabei ablöste, die Eier-Frage zu stellen und die Riesenschildkröte zu polieren. »Der macht halbe-halbe mit Mutter Natur, frag Pinguin-Paul.«

Ein Stockwerk tiefer konnte Pinguin-Paul ihm auch nichts anderes sagen. Seit fünfzehn Jahren wartete Paul auf die Schlange, die Hartmut Alles zu täuschen vermochte. Paul zuckte mit den Achseln. Schlangen waren so zweideutig. Wie einfach war dagegen ein Leben mit Pinguinen! »Pass auf«, sagte Paul, derweil er sein Rheuma vor dem Pinguinbecken in Bewegung setzte, »jetzt krieg ich Gesellschaft.« Wie ein Bademeister, der einem Ertrinkenden zu Hilfe eilt, war ein Eselspinguin ins Wasser gehüpft. Sein Schnabel hatte die Glaswand gestreift, die ihn von seinem alten Pfleger trennte. Synchron hatten sich die beiden durch das Halbdunkel bewegt, bis das Gehege endete und beide zur Kehrtwendung zwang. Pauls Knie ächzten, als er auf dem glatten Linoleum einen Halbkreis beschrieb. Seine Augen waren schon auf der Suche nach dem Partner auf der arktischen Seite der Scheibe. Und da war der zipfelohrige Vogel, ein schwarzweißes Glücksrad, das sich um die eigene Achse drehte, während zwei jettfarbene Knopfaugen sich vor Vergnügen kugelten, bis Paul erneut in ihr Blickfeld geriet und der Unterwasserspaziergang wieder aufgenommen werden konnte. An der Kasse regten sich Hände zum Applaus. Paul schob seinen Hintern ins Kassenhäuschen, ein Einsiedlerkrebs, der sich in sein Schneckenhaus bettet, und lächelte seinen Bewunderern zu. Die beiden sahen aus, als schwänzten sie die Schule, um das Halbdunkel des Exotariums für sich zu haben.

Heinz ertappte sich dabei, auf dem Tisch der Futterküche zu sitzen und seinen Oberkörper hin- und herzuschaukeln. Voller Unruhe war er im Herbst 1963 ins Exotarium gekommen. Boas und Pythons, vor deren Wohngemeinschaft er stehen geblieben war, hatten sich auf ihren Kletterbäumen in die Unkenntlichkeit eines olivfarbenen Knäuels zurückgezogen. Beinah wäre er wieder gegangen. Im hinteren Teil der Anlage fing er eine Bewegung auf. Ein Pfleger ging zwischen den Schlangen umher, öffnete eine Tür an der Rückwand des Geheges und verschwand in einem Geheimgang. Urplötzlich tauchte er vor Heinz auf. Ob er schon mal eine angefasst habe? Der Schlangenwärter genoss die Verlegenheit, die seine Frage auslöste. Heinz schüttelte den Kopf und sah noch trostloser aus. Sein blasses Kindergesicht veranlasste den Schlangenwärter, eine der Frontscheiben zu öffnen. Sofort ließ sich die Boa vom Baum herab und kam ihm entgegen. Wie eine Wünschelrute ging ihre gespaltene Zunge dem Zapfen ihres Kopfs voraus, begierig, die Quelle der Erschütterung zu finden. Ein Griff hinter ihren Nacken, und die Schlange lag in den Armen ihres Pflegers. »Fass sie an«, forderte er Heinz auf, die Schönheit des Tieres auf ganzer Länge entfaltend.

Der Schlangenmann und seine Schlange.

Das Gewicht der Boa, Heinz meinte es wieder zu spüren. Am ersten Tag seines neuen Lebens, Hartmut hatte ihm die Boa in einem Akt der Überrumpelung um den Hals gelegt, waren seine Knie auch so weich geworden. Wie die Schlange auf seine verkrampften Muskeln reagierte. Ein Zittern zog die sandfarbenen Ellipsen ihres Rückenmusters auseinander, dehnte ihre Rauten zum Einfallstor einer unbekannten Dimension. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Schlangenmann, »halt still und erschrecke sie nicht.« Eine Weltumdrehung hing Heinz am Boa-Ende, ein Hündchen an der Leine, dann lösten Hartmut Alles’ Hände das zuckende Band von seinem Hals.

Noch Tage später spürte Heinz den Rhythmus, den die Riesenschlange an seine erschlafften Muskeln weitergegeben hatte. Sein Nacken glühte. Die Steife, die seinen Kopf so oft vom Körper fernzuhalten schien, war aus seinen Halswirbeln gewichen. »Ich bin Hartmut Alles«, hatte Hartmut sich ihm vorgestellt, »und du bist mein neuer Praktikant.«

Letztlich, das hatte Heinz seiner ersten Begegnung mit Hartmut entnommen, war es immer der Mensch, der den Menschen betäubte. Er lernte viel von Hartmut. Die Kobra, die sich der Legende nach durch das Flötenspiel ihres Besitzers hervorrufen und verschaukeln ließ, folgte seinen Bewegungen. Schlangen waren taub für Musik.

Heinz konnte in der Futterküche die Skorpione hören, die beim Wenden im engen Geviert der Schaukästen mit aufgestellten Stacheln auf die Scheiben trommelten. Die Kuckucksuhr, die zu jeder vollen Stunde ein Krokodil aus ihrem Inneren hervorschießen ließ, das über einem winzigen Ei Acryltränen vergoss, zeigte zwanzig Minuten vor Mitternacht. Was schwänzelt die Uhr? Hartmut und Rufus wurden nicht müde, den Scherzartikel zu befragen, in dessen Zifferblatt Mutter Krokodil saß und der Zeit mit erhobenem Schwanz eins auf den Zeiger gab. Heinz schlich zur Tür hinaus.

Hartmut Alleswisser war noch immer mit der Bewohnerin des fünften Terrariums beschäftigt. Kraulte er der Schlange den Rücken? Der Junge umging seinen Ausbilder in einem Bogen, der beinah bis zum Krokodilbecken auf der anderen Seite des Besuchergangs reichte. Er flitzte die Treppe hinunter zum Kassenhäuschen. Bei Paul erholten sich alle Neulinge von der Anstrengung, es einem Alles recht zu machen. »Ich war nicht schnell genug am Telefon. Er steht da und streichelt die Spenderschlange.«

»Bist doch ein grüner Junge«, sagte Paul. »Er hat eine Pinzette und liest damit Milben ab. Milben machen Schlangen reizbar.« Paul sah auf die große runde Uhr über dem Eingang. »Hartmut mag seine Schlangen ja auch nach Dienstschluss kurieren, aber ich mach jetzt Feierabend. Vergiss nicht, du musst dich bei ihm abmelden.« Heinz nickte ergeben. Er war schon auf der Treppe, als der Telefonapparat im Kassenhäuschen klingelte. Das musste das Signal für das Ende der Inventur sein. Gleich würde Paul die Treppe raufkeuchen, um mit Hartmut die Verriegelung der Terrarien zu überprüfen.

»Herr Alles, ich melde mich ab«, sagte Heinz, »es ist Mitternacht.«

Hartmut nickte Heinz zu, der pünktlich und mit respektvollem Abstand vor ihm stand. Voller Bedauern ließ Hartmut von der Schlange ab, die auf drei Metern Länge mit einer Armee blässlicher Parasiten kämpfte. Heinz umging das geöffnete Terrarium. Er solle es nicht darauf anlegen, herauszufinden, ob die Versicherung in der Probezeit Begräbnisse bezahle, hatte sein neuer Kollege Rufus gestichelt, bevor er zum Skifahren gefahren war. Über Pauls Angewohnheit, Neuigkeiten hemmungslos herauszuschreien, hatte Rufus nichts gesagt. »Glückwunsch«, hörte Heinz Pauls Stimme durchs Treppenhaus dröhnen, »Glückwunsch, Hartmut, du hast eine Tochter!«

Hinter der geöffneten Scheibe zogen sich die Lippen aus Hartmuts Gesicht zurück, um einem Schrei Platz zu machen. »Verscheißern« meinte Heinz, der am nächsten stand, im nächsten Moment zu hören, doch Hartmuts Kehle schleuderte aus dem Zentrum des Gebrülls lediglich Brocken empor, die zischend in den Strom der Worte zurückfielen. MICH ALLEINE. Heiß stieg die Empörung in Hartmut auf. Hatte er Millas unehelicher Tochter Hannah nicht seinen guten Namen gegeben? Milla geheiratet, obwohl sie dieses Balg mitgebracht hatte? Wo war der Sohn, der es ihm lohnte? Noch bevor er den Hass auf Milla zurückdrängen konnte, die ihm keinen Alles geboren hatte, spürte er den brennenden Schmerz in der rechten Hand. Wut hatte am Fangstab gerüttelt und eine unbändige Kraft entfesselt. Hartmut starrte auf den Zahn, den die Schlange beim Zubeißen in seinem Mittelfinger zurückgelassen hatte.

»Ich hatte keine Zeit nachzudenken«, wird Heinz später sagen, da Vorwurf und Verdienst in seiner Personalakte kollidieren.

Jetzt aber behält er mit einem Auge den blau anlaufenden Hartmut im Blick, der vor dem Terrarium zusammensinkt. Mit dem anderen Auge folgt er den Windungen des Reptils, das in der Mitte des Besuchergangs hinter einer Schneeschaufel Stellung bezieht. In seinem Rücken spürt Heinz den Atem, den Paul für ihn anhält. Wenn sie sich tellerartig zusammenrollt, geht sie zum Angriff über, so war das doch, oder Heinz? Die Erinnerung an das Gelernte verschwimmt vor Heinz’ Augen wie ein Schwarm silbrig blendender Makrelen, der schneller die Richtung wechselt, als er Fisch und Gedanken fassen kann. Die Schlange hebt den Kopf. Die Stichflammen ihrer Pupillen lodern auf. Die Augenbrauenschilde, der berühmte grimmige Blick! Der Buschmeister, blinkt es durch Heinz’ Gehirn, kann sich an Giftigkeit nicht mit der Kobra messen, doch die schiere Menge seines Giftes gleicht die geringere Toxizität aus. Dieses Weibchen hat bereits einmal in die Petrischale gebissen; die Hälfte seines Gifts ist ihm damit genommen. Trotzdem setzt Heinz die Introspektion seiner neuen Gelehrsamkeit fort, während er sich der an die Wand gelehnten Schneeschaufel nähert, trotzdem ist etwas mit dieser Schlange, deren Familienzugehörigkeit ihm nicht einfällt. Sie ist eine, eine, sie ist Lachesis mutus, na fein, denkt Heinz, hier beißen sie lateinisch, und ergreift schweißnass den Stiel, bevor er die verdutzte Schlange auffegt und die Schaufelvoll farbenprächtig gemusterten Tod ins gegenüberliegende Krokodilbecken katapultiert.

Wie ein Lindwurm flog die Schlange durch die Luft, das Ende ihrer drei Meter langen Starre ein Höhenruder, das beleidigt hin- und herschwang. Jenseits der Glasbrüstung klatschte ihr Leib in den Krokodilteich. Der gedämpfte Laut zuschnappender Kiefer verriet Heinz, dass die Frage der post-darwinistischen Artenauslese sich erledigt hatte. Die Frage nach dem Serum nicht. Hinter ihm war Paul bereits zum Notfallkoffer gestürzt. Wüssten die Männer, was die Uhr schwänzelt, könnten sie die Gabe des menschlichen Gehirns ermessen, in so kurzer Zeit so viel Zeit verstreichen zu lassen. Endlos, oder etwa nicht, kniete Paul vor Hartmut auf dem Boden, bis das Kissen aus dem Erste-Hilfe-Koffer hinter dem Rücken des schwer Atmenden steckte.

Hartmuts Augen sind rot. Aber hat er nicht noch ein zweites Paar? Mit den Augen, die kurz nach dem Biss in sein Fleisch hinabgeglitten sind und lidlos durch seine Arterien schwimmen, sieht Hartmut das Gift. Er sieht die Schlange unter seiner Haut, die nur darauf wartet, mit jeder seiner Regungen in den Kanälen des Blutes vorwärtszugleiten, dem Pulsieren entgegen wie das Buschmeisterweibchen der Hitze, die in Hartmut aufgestiegen ist. Familie Grubenottern, will er Paul und Heinz zuschreien, Grubenottern, ausgestattet mit der Grube zwischen Auge und Nase, einem Sinnesorgan, das noch in völliger Dunkelheit die Körperwärme der Beute registriert. Das alles wird er Heinz erzählen, eintrichtern wird er es ihm. Er ist aus der Zeit gefallen, doch sobald er zurück ist, wird er aus dem Jungen einen Schlangenmann machen. Er hat genug von Realschülern, die nur bei ihm antreten, um am Ende des zweiten Jahrtausends in den Genuss einer städtischen Zusatzrente zu kommen. Praktikanten sind für ihn auch nur eine Art lebender Terrarien. Hartmut beobachtet das Leben darin: eine Regung von Widerwillen gegenüber dem Gewimmel in der Kinderstube der Geburtshelferkröte, ein Zusammenzucken, wenn der Atem der Alligatoren nach dem Geruchssinn schnappt, und der Anwärter auf den Exoten-Status wird in den Streichelzoo verbannt. Wenn die Herren glauben, dass Hängebauchschweine besser riechen, bitte sehr. Dem Glück, einem Warmblüter mit Schaufel und Besen hinterherzulaufen, steht Hartmut nicht im Wege.

Nicht dass Hartmut etwas gegen Säugetiere hat. Was immer dem Tierreich angehört, kann auf seine Loyalität vertrauen. Für Schlangen empfindet er von jeher anders. Auf Adam und Eva kann er verzichten. Sein Paradies gehört der Schlange. An guten Tagen, wenn die Pythons mit ihrer Beute spielen und ihre gemusterten Leiber zu einem Netz von Gier und Lebensfreude zusammenziehen, spricht er von der Wiedergeburt des Frankfurter Zoos. Von den Tieren, die Bombardement und Raubzüge der Stadtbewohner überstanden haben. Von dem Brot für die Elefanten, das der berühmteste Direktor, den Frankfurts Zoo je hatte, Hartmut blau färben hieß, um die Frankfurter von Klettertouren über die Zoomauer abzubringen. Nie denkt Hartmut an diesem Punkt der Erzählung darüber nach, ob es zermürbender ist, Elefanten oder Menschen hungern zu lassen. Wenn der kleine Heinz nur nicht immer alles stehen ließe. Wenn er das hier überlebt, muss er ihn wegen der Schneeschaufel zur Rede stellen. Jetzt muss er nur wach bleiben. Milla, denkt er in dem Teil seines Hirns, das sich weigert, dem Dunkel nachzugeben, Milla und das Kind, das Tonie heißen muss. Das kann sie ihm nicht abschlagen. Kein Anton geworden, na gut. Für eine Tonie wird es wohl reichen.

Hartmut fühlte die Maske des Gifts über seinem Gesicht. Sein Wille ein winziger Hammer, der auf die verstockten Muskeln einschlug, bis die Maske riss und er für einen Augenblick aus seinem Gefängnis hinaussehen konnte. Die Armbanduhr. Kurz nach dem Biss hat er auf die Uhr gesehen. Immer gut, zu wissen, wann der Tod eintritt. Vier Minuten sind vergangen. »Die Schlange?«, würgte er hervor, während Paul mit dem Notfallkoffer heranschlitterte. Paul winkte ab. Alles in Ordnung. Wenn man das so sagen konnte. »Höher«, gurgelte Hartmut, als Paul über der grünblau schillernden Wunde, an deren Rändern sich rund um den zurückgebliebenen Zahn bereits olivengroße schwarze Blasen ausstülpten, nach der einzig richtigen Stelle für die Druckkompresse suchte. Fünf bis zehn Zentimeter über der Bisswunde, herzwärts. Seltsam. Wo doch ein Finger immer auf andere zu deuten schien, sollte seiner jetzt zum Herzen führen? Musste man Paul alles sagen? Pinguine verdarben einen für die Attacken der Welt, die zubiss, wenn man glaubte, ihr jegliches Gift entrissen zu haben. »Feste, aber nicht zu fest«, stöhnte Hartmut. Hinter Pauls Kopf zielt eine Schneeschaufel auf Hartmut. Er hat von den Halluzinationen Gebissener gehört, von Insekten, die über den Körper krabbeln, von dem metallischen Geschmack im Mund. Er also sieht eine Schneeschaufel. Bei 26 Grad Raumtemperatur. Allerdings scheint die Hitze ihn neuerdings auszusparen. Vor seinen Augen grieselt es. Er fühlt, dass er dabei ist, etwas zu verlieren. Das Gefühl? Den Verstand?

»Nicht hinlegen«, klapperten Hartmuts Zähne einen Refrain auf das Summen, das in seinen Ohren anstieg, »nicht bewegen.« Wegen, wegen, wegen, braust das Echo in seinem Körper, der sich in ein Kosmos-Abhörgerät verwandelt hat. Das Trappeln der Blattschneiderameisen, das Schrumpfen seiner Nieren, das Platzen sauerstoffhaltiger Blutkörperchen, Hartmut hört es. Aber da ist auch seine Mutter Elsbeth, die »Puppchen, du bist mein Augenstern« singt, und ein Geräusch, das hier nicht hingehört. Der Gürtel seines Vaters pfeift durch die Luft wie eine Messerschmitt im Anflug.

In der Futterküche fiel Heinz das Kästchen mit dem Serum leer aus den Händen. Die Phiole, die Hartmut brauchte, hatte ein Zollbeamter bekommen, der eine Kiste mit der Aufschrift »Achtung! Lebendware!« geöffnet hatte. Noch so einer, der eine Warnung nicht verstand, selbst wenn sie vor ihm lag und ihm mit dem Schwanzende etwas vorklapperte. War zwar kein Buschmeister, der den Dämlack gebissen hatte, aber eine verwandte Seele. Polyvalentes Serum, dachte Hartmut draußen auf dem Gang, oder zumindest dachte er, dass er dachte. Mit dem frisch gemolkenen Gift im Kühlschrank konnte er nichts anfangen. Das wusste sogar der kleine Heinz. Den Krankenwagen hatte der Junge längst angefordert. Noch immer hielt Heinz den Hörer ans Ohr gepresst. »Er sagt«, brüllte Heinz Paul zu, der dicht hinter ihm stand, »er sagt, sie sind gleich da. Sie halten Serum für alle Fälle bereit.« Am anderen Ende der Leitung stieß der Lärm auf wenig Gegenliebe.

»Hören Sie mich?«, raunzte es in Heinzens Ohr. »Hören Sie mir jetzt mal zu? Wir müssen wissen, was den Mann gebissen hat. Und jetzt kommen Sie mir nicht wieder mit Lachesis mutus. Wir sind die Uniklinik, nicht das Senckenbergmuseum. Die Familie brauchen wir. Ihre stumme Schicksalsgöttin, welcher Familie gehört sie an?«

KAPITEL 2

Im Schlaf fährt Milla Alles sich über den Bauch und erschrickt. Da ist nichts, ihre Hände greifen ins Leere. Ihre Lider zucken. Sie liegt in einem hohen Raum, in dem die Stille aufsteigt wie Weihrauch. Zu viert haben sie sich auf der Wöchnerinnenstation ein Zimmer geteilt, das Milla nicht halb so groß wie dieses schien. Und erst das Fenster! Parallel zu ihrem Bett zieht es sich über die Zimmerfront, so hoch über den benachbarten Dächern, dass sie die Wasserwaage des Flusses zwischen den begradigten Ufern zu Gesicht bekommen müsste. Doch da ist nur ein schmutziger Wirbel, durch den die Hexenfinger einer schrumpeligen Sonne tasten. Der Schnee versetzt der Stadt einen Dämpfer. Er vereitelt Millas Aussicht. Nicht aber die Erkenntnis, dass dies kein Panorama zweiter Klasse ist. Sollte Milla etwas gewonnen haben? Ist sie die Glückliche, die an einem Freitag, der auf den 13. Dezember fällt, das Maskottchen künftiger Lottoziehungen zur Welt gebracht hat? Wenn nicht, wer bezahlte dann die Exklusivität dieses Einzelzimmers? Auf einem Nachttisch steht das selbst gebastelte Adventsgesteck, das Hannah ihr vor zwei Tagen mitgebracht hat. Von den Kerzen hat erst eine gebrannt. Vorsichtig setzt sich Milla auf und zündet den roten Stummel an. Hannah. Milla lächelt. Ihre Erstgeborene, immer ernsthaft, immer vernünftig. Sie hat sie nicht davon überzeugen können, dass sie lange vor Weihnachten zurück sein werde, um mit ihr den ersten Weihnachtsbaum in der neuen Wohnung zu schmücken. So aufgetrieben, wie sie war von diesem Kind. Ruhelos hat es sich in ihrem Bauch bewegt. Milla hat gepresst, oh, wie sie gepresst hat! Nichts zu wollen. Das Kind rührte sich nicht. Nicht, bevor die letzte Stunde eines unscheinbaren Donnerstags vergangen war und der Zeiger hinübergesprungen ins Bodenlose des Aberglaubens: Freitag, der Dreizehnte. Eine Minute nach Mitternacht war ihre Tochter auf die Welt gekommen. Sekunden später vergisst Milla das Geraune, mit dem ihre Schwägerin Christine sie vor der Geburt verfolgt hat. Ein Mädchen! Ein federleichtes Dingelchen! An Hartmuts Erwartungen hat sie schwer getragen. Alles heiße Luft, das Gerede von seinem Buben. Milla kicherte in die Falten ihrer Bettdecke. Dieses eine Mal ist es nicht nach seinem Kopf gegangen. Milla fühlt sich schwerelos. Aus der Zeit gefallen, wieso kommt ihr das jetzt in den Sinn?

Ein Türklopfen, kurz wie ein Stoßgebet, ging der Schwester voran, die Milla auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Schwester Josephas dunkelgraue Haube verbarg ihr Stirnrunzeln nicht. War das gut katholisch, ein Ungetauftes mit einer Grimasse anzukündigen? Milla fühlte sich zu den Schwestern des Heilig-Geist-Hospitals hingezogen, die jeder Falte im Laken begegneten, als werfe sie Fragen nach der Existenz des Bösen auf. Ihr Eifer erinnerte Milla an die Nonnen aus ihrem Heimatdörfchen, an den Wildwuchs des Klostergartens und selig stimmende Kräuterschnäpse. Schwester Josepha sah aus, als könne sie ein Glas davon gebrauchen. »Ist etwas nicht in Ordnung? Es ist doch nichts mit dem Kind?«

Schwester Josepha legte das Kind auf Milla ab und wand sich ihren Rosenkranz um beide Hände. »Der Arzt kommt gleich zu Ihnen«, flüsterte die Nonne, während sie nebst den hölzernen Perlen die eigenen Finger nachzuzählen schien. Mit dem Baby an der Brust sank Milla ins Kissen zurück. Natürlich kam der Arzt, das war vor neun Jahren bei Hannahs Geburt nicht anders gewesen. Nur hatte Hannah die Farbe eines gesottenen Flusskrebses gehabt. Dieses Kind war so hellhäutig, dass die Adern durch die Haut schimmerten. Ein Kind, durch das man hindurchsehen kann, Millas Finger zogen Kreise über dem weiß gewickelten Herzen der Kleinen, ist das gut?

Noch bevor sie sich entscheiden konnte, riss Doktor Schwerner die Tür auf, als gelte es, eine widerspenstige Partnerin in die Tiefe eines Tangos zurückfallen zu lassen, vollendete den Wiegeschritt mit dem rechten Fuß und schnellte mit dem linken ins Zimmer. Milla verstand nichts vom Tanzen. Die Bewegungen, die den Arzt an ihr Bett trugen, passten jedoch nicht zu seinem Gesicht: Schwerners Lächeln trat auf der Stelle. »Herr Doktor«, Milla suchte nach einem Wort, das Schwester Josephas Schweigen und Schwerners Gelenkigkeit zur Sorge verdichtete. »Guten Morgen, Frau Alles«, sagte der Arzt, fast glaubte Milla ihn singen zu hören, »wie geht es Ihnen?« Gut, will Milla erwidern, aber wer weiß, wie lange noch. Die Tonfolge einer Honigwerbung klebt ihr in den Ohren. Guten Morgen liebe Sonne, summt die Honig-Familie in Millas Kopf, doch jetzt hat sie genug, jetzt sammelt sie ihre Kraft, jedes Pollenkörnchen Widerstand, zu dem eine wie sie fähig ist – ein Pflänzchen, benannt nach einem Kraut, das Magenkranke heiß überbrühen, während andere im Takt eines volkstümlichen Selbstbetrugs seine Blütenblätter ausrupfen, um Gewissheit über ihr Liebesleben zu erlangen.

»Was!«, schrie Milla Alles, geborene Bittenbinder, Camilla, erstaunt über das Brummen, das ihrem Körper entfuhr. »Was wollen Sie mir sagen? Was?« Selbst ein Eintänzer wie Doktor Schwerner begriff, dass die Ausfallschritte hier endeten. Wortlos wickelte er das schlafende Baby aus und hielt es Milla vors Gesicht. »Ist doch alles dran.« Milla stöhnte vor Erleichterung.

»Und mehr als das.« Doktor Schwerner gab die nichtssagende Höflichkeit seines Standes verloren. Beinah übermütig drehte er das Neugeborene um. Ein schwarz-rot-goldener Schwanz, das symmetrische Muster eine Andeutung, eine unentzifferte Schrift, schwang schläfrig aus und betastete Millas Nase. »Aber beunruhigen Sie sich nicht«, stammelte der Arzt, der so was noch nie gesehen hatte, »das passiert öfter, als Sie denken.«

»So ist es«, murmelte die Frau, die zur Tür hereingekommen war und auf der rechten Seite des Bettes Millas einknickenden Kopf auffing. »Kindchen«, flüsterte Elsbeth Alles in Millas Ohr, »fasse dich. Um es kurz zu machen, es wird ein bisschen dauern, aber der Schlangenschwanz wird abgehen.«

Milla grub ihr Gesicht in den Bauch ihrer Schwiegermutter. In Sekunden ging ihr Schluchzen in einen Schluckauf über. Doktor Schwerner hatte das zu einem huldvollen Quietschen erwachte Neugeborene Schwester Josepha übergeben. Jetzt fegte ihn Elsbeths Blick über die Schwelle. Auch Schwester Josepha schien es plötzlich eilig zu haben, das Kind fortzutragen. Die Hand schon auf der Türklinke, spürte sie einen Zug im Rücken und drehte sich um. Der Schleier auf Elsbeth Alles’ Hut blähte sich über einer Welle grauer Haare. Am anderen Ende des Raums fühlte Schwester Josepha einen Hauch von Schicksal. Dann fiel ihr das undichte Fenster ein, das die Lernschwester gemeldet hatte. »Es wird weniger ziehen«, hörte sie die Besucherin sagen, die kerzengerade auf dem Krankenbett saß, »wenn Sie die Tür zumachen. Und stellen Sie uns ein Bettchen ins Zimmer.« Elsbeth lächelte. Schwester Josephas Puls senkte sich wie die Rute eines Eichhörnchens, das die Nüsse vom letzten Jahr wiedergefunden hatte. Die alte Frau hatte recht. Ärzte kamen auf Ideen, wenn es um Kinder mit Schlangenschwänzen ging. »Machen Sie sich keine Gedanken um Doktor Schwerner«, sagte Millas Schwiegermutter. »Meinen Sie, Sie könnten uns Tee bringen?«

Ein Schniefen unter der Decke gemahnte Elsbeth daran, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihre Tochter Christine aufkreuzte. Christine hatte nur zu gerne die Aufgabe übernommen, in die Uniklinik zu fahren und Hartmut zu besuchen. Sicher saß sie jetzt in der Straßenbahn und überrollte die Mitfahrenden mit der Geschichte ihres Bruders, der von einer Giftschlange gebissen worden war. »Im Dienst, wissen Sie«, würde sie sagen und das Erstaunen über ihren Bruder mit diesem aus Nase und Mund hervorgepressten Hhmmmzen entgegennehmen, mit dem Christine Bock, geborene Alles, der Welt mitzuteilen pflegte, dass, was für alle galt, kein Maßstab für ihre Familie sein konnte. Das Stück Weg, das Christine von der Straßenbahnhaltestelle bis zum Heilig-Geist-Hospital hinter sich bringen musste, wurde in Elsbeths Vorstellung immer kürzer. Schon meinte sie, auf dem Korridor den Stechschritt ihrer Tochter zu hören. Es war jedoch nur Schwester Josepha, die sich mit einem Tablett ins Zimmer schleppte, als transportiere sie in den Tassen flüssiges Blei. »Danke«, sagte Elsbeth, »vielen Dank.« Schwester Josepha hob die Augen vom Pfefferminztee, versuchte sich an einem Lächeln und eilte hinaus, um auf dem Gang den Krampf in den Wangen mit einem Psalm zu lockern. Kaum zu glauben, dass sie da noch mal reingegangen ist. Sie wird Ilse mit dem Kinderbett zu diesen Frauen schicken, die Tee trinken, obgleich der Teufel höchstpersönlich seinen Schwanz an das kleine Mädchen getackert hat.

Elsbeth sah der Krankenschwester nach, die den Tee gebracht hatte, und achtete darauf, dass sie die Tür hinter sich zuzog. Erst dann griff sie unter die Bettdecke und zog Milla ans Licht. »Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Es könnte schlimmer kommen. Trink eine Tasse Tee mit mir.«

Milla schaute in Elsbeths graugrüne Augen. Der Nixenblick ihrer Schwiegermutter war Katastrophen vorbehalten. Zuletzt hat Milla dieses Augenwogen gesehen, als Elsbeth sie kurz vor der Trauung im Frankfurter Römer beiseitegenommen hatte. »Ärgere dich nicht über Christine«, hatte sie gesagt, »sie kann niemandem Glück wünschen. Sie hat keines gehabt.« Christines Mädchen, die neun Monate alte Sibylle, war im Krieg verhungert. Milla hatte ihren Brautstrauß auf ihren Schoß gleiten lassen. Endlich hatte sie ihren und Hartmuts Namen auf dem Flur des Standesamtes gehört und den Strauß bis zu ihrer Nase hochgerissen. »Wie ein Schaf auf einer Wiese«, das waren Hartmuts erste Worte nach der Zeremonie. Auf der Treppe, kurz vor dem Ausgang, an dem der Portier im historischen Kostüm vergeblich auf sein Trinkgeld gewartet hatte, war sie über diesen Satz gestolpert. Sie hatte den Pfennigabsätzen die Schuld gegeben.

Wenn sie den Brautstrauß in ihrer Erinnerung nur ein wenig senkte, konnte sie Elsbeth an diesem Tag noch einmal vor sich sehen.

So getrübt wie damals sind die Augen nicht, die jetzt auf Millas Gesicht ruhen. Da ist allerdings ein Flackern unter dem Grün, das Milla wünschen lässt, weit weg zu sein. Die Tasse in ihren Händen ist leer. Milla weiß nicht, wann sie sie ausgetrunken hat. Verwirrt setzt sie das Geschirr auf der Bettdecke ab. Elsbeth kann sagen, was sie will, es ist schon schlimmer gekommen. Das Kind allerdings scheint davon nichts zu spüren. Ruhig liegt es neben Milla im Bett.

Auf der anderen Seite des Flusses, erzählt Elsbeth, liege Hartmut nach einem Unfall im Exotarium in der Universitätsklinik. Ausgerechnet seine Lieblingsschlange hat ihn bei der Giftabnahme gebissen. Das Gift hat sich zu seinem Herzen hin verströmt. Eine Nabelschnur ist durchtrennt und ein Finger abgenommen worden. Mehr oder minder sind sie alle aus der Zeit gefallen. Hartmut fehlt jetzt ein Finger, Milla ein Kind. Was fehlt dem Kind? Milla hört Elsbeth, doch was sie sieht, ist wie aus einer anderen Welt. Hartmuts Hände, gespreizt wie die des Kindes, das sie selbst gewesen ist. Das Milla-Kind erwartet den Schlag mit dem Rohrstock. Natürlich, es hat genascht. Die Finger, brombeerrot von Marmelade, sind Verräter. Der Stock ist lebendig, seine Spitze ein scharfes Zischen.

»Sonst wäre die Hand, womöglich der Arm, nicht mehr zu retten gewesen«, drang Elsbeths Stimme durch die Übelkeit, die Milla in die Kissen drückte. Ein Streicheln an der Schläfe, ein Glas Wasser an ihren Lippen. Milla weiß, dass sie Elsbeths Aufmerksamkeit mit Tapferkeit vergelten muss. Gleich wird sie die Augen aufmachen. Sie muss nur erst dieses Bild loswerden, das durch ihren Kopf zuckt wie der Nachhall von Martha Bittenbinders Hieben. Immer hat sie Angst gehabt, es könnte auf dem Esstisch, auf dem ihre Mutter sie ihre Hände ausstrecken ließ, ein Finger zurückbleiben. Jetzt kann sie sich nicht losreißen von Hartmuts Finger, der auf dem Operationstisch liegt wie eine Opfergabe, schwärzlich wie eine Alraune von der durchtrennten Handwurzel bis zu den Auswüchsen der Blutblasen treibenden Spitze.

Die Ohrfeige riss Milla aus der Trance, gerade als das Ding auf dem Operationstisch sich zusammenzuringeln begann. So krümmten sich im Märchen Finger, die Arglose vom Weg lockten. Wohin?

»Es hilft nichts«, sagte Elsbeth, als souffliere sie einer Schauspielerin. Millas Glieder strafften sich. Wie von selbst schoben ihre molligen Finger die halblangen dunklen Locken zurück, die ihr über die Augen gefallen waren. Ihre Hände griffen nach einem der Stofftücher, die sie in die Taschen all ihrer Nachthemden stopfte. Aus ihrem Gesicht, das Jahr um Jahr pausbäckiger geworden war, wichen die Gefühle wie Wasser durch einen Siphon. Von innen drückte das Elend gegen die milchige Haut, dehnte sie für die Kanäle des Kummers. Mit sechsunddreißig Jahren war Milla Alles noch schön. Wenn sie ihre Lippen aus dem beschwichtigenden Lächeln entließ, das ihr zur Gewohnheit geworden war, hatte sie noch immer das Antlitz einer ländlichen Maria. Als Kind sind ihre Augen oft dunkel vor Zorn gewesen. »Zorngickel, Brausauf, dir zeig ich’s!«, schrie die Mutter sie an, sobald sie ihren Aufruhr nach Hause trug. Der Vater ging zur Tür hinaus. Er konnte die Züchtigung nicht mit ansehen. Wenn Milla weinte, bekam sie Marienaugen, gesättigt von Milde und Schmerz.

Diese Augen richten sich nun voller Duldsamkeit auf Elsbeth. Elsbeth möchte schreien, während das Unabänderliche in Millas Züge kriecht. Nun, Elsbeth hat im Krieg nicht geschrien, da braucht sie das jetzt schon gar nicht. Später einmal. Möglicherweise.

Ein Mädchen mit einem schwarz-rot-goldenen Schlangenschwanz war geboren worden. Ihr Sohn hatte zeitgleich einen Finger an eine Schlange verloren. Elsbeth verstand nicht, was das Baby an Millas Seite damit zu tun hatte. Nachdenklich streichelte sie ein Babyfüßchen, das sich freigestrampelt hatte. »Milla«, sagte sie entschlossen, »vertrau mir. Niemand darf das Kind nackt zu Gesicht bekommen. Niemand. Verstehst du? Schon gar nicht die Familie. Sag den Phototermin ab!« Elsbeths Narbe am Steißbein, nahezu der einzige Beweis für den Schlangenschwanz, der dort einst gesessen hatte, zog sich zusammen bei dem Gedanken an ein Baby, das auf dem Bärenfell die Flagge der Reptilien hisste. »Ich werde dir zeigen, wie man das Schwänzchen zurückbindet. In meiner Familie«, Elsbeth zögerte, lauschte auf das Pochen am Ende ihres Rückgrats, »in meiner Familie hat es solche Fälle schon gegeben. Es ist eine Gabe. Es ist ein Zeichen der Verbundenheit mit der heiligen Schlange.«

Unverständnis füllt Millas Blick. Elsbeth muss einen neuen Anlauf nehmen. Muss über Millas Fassungslosigkeit hinwegspringen, wie sie es als Kind getan hat, wenn ihre Schwester Olga sich ihren Erklärungen in den Weg stellte, wenn Olga sich wieder einmal gewaltsam von dem Schlangenschwanz trennen wollte, der für sie schon deshalb des Teufels war, weil er zwischen Rücken und Gesäß einen unaussprechlichen Übergang markierte. »Eine Gottesgabe« – hopp –, befiehlt sich Else, »nichts Böses, verstehst du, und« – hopp, Else, hopp –, Elsbeth verschnauft einen Moment, »sie verschwindet zur gegebenen Zeit.« »Wann?«, will Milla fragen. Stattdessen atmete sie einen kaum wahrnehmbaren Duft ein, etwas, das nicht nach Rosen roch, sondern nach dem Wind, der die Rosen bewegte. Ihre Zunge legte sich in die Wölbung des Gaumens. So hatte sie als Kind die Hostien aufgeweicht, darauf bedacht, nicht auf den Leib Christi zu beißen. Millas Wangen entspannten sich. »Das wird schon«, sagte Elsbeth, »und nun mach dich auf Christine gefasst.«

Der Himmel mochte wissen, woran Christine Bock klopfte, denn dass sie das tat, ein ums andere Mal, wenn sie ins Leben anderer hineinschoss wie ein Ball, der an eine Mauer getreten wurde, daran ließ sie keinen Zweifel. Vielleicht, dachte Elsbeth, trägt Christine eine Tür mit sich herum. Bevor sie sich herumdrehen konnte, um Christine zu begrüßen, saß die ihr schon auf Millas Bett gegenüber.

»Ich habe geklopft«, sagte Christine vorwurfsvoll und presste die Knie unter dem Faltenrock zusammen. Sie stellte ihre Handtasche auf der rechten Seite des Bettes zwischen sich und Milla. »Gibt es hier keine Stühle? Guten Tag auch«, Christine warf einen Blick auf das Neugeborene. »Ich versteh das nicht, Milla«, machte Christine weiter, »bist du sicher, dass das deins ist? Bei der Untersuchung war’s doch noch ein Junge. Heutzutage, das liest man doch in der Zeitung. Geht hier doch zu wie im Hühnerstall. Und wenn es vertauscht ist? Habt ihr schon einen Test gemacht? Nicht, warum nicht«, Christine betrachtete die verneinenden Gesten ihrer Schwägerin mit Widerwillen, »wo es doch Jungchens Kind ist. Aber wie ihr wollt. Nur, dass ihr nachher nicht. Wenn ihr mich fragt. Denn man. Alles Gute. Aber wo Jungchen doch«, Christine schüttelte den Kopf, »da kann man doch gar nicht«, ihr Blick bohrte sich in Millas Augen und maß den Tränenstand, der für ihren Geschmack schockierend niedrig war, »ist doch schrecklich.« »Danke«, hauchte Milla, obwohl sie sich nicht sicher war, das richtige Wort gefunden zu haben. Elsbeth machte sich Christines Schnappatmung besser zunutze.

»Sag schon. Ist Hartmut bei sich? Hast du mit ihm geredet?« »Iiich!«, Christine dehnte den Laut zum Bombenalarm. »Ich bin nur seine Schwester. Wo seine Frau ist, haben sie mich gefragt. Was sollte ich sagen, dass es bei Milla«, Christines Zeigerfinger zuckte, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie auf Bauch oder Stirn tippen wollte, »so lange dauert, obwohl das schon das zweite Kind ist. Ich habe gar nichts gesagt. Gar nichts. Armes Jungchen. Aber die Ärzte, hat man gleich gesehen, alles Oberärzte. Und der Chef persönlich. Einen Schlangenbiss, Frau Bock, hat er zu mir gesagt, das sieht man nicht alle Tage. Morgen steht es in der Zeitung.« »Und Hartmut?«, Elsbeths Geduld war am Ende. »Pah.« Christine senkte angriffslustig den Kopf mit den toupierten Haaren, die, drahtig vom häufigen Blondieren, der Welt die Stirn boten. »Unser Jungchen ist berühmt. Bevor sie ihn operiert haben, haben sie ihn photographiert. Ein Gedrängel, und Jungchen ganz Haltung, wie immer. Wenn er nicht bald behandelt würde, hat er gesagt, wäre es kein Problem mehr, ob er ganz auf dem Photo wäre, weil der Arm dann so oder so abgeschnitten würde. Haben alle eifrig mitgeschrieben. Die Ärzte stellten eine örtliche Nekrose und den Verschluss der Lymphdrüsen fest. Hat natürlich das Krankenhaus formuliert, das kriegen die Schreiberlinge doch alleine nicht hin. Die Journaille, sagt mein Rudi immer. Nach der Operation gibt es noch mehr Photos. Kennt man doch«, sagte Christine und zog die Lippen zurück, bis sie den Grad von Anspannung erreichten, den Christine für ihr verächtlichstes Lächeln hielt, »vorher – nachher.«