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BOAT PEOPLE – LITERATUR ALS GEISTERSCHIFF

Das Schiff trägt den Reisenden in fremde Welten, den Dichter durch den Traum und den Sterbenden in den Untergang. Das Schiff ist ein Ort der Liebe und die Geliebte selbst, und vor allem ein Bild der Sehnsucht – der Berliner Schriftsteller Hans Christoph Buch hat sich einen Essay zum 70. Geburtstag geschenkt: eine virtuelle Poetikvorlesung und zugleich ein wenig bekanntes Kapitel der Literaturgeschichte. Von Sindbad und Wilhelm Hauff über Heinrich Heine und Richard Wagner bis zu Franz Kafka und Thomas Mann reicht das Seemannsgarn, das der Autor spinnt. Und weiter von B. Traven und H. M. Enzensberger zu Peter Weiss und Günter Grass; der Beweis dafür, dass Boat People nicht nur im englischen Sprachraum vorkommen – wie bei Poe, Melville und Joseph Conrad –, sondern dass es auch in der deutschen Literatur eine Flotte steuerlos herumirrender Geister- und Totenschiffe gibt: eine Tradition, die H. C. Buch, selbst ein großer Reisender vor dem Herrn, aus nachvollziehbaren Gründen fasziniert.

»HANS CHRISTOPH BUCH VERSTEHT ES WIE KEIN ANDERER, ATMOSPHÄRE ZU ERZEUGEN, STIMMUNGEN ZU EVOZIEREN, BILDER ZU ENTWERFEN, SO DASS SICH DER LESER, AUF DEM SOFA LIEGEND, WIE UNTER ZWANG MITGEZOGEN FÜHLT UND DAS FREMDE HAUTNAH ERLEBT.«

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

HANS CHRISTOPH BUCH

BOAT PEOPLE

LITERATUR ALS GEISTERSCHIFF

BERNER POETIKVORLESUNG

Für Oliver Lubrich, der mir dieses Buch abverlangt hat

INHALT

UNSTET UND FLÜCHTIG SOLLST DU SEIN

Vorbemerkung

I. MÄRCHEN STRECKTE DIE HAND AUS

Von Sindbad zu Wilhelm Hauff

II. GEHORSAM UND LANGE BEINE

Heinrich Heine und Richard Wagner

III. NIEMAND WIRD LESEN, WAS ICH SCHREIBE

Thomas Mann und Franz Kafka

IV. AUF DEM MEERESGRUND IST DAS LAND BILLIG

Von der Seeschlacht zum Totenschiff

V. ICH SCHWIMME UND HEULE

Vom Floß der Medusa zum Untergang der Titanic

VI. DEMONTAGE DER FESTIGKEIT

Noteboom, Grass und Loschütz

VII. WASSER REGNET SCHLAF

Epilog

Literaturverzeichnis

UNSTET UND FLÜCHTIG SOLLST DU SEIN

Vorbemerkung

»Boat People« – seit dem Massenexodus von Armutsflüchtlingen aus Haiti und politisch Verfolgten aus Vietnam hat der Begriff einen tiefgreifenden Bedeutungswandel durchgemacht. Ursprünglich bezeichnete er polynesische Wassernomaden, die mit ihren Auslegerbooten die Inseln des Südpazifiks bevölkerten, oder in Hausbooten und Dschunken lebende Binnenschiffer in Asien. Heute aber steht er stellvertretend für Asylsuchende aus Kriegs- und Krisengebieten, die auf der Suche nach menschenwürdigen Lebensbedingungen an den Küsten Südeuropas stranden. Oft geraten sie vom Regen in die Traufe und werden gegen ihren Willen in ihre Herkunftsländer repatriiert, oder sie ertrinken im Meer und werden tot an Land gespült: Die Dunkelziffer geht in die Tausende, und der Ortsname Lampedusa wurde zum Synonym für den menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen aus Afrika und anderswoher, die sich, ihre Ersparnisse opfernd, Schlepperbanden anvertrauen, um in überladenen Booten illegal nach Europa zu gelangen. »Unstet und flüchtig sollst du sein«, sagt der zornige Gott im Alten Testament, und die Unterscheidung von Wirtschaftsemigranten und Arbeitsimmigranten, Kriegsflüchtlingen und internen Vertriebenen ist zur akademischen Spitzfindigkeit geworden, die nur noch der Abwehr unerwünschter Einwanderer dient. Dass die Schiffbrüchigen auf dem von Théodore Géricault gemalten Floß der Medusa, dass französische Hugenotten und böhmische Protestanten einst ähnliche Schicksale erlitten, wird erfolgreich verdrängt, ganz zu schweigen von den Flüchtlingstrecks, die vor der Roten Armee aus ehemals deutschen Ostgebieten flohen.

Aber nicht von diesem höchst realen Elend soll hier die Rede sein, sondern von seiner Widerspiegelung in Kunst und Literatur, von literarischen Boat People also. Es genügt, eine virtuelle Gemäldegalerie aufzusuchen und eine Folge berühmter Bilder zu betrachten, von Caspar David Friedrich bis zu Arnold Böcklin und von Théodore Géricault über Raoul Dufy bis zu H. C. Westermann, um auf einen Blick zu sehen, dass es sich nicht um marginale Abwege oder Seitenstränge handelt, sondern um ein zentrales Motiv, das zum Mainstream der europäischen Kulturgeschichte gehört, von Gilgamesch und den Argonauten bis zu postmoderner Kunst und Literatur. Aber ich will und kann das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung nicht vorwegnehmen. Nur so viel sei gesagt: Die Werke, die hier unter die Lupe genommen werden, haben allesamt kanonischen Rang – selbst dann, wenn Autoren wie Reinhard Goering oder Jens Rehn heute der Vergessenheit anheimgefallen sind. Ihre Bücher sind in bedeutenden Verlagen erschienen und/oder im Internet abrufbar. Ich habe deshalb auf einen ausführlichen Anmerkungsapparat verzichtet und die von mir untersuchten Texte nach den in der Bibliographie angeführten Quellen zitiert, ohne einen Unterschied zu machen zwischen Primär- und Sekundärliteratur. Die Keimzelle des vorliegenden Buchs – das Kapitel über Wilhelm Hauff – erwuchs aus meinem Beitrag zu einer Festschrift für Gert Mattenklott (Umwege – Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hg. von Oliver Lubrich u. a., Bielefeld 2008), der mir den Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema gab. Ihm und seinem Berner Kollegen Yahya Elsaghe sei deshalb ausdrücklich gedankt.

Postskriptum

In der Regel haben Poetikvorlesungen nicht viel mit Poetik und noch weniger mit Poesie zu tun. Es sind Tage der offenen Tür, an denen geneigte Leser – falls es die noch gibt – dem Dichter – falls es den noch gibt – beim Dichten über die Schulter schauen, eine Mischung aus Writer’s Workshop und Atelierbesuch. Statt des Tags der offenen Tür plädiere ich für die lange Nacht der Museen, weil jede Kunstausübung – Schreiben, Malen, Musizieren usw. – ein Echo der Kunst der Vergangenheit ist. Geschichte und Gegenwart sind nicht durch eine Berliner Mauer getrennt, im Gegenteil: Die Gegenwartsliteratur entsteht aus dem Dialog mit der Vergangenheit, die sie fortschreibt – oder auch nicht. »Alles schon da gewesen«, wie der Rabbi Ben Akiba im gleichnamigen Stück von Gutzkow sagt. Deshalb blättere ich auf den folgenden Seiten ein wenig bekanntes Kapitel der Literaturgeschichte auf, das mich schon deshalb fasziniert, weil es auf vielfache Weise mit meiner Arbeit verknüpft ist: Was für Spuren es dort hinterließ, mögen andere herausfinden – als Autor bin ich betriebsblind und befangen gegenüber der eigenen Produktion. Dass das vorliegende Buch Überlegungen aus meiner Frankfurter Poetikvorlesung »Die Nähe und die Ferne – Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks« (1991) aufgreift und weiterführt, versteht sich von selbst.

(Dezember 2013)

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