Cover

Mikka Bender

«Is Nebensaison, da wird nicht mehr geputzt»

Urlaub in der Hölle

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Mikka Bender

Mikka Bender war schon während seines Studiums als Reise- und Expeditionsleiter weltweit unterwegs. 1992 engagierte VOX ihn als Redakteur. Er entwickelte maßgeblich die Reisesendung «Voxtours» und wurde 1996 Redaktionsleiter des wöchentlichen Magazins «Wolkenlos». Seit Frühjahr 2010 steht er als Moderator und Reporter in der Sendung «Hilfe, mein Urlaub geht baden!» (VOX) vor der Kamera.

Über dieses Buch

Schlimmer geht immer.

 

Der Geheimtipp Nordzypern entpuppt sich als Plastikparadies, der Ausflug ins Himalajagebirge wird zum Geduldsabenteuer, und der Pauschalurlauber erlebt so manches Grauen. Die Katastrophenliste ist lang und das Leidenspotenzial der Urlauber groß. Der langjährige Reiseredakteur Mikka Bender gibt in witzigen und unterhaltsamen Geschichten dem Urlaub in der Hölle einen Namen – sodass sich jeder freuen kann, zu Hause geblieben zu sein.

 

«Wer A sagt wie Abreise, der muss auch B sagen wie Bender. Der Mann hat einfach das richtige Gespür für Timing: wann man auf Reisen geduldig sein muss wie ein Buddhist, wann schicksalsergeben wie ein Moslem, wann pfiffig wie ein Jude, wann demütig wie ein Hindu und wann die Zeit gekommen ist, auf ein Wunder zu hoffen wie ein Christ. So geht’s von Abreise bis Zurückkommen gut aus. Dank Bender.» (Dieter Moor)

 

«Ich war mit Mikka Bender selber schon unterwegs, irgendwo in Asien, wo sich selbst Google nicht mehr auskennt. Wenn Mikka von seinen Reisen erzählt, hat man Tränen in den Augen, aus vielerlei Gründen: aus Mitleid, aus Erschütterung, aber vor allem – vor Lachen.» (Dieter Nuhr)

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Regina Carstensen

Landkarten Jürgen Forster, Text + Grafik, Bonn

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Fotos: Michael Kelley, Jupiterimages © Getty Images)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62749-1 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-44461-4

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-44461-4

Vorwort

Mit Heimweh kenne ich mich nicht gut aus, ich weiß aber so viel: Wenn es den Menschen überfällt und richtig wehtut, dann hilft zügig und nachhaltig nur eins – nach Hause fliegen oder fahren oder gehen.

Beim Fernweh kenne ich mich besser aus. Seit ich achtzehn bin, überfällt es mich regelmäßig. Mit der einen oder anderen Urlaubsreise war ihm nicht beizukommen, also musste ich Reisen auch zu meinem Beruf machen, als Reiseleiter, als Reisereporter. Doch ein Allheilmittel ist das nicht, wie ich inzwischen weiß. Das Fernweh kommt immer wieder. Wenn es meinen Körper schüttelt, dann muss ich weg, unabhängig von meiner Profession. Bleibt nur die Frage: wohin? Nach Indien oder nach Island? Oder vielleicht doch nur nach Italien? Gar Ingolstadt? Da hat es der Mensch mit Heimweh eindeutig leichter. Er fährt heim, und alles ist wieder gut. Die Behandlung von Fernweh ist also viel aufwändiger. Zumindest, wenn es sich – wie bei mir – um eine ausgeprägte Form dieser Krankheit handelt. Nur schnell mal einen Tapetenwechsel vornehmen, hilft nicht viel. Nach zwei Stunden ist Ingolstadt nicht mehr fern, sondern vertraut und heimisch, und ich habe wieder das Problem mit dem Fernweh! Also weiter nach Italien und sieben Tage später nach Island und vierzehn Tage darauf nach Indien. Da erst kann ich das Fernweh dauerhaft bekämpfen. Nicht nur, weil das Land riesig ist und sehr viele fremde Eindrücke bietet, sondern auch, weil solche Ziele, im Gegensatz zu klassischen Urlaubsparadiesen wie den Malediven oder den Seychellen, wild und unberechenbar sind. Die Malediven sind kein Balsam für meine Fernweh-Seele, hier wird das Fernweh noch größer als zu Hause, es kann glatt zum Heimweh werden.

Reisen in Gegenden, die mich mein Fernweh eine Zeit lang vergessen lassen, können aber auch schnell mal zu einem Urlaub in der Hölle werden. Hitze, Alltagschaos, diverse kleine und größere Gefahren, Dreck und Gestank begleiten oftmals Erkundungstouren in exotische und spannende Welten. Das ist aber nicht der Grund, warum ich mich nicht das ganze Jahr über in Ländern wie Indien aufhalten kann. Ich habe Familie. Also muss ich mich zwischendurch auch mit Ingolstadt oder Italien zufrieden geben. Und wenn es nur für ein paar Stunden oder Tage ist. Und selbst, wenn Sie es nicht glauben wollen: Die Urlaubshölle gibt es auch hier. Direkt vor der Haustür, im Naherholungsgebiet, oder an den «Traumstränden» rund ums Mittelmeer. Sogar auf den Seychellen oder den Malediven. Sollten Sie davor Angst haben, bleiben Sie am besten auf dem Balkon – und lesen dieses Buch.

Im Land der wollüstigen Yeti-Frauen
Die Leiden eines Reiseleiters im Himalaya

Was verbindet den Reiseleiter früherer Tage mit dem Single von heute? Nein, jetzt kommt kein dummer Witz. Das ist eine vollkommen ernst gemeinte Frage, auf die ich, ehrlich gesagt, gerade eben erst eine Antwort gefunden habe: Das Blind Date verbindet die beiden. Mit einem großen Unterschied allerdings: Beim Blind Date von heute kann sich jeder nach kurzer Schamfrist aus dem Staub machen, wenn ihm beim Gegenüber der Grad der Blindheit zu hoch erscheint. Beim Blind Date von einst, also mit einem Reiseleiter, ging das so einfach nicht.

Treffpunkt Flughafen Frankfurt, Abflughalle B, Schalter der Royal Nepal Airlines. Es war immer ein Sonntagabend, und es war immer die gleiche fürchterliche Situation: Ich, der junge, dynamische Geographiestudent, durfte zehn bis fünfzehn Mitglieder der bundesweit organisierten Stretchhosenfraktion begrüßen. Beim ersten Anblick wollte ich regelmäßig fliehen, mich einfach nicht als ihr Reiseleiter zu erkennen geben. Ich wollte wieder zurück in den Zug, nach Hause, an die Uni – alles tausendmal besser, als dreiundzwanzig Tage lang rund um die Uhr diese Oberlehrer, Finanzbeamten, Apotheker und Kunsthistoriker durch mein geliebtes Königreich im Himalaya zu führen. Mit neunzehn, nach dem Abitur, führte mich meine erste große Reise mit einem alten VW-Bus geradewegs nach Nepal, dort war ich monatelang auf eigene Faust durchs Land gezogen, hatte später für das Geographische Institut der Universität Bonn Klimadaten aus dem Hochhimalaya gesammelt und auch schon das eine oder andere Urlaubssemester dem kleinen Königreich im Himalaya geopfert. Es waren die höchsten Berge der Welt und die Menschen mit ihren fremden, aber unglaublich lebendigen Kulturen, die mich faszinierten.

Alle meine Kenntnisse, die ich auf meinen privaten Reisen über Nepal angehäuft hatte, wurden zu meiner Existenzgrundlage als Reiseleiter. Meine temporären Reisefreunde wollten auch immer alles wissen, jede noch so kleine Tempelfigur am vorletzten Dorftempel musste ich mit Namen kennen. Und natürlich musste ich vierundzwanzig Stunden am Tag bereit sein, über den gesamten Himalaya aus kulturhistorischer und naturgeographischer Sicht referieren zu können. Sie hatten schließlich eine Studienreise gebucht und bezahlt, und die Erwartungen an eine solche wollte ich nicht enttäuschen. Durfte ich nicht enttäuschen.

Leider ging es bei meinem Tun nicht allein darum, die Truppe nur durch die Berge zu führen und ihnen Tempel zu zeigen, es ging um viel mehr: trösten, zuhören und Anteilnahme zeigen, alles Tätigkeiten, für die man eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpfleger oder Gesprächstherapeut gut gebraucht hätte. Studienreiseteilnehmer sind oftmals Einzelgänger, die vom Reiseleiter auf einer Gruppentour auch von ihrem Weltschmerz oder ihrem sonstigen Schlamassel geheilt werden möchten. Das war oftmals die eigentliche Mammutaufgabe.

Normalerweise kannten mich einige bereits von früheren Touren, Stretchhosenträger sind Wiederholungstäter. In diesem Fall traf das nicht zu. Das Blind Date war auch wirklich ein solches. Doch alle fanden sich ein. Nachdem die Begrüßung erfolgt, die Formalitäten abgewickelt und die Sicherheitskontrollen passiert waren, ging es zum Gate. Das Flugzeug der Royal Nepal Airlines stand schon bereit. Überhaupt ist die Royal Nepal Airlines eine einzigartige Fluggesellschaft, hatte sie damals doch nur zwei Maschinen. Die eine Maschine flog regelmäßig von der nepalesischen Hauptstadt nach Frankfurt und zurück, um die Stretchhosen abzuliefern oder einzusammeln, und die andere wartete im Stand-by-Modus in Kathmandu auf den König, es konnte ja sein, dass er Lust auf eine Sightseeing- oder Shoppingtour außerhalb seines Reichs hatte. Zu dieser Zeit hatte er noch was zu sagen, 2007 war es dann aus damit. Nepal wurde eine Demokratie.

Selbstverständlich hatte ich dafür gesorgt, dass wir an Bord alle zusammensitzen konnten. Das gehörte sich so für eine Gruppenreise. Und selbstverständlich wurde ich mit Fragen gelöchert. Schon hielt ich meine erste kleine Vorlesung zum Thema «Kulturvielfalt im Tal von Kathmandu». Diese Stretchhosenteilnehmer hatten sich für das große Rundreiseprogramm entschieden, individuell zugeschnitten. Der Reiseveranstalter, für den ich arbeitete, offerierte aber mehrere Möglichkeiten für Nepal-Freunde. Da gab es das sogenannte große Kulturprogramm mit drei Königsstädten, siebenundachtzig Tempeln, drei Tieropferstätten, einer Menschen-Verbrennungsstätte, einem Ausflug mit Sonnenaufgang über dem Himalaya, dem Besuch eines tibetischen Flüchtlingslagers und einer landestypischen Tanzaufführung. Alles in drei Tagen, danach ging es weiter nach Indien. Oder das kombinierte Kultur-Natur-Programm, das sich von dem singulären Kulturprogramm dadurch unterschied, dass hierbei ein zweiter Ausflug zu einem Sonnenaufgang über dem Himalaya angeboten wurde sowie eine beschauliche Tagestrekkingtour durch abgeerntete Reisterrassen zu einem Tempelhügel. Immerhin nahm man sich dafür vier Tage Zeit, dann erfolgte ebenfalls eine Weiterreise nach Indien. Eine dritte Alternative war das kleine Kulturpaket mit großem Naturanteil. Wieder ein fast identisches Besichtigungsprogramm – nur das Flüchtlingslager war gestrichen –, stattdessen wurde eine umfangreiche Trekkingtour zum Annapurna-Base-Camp geboten. Gesamtdauer: vierzehn Tage. Anschließend flog man direkt zurück nach Deutschland, auf Indien musste man also verzichten. Der unbestrittene Höhepunkt aber war die dreiundzwanzigtägige Tour, die als «Nepal für Liebhaber» deklariert war. Das große Kulturprogramm fehlte auch bei dieser großen Rundreise nicht, aber es wurde ergänzt durch eine dreitägige Wildwasserfahrt auf dem Fluss Trisuli, einer «originalen und lebensgefährlichen» Wildtigerschau im Chitwan-Nationalpark und einem zweitägigen Ausflug ins Himalayagebirge mit Blick auf den Mount Everest. Das war natürlich nur was für muterprobte Stretchhosen mit einem ansehnlichen Geldbeutel. Und solch eine Tour stand mir diesmal bevor.

Im Flieger lernte ich die Gruppe langsam kennen. Es gab vier Lehrer, Hartmut, Günter, Wilhelm und Norbert, eine Zahnärztin, Ingrid – was eher erstaunlich war, Zahnärzte sind selten dabei, aber ihr Mann war Norbert, der Lehrer – zwei Österreicher, Anton und Hans, ohne nähere Berufsangaben, aber mit ziemlicher Sicherheit auch Lehrer, ein Apothekerehepaar, Iris und Joachim, und eine Art Künstlerin, Ramona. Insgesamt waren es zehn Leute, dazu kam noch ich, der Jüngste.

Der Flug verlief ohne Zwischenfälle, und schließlich landeten wir nach gut neun Stunden auf dem Tribhuvan International Airport von Kathmandu. Der Flughafen hätte es damals verdient gehabt, als erster Kulturprogrammpunkt in allen deutschen Reiseprospekten mit Nepal-Angeboten Erwähnung zu finden. Ich hätte ihm sofort drei Sterne vergeben, für «besonders wertvoll», «bizarr» und «abgedreht». Auf Landeplätzen im fernen Asien wurde schon immer gern das Gepäck auf langen Tischen von professionellen Durchwühlern gefilzt. Das war normal, aber in Kathmandu gingen die Beamten noch einen Schritt weiter. Sie sortierten alles auf zwei Haufen. Auf dem einen lagen Taschenlampen, Taschenmesser, Rasierapparate mit und ohne Motor, Flachmänner, ordentliche Kugelschreiber – nicht die von Lehrern –, Erste-Hilfe-Pakete und Körperhygieneartikel der unterschiedlichsten Art. Auf dem anderen befand sich der wenig aussichtsreiche Rest. Nach dieser Feinsortierung fing der durchwühlende Uniformierte auf einmal aus heiterem Himmel zu lachen an, lachte weiter und weiter, immer noch grundlos, wobei er langsam, aber stetig sämtliche Teile des interessanten Stapels ohne Spur eines schlechten Gewissens in die Taschen seiner viel zu großen Armeejacke steckte. Das war Entwicklungshilfe in Reinkultur. Die Bedürftigen erhielten ohne Umwege, also direkt vom Spender, die wirklich wichtigen Dinge, wahrscheinlich auf Wunsch sogar mit Spendenquittung. Eine echte Win-win-Situation.

Nachdem wir unseren Dienst am Mitmenschen geleistet hatten, checkten wir im Hotel de l’Annapurna ein. Diese Fünf-Sterne-Herberge war das zentrale Auffangbecken aller Stretchhosen im Tal von Kathmandu. Am nächsten Tag wollten wir mit unserem ersten Programmpunkt starten: dem zweitägigen Ausflug in die Khumbu-Region von Nepal. Dort, auf knapp 4000 Metern über dem Meeresspiegel, im höchstgelegenen Hotel der Welt, hatten wir vor, im Everest View unsere zweite Nacht in Nepal zu verbringen. Was ich aus eigener Erfahrung versprechen konnte: Von jedem Zimmer gab es eine uneingeschränkte Aussicht auf den weltgrößten Felsklotz, den Mount Everest. Zu diesem sagenhaften Ort sollte uns eine Pilatus Porter bringen, ein einmotoriges Flugzeug.

Am Abend an der Hotelbar, die den vielversprechenden Namen «Yeti Bar» führte, sahen mich zehn muterprobte, aber ratlose Bergbewunderer in spe an, bis sie die für sie anscheinend lebenswichtige Frage stellten: «Was, bitte schön, soll man am Mount Everest anziehen?» Mir gingen andere Dinge durch den Kopf: Würden die einzelnen Teilnehmer die große Höhe vertragen? Würde das Wetter mitspielen? War der Pilot pünktlich? Doch laut sagte ich: «Zwei Hosen übereinander, und oben herum alles, was geht.» Es war verboten, in eine Pilatus Porter Gepäck mitzunehmen. In diese Maschine passte nur eine bestimmte Anzahl von Passagieren, genauer gesagt fünf, höchstens sechs, und ein paar Säcke mit Proviant fürs Hotel. Aus diesem Grund musste der Pilot bei elf Leuten zweimal fliegen.

Vom lauten Schrillen meines Weckers wurde ich wach. Ich hatte ihn auf halb sechs gestellt, da ich noch einmal ausgiebigst warm duschen wollte. Ich wusste eben, was mich am Mount Everest erwartete.

Es war der 22. Dezember, null Grad, neblig und gerade einmal sieben Uhr, als uns schließlich ein bestellter Fahrer mit seinem Minibus vor der garagenähnlichen Abflughalle des Domestic Airports von Kathmandu absetzte. Die Augen hatte noch niemand so recht offen, auch nicht die Flughafenangestellten. Die hatten alle ein Glas süßen Milchtee in der einen Hand und in der anderen eine Zigarette, Marke Yak. Fast lässig sah das aus, wohingegen meine zehn Freunde schon etwas seltsam anmuteten, wie sie da mit all ihren Klamotten am Leib mehr oder weniger unbeweglich herumstanden. Doch der Flughafen war unbeheizt, so konnte trotz der Verpackung nur wenig Angstschweiß austreten. Und nervös war meine gesamte Gruppe, denn ein Flug in den Himalaya war selbst für erfahrene Reiseprofis keine Routine.

Sechzig Minuten mussten wir warten, bis etwas passierte. Die kleinen Propellermaschinen, ob ein- oder zweimotorig, dürfen nur auf Sicht fliegen, und Kathmandu hat im Winter leider sehr oft Nebel – so auch zwei Tage vor Heiligabend. Gegen acht brach aber die Sonne durch, und wir konnten los.

Mit den beiden Österreichern und dem Apothekerehepaar saß ich in der ersten Maschine. Ein guter Reiseleiter muss mit leuchtendem Beispiel vorangehen. Knapp eine Stunde später lag die Sandpiste von Syangboche vor uns. Die Pilatus Porter war steil gegen den Berg geflogen und setzte in einer Staubwolke auf 3800 Metern auf. Dabei hatte der Schweizer Pilot die Kiste wie einen alten VW auf einem Feldweg nach links gezogen und vor einer Bretterbude zum Stehen gebracht. Wir waren auf dem Dach der Welt gelandet.

Aus der Holzbude schritt jemand, wahrscheinlich der Flughafenmanager, gemächlich mit einer Thermoskanne Tee für den Piloten heran. Die kleine Yakherde, die die Pilatus Porter von ihrer kargen Weide, der Piste, in die angrenzenden Geröllfelder vertrieben hatte, trottete wieder zurück. Yaks sind übrigens Hochgebirgsrinder mit dickem Fell und mächtigen Hörnern. Sie sind schlauer als Wasserbüffel, zumindest sehen sie schlauer aus.

 

Die Yakhirten hatten bei unserem Anflug im Windschatten einer kleinen Felswand in der Sonne gesessen. Jetzt packten sie ihre Säcke, die neben ihnen gelegen hatten, und hetzten auf uns zu. Nicht grundlos. Yakhirten hatten im Schatten des Mount Everests schon früh erkannt, dass der Berg ihnen ein neues Geschäftsmodell offerierte. Wenn Touristen einen öden, kalten Berg so faszinierend finden, dass sie unglaublich viel Geld in die Hand nehmen und sogar ihr Leben riskieren, nur, um ihn einmal sehen zu können (manche besteigen ihn sogar), dann war doch klar, dass diese Menschen auch Gefallen an altem Küchen- oder Klosterplunder finden mussten. Waren das doch Sachen, die die Menschen am höchsten Berg der Welt brauchten oder eben nicht mehr brauchten.

Dazu profitierten die Yakhirten von der Tatsache, dass Touristen, im Gegensatz zu ihnen und ihren Tieren, in der dünnen Höhenluft nicht mehr so gut denken und damit auch nicht richtig rechnen können. Dieses Phänomen stützte das Geschäftsmodell der Hirten wie auch die weitere Gegebenheit, dass die gekauften Souvenirs beim Rückflug dem Flughafenmanager ausgehändigt werden mussten (Übergepäckproblem!). Auf diese Weise gelangte alles wieder zu ihnen, und sofort konnte man den Krempel der nächsten Touristengruppe verkaufen. Ich könnte hier ein weiteres Mal von einer Win-win-Situation sprechen, lasse es aber, weil Yakhirten insgesamt ein beschwerliches Leben haben.

Böse Zungen könnten jetzt fragen: «Warum warnt der Reiseleiter seine Gruppe eigentlich vorher nicht?» Die Antwort kann man sich denken: Er bekommt natürlich Prozente, ebenso der Pilot, was er mir gegenüber aber niemals zugegeben hat.

Nachdem uns dann also die Yakhirten bestürmt und sie ihre Souvenirs den Stretchhosen gegen eine sehr hohe Gebühr sozusagen ausgeliehen hatten, mussten sie anschließend ihre Tiere von der unbefestigten Piste treiben. Der Pilot wollte los, um die zweite Hälfte der Gruppe in Kathmandu abzuholen. Mit aufheulendem Motor drehte die Maschine, und dann gab es für die nächsten Sekunden nur noch Krach und Staub und Getöse in der Bilderbuchlandschaft. Im Hintergrund die Hängegletscher der Sechstausender Kang Taiga und Thamserku und darunter die dunkelgrünen, uralten Rhododendron- und Kiefernwälder.

Am späten Vormittag war die Gruppe vollzählig, mit Souvenirs versorgt und zum Aufstieg Richtung Hotel bereit. Ganz langsam gehen, war jetzt die Devise, so tun, als sei man schwerst gehbehindert. Dies war die einzige Möglichkeit, den in der Höhe fast obligatorischen Kopfschmerz wenigstens noch für einige Minuten abzuwehren. Auf knapp 4000 Metern würde er sowieso unweigerlich kommen, außer bei den Glücklichen, bei denen eine Höhenanpassung stattgefunden hatte. Im Schneckentempo zogen wir somit bergan, schnaufend und immer den Blick nach Norden gerichtet, in der Hoffnung, ihn endlich zu sehen.

Aber erst kurz vor dem Everest-View-Hotel zeigte er sich, der Mount Everest. Entsprechend wild wurde eine Aussichtsstelle nach der nächsten angesteuert, sehr zur Freude des Kopfschmerzes. Der setzt sich bei Höhenluft gern zuerst hinter dem rechten Auge fest, bei Rechtshändern zumindest. Ich bin Linkshänder.

Das Hotel war ein flaches Bruchsteingebäude, das gut in die Landschaft passte, ein bisschen wie ein großzügiges Schweizer Chalet gebaut. Betrat man es, so stand man in einem riesigen Raum mit offener Feuerstelle und Panoramafenstern in Richtung – na klar, zum höchsten Gipfel. Die Ausstattung der Zimmer war gewöhnungsbedürftig, ohne Heizung und Strom. Stattdessen gab es aber eine Badewanne sowie neben jedem Bett eine Sauerstoffanlage mit Atemmaske. Nie haben sich mir Sinn und Zweck der Badewanne erschlossen. Wer badete schon gern in kaltem Wasser? 240 Dollar musste man für diesen Komfort bezahlen, pro Person und Nacht. Wobei von Nacht eigentlich nie die Rede sein konnte. Es war zwar ziemlich lange dunkel in dieser Gegend, aber an Schlaf war kaum zu denken. Der Kopfschmerz bekam in der Finsternis nämlich einen guten Freund: das Herzrasen.

Doch bevor wir an die Nacht dachten, standen wir ehrfurchtsvoll vor der großen Panoramascheibe. Der Everest lag vor uns in der roten Abendsonne, das Aspirin im Glas und das Yaksteak in der Pfanne. Ich hatte heute zehn Stretchhosen glücklich gemacht, und wenn ich die Souvenirs mit einrechne, sogar überglücklich. Lehrer Hartmut brachte die allgemeine Gemütslage auf den Punkt: «Ich hatte wirklich hohe Erwartungen, aber dieses Bergpanorama übertrifft sie bei weitem, das ist einfach nur großartig.»

Das Everest-View-Hotel war eigentlich eine Unterkunft, die von Japanern favorisiert wurde. Wenn Mitteleuropäer bergverrückt sind, dann sind Japaner bergversessen, obwohl sie absolut keine Höhe vertragen. Und trinken sie dann noch Alkohol, fallen sie sofort tot um. Was helfen ihnen da noch Sushi und Karaoke? An diesem Abend aber waren die Deutschen deutlich in der Überzahl. Nur ein japanisches Ehepaar zerrte noch mit uns am Yaksteak, das wir gemeinsam andächtig mit Blick auf Gebirgsspalten verspeisten: Herr und Frau Kawasaki. Herr Kawasaki wollte Frau Kawasaki den Everest zeigen, deshalb waren sie – wenig erstaunlich – hier. Sie waren jenseits der fünfundsechzig und damit älter als meine Gruppenteilnehmer. Eigentlich sahen sie genauso aus wie Japaner vor dem Kölner Dom.

Nach dem Essen saßen wir im Kreis um den großen offenen Kamin, der den gesamten zentralen Hotelbereich mit einheizen sollte. Das schaffte der jedoch nicht, und das lag nicht nur am nassen Holz. Wir krochen so nah wir konnten ans Feuer heran, Handschuhe an den Händen, Decken auf den Knien und Mützen auf den Köpfen. Die beiden Österreicher, Anton und Hans, konnten die Höhe am besten ertragen. Regelmäßig, so berichteten sie, seien sie in den Alpen in Höhen über 4000 Meter unterwegs, und schon im Flieger nach Kathmandu hatten sie von ihren früheren Erfahrungen im westlichen Himalaya, rund um den Dhaulagiri, erzählt. Die zwei waren hagere und zähe Burschen, die ihre Berggeschichten glaubhaft zum Besten geben konnten. Bei den anderen ging ich davon aus, dass sie hohe Berge eher vom Hören als vom Sehen her kannten. Sie hatten zwar ordentliche Bergschuhe an den Füßen, aber die sahen verdächtig neu aus. Auch an der restlichen Ausrüstung war kein Schweiß- oder Schmutzfleck zu entdecken. Hans, der doch nicht Lehrer, sondern Ingenieur war, wie sich nun herausstellte, wollte von Herrn Kawasaki wissen, ob er vielleicht der Erfinder oder Erbauer des Kawasaki-Motorrads sei.

Herr Kawasaki sprach sehr wenig Englisch, dementsprechend zäh gestaltete sich die erste Kontaktaufnahme. Die Lehrer waren ganz Ohr, aber Japanisch konnten sie auch nicht, um die Diskussion zu befeuern.

«Gehört Ihnen Kawasaki?» Hans versuchte es erneut.

«Ich heiße Kawasaki, ja genau.» Die Antwort von Herrn Kawasaki war dann doch verblüffend.

«Aber gehören Ihnen auch die Motorräder?»

«Ich habe ein Auto, einen Toyota, ja, genau», konterte Herr Kawasaki.

Jetzt wandte sich Hans an mich und fragte, wie aus dem Nichts heraus, ob das Wort «Witwenmacher» im Englischen «widowmaker» heiße.

Was für eine bescheuerte Frage, dachte ich, zumal ich die Antwort nicht wusste. Aus «Witwenmacher» einfach «widowmaker» zu machen erschien mir zweifelhaft, aber eine bessere Alternative fiel mir aus dem Stegreif auch nicht ein.

Hans ging jetzt aufs Ganze. Er drehte sich wieder zu Herrn Kawasaki: «Kennen Sie die ‹Witwenmacher›? Die Maschine 500 H1

Herr Kawasaki schaute fassungslos, ein Restlächeln blieb aber erkennbar auf seinem Gesicht, als er antwortete: «Ich bin kein Witwer, da sitzt meine Frau.»

Da hatte er recht. Frau Kawasaki konnte ihre Meinung leider nicht dazugeben, sie sprach nicht ein einziges Wort Englisch. Dafür konnte sie sich bei jeder Gelegenheit wunderbar grazil verneigen.

Schnell wollte Hans nun die peinliche Situation aus der Welt schaffen, deshalb schob er erklärend nach: «Ich weiß, Herr Kawasaki. Aber ‹Witwenmacher› nannte man eine Kawasaki in den sechziger Jahren. Die Maschine hatte zu viele PS, aus diesem Grund sind viele Typen auf ihr aus der Kurve geflogen. Sie haben ihre Frauen zu Witwen gemacht.»

Herr Kawasaki lächelte immer noch: «Ich verstehe, aber meine Frau ist keine Witwe. Sehen Sie, ich sitze ja hier.»

Die vier Lehrer bekamen langsam mit, dass die Diskussion ein wenig aus dem Ruder lief. Aber da sie von Witwenmacher-Maschinen genauso viel Ahnung hatten wie Herr Kawasaki und sich wohl nicht blamieren wollten, besprachen sie unter sich das Thema «Unbezahlte Überstunden bei Lehrern». Hans versuchte weiterhin sein Glück bei Herrn Kawasaki, während sein nicht minder hagerer Freund Anton mit einer eindrucksvollen und mir unbekannten Zeichensprache bei Frau Kawasaki Eindruck schinden wollte. Aber das machte ihr nur Angst. Sie verbeugte sich jetzt sehr tief, schaute in die Runde und empfahl sich für die Nacht. Herr Kawasaki folgte ihr.

Das Feuer qualmte mittlerweile, während die vier Lehrer, Hartmut, Günter, Wilhelm und Norbert, anfingen, ihr Überstunden-Problem auch gegenüber den anderen zu verteidigen. Iris, die Apothekerin, bekam noch mehr rote Flecken im Gesicht, als sie sowieso schon hatte. Seit Jahren litt sie darunter, dass sie sich auf Gruppenreisen ständig mit Lehrern herumschlagen musste.

«Klar, wenn ihr nur fünfzehn Unterrichtsstunden die Woche habt, dann wird eine anfallende Überstunde gleich zum Drama.» Mit diesem Satz stieg sie in die Diskussion ein, aber auch ganz schnell wieder aus. Die vier Männer fielen wie hungrige Hyänen über sie her, anscheinend hatten sie noch zu viel Luft.

Ramona, die vierzigjährige Künstlerin mit den roten Locken, die vereinzelt unter ihrer schwarzen Mütze hervorlugten, versuchte der Apothekerin zu Hilfe zu kommen: «Ich finde, Lehrer werden gut bezahlt. Ihr habt lange Ferien, und wenn ihr alt seid, kommt eine schöne Pension aufs Konto.» Eigentlich stimmte alles, aber Ramona hatte das Wort «Ferien» in den Mund genommen. Und auf dieses reagierten Hartmut, Günter, Wilhelm und Norbert jetzt wie der Teufel, wenn man ihm das Kreuz hinhält.

Günters Aussprache war von Natur aus schon feucht, aber jetzt drohte ihm Dehydration, dabei überschlug sich auch noch seine Stimme: «Wir können das wirklich nicht mehr hören. Immer dieselben Vorurteile, immer dieselben Klischees. Mach du nur eine Stunde Unterricht! Kunst, ja, das mag noch angehen, mit Wasserfarben bunte Kleckse malen, dazu haben die Schüler gerade noch Lust. Aber wenn die einfach die Fenster aufmachen, durchsteigen und nach Hause gehen, weil sie keinen Bock mehr haben, was machst du dann? Und glaubst du, dass wir in den Ferien auf der faulen Haut liegen? Ja? Glaubst du das?»

«Nein, ihr geht auf Reisen, wie ich sehe», erwiderte Ramona patzig.

Zwei aus der Gruppe enthielten sich eines Kommentars. Zahnärztin Ingrid, die mit Norbert verheiratet war, schwieg, weil sie zwischen den Stühlen saß, und Joachim, der Apotheker und Mann von Iris, blieb still, weil er immer still blieb. Seine patente und kräftige Frau sprach für zwei, daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Einmal sagte er: «Buddhistische Mönche reden viele Jahre nicht, dennoch sind sie glücklich – und weise.» Joachim war davon aber noch weit entfernt, denn zumindest in seiner Apotheke musste er kommunizieren, das nahm ich jedenfalls an. Er war höflich und hatte freundliche Augen, eigentlich passte er perfekt zu Frau Kawasaki. Wenn sie tatsächlich Witwe gewesen wäre, Joachim hätte ihr gut gestanden.

Nun geschah, was in Diskussionsrunden auf Reisen keine Ausnahme ist: Die Defensive gab auf. Iris, Ingrid, Joachim und Ramona machten es den Japanern nach, auch Anton und Hans, die sich von ihrem Kawasaki-Schock noch nicht richtig erholt hatten: Sie verabschiedeten sich, nur ohne Verbeugung. Einzig Hartmut, Günter, Wilhelm und Norbert wollten weiter unterhalten werden.

So war ich gefordert. Ich sollte nun – abrupter Themenwechsel – über das Land der Sherpas referieren, jenes Volks, das im Himalaya lebt und viele Bergsteiger führt, über das Leben von Sir Edmund Hillary, dem Neuseeländer, der als Erster den Mount Everest bestiegen hat, das war 1953 gewesen. Danach wurde es richtig ernst, man stellte mir Fragen zum Yeti-Skalp im Kloster von Khumjung, wollte von mir wissen, ob denn der Schneemensch wirklich existiere.

«Natürlich gibt es den Yeti, es gibt sogar viele Yetis», verkündete ich. «Da bin ich mir vollkommen sicher. Aber sie sind eben scheu, wobei das nur für die Männchen gilt. Die Yeti-Frauen stehen dagegen total auf Sherpas. An kalten Winterabenden kommen sie deshalb auf ihren Brüsten, die sie als Schlitten benutzen, in die Sherpa-Dörfer gesaust und vergewaltigen aufs übelste die dörfliche Jungmännerschar. Weil es den Jungs total peinlich ist, von den geilen, aber hässlich aussehenden und auch noch komplett behaarten Weibern zu Liebesdiensten benutzt zu werden, hält jeder den Mund. Und allein aus diesem Grund ist der Yeti so ein Fabelwesen, dass ihr es nur wisst. Der Reinhold Messner hat ganz sicher noch nie einen Schneemenschen gesehen, weil er in seiner aktiven Zeit schon viel zu alt für jedes Yeti-Weib war.»

Nein, das wollte jetzt keiner wissen und damit auch nicht hören. Die Temperatur im Raum hatte inzwischen die Grade eines Gefrierschranks erreicht, und schließlich gab auch die Lehrerfraktion auf. Lehrer gehen immer ausgeschlafen auf Reisen, sie müde zu reden ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, noch durch die Höhenluft erschwert – aber mit meiner eben erfundenen Story hatte ich sie in ihrem Wahrheitsbestreben gekränkt. Gute Nacht!

Endlich in meinem Zimmer, legte ich mich in meiner Daunenjacke ins Bett, vorher hatte ich noch ein paar Aspirin eingeworfen und gebetet, die Höhenkrankheit solle bitte meine Schutzbefohlenen in Ruhe lassen. Tat sie auch, nur Frau Kawasaki musste zur Flasche greifen, zur Sauerstoffflasche. Ihr Mann rief mich mitten in der Nacht um Hilfe. Ich war sowieso wach und schaute nach ihr. Sie hatte zwei Zwei-Liter-Flaschen neben dem Bett stehen, eigentlich hätten die für die Nacht reichen sollen. Aber da sie dauerhaft die Atemmaske in Betrieb hatte, waren sie nun leer. Mit Nachschub war dann auch dieses Problem behoben, und ich konnte mich ohne weitere Störung ins Bett legen.

Leider war am nächsten Morgen kein Everest zu sehen, nicht einmal die malerisch platzierte Himalayakiefer vor dem Hotel, da half auch nicht das große Panoramafenster. Stattdessen jede Menge Nebelschwaden und Schneeflocken. Das war nicht eingeplant. Außer unserer Zahnbürste hatten wir nichts dabei, wollten wir doch an diesem Tag zurück nach Kathmandu fliegen und am nächsten Heiligabend feiern mit einem Galadinner. Nun hatte ich schon seinerzeit ein ausgeprägtes Hobby: die Wetterkunde. Und nach ausgiebiger Betrachtung der Wetterlage musste ich im Stillen feststellen: Vergiss den Flieger. Kein noch so guter Pilot wird heute in Syangboche landen. Laut aber sagte ich: «Fertig machen, auschecken und Abmarsch zum Flugfeld.» Die Teilnehmer dieser Luxusreise sollten selbst ihre Erfahrungen machen. Außerdem: Da es keine Funkverbindung von Syangboche nach Kathmandu gab, musste man stets auf Verdacht zum Flugplatz gehen – und die Ohren spitzen, ob sich eine Maschine näherte. Und vielleicht hatte ich ja unrecht, was meine Analyse des Wetters betraf.

Dicke Schneeflocken rieselten vom Himmel. Wir waren hier auf dem achtundzwanzigsten Breitengrad, auf der Höhe von Orlando, Florida, und theoretisch hätte die Sonne den Schnee blitzschnell wegtauen müssen, aber eben nur theoretisch. Da waren der Nebel und vor allem die große Höhe, die dies verhinderten. Der Schnee blieb somit liegen. Es wurde zwar ein wenig heller, als wir weiter nach unten stiegen, was aber nur daran lag, dass wir aus einem Waldgebiet heraustraten und auf eine Wiese gelangten, die hinunter zum Flugfeld führte.

Schließlich erreichten wir den «Flughafen». Im Umfeld der Bretterbude herrschte Totenstille. Wie erwartet. Ein noch eindeutigeres Signal, dass an diesem Tag kein Flugbetrieb in Gang kommen würde, war jegliches Fehlen der Yakhirten. Nun spitzten wir geschlossen die Ohren. In der Luft machten aber nur die Bergdohlen Krach, kein Geräusch einer nahenden Pilatus Porter war zu hören.

Noch fanden das alle spannend, es roch geradezu nach Abenteuer. Gegen Mittag begaben wir uns unter Schneegestöber zurück zum Hotel, wieder mit langsam, aber sicher einsetzenden Kopfschmerzen. Zum Zeitvertreib hielt ich eine weitere kleine Vorlesung, diesmal über die Geomorphologie extremer Hochgebirge. Zu diesem Thema hätte es hier oben richtig viel zu sehen gegeben, nur nicht bei Nebel. Danach folgte eine zweite Nacht in unseren alten Kleidern.

Es war Heiligabend, als wir uns zum Frühstück trafen – und der Schnee rieselte immer noch leise. Ich musste eine Entscheidung treffen. Und die sah wie folgt aus: Zahnbürsten einstecken, wieder auschecken, beim Flugfeld vorbeischauen, hören, ob vielleicht doch ein Pilot Wagemut bewies oder ein paar Yeti-Frauen sich bereit erklären würden, uns auf ihren Brüsten nach Kathmandu zu rutschen. Sollten die Piloten hasenfüßig sein und die Yeti-Frauen uns auch für zu alt halten, gab es noch eine dritte Alternative: ins Sherpadorf Namche Bazar trekken. Dort wären wir knapp 500 Meter tiefer, und das würde unsere Lungen freuen. Zudem wäre das nächste Flugfeld in Lukla nur noch eine Tagesetappe entfernt.

 

Nebel, Schnee und Totenstille auf dem Rollfeld von Syangboche machten uns die Entscheidung leicht, zumal Frau Kawasaki uns bei diesem zweiten Anlauf durch den Nebel gefolgt war und jetzt vor uns stand. Ganz offensichtlich wollte sie nicht in ihrem Zimmer mit Aussicht sterben, sondern endlich wieder Sauerstoff aus der Natur atmen. Und das funktionierte nur, wenn sie den Berg verließ – und ich kam ihr da mehr als gelegen. Mir war sofort klar: Wo Frau Kawasaki war, da konnte Herr Kawasaki nicht weit sein. Und so war es auch.

Nun hatte das Ehepaar Kawasaki im Gegensatz zu meiner Reisegruppe keine Wanderstiefel an den Füßen, sondern ausgesprochen hübsche schwarze Halbschuhe. Es war zum Jammern: eine falsche Ausrüstung, todkrank und keinerlei Möglichkeit einer vernünftigen Verständigung. Dennoch war auch hier ein Entschluss zu fassen: Ich ließ meine Gruppe mit den beiden ostasiatischen Hochalpinisten an der Flughafenbretterbude zurück, rannte allein 400 Höhenmeter hinunter nach Namche Bazar und machte zwei starke Sherpa-Burschen ausfindig. Jedem gab ich umgerechnet vier Mark fünfzig, und damit war der Deal klar. Sie stiegen mit mir hoch. In Syangboche angekommen, nahmen sie die Japaner huckepack, als wären die beiden Reissäcke. Und so zogen wir mit den sozusagen entmündigten Kawasakis als mittlerweile internationale Reisegruppe ins Dorf – man konnte auch sagen: zur Krippe, denn es war ja Weihnachten.

Als wir in Namche Bazar anlangten, wurde es bereits dunkel, bei minus zehn Grad. Im International Footrest, der Trekkinglodge am Platz, konnten wir nicht nur Zimmer bekommen, sondern auch heißen Tee. Den Rum erstand ich in einem Laden an der Ecke. Die Nepalesen hatten schon immer sehr guten Rum, Kukri-Rum, den ich am liebsten zum Flambieren benutzte. Aber im Tee an Weihnachten war er auch ein Gedicht, ein Weihnachtsgedicht sozusagen.

«Die große Nepalrundreise für Liebhaber» war zu einem kompletten Desaster geworden, dafür war die Stimmung unter meinen Stretchhosen ausgesprochen gut. Und während sie die sauerstoffgeschwängerte Luft von Namche Bazar genossen, machte ich mich auf die Suche nach den kleinsten gebrauchten Wanderstiefeln des Ortes. Ich fand auch welche, und mit ihnen konnte ich den Kawasakis eine richtig schöne Bescherung bereiten, was sie aber nach der Freude zur Erkenntnis veranlasste, dass ab morgen wieder selbständiges Laufen angesagt war.

Am ersten Weihnachtstag war es bitterkalt, aber bei strahlendem Sonnenschein und glitzerndem Schnee. Zum Frühstück gab es Porridge mit Tee und Rum. Obwohl Nepal nie britische Kolonie war, im Gegensatz zu Indien, hat Porridge seinen Weg in den Hochhimalaya gefunden. Ich habe Sir Edmund Hillary im Verdacht. Die Neuseeländer essen auch diesen Schleim.

Nach dem Frühstück zogen wir los in Richtung nächstes Rollfeld. Nach sechs Stunden Wanderung und drei Tee-Rum-Stops lag dann Lukla vor uns, verschneit, vernebelt, vereinsamt. Lukla sieht aber immer deprimierend aus: an den Hang geklatschte flache Steinhütten, dazwischen die steil ansteigende Flugpiste.

In der «Sherpa Kooperative» fanden wir Unterkunft, wobei ich feststellte, dass Lukla gar nicht so vereinsamt war, wie es aus der Ferne den Anschein gehabt hatte. Der Ort war brechend voll mit Trekkern, die alle nur das eine wollten: zurück nach Kathmandu, und zwar mit dem Flieger. Das schlechte Wetter hatte zu einem Rückstau von über hundert Wanderern und Bergsteigern geführt. Alle hatten gültige Tickets, teilweise schon Bordkarten. Alle, außer uns. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass wir Aussatz hatten. Also zumindest so behandelt wurden, als hätten wir welchen. Vor allem von unseren Landsleuten, den Deutschen. Und da vor allem von denen, die sich gern dem deutschen Alpenverein anschließen und die meiner Gruppe eigentlich gar nicht so unähnlich sahen. Mit einer riesengroßen Ausnahme: Sie waren alle Profis, mit Profiausrüstung, Profigesichtern und hartem Profibenehmen. Und solche Superprofis, denen die Berge überall auf der Welt zu Füßen lagen, also die Vorgebirge zumindest, konnten uns lächerlich aussehende Flachlandtiroler nur höhnisch angucken. Das war doch klar. Wobei mir eines sofort auffiel: Sie stanken schlimmer als wir. Nur Anton und Hans wurden eines Blickes gewürdigt, dann aber auch gleich abgeschrieben. Wer sich mit so einer «Karnevalstruppe» einließ, durfte nicht hoffen, ernst genommen zu werden.

Die Stimmung in der «Sherpa Kooperative» war entsprechend miserabel. Da halfen nur zwei goldgelbe Rumflaschen, die ich unüberhörbar auf den Tisch stellte. So verging Weihnachten. Wir waren frustriert, aber glücklich, da betrunken. Das feindliche Lager war auch frustriert, aber unglücklich, da keinen Rum. Glücklicherweise schliefen wir in zwei getrennten Schlafsälen.

Tag für Tag verging, ohne dass sich etwas tat. Silvester näherte sich, und noch immer lag Schnee auf dem Rollfeld. Mittlerweile warteten mehr als 150