BEYOND BERLIN

 

 

 

 

BEYOND BERLIN

Teil 2

Ins Ungewisse

 

Björn Sülter

 

 

Das Buch

Yula hat alles verloren. Ihre Mutter, ihr Zuhause, ihre Welt. Die nächste große Herausforderung liegt allerdings erst noch vor ihr. Irgendwo in New Berlin befindet sich ihre Schwester. Was wird sie dort erwarten? (Teil 2 von 3)

 

Der Autor

Der Autor und Medienjournalist Björn Sülter schreibt Romane und Sachbücher und ist seit zwanzig Jahren journalistisch aktiv. Er spricht Hörbücher, präsentiert den Podcast "Planet Trek fm" und moderiert auf Veranstaltungen. Sein Sachbuch «Es lebe Star Trek» wurde 2019 mit dem "Deutschen Phantastik Preis" ausgezeichnet. 2020 erscheint von ihm der erste Teil der Reihe "Die Star-Trek-Chronik". Zudem liefert er seine Jugendbuch-Reihe mit dem Titel «Ein Fall für die Patchwork Kids».

Björn Sülter lebt mit Frau, Tochter, Pferden, Hunden & Katze auf einem Bauernhof irgendwo im Nirgendwo Schleswig-Holsteins.

Impressum

 

Originalausgabe | © 2020

Verlag in Farbe und Bunt

Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf

www.ifub-verlag.de / www.ifubshop.com

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung & E-Book-Erstellung: E. M. Cedes

 

ISBN: 978-3-95936-138-5 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-194-1 (Print)

Widmung

 

 

 

 

 

 

Erinnert euch daran,

nach oben in die Sterne zu blicken,

nicht nach unten auf eure Füße!

Versucht, dem was ihr seht,

Sinn zu geben, und fragt euch,

was das Universum existieren lässt.

Seid neugierig.

 

(Stephen W. Hawking)

I. Regen

Manchmal führt unser Weg an einen Punkt, der keinen Sinn zu ergeben scheint. An jedem erbärmlichen Tag versuchen wir, unsere aus den Fugen geratene Existenz irgendwie zu begreifen, damit zu leben und die Risse zu kitten.

Doch gibt es überhaupt einen Ausweg? Ist morgen nicht immer wieder gestern?

Wenn wir zu Spielbällen unserer Umwelt werden und im großen Plan nur noch eine Statistenrolle einnehmen, wie sehr beeinflussen wir unser Schicksal dann überhaupt noch?

Und so führt uns der Weg manchmal auch in eine Sackgasse, aus der ein Entrinnen unmöglich erscheint.

Es sei denn, man entscheidet sich zur Flucht nach vorn und nimmt an, was das Leben bereithält.

Voraus, ins Ungewisse.

II. Hölle

Erstarrt blieb Yula stehen. Hinter ihr hatte etwas geknackt. Wie nah es war, vermochte sie nicht abzuschätzen. Angst kroch in ihr hoch.

Hatte sie den Kerl etwa immer noch nicht abgeschüttelt? Konnte er es überhaupt sein? Es war schließlich nicht so, dass sich zu dieser Zeit nur ein einziges perverses Schwein in den Straßen Berlins herumtrieb.

Sie rannte noch gut zweihundert Meter weiter und fand einen alten Eisenbahnwaggon, der zwar kein Dach mehr besaß, sonst aber noch in gutem Zustand zu sein schien. Sie war offenbar ganz in der Nähe des alten Güterbahnhofs. Seitlich hinter dem Waggon befand sich eine dunkle Ecke. Yula krabbelte hinein und lauschte. Nichts.

Für den Moment war sie erstmal sicher. Erschöpft lehnte sie sich gegen die kahle Seitenwand und atmete tief ein. Die Luft fühlte sich schmerzhaft kalt an. Wie lange war sie nun bereits draußen?

Ihre Eltern hatten ihr immer wieder eingebläut, sich an solchen Tagen nicht länger als drei Stunden den unwirtlichen Temperaturen auszusetzen. Doch heute waren es sicher schon acht. Yula ärgerte sich über ihre eigene Dummheit. Warum musste dieses verdammte Hilfspaket auch ständig verspätet sein?

Sie erinnerte sich, wie der Tag begonnen hatte.

Freudig erregt ob des monatlichen Hilfspaketes, das sich bald in ihren Händen befinden würde, war sie schon früh am Morgen aufgewacht und aus dem Bett gehüpft.

Zwar war der Andrang um diese Zeit am größten, doch manchmal traf sie auch ein paar Bekannte und konnte sich unterhalten. Denn auch wenn man nur die Hälfte der Geschichten glauben durfte, die bei solchen Gelegenheiten erzählt wurden, war das immer noch besser, als die ganze Zeit alleine zu verbringen.

Das Leben in Berlin war hart für Yula, seit ihre Familie in den Osten gegangen war. Sozialkontakte führten in der Regel zu Problemen, die man besonders als Frau lieber vermeiden wollte. Und Vertrauen gehörte ohnehin nicht zu ihren größten Stärken. Es war eindeutig besser, sich nur mit dem monatlichen Smalltalk zu begnügen.

Die Routine war dabei immer die gleiche. Man stellte sich in eine Reihe, die mit gelben Absperrbändern gekennzeichnet war. Dann ging es je nach Tagesform der Helfer im Charlottenburger Schloss im Schnecken- oder Schildkrötentempo voran. Man hatte also viel Zeit. Einige der Wartenden sprachen miteinander, andere schwiegen. Einige betranken sich, sodass sie ihr Paket am Ende gar nicht mehr annehmen konnten, oder sie führten Selbstgespräche. Von diesen beiden Sorten von Mitmenschen hielt man sich besser fern.

Am Anfang der Schlange überprüften Helfer die Rechtmäßigkeit des Anspruchs anhand des subkutanen Implantats und eines aktuellen Stempels des CIT. Außerdem wurden alle Anwesenden pingelig nach Waffen abgesucht. Ganz schlimm konnte es also eigentlich nie werden. Dort, wo man abgetastet wurde, standen für gewöhnlich auch mindestens fünfzig Uniformierte mit schweren Waffen herum. Auch auf kleinen Türmen waren einige platziert, die im Bedarfsfall für Ordnung sorgen konnten. ›Scharfschützen‹ hatte ihr Vater diese immer genannt.

Es war jedesmal eine ziemlich unwirkliche Situation. Als ›Tag der Hilfe‹ bezeichnete der Kanzler diesen monatlichen Termin und lobte sich und seine Regierung regelmäßig und überschwänglich für die wunderbare Unterstützung der Menschen in den dunklen Zonen. Doch warum fühlte man sich dann wie in einem Kriegsgebiet?

Wenn man nach vielen Stunden schließlich an der Reihe war, wurde erneut das subkutane Implantat ausgelesen. Es musste ja alles seine Ordnung haben. Erst dann durfte man mit einem kleinen nummerierten Zettel zur Ausgabe schreiten. Dort war die Schlange der Wartenden genau so lang wie am Eingang, aber das Absperrband war blau. Mit dem Hilfspaket unter dem Arm hieß es dann, den Rückweg anzutreten. In Yulas Fall war das nur ein Katzensprung, doch passierte es selbst auf derart kurzen Strecke oft, dass verzweifelte Mitmenschen versuchten, mit Gewalt an das begehrte Paket zu kommen. Insbesondere solche, die aus vielerlei unschönen Gründen keinen Anspruch auf Hilfe hatten, waren oft zu allem bereit. Alleine zu gehen war daher keine gute Idee. Doch was sollte man tun, wenn man niemandem trauen konnte?

Auch an diesem Morgen lief alles wie gewohnt ab. Yula hatte zunächst ihre Frisur in Form gebracht und die schönste Kleidung übergeworfen, die ihr Schrank hergab. Nun ja. Die Frau von heute trug grau. Einige der Teile hatte sie schon grau erhalten, andere waren mit der Zeit grau geworden. Dennoch tat man natürlich, was man konnte, um diesen besonderen Tag zu begehen. Es war ein wenig wie Weihnachten. Und das sogar jeden Monat!

Beschwingt schloss Yula ihre Tür ab und machte sich auf den Weg. Sie bog in die kleine Haubachstraße ein, um den Drogenabhängigen am Richard-Wagner-Platz aus dem Weg zu gehen. Nach ausgebombten Tankstellen und einer verwahrlosten Grundschule erreichte sie schließlich eine große Kreuzung, an der die Otto-Suhr-Allee und der Spandauer Damm aufeinandertrafen. An einem alten Gebäude baumelte ein Schild, das es als Botschaft der Kirgisischen Republik kennzeichnete. Yula wusste zwar, was eine Botschaft war, hatte aber immer nachlesen wollen, was es mit diesem Land auf sich hatte. Von hier waren es nur noch wenige Meter bis zu ihrem Ziel.

Doch stimmte an diesem Morgen irgendetwas nicht. Es waren zwar einige Menschen auf den Straßen unterwegs, aber man sah klar und deutlich, dass sich vor dem Schloss noch keine Schlange gebildet hatte. Auch die gelben Absperrbänder leuchteten ihr nicht wie sonst aus der Entfernung entgegen. Yula beschleunigte ihre Schritte.

Als sie am Sammelpunkt angekommen war, traf es sie wie ein Stich ins Herz. Auf einem großen handgeschriebenen Schild stand: Hilfspakete verspätet. Bitte in zwei Tagen erneut vorstellig werden. Danke. Die Regierung.

Verdammt! Yula trat nach einer herumliegenden Dose, was ihr den scharfen Blick eines Uniformierten einbrachte.

Während ihre gute Laune wie eine Seifenblase zerplatzte, stieg Ärger in ihr auf. Viel zu oft waren die Pakete verspätet. Wie schwer konnte es denn wohl sein, diesen einen festen Termin im Monat einzuhalten? Es handelte sich ja schließlich nicht um irgendwelchen unnützen Kram, sondern um das Nötigste zum Überleben!

Doch alles Jammern half nicht. Als Yula gerade kehrtmachen wollte, kam ihr eine andere Idee. Letzten Monat beim Warten hatte sie einen jungen Mann kennengelernt, der einen kleinen Laden in Spandau beschrieb, in dem man ohne Wissen der Regierung einen Tauschhandel zwischen den Bewohnern aufgebaut hatte. Da es dort auch Drogen im Angebot gab, sollte man jedoch nicht mit den falschen Leuten darüber reden. Yula hatte keine Ahnung, ob an der Sache etwas dran war, und sich eigentlich dagegen entschieden, sie zu überprüfen. Doch jetzt fand sie den Gedanken, einen der Ringe, die ihre Mutter zurückgelassen hatte, gegen etwas Trockenwurst und Wasser einzutauschen, ziemlich verlockend.

Sie lief zurück zu ihrem Haus, wühlte in alten Kisten und stiefelte schließlich mit einem besonders schönen Schmuckstück wieder los. Wie lange würde es noch hell sein? Egal, so lange konnte der Ausflug nicht dauern.

Ihr Weg führte sie nach Westen, immer der Nase nach. Auf halber Strecke erreichte sie das alte Olympiastadion. Wo man früher rauschende Sportfeste gefeiert hatte, war die inzwischen größte Mülldeponie Berlins heute einfach nur ein Ort, an dem man sich nicht zu lange aufhalten wollte. Die Bebauung wurde immer spärlicher und industrieller, je näher sie der Havel kam, die es zu überqueren galt.

Yula hielt ein hohes Tempo aufrecht. Nach weniger als neunzig Minuten erreichte sie die alte siebenspurige Eisenbahnbrücke, die über den Fluss führte. Alle anderen Übergänge in der Umgebung waren zerstört, weswegen man nur noch an dieser Stelle – oder mit einem Boot – auf die andere Seite gelangen konnte. Schwimmen war angesichts der Temperaturen und der Wasserqualität nicht zu empfehlen. Das Problem an der imposanten Brücke war jedoch, dass man keine Fluchtmöglichkeit mehr besaß, sollte einem der Weg von beiden Seiten abgeschnitten werden. Aber an so etwas wollte Yula heute nicht denken. Zu verlockend war die Aussicht, am Abend noch etwas zu Essen auf den Tisch zu bekommen.

Sie kletterte auf das stählerne Ungetüm, joggte, ohne sich einmal umzublicken, auf die andere Seite, wanderte schließlich durch den verlassenen Altstädter Ring und näherte sich dem Falkenseer Platz. Bis jetzt war das Ganze ziemlich glatt gegangen.

Von einer sonderbaren Skulptur aus sollte man Ausschau in alle Richtungen halten und ein großes, rotes Stück Stoff an einem Haus erkennen können. Yula kniff die Augen zusammen. Keine Frage: Es war sinnvoll, eine Farbe wie rot zu wählen. Alle Häuser waren grau, und die Vegetation konnte man ebenfalls kaum mehr als gesund grün bezeichnen. Rot musste also definitiv auffallen. Nach zehn Drehungen um sich selbst wollte sie schon frustriert aufgeben, als sie einen Stofffetzen erkannte, der an einem Fenstersims baumelte. Dieser war zwar kaum mehr rot und dazu ziemlich klein, es handelte sich aber um ihre beste Chance.

Ihre Annahme stellte sich als richtig heraus. Das Geschäft war als solches jedoch nicht mehr zu erkennen. Es war entweder einem Feuer zum Opfer gefallen oder mutwillig in Brand gesetzt worden. Nun zeugten nur noch rußgeschwärzte Wände, Holzreste und undefinierbare Möbel von seiner Existenz. Yula trat einen Schritt näher heran, um ein weißes Schild lesen zu können, das sich leuchtend von dem schwarzen Schlund des ehemaligen Hauses und der verkohlten Tür abhob. Darauf stand: Der Tauschhandel mit illegalen Waren ist per Gesetz verboten. Dieses Geschäft wurde geschlossen. Danke für ihr Verständnis. Die Regierung.

Yula wollte am liebsten schreien, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Es gab Tage, da sollte man einfach nur im Bett bleiben.

Sie schaute sich um. Auf dem Hinweg hatte sie die hereinbrechende Dunkelheit vor lauter Euphorie gar nicht bemerkt. Nun aber umhüllte sie die Nacht bereits wie eine undurchdringliche Nebelwand. Sie rannte den Weg zurück, passierte Orte, die ihr bekannt vorkamen sowie solche, die sie noch nie gesehen hatte, und stand schließlich wieder auf der breiten Straße, die direkt zur Eisenbahnbrücke führte.

Und dann hatte plötzlich der Mann vor ihr gestanden. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an seinen schlechten Atem, die fauligen Zähne und die dürren Finger, die ihr viel zu nahe gekommen waren. Nicht enden wollende Tritte und Schläge hatte es gebraucht, bis er endlich von ihr abgelassen hatte. Yula wusste nicht, woher die Kraft dafür gekommen war, doch irgendwie hatte ihr Körper funktioniert und sich gewehrt.

Am Ende des eigentlich so ungleichen Kampfes lag der Mann in seiner eigenen Blutlache und hatte aus leeren, grünen Augen zu ihr aufgesehen. War er wirklich tot? Gefragt hatte sie ihn nicht. Sie war nur noch gerannt und gerannt, bis sie diese dunkle Ecke hinter dem abgestellten Eisenbahnwaggon gefunden hatte.

 

Es war doch wirklich zum Mäusemelken, wie schnell man für kleine Fehlentscheidungen bestraft wurde. Dabei war der Grund so simpel gewesen. Yula hatte bereits seit Tagen Hunger und Durst gehabt und wollte einfach nur etwas zwischen die Zähne bekommen. Das Warten auf das nächste Hilfspaket zog sich zunehmend in die Länge, da einfach nichts anderes mehr zu finden war. Hätte sie die zwei Tage nicht einfach abwarten können? Es war doch wirklich nicht zu viel verlangt, wie eine brave Bürgerin nach Hause zu gehen, sich eine dünne Ratte über einer Fackel zu rösten und das braune Wasser aus der Regenrinne zu trinken, oder? Luxusprobleme!

Ein Kreischen riss sie aus ihren Gedanken. Inzwischen hatte ihr Herz aufgehört zu wummern, und ihre Lunge fühlte sich nicht mehr an, als würde jemand sie mit einer Machete entzweischneiden. Sie sollte wirklich dringend nach Hause gehen. Morgen war ja schließlich auch noch ein Tag, um etwas zu essen. Der Mann – sofern er denn überhaupt noch lebte – war jedenfalls nicht wieder aufgetaucht, und auch sonst hatte sie nichts gehört oder gesehen. Wenn doch bloß nicht noch der Rückweg über die alte Eisenbahnbrücke wäre. Dort trieben sich im Dunkeln die schlimmsten Gestalten Berlins herum. Irgendwas zwischen lebendig und nicht ganz tot, hatte ihr Vater immer gesagt. War sie vorsichtig und leise, konnte sie sich vielleicht vorbeischleichen. Wenn die sie jedoch in die Finger bekamen, würde ihr Hilfspaket ohne Frage einen neuen Adressaten erhalten.