Beweisantragsrecht

 

von

 

Prof. Dr. Rainer Hamm
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht
in Frankfurt am Main

 

Jürgen Pauly
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht
in Frankfurt am Main

 

bis zur 2. Auflage mit

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer †
Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.
Strafrechtslehrer an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Rechtsanwalt

 

3., neu bearbeitete Auflage

 

 

kein Alternativtext verfügbar

www.cfmueller.de

Beweisantragsrecht › Herausgeber

Praxis der Strafverteidigung

Band 22

 

 

Begründet von

 

Rechtsanwalt Dr. Josef Augstein (†), Hannover (bis 1984)

Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau

Prof. Dr. Hans Ludwig Schreiber, Göttingen (bis 2008)

 

 

Herausgegeben von

 

Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau

Rechtsanwalt Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Berlin

 

 

Schriftleitung

 

Rechtsanwalt (RAK München und RAK Wien) Dr. Felix Ruhmannseder, Wien

Beweisantragsrecht › Autoren

Autoren

Prof. Dr. Rainer Hamm ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Frankfurt/M. Er ist Honorarprofessor für Strafprozessrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Autor zahlreicher Veröffentlichungen sowie Mitherausgeber der „Neuen Juristischen Wochenschrift" (NJW).
Kontakt: buero@hammpartner.de

 

Jürgen Pauly ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Frankfurt/M. Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten gehören strafrechtliche Revisionen und Verfassungsbeschwerden, Wirtschaftsstrafrecht, Arzt- und Medizinstrafrecht.
Kontakt: buero@hammpartner.de

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

 

ISBN 978-3-8114-4820-9

 

E-Mail: kundenservice@cfmueller.de

Telefon: +49 89 2183 7923
Telefax: +49 89 2183 7620

 

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Inhaltsverzeichnis

 Vorwort der Herausgeber

 Vorwort der Autoren

 Abkürzungsverzeichnis

Teil 1Theoretische Grundlagen

 I.Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?

 II.Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO

 III.Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts

  1.Vorurteil und Sinnerwartung

  2.Konvergenzphilosophie

  3.Konsensustheorie der Wahrheit

  4.Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie

  5.Hermeneutik

  6.Konsequenzen

  7.Justizförmigkeit der Wahrheitssuche

Teil 2Die Stufen der petitativen Einflussnahme auf den Umfang der Beweisaufnahme

 I.Formlose Informationsweitergabe und Beweiserbieten

 II.Beweisanregung

 III.Beweisermittlungsanträge

 IV.Der bedingte Beweisantrag

  1.Bedingung aus der Sach- oder Prozesslage

  2.Der Hilfsbeweisantrag

 V.Beweisanträge im engeren Sinne

  1.Definition

   a)Zur prozessualen Funktion der einzelnen Beweismittel

    aa)Zeugenbeweis

    bb)Sachverständigenbeweis

    cc)Augenscheinsbeweis

    dd)Urkundenbeweis

   b)Die Bezeichnung des Beweismittels

    aa)Zeugenbeweis

     (1)Individualisierung des Zeugen, Angabe der Anschrift

     (2)Anforderungen bei Benennung einer Vielzahl von Zeugen

     (3)Praktische Konsequenzen

    bb)Sachverständigenbeweis

    cc)Urkundenbeweis

    dd)Augenscheinsbeweis

    ee)In der StPO nicht benannte Beweismittel

   c)Die Beweisbehauptung

    aa)Bestimmtheit der Beweisbehauptung

    bb)Zeugenbeweis und „Negativtatsachen“

    cc)Kenntnisstand des Antragstellers

   d)Die Verknüpfung zwischen Beweismittel und Beweisbehauptung („Konnexität“)

  2.Fakultative Bestandteile und Formulierungshinweise

Teil 3Beweisanträge in der Hauptverhandlung

 I.Der Antrag

  1.Zweck und Ziel

  2.Zeitpunkt des Beweisantrages

   a)Reichweite des § 246 StPO

   b)Bedeutung der Neuregelung in § 244 Abs. 6 S. 2-4 StPO

  3.Form des Beweisantrages

  4.Rechtliche Grenzen bei der Formulierung von Beweisanträgen

 II.Entscheidung über den Beweisantrag

  1.Theoretisches zur Ablehnung von Beweisanträgen

   a)Grundlegendes

   b)Verbot der Beweisantizipation

    aa)Das Antipationsverbot als „Herzstück“ des Beweisantragsrechts

    bb)Plausible Ausnahmen vom Antizipationsverbot

    cc)Problematische Eingriffe in das Antizipationsverbot

  2.System der Ablehnungsgründe

  3.Inhalt und Form der Entscheidung

   a)Bedeutung der Begründungspflicht

   b)Reichweite der Begründungspflicht bei den einzelnen Ablehnungsgründen

   c)Verstöße gegen die Begründungspflicht

   d)Keine Beanstandungspflicht der Verteidigung

  4.Zeitpunkt der Entscheidung

   a)Keine Verpflichtung zur sofortigen Entscheidung

   b)Bedeutung der Neuregelung in § 244 Abs. 6 S. 2-4 StPO

  5.Der Austausch von Beweismitteln

   a)Zur Rechtsprechung

   b)Folgerungen für die Praxis

  6.Die einzelnen Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO

   a)Allgemeines

   b)Beweiserhebung unzulässig

    aa)Unzulässigkeit und Beweisantragsbegriff

    bb)Unzulässigkeit und Beweisverbote

     (1)Beweisthemaverbote, Beweismittelverbote und Beweismethodenverbote

     (2)Unselbständige und selbständige Beweisverwertungsverbote

    cc)Unzulässigkeit und Grenzen des Beweisantragsrechts

     (1)Keine Beweisaufnahme über inländisches Recht

     (2)Beweisaufnahme über die Strafpraxis anderer Gerichte

     (3)Beweisanträge auf Vernehmung von Richtern

     (4)Anwendung des Polygraphen („Lügendetektor“)

   c)Verschleppungsabsicht

    aa)Verfahrensverzögerung als Folge der Beweiserhebung

    bb)Überzeugung von der Aussichtslosigkeit

    cc)Verzögerungsabsicht

     (1)Von der Rechtsprechung entwickelte „Fristenlösung“

     (2)Änderung des § 244 Abs. 6 StPO im Jahr 2017

     (3)Weitere Anwendungsvoraussetzungen

    dd)Generelle Bedeutung des Ablehnungsgrundes

   d)Ungeeignetheit des Beweismittels

    aa)Ungeeignetheit und Verbot der Beweisantizipation

    bb)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Zeugenbeweis

     (1) Ungeeignetheit auf Grund persönlicher Gegebenheiten

     (2)Zeugenbeweis zum Nachweis innerer Tatsachen

     (3)Zeugenbeweis für lange zurückliegende Vorgänge

     (4)Fehlender Wille zur wahrheitsgemäßen Aussage

     (5)Besonderheiten bei kommissarischen Vernehmungen

     (6)Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte

    cc)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Sachverständigenbeweis

    dd)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Urkundenbeweis

    ee)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Augenschein

   e)Unerreichbarkeit des Beweismittels

    aa)Ermittlungspflicht des Gerichts

    bb)Vorübergehende Unerreichbarkeit

    cc)Unerreichbarkeit bei Auslandszeugen

    dd)Kommissarische Vernehmung

    ee)Audiovisuelle Vernehmung

    ff)Unerreichbarkeit aus Rechtsgründen (insb. Sperrerklärungen bei Vertrauenspersonen)

    gg)Verteidigungstaktik

   f)Offenkundigkeit

    aa)Allgemeinkundige Tatsachen

    bb)Gerichtskundigkeit

    cc)Erörterungspflicht

   g)Beweistatsache schon erwiesen

   h)Bedeutungslosigkeit der Tatsache

    aa)Bedeutungslosigkeit aus Rechtsgründen

    bb)Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen

   i)Wahrunterstellung

    aa)Vorrang der Aufklärungspflicht

    bb)Beschränkung auf erhebliche Behauptungen

    cc)Begrenzte Bindungswirkung der Ablehnungsentscheidung

    dd)Keine Widersprüche zwischen Beschluss und Urteil

    ee)Wahrunterstellung als Warnsignal

 III.Besonderheiten beim Sachverständigenbeweis (§ 244 Abs. 4 StPO)

  1.Besonderheiten zum Inhalt des Beweisantrages

  2.Eigene Sachkunde des Tatrichters

   a)Beurteilung der Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB)

   b)Besondere Verantwortlichkeiten nach dem Jugendstrafrecht (§§ 3, 105 JGG)

   c)Glaubwürdigkeitsbeurteilungen

  3.Der „weitere“ Sachverständige und der Beweis des Gegenteils

   a)Sachkunde des früheren Sachverständigen zweifelhaft

   b)Unzutreffende tatsächliche Voraussetzungen

   c)Widersprüche im Gutachten

   d)Überlegene Forschungsmittel

   e)Die Aufklärungspflicht des Gerichts bei besonderer Schwierigkeit der Begutachtung

 IV.Besonderheiten beim Augenscheinsbeweis

 V.Besonderheiten beim Auslandszeugen

 VI.Der Beweisantrag auf Verlesung von Ausgangsdokumenten

 VlI.Der zurückgenommene Beweisantrag

 VIII.Der Beweisantrag gem. § 245 i.V.m. § 220 StPO

  1.Geltungsbereich des § 245 StPO

  2.Zu den Voraussetzungen einer Ladung durch den Angeklagten

   a)Form und Inhalt des Ladungsschreibens

   b)Form der Zustellung

   c)Vorankündigung nach § 222 StPO

   d)Inhalt des Beweisantrages

   e)Besonderheiten beim Sachverständigenbeweis

  3.Zurückweisungsgründe für den Beweisantrag nach § 245 Abs. 2 StPO

   a)Erwiesensein oder Offenkundigkeit der Beweistatsache

   b)Fehlender Zusammenhang

   c)Völlige Ungeeignetheit

   d)Prozessverschleppung

Teil 4Der Beweisantrag außerhalb der Hauptverhandlung

 I.Der Beweisantrag im Ermittlungsverfahren

  1.Beweisanträge anlässlich der Beschuldigtenvernehmung (§ 163a Abs. 2 StPO)

  2.Beweisanträge anlässlich der richterlichen Vernehmung (§ 166 Abs. 1 StPO)

  3.Antrag auf Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Augenscheinseinnahme (§ 168d Abs. 2 StPO)

 II.Der Beweisantrag im Zwischenverfahren (§§ 201, 202 StPO)

 III.Der Beweisantrag vor der Hauptverhandlung

 IV.Der Beweisantrag in der Revisionsbegründung

  1.Rügevoraussetzungen

  2.Besonderheiten bei einzelnen Ablehnungsgründen

   a)Unzulässigkeit der beantragten Beweiserhebung

   b)Verschleppungsabsicht

   c)Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache

   d)Offenkundigkeit

   e)Erwiesenheit der Beweisbehauptung

   f)Wahrunterstellung

   g)Unerreichbarkeit des Beweismittels

   h)Ungeeignetheit

  3.Besonderheiten beim Sachverständigenbeweis

   a)Eigene Sachkunde des Tatgerichts

   b)Weiterer Sachverständiger

   c)Rügevorbringen

  4.Nichtbescheidung eines Beweisantrages

  5.Rügeberechtigung

  6.Verletzung von Hinweispflichten

  7.Entscheidungsgrundlage des Revisionsgerichts

  8.Fehlende Revisibilität des Verfahrens vor der Hauptverhandlung

  9.Die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO)

 Literaturverzeichnis

 Stichwortverzeichnis

Vorwort der Herausgeber

Herausgeber und Schriftleitung freuen sich ganz besonders, die dritte Auflage dieses Klassikers der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ vorlegen zu können.

Das Beweisantragsrecht ist nach wie vor ein Kernstück der Verteidigung im Strafprozess. Seine außerordentliche Bedeutung für die Verteidigung ergibt sich schon daraus, dass im Bereich der Rechtspolitik regelmäßig eine Einschränkung dieses Rechts gefordert wird. Einen gewissen Erfolg haben diese Bestrebungen mit der Neuregelung des § 244 Abs. 6 S. 2 bis 4 StPO erlangt, der in der Neuauflage selbstverständlich gebührend behandelt wird. Ungeachtet dessen ist der Leitgedanke des Beweisantragsrechts, der erstmals durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts dogmatisch etabliert wurde, bis heute unverändert geblieben. Das sogenannte Verbot der Beweisantizipation ermöglicht es dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger, Beweiserhebungen unabhängig von vorweggenommenen Beweiswertungen des Gerichtes zu erzwingen. Dieses Recht ist von unschätzbarer Bedeutung. Es trägt zur Verwirklichung der Subjektstellung des Beschuldigten bei, weil es ihn dazu befähigt, selbstständig auf die Beweiserhebung zu seinen Gunsten Einfluss zu nehmen.

Es gehört zu den großen Verdiensten des vorliegenden Buches, dass es gleichermaßen die grundsätzliche als auch die praktische Bedeutung des Beweisantragsrechts in all seinen Verästelungen verdeutlicht und dem Leser damit eine souveräne Beherrschung dieses prozessualen Instruments vermittelt. Das Beweisantragsrecht ist, wie gesagt, ein starkes, aber auch ein kompliziertes prozessuales Recht. Seine erfolgreiche Anwendung erfordert schon in formaler Hinsicht eine präzise Kenntnis der hierzu ergangenen Rechtsprechung. Aber auch in materieller Hinsicht ist eine genaue Kenntnis der Rechtsprechung zu den gesetzlichen Ablehnungsgründen erforderlich. Der vorliegende Band lässt insoweit nichts zu wünschen übrig.

Den Autoren Rechtsanwalt Jürgen Pauly und Rechtsanwalt Professor Dr. Rainer Hamm sei herzlich dafür gedankt, dass die das von Letzterem und dem seit der letzten Auflage leider verstorbenen Hochschullehrer und Bundesverfassungsrichter Professor Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer begründete Werk fortgeführt und auf den neuesten Stand gebracht haben. Jeder Rechtsanwender und jede Rechtsanwenderin wird aus der Lektüre und dem rechten Gebrauch dieses Buchs großen Gewinn ziehen und zur Verwirklichung des Rechtsstaats beitragen.

Im Februar 2019

Passau

Werner Beulke

Berlin

Alexander Ignor

Vorwort der Autoren

Seit dem Erscheinen der erfreulich gut aufgenommenen 2. Auflage vor 12 Jahren hat sich vieles verändert. Der Tod unseres geschätzten Mitautors Winfried Hassemer am 9.1.2014 hat uns auch für die Neuauflage dieses Werkes hart getroffen. Insbesondere der erste Teil mit den theoretischen Grundlagen des Beweisantragsrechts trägt unverkennbar seine Handschrift, sodass wir uns hier nur zu sehr behutsamen Änderungen entschließen konnten. Das wurde auch dadurch erleichtert, dass gerade diese Ausführungen als zeitlos und gegenüber jeglichen „Modernisierungen“ des Strafverfahrensrechts immun gelten können. Gewünscht hätten wir uns, dass sich sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung mehr an eben diesen fundamentalen Erkenntnissen und Prinzipien der Erkenntnistheorie, der Hermeneutik und des dialogischen Charakters der Wahrheitsfindung orientieren. Stattdessen mussten wir weitere Entformalisierungen des Beweisantragsrechts verarbeiten. Das gilt sowohl für die im Zuge des allgemeinen Bedeutungsverlusts verfahrensrechtlicher Garantien von der Rechtsprechung vollzogene Aufweichung des abschließenden Katalogs der Zurückweisungsgründe für Beweisanträge (z.B. bei der Verschleppungsabsicht) als auch für die neuesten Eingriffe des Gesetzgebers (insbesondere die Änderung in § 244 Abs. 6 StPO).

In einem auffälligen Kontrast dazu steht die stetig wachsende Zahl von literarischen Darstellungen des Beweisantragsrechts in neuen StPO-Kommentaren und Monographien. Sie vollständig zu berücksichtigen, ist kaum mehr möglich. Nicht zu übersehen sind daneben auch die Folgen der fortschreitenden Digitalisierung. Sie zeigen sich praktisch u.a. in den neuen Vorschriften über die elektronische Akte, daneben aber auch in vielfältigen kleinen Veränderungen der Abläufe eines Strafverfahrens, die längst noch nicht alle prozessrechtlich eingeordnet sind. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist dabei, dass die Texte gerichtlicher Entscheidungen inzwischen wesentlich leichter verfügbar sind als bei Erscheinen der 1. und der 2. Auflage dieses Buches. Über Internet und Datenbanken kann die vollständige Fassung aktueller Urteile und Beschlüsse innerhalb kürzester Zeit abgerufen werden. Um den raschen Zugriff (auch) auf diese Quellen zu erleichtern, haben wir in den Fußnoten die Zitierweise bei Entscheidungen ab dem Jahr 2000 angepasst (Angabe des Entscheidungsdatums und des Aktenzeichens).

In der Neuauflage sind Literatur und Rechtsprechung bis zum November 2018 berücksichtigt. Bei der gesamten Überarbeitung des Werkes haben wir uns von dem Ziel leiten lassen, gerade die Entwicklungen darzustellen, die für die anwaltliche Tätigkeit in den verschiedenen Stadien eines Strafverfahrens von Bedeutung sind. Schon weil durch das Buch auch Wissen aus der Praxis weitergegeben werden soll, sind wir an einem fachlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen immer interessiert. Kritik und Anregungen sind willkommen (E-Mail-Adresse: buero@hammpartner.de).

Frankfurt im Dezember 2018

Rainer Hamm

Jürgen Pauly

Abkürzungsverzeichnis

a.A.

andere(r) Ansicht

a.a.O.

am angegebenen Ort

abgedr.

abgedruckt

a.E.

am Ende

a.F.

alte(r) Fassung

AG

Amtsgericht

AK

Alternativkommentar

allg.

allgemein(e)

a.M.

andere(r) Meinung

amtl.

amtlich

Anh.

Anhang

Anm.

Anmerkung

AT

Allgemeiner Teil

Aufl.

Auflage

Az.

Aktenzeichen

bay.

bayerische(r)

BayObLG

Bayerisches Oberstes Landesgericht

Bd.

Band

Begr.

Begründung

Beschl.

Beschluss

betr.

betreffend

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl.

Bundesgesetzblatt; (A) Bundesgesetzblatt (Österreich)

BGE

Amtliche Sammlung der Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichtes

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (amtliche Sammlung; zitiert nach Band und Seite)

BMJV

Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz

BR- Drucks.

Bundesrat Drucksache

BT

Besonderer Teil

BT-Drucks.

Bundestag Drucksache

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung; zitiert nach Band und Seite)

BvR

Aktenzeichen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht

DAV

Deutscher Anwaltverein e.V.

Diss.

Dissertation

DRiZ

Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt

EG

Europäische Gemeinschaft

EV

Ermittlungsverfahren

FS

Festschrift

GA

Goltdammerʼs Archiv für Strafrecht (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

gem.

gemäß

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

H.

Heft

h.L.

herrschende Lehre

h.M.

herrschende Meinung

Hrsg.

Herausgeber

hrsgg.

herausgegeben

HV

Hauptverhandlung

i.d.R.

in der Regel

i.E.

im Einzelnen

i.d.F.

in der Fassung

insb.

insbesondere

IRG

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen

i.S.

im Sinn

i.S.d.

im Sinne des/der

JO

Journal Officiel (Gesetzblatt Frankreich)

JR

Juristische Rundschau (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

Jura

Juristische Ausbildung (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

JuS

Juristische Schulung (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

JZ

Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

KG

Kammergericht

KK

Karlsruher Kommentar

Krim

Kriminalistik (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

krit.

kritisch, mit Kritik

LS

Leitsatz

LB

Lehrbuch

LG

Landgericht

Lkw

Lastkraftwagen

MAH

Münchener Anwaltshandbuch

m. Anm.

mit Anmerkung

m.w.Bsp.

mit weiteren Beispielen

m.z.w.N.

mit zahlreichen weiteren Nachweisen

m.a.W.

mit anderen Worten

M. B.

Moniteur Belge (Gesetzblatt Belgien)

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

Mdt.

Mandant

N.

Nachweis

NdsRpfl

Niedersächsische Rechtspflege (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

NJW-RR

NJW-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

n. rk.

nicht rechtskräftig

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

NStZ-RR

NStZ-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

n. v.

nicht veröffentlicht(e)

NZV

Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

OGH

Oberster Gerichtshof (Österreich)

OLG

Oberlandesgericht

RbGeld

EU-Rahmenbeschluss zur gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Geldbußen und Geldstrafen

Rspr.

Rechtsprechung

RVG

Rechtsanwaltsvergütungsgesetz

S.

Seite, Satz

s.a.

siehe auch

sog.

sogenannt(e)

StA

Staatsanwaltschaft

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozessordnung

str.

streitig

StraFo

Strafverteidiger Forum (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

StV

Strafverteidiger (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)

SV

Sachverständiger

Teil-Bd.

Teilband

teilw.

teilweise

u.a.

und andere, unter anderem

u.a.m.

und andere mehr

umstr.

umstritten

unveröff.

unveröffentlicht(e)

Urt.

Urteil

u.U.

unter Umständen

u.v.a.

und viele andere

Verf.

Verfasser

veröff.

veröffentlicht(e)

VO

Verordnung

VVG

Versicherungsvertragsgesetz

Vwv

Verwaltungsvorschrift

zahlr.

zahlreich(e)

ZAP

Zeitschrift für die Anwaltspraxis (zitiert nach Fach und Seite)

Ziff.

Ziffer

zit.

zitiert

ZPO

Zivilprozessordnung

z.T.

zum Teil

zust.

zustimmend

z.Z.

zur Zeit

Teil 1 Theoretische Grundlagen

Inhaltsverzeichnis

I.Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?

II.Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO

III.Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts

Teil 1 Theoretische Grundlagen › I. Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?

I. Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?

1

Das Recht, Beweisanträge zu stellen (§ 244 Abs. 3–6, § 245 Abs. 2 StPO), scheint ein Fremdkörper in der Verfahrenskonstruktion der Strafprozessordnung zu sein: Es bringt ein Verhandlungselement in ein Verfahren, das eigentlich auf dem Grundsatz der Inquisition aufgebaut ist. Das Beweisantragsrecht ist ein prominenter Beleg dafür, dass wir ein gemischtes Strafverfahren haben.

§ 244 Abs. 2 StPO, der die Pflicht zur Amtsaufklärung formuliert, steht in einem seltsamen Gegensatz zu den weiteren Absätzen dieser Norm. Wenn das Gericht wirklich, wie das Gesetz es befiehlt, die Beweisaufnahme „auf alle Tatsachen und Beweismittel“ erstreckt, „die für die Entscheidung von Bedeutung sind“, so scheint eine Erweiterung der Beweisaufnahme über diesen Rahmen hinaus sinnlos zu sein. § 244 Abs. 2 StPO umfasst schon nach seinem Wortlaut schlechthin alle nur denkbaren Gegenstände und Beweismittel, die als Grundlage eines Strafurteils in Betracht kommen können.

2

Gleichwohl erweitert § 244 Abs. 3–5 StPO den Umfang der gebotenen Beweisaufnahme offenbar beträchtlich.[1]

Diese Vorschriften führen jenes Verhandlungselement in das Verfahren ein, welches in die Konstruktion eines Strafprozesses wie des unsrigen nicht gut zu passen scheint.

Während § 244 Abs. 2 StPO dem Gericht die Pflicht zur Sachaufklärung positiv auferlegt, formulieren die Vorschriften zum Beweisantragsrecht negativ: Sie sagen nicht, was ein Beweisantrag ist, wer ihn wann und wie stellen darf, sondern nur, unter welchen Voraussetzungen ein Beweisantrag abgelehnt werden muss, darf oder kann. Diese Vorschriften gehen also offensichtlich davon aus, dass es das Phänomen von Beweisanträgen jenseits gesetzlicher Regelung bereits „gibt“, dass ausdrücklicher rechtlicher Regelung bedürftig nur das Ablehnungsverfahren sei.[2]

3

Dass die Wahrheitsfindung im Strafverfahren überhaupt von „Anträgen“ der Verfahrensbeteiligten abhängen soll, wäre in der Tat systemwidrig, wenn die folgenden wichtigen Grundsätze des Strafverfahrens wirklich ohne Einschränkung anerkannt wären:

Das Strafverfahren ist eine Veranstaltung im öffentlichen Interesse, nicht im Interesse von Verfahrensbeteiligten, auch nicht des Verbrechensopfers. Der Idee nach kann der Beschuldigte das Verfahren nicht – auch nicht durch ein Geständnis – abwenden oder abkürzen. Das Opfer ist regelmäßig in eine Zeugenrolle abgedrängt. Klageerzwingung, Privatklage und Nebenklage sind nur – teilweise – Ausnahmen, welche diese Regel bestätigen. Nicht die Parteien, sondern der Staat beginnt das Verfahren, führt es durch und bringt es zu einem Ende.

Außerdem ist das Strafverfahren dem Prinzip der materiellen Wahrheit verpflichtet. Diese „Wahrheit“ kann kein Gegenstand von „Verhandlung“ sein oder von „Anträgen“ abhängen, sie ist ein objektiv gegebenes Datum und muss mit objektiven Methoden gefunden, sie muss „erkannt“ werden.

Dies sind im Wesentlichen die Argumente und Sichtweisen der „Identitätslehre“.[3] Sie sieht die richterliche Pflicht zur Sachaufklärung und das Beweisantragsrecht als nahe verwandt bzw. identisch an und meint, dass das Beweisantragsrecht den Umfang der gerichtlichen Ermittlungspflicht nicht erweitern, sondern allenfalls konkretisieren könne.[4]

Eine solche Sicht kann das Beweisantragsrecht nur schwach begründen; es wäre nicht viel mehr als ein Anhängsel der Amtsaufklärungspflicht. Freilich ist sie nicht überzeugend: Sowohl die historische Entwicklung des Beweisantragsrechts als auch seine systematische Verankerung im richterlichen Erkenntnisverfahren legen eine andere Einschätzung nahe.

Anmerkungen

[1]

Mit zu beachten ist § 245 Abs. 2 StPO; vgl. weiterhin §§ 163a Abs. 2, 166, 219 StPO.

[2]

Dass es auch anders geht, zeigen die Vorschriften der §§ 163a Abs. 2, 166, 219 StPO.

[3]

Vgl. etwa Wessels JuS 1969, 3; Julius NStZ 1986, 62.

[4]

Vgl. zum Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht: Schulenburg Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozess, S. 28 m.w.N.; Tenorth-Sperschneider Zur strukturellen Korrespondenz, S. 16/17.

Teil 1 Theoretische Grundlagen › II. Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO

II. Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO

4

Historisch und in längeren Zeiträumen betrachtet, ist die Geschichte des Beweisantragsrechts die seiner Verstärkung. Einschränkungen dieses Rechts, die es erst in jüngster Zeit gegeben hat, beruhen auf ökonomischen und justizpolitischen Gründen:

5

Das Beweisantragsrecht verdankt sich, wie viele andere Grundsätze unseres heutigen Strafverfahrens (etwa das Prinzip der Öffentlichkeit), dem Gedankengut der Aufklärung. In das reine Inquisitionsverfahren des gemeinen Rechts hätten Beweisanträge der Verfahrensbeteiligten nicht gepasst. Gestaltung und Fortgang des Verfahrens lagen in den Händen des Inquirenten, der Beschuldigte hatte kein Recht auf Intervention und Mitgestaltung des Verfahrens. Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess versprach sich die Aufklärung des Sachverhalts von einer regelgeleiteten Suche nach Wahrheit. Das Strafverfahren war eine Veranstaltung unter Fachleuten mit dem Beschuldigten als Objekt der Ausforschung. Dabei hätten die Öffentlichkeit, die Beteiligung von Laien und ein Beweisantragsrecht nur stören können.

6

Nicht die Hoffnung, man könne die Wahrheit besser finden, sondern die Entschlossenheit, die Rechtsstellung des Beschuldigten zu verbessern und das Strafverfahren öffentlicher Kontrolle zugänglich zu machen, steuerte die Reform des Strafprozesses in den Partikularrechten[1] des 19. Jahrhunderts. Das Veränderungsinteresse der Aufklärung war in diesem Bereich ein politisches, nicht ein erkenntnistheoretisches. Der Beschuldigte bekam die Möglichkeit, sich am Verfahren aktiv zu beteiligen. Er konnte Beweispersonen vorladen und hatte auch das Recht, die Beweisaufnahme mit eigenen Anträgen zu beeinflussen – freilich nur im Rahmen der Sachaufklärungspflicht des Gerichts.[2]

Dies war das Ende des reinen Inquisitionsprozesses. Das Recht des Beschuldigten, sich an der Wahrheitssuche zu beteiligen, hatte zwar nur eine unterstützende Funktion, weil Methoden und Grenzen dieser Suche der Beurteilung des Gerichts unterlagen. Die Verfahrensordnungen gingen aber nicht mehr davon aus, dass das Wissen um den richtigen Weg zur Wahrheit ausschließlich beim Gericht liegt. Die aktive Beteiligung des Beschuldigten konnte die Erkenntnismittel zumindest dadurch verbessern, dass sie sie vervollständigte.

7

Die Strafprozessordnung von 1877 hat das Beweisantragsrecht in bescheidenem Umfang gesetzlich begründet und dabei eine Unterscheidung eingeführt, die auch für spätere Gesetzesänderungen verbindlich blieb: die Unterscheidung zwischen Verfahren vor dem Amtsgericht und der landgerichtlichen Berufungsinstanz einerseits sowie vor höheren Gerichten andererseits. Im ersten Verfahrenstyp hatte das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen (§ 244 Abs. 2 StPO a.F.) und durfte Beweisanträge ohne Begründung ablehnen (§ 243 Abs. 2 StPO a.F.). Das in erster und letzter Tatsacheninstanz zuständige Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die Beweisaufnahme auf alle präsenten Beweismittel zu erstrecken (§ 244 Abs. 1 StPO a.F.).[3] Der Gesetzestext lautete:

§ 243

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder wenn die Vornahme einer Beweishandlung eine Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich macht.

(3) Das Gericht kann auf Antrag und von Amts wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen.

§ 244

(1) Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung einzelner Beweise kann jedoch abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte hiermit einverstanden sind.

(2) In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Landgerichten in der Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.

Damit waren Beweisanträge, ihre abgestufte Wirkung und die Bedeutung präsenter Beweismittel anerkannt. Und für die Ablehnung eines Beweisantrags musste zumindest eine gewisse Förmlichkeit beachtet werden, – auch wenn das Gesetz für den zwingend vorgeschriebenen Beschluss und seine etwaige Begründung keine inhaltlichen Vorgaben enthielt.

8

Eine solche Konstellation – Anordnung eines Verfahrens zur Ablehnung von Beweisanträgen ohne Enumeration der Gründe, welche eine Ablehnung rechtfertigen – ist eine gute Ausgangsbedingung für die Herausbildung von Richterrecht, sie ruft es geradezu herauf. Das Reichsgericht hat seine Chance genutzt. Dogmatisch verankert in dem Revisionsgrund, die Verteidigung sei durch die Ablehnung eines Beweisantrags unzulässig beschränkt worden (heute § 338 Nr. 8 StPO), haben die Senate schrittweise ein System (allein) zulässiger Ablehnungsgründe entworfen, welches dann später[4] in die StPO eingefügt werden konnte.

Die Geburt eines formalisierten Beweisantragsrechts lässt sich gleich im ersten Band der Amtlichen Sammlung des Reichsgerichts studieren.

Die Entscheidung des I. Strafsenats vom 12.1.1880[5] fußt noch auf der damals nicht in Frage gestellten Überzeugung, dass die Ablehnung eines Beweisantrags nur im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegen könne, lässt aber schon Schwierigkeiten mit der Regelung zur Beachtung präsenter Beweise erkennen:

„Allein nicht jede Ablehnung eines Beweisantrags über einen Punkt, der für die Entscheidung wesentlich sein kann, ist darum als unzulässige Beschränkung der Verteidigung anzuerkennen. Das trifft nicht nur dann zu, wenn der Antrag aus richtigen Rechtsgründen abgelehnt ist, sondern auch dann, wenn ihm ohne Rechtsirrtum für den konkreten Fall die Erheblichkeit abgesprochen ist. Dass über den Umfang der Beweisaufnahme das Gericht zu befinden und von ganz zwecklosen Erhebungen Umgang zu nehmen hat, liegt so sehr im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet, dass es einer ausdrücklichen Aufnahme dieses Grundsatzes in der Strafprozessordnung gar nicht bedurfte, er ist aber auch als in den §§ 219 und 243 Satz 2 enthalten anzusehen und im § 244 Satz 1 nur insoweit verlassen, dass die vorgeladenen Zeugen etc. regelmäßig sämtlich zu vernehmen sind, hinsichtlich der abgelehnten also dem Angeklagten nur die eigne Ladung offen gelassen ist, keineswegs nach § 245 Satz 1 ihm das Recht auf Aussetzung der Hauptverhandlung durch die Befreiung der Beweisanträge von bestimmten Prozessstadien ganz allgemein gewährleistet ist“ (S. 62).

9

Kurze Zeit später gelingt dem II. Strafsenat in seinem Urteil vom 6.2.1880[6] die Begründung des Verbots der Beweisantizipation, welches später für die Konstruktion des Beweisantragsrechts von grundlegender Bedeutung werden sollte.[7] Das Schwurgericht hatte es abgelehnt, nach der Einvernahme eines Zeugen einen weiteren Zeugen zu befragen, welcher der Aussage des ersten Zeugen widersprechen würde. Der Senat präzisiert, dass das Schwurgericht damit die Aussage des ersten Zeugen für so überzeugend erachtete,

„dass eine davon abweichende Aussage des (zweiten Zeugen) keinen Glauben verdienen würde. So verstanden beruht jener Grund auf einem Rechtsirrtum, indem dabei außer Acht gelassen wird, dass – von Ausnahmefällen abgesehen, die dann stets einer besonderen Begründung bedürfen – regelmäßig erst nach der vor dem erkennenden Richter stattfindenden Vernehmung sich beurteilen lässt, welchem von zwei sich widersprechenden Zeugen mehr Glauben geschenkt werden kann“ (S. 190).

Damit war entschieden, dass dem Gericht vorgängige Bewertungen einer Beweisaufnahme verwehrt sind: dass es die Beweisaufnahme also erst einmal durchführen muss, bevor es ihren Beweiswert einschätzt. Der Senat hatte den ersten Pflock eingeschlagen, an welchen das Ermessen des Gerichts bei der Ablehnung von Beweisanträgen gebunden war, und er musste dazu argumentativ nicht weit ausholen; eine einfache Logik reichte hin: Eine Beweiserhebung darf nicht deshalb unterlassen werden, weil man ihr Ergebnis schon zu kennen glaubt.

10

Die allmähliche Ausformung des Beweisantragsrechts durch die Rechtsprechung wurde von Gesetzesänderungen begleitet, welche dieses Recht zuerst begründeten und ausbauten, dann aber wieder beschnitten und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges ganz beseitigten. Die wechselvolle Geschichte des Beweisantragsrechts zeigt, dass dieses Institut ein sensibler Indikator für Liberalität und Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens ist und dass seine mächtigsten Feinde in einer einseitigen Politik effektiver und funktionstüchtiger Strafrechtspflege, verbunden mit einer Geringschätzung von Beschuldigtenrechten, zu sehen sind.

11

Das Gesetz zur Abänderung der StPO vom 22.12.1925[8] weitete das Beweisantragsrecht erheblich aus, indem es dem Gericht nur noch bei Privatklagesachen gestattete, den Umfang der Beweisaufnahme von sich aus zu bestimmen (§ 245 Abs. 2 StPO a.F.). Die erste Einschränkung[9] erfolgte bald und war nicht mehr als eine absehbare Randkorrektur: präsente Beweise durften abgelehnt werden, wenn sie der Prozessverschleppung dienten (§ 245 Abs. 1 Satz 1 StPO a.F.).

12

Schon von ganz anderer Qualität war die Einschränkung des Beweisantragsrechts in der Verordnung des Reichspräsidenten auf dem Gebiete der Rechtspflege und der Verwaltung vom 14.6.1932[10], welche den Tatrichter am Amtsgericht sowie in Berufungssachen am Landgericht von der Erhebung präsenter Beweise freistellte und den Umfang der Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts zurückgab; damit blieb von einem Recht, einen Beweis zu beantragen, nicht mehr viel. Schon aus der Konzentration dieser Gesetzesänderung auf bestimmte Gerichte lässt sich ablesen, dass dieser Schlag gegen das Beweisantragsrecht nicht aus grundsätzlichen, sondern aus ökonomischen Motiven geführt wurde. Es war die wirtschaftliche Not der Zeit, welche eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren nahe legte.[11] Diesem Ziel standen natürlich die Interventionsrechte des Beschuldigten, insbesondere das Beweisantragsrecht, im Wege; diese Rechte können das Verfahren verzögern und verteuern.

13

Dass in den ersten Jahren nach 1933 die „Gleichschaltung“ der Justiz noch nicht vollständig gelang, dass vielmehr Reformbestrebungen aus der Weimarer Zeit noch eine Chance hatten, lässt sich auch im Beweisantragsrecht studieren. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935[12] sah zwar eine Pflicht zur Erhebung präsenter Beweise nicht vor, übernahm aber für große Teile der Strafrechtspflege die vom Reichsgericht entwickelten Grundsätze zum Beweisantragsrecht. Vor dem Amtsgericht und dem Landgericht in Berufungssachen stellte das Gesetz die Beweisaufnahme in das Ermessen des Tatrichters. Für die anderen Tatgerichte wurden jedoch die möglichen Ablehnungsgründe für Beweisanträge formalisiert. Diese Formalisierung entsprach der Regelung, wie sie § 244 Abs. 3 StPO heute vorsieht. Der Gesetzestext erhielt folgende Fassung:

§ 244

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist.

§ 245

(1) In Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz darf das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält. Dies gilt auch in anderen Verhandlungen für den Beweis durch Augenschein oder durch Sachverständige.

(2) Im übrigen kann in der Verhandlung vor den Gerichten, bei denen nach dem Gesetz allgemein die Berufung ausgeschlossen ist, die Erhebung eines Beweises nur abgelehnt werden, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, wenn wegen Offenkundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(3) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses.

14

Es überrascht nicht, dass das Beweisantragsrecht unter der nationalsozialistischen Rechtspolitik nicht überleben konnte; es passte nicht zu der harmonistischen Verkleisterung, die vorgaukelte, dass alle Beteiligten gemeinsam nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren suchen sollen. Unter der Flagge der „Vereinfachung“ der Strafrechtspflege wurde das Beweisantragsrecht durch die Verordnung vom 1.9.1939[13] und durch die Verordnung vom 13.8.1942[14] ausradiert. Es begann mit der Aufhebung des Verbots der Beweisantizipation, was dem Beweisantragsrecht das Rückgrat brach. Ob der Richter einem Beweisantrag folgte, wurde in sein freies Ermessen gestellt; eine Ablehnung wurde erlaubt, wenn die Beweiserhebung nicht erforderlich war. 1942 folgte dann auch noch die Beseitigung des Rechts auf unmittelbare Ladung.[15]

15

Das „Vereinheitlichungsgesetz“ vom 12.9.1950[16] führte die Absätze 3–6 des § 244 StPO und damit das Beweisantragsrecht wieder ein. In § 245 i.V.m. § 220 StPO wurde die unmittelbare Ladung von Zeugen und Sachverständigen durch den Angeklagten normiert. Das Strafprozessänderungsgesetz vom 19.12.1964 dehnte § 166 StPO auf Vernehmungen durch die Ermittlungsbehörden aus (§ 163a Abs. 2 StPO) und das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 fasste § 245 StPO neu, indem es Beschränkungen bei der Erhebung präsenter Beweise vorsah.[17]

16

Auf alte Rezepte zurückgegriffen hat der Gesetzgeber dann im Zuge der Anfang der 80er Jahre einsetzenden Diskussion über die Notwendigkeit einer Justizentlastung.[18] Unter dem Eindruck einer Reihe langwieriger Großverfahren und vielfältiger Klagen aus der Praxis geriet das Beweisantragsrecht ins Schussfeld moderner Justizreformer. Der extensive Gebrauch dieses Rechts war nach Meinung mancher Autoren einer der Gründe für die Verzögerung vieler Strafverfahren. Zur Debatte standen deshalb außerordentlich weit reichende Einschränkungen des Beweisantragsrechts, ohne dass die dem zugrunde liegende Annahme, gerade der (wirkliche oder angebliche) Missbrauch des Beweisantragsrechts führe zu ungewollten Verfahrensverzögerungen, empirisch belegt war – heute gibt es Belege für das Gegenteil. Anlass zu Kritik mag dabei hintergründig auch die Kombination einer Androhung von Beweisanträgen mit Verhandlungen über eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung gewesen sein.

Der Gesetzgeber hat sich im Ergebnis den aus der Praxis gestellten Forderungen nicht vollständig unterworfen; er hat sie jedoch auch nicht vollständig zurückgewiesen. Mit dem durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993[19] eingefügten § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO hat der Tatrichter die Befugnis erhalten, einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, nach den Maßstäben der Aufklärungspflicht zu bescheiden, d.h. er ist nicht an die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO gebunden, wenn er einen derartigen Antrag ablehnen will. Weitere Beschränkungen des Beweisantragsrechts enthalten § 420 Abs. 4 StPO für das beschleunigte Verfahren sowie § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO für das Strafbefehlsverfahren, eingefügt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994.[20]

17

Wiederum mit Blick auf eine erhoffte Entlastung der Justiz und eine Beschleunigung der Strafverfahren hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 dann eine jahrzehntelang unangetastet gebliebene Grundnorm des Beweisantragsrechts nachhaltig verändert. Durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 wurde in § 244 Abs. 6 StPO dem Vorsitzenden die Befugnis eingeräumt, den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen.[21] Wird nach Fristablauf ein Beweisantrag gestellt und dabei nicht hinreichend begründet, dass eine frühere Antragstellung nicht möglich war, darf das Gericht über diesen Antrag in den Urteilsgründen entscheiden. Der Antragsteller erfährt die Gründe für die Antragsablehnung mithin erst zu einem Zeitpunkt, zu dem er auf sie nicht mehr reagieren kann.[22]

18

Im Jahr 2017 wurde ferner § 244 Abs. 5 StPO geändert.[23] Der neu in das Gesetz aufgenommene Satz 3 muss im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 32e StPO gelesen werden. Ob die Bestimmung große praktische Bedeutung erlangen wird, bleibt abzuwarten.

19

Im Ganzen macht die historische Entwicklung deutlich, dass das Beweisantragsrecht in Zeiten gedeiht, in denen Justizpolitik nicht vordringlich unter ökonomischen Zwängen betrieben wird und in denen eher die Rechtsposition des Beschuldigten im Strafverfahren als jener Wert, der gerne mit „die Effektivität und Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“[24] bezeichnet wird, die Leitlinien der Rechtspolitik bestimmt. Andererseits ist klar, dass das Beweisantragsrecht zu denjenigen strafprozessualen Institutionen gehört, welche einer auf „Vereinfachung“ und „Effektivierung“ bedachten Politik am ehesten anheim fallen.[25] Diese Erkenntnis erleichtert es, die Position des Beweisantragsrechts in einem kriminalpolitischen Klima zu verorten.

Anmerkungen

[1]

Der Gang der Reform im Überblick ist nachzulesen bei Rüping/Jerouscheck Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 1998, S. 80 ff. und 86 ff.; detaillierter bei Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1983, §§ 284 ff., 287 ff.

[2]

Vgl. zur unterschiedlichen Rechtslage in Preußen, Sachsen und Bayern die instruktive Darstellung bei Schatz Beweisantragsrecht, S. 42 ff.; zur Rechtslage in Hessen-Nassau: Hoffmann Der unerreichbare Zeuge, S. 37 ff.

[3]

Vgl. zur Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Regelungen: Schatz Beweisantragsrecht, S. 57 ff.

[4]

Im Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935, RGBl. I, 844; zu den Reformbestrebungen um die Jahrhundertwende: Schatz Beweisantragsrecht, S. 72 ff.

[5]

RGSt 1, 61.

[6]

RGSt 1, 189; weitere Nachweise aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung bei Schatz Beweisantragsrecht, S. 85.

[7]

Vgl. hierzu Rn. 249 ff.

[8]

RGBl. 1925 I, 475.

[9]

Im Gesetz zur Abänderung der StPO vom 27.12.1926, RGBl. 1926 I, 529.

[10]

RGBl. 1932 I, 285.

[11]

Vgl. hierzu Schatz Beweisantragsrecht, S. 102/103. Zeitgenössische Kommentare: Hellwig JW 1932, 2672; von Pestalozza JW 1932, 2675; Koffka JW 1932 1930.

[12]

RGBl. 1935 I, 844.

[13]

RGBl. 1939 I, 1658.

[14]

RGBl. 1942 I, 508.

[15]

Zur Reaktion der Rechtsprechung auf diese Gesetzesänderungen vgl. Schatz Beweisantragsrecht S. 117 ff.

[16]

BGBl. 1950 I, 455, 629.

[17]

BGBl. 1979 I, 1645.

[18]

Siehe auch Hamm NJW 1993, 289, 293.

[19]

BGBl. 1993 I, 50.

[20]

BGBl. 1994 I, 3186.

[21]

BGBl. 2017 I, 3202, 3209; hierzu: Börner JZ 2018, 232.

[22]

Vgl. hierzu Hamm StV 2018, 535.

[23]

Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5.7.2017, BGBl. I, S. 2208.

[24]

Hierzu Hassemer StV 1982, 275 ff.

[25]

Vgl. auch BGH Beschl. v. 14.6.2005 – 5 StR 129/05 = NJW 2005, 2466 = StV 2006, 113 m. Anm. Dahs = JR 2006, 125 m. Anm. Gössel = JZ 2005, 1010 m. Anm. Duttge und BGH Beschl. v. 23.9.2008 – 1 StR 484/08 = BGHSt 52, 355 = NJW 2009, 605 = StV2009, 64.

Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts

III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts

20

Seiner Funktion nach ist das Beweisantragsrecht nicht lediglich eine menschen(rechts)freundliche Verbesserung der Interventionsrechte des Beschuldigten im Strafverfahren und auch nicht lediglich eine Ergänzung der richterlichen Aufklärungspflicht; es bezweckt nicht nur eine Konkretisierung dieser Pflicht. Es ist viel tiefer begründet; es folgt nämlich zwingend aus der menschlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit sowie aus dem verfassungsrechtlich gestützten Prinzip, dass der Beschuldigte nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt des Verfahrens ist.

Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 1. Vorurteil und Sinnerwartung

1. Vorurteil und Sinnerwartung

21

Das Beweisantragsrecht ist ein Teil der Beweisaufnahme im Strafverfahren und ein Instrument der Wahrheitsfindung. In der Beweisaufnahme hat das Gericht die Tatsachen festzustellen, welche als empirische Grundlage des Urteilsspruchs benötigt werden. Hier geht es also um „Wahrheit“, um empirische Erkenntnis. Nur ein Urteil, dessen Tatsachenfeststellungen den Tatsachen entsprechen, kann auch gerecht sein. Tatsachenfeststellung ist fast immer ein komplizierter Prozess mit vielen Fehlerquellen. Das Beweisantragsrecht lässt sich verstehen als Konsequenz aus der Einsicht, dass die menschliche Fähigkeit, Tatsachen richtig zu erkennen und festzustellen, begrenzt und vielfach gestört ist.

Die modernen Wissenschaften vom Menschen, seiner Wahrnehmungs- und seiner Erkenntnisfähigkeit haben alte Einsichten der philosophischen Erkenntnistheorie ausdifferenziert, neu bestätigt und begründet. Was wir für wahr halten, ist nicht nur das Ergebnis von Erkenntnis und Wahrnehmung der Welt, sondern auch von Vorurteil und Sinnerwartung, nicht nur von Anschauung, sondern auch von Auseinandersetzung:

Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 2. Konvergenzphilosophie

2. Konvergenzphilosophie

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Die Überzeugung, dass der Mensch einer Sache niemals vollständig und adäquat habhaft werden kann, gehört nicht nur zur Tradition der europäischen Philosophie. Sie durchzieht die philosophische Anthropologie aller Kulturvölker: Es fehlt nicht nur ein hinlänglicher Beweis für die Existenz einer Außenwelt, es gibt auch keine Methode, sich dieser Außenwelt verlässlich zu vergewissern. Auch gehört es zu unseren Alltagserfahrungen, dass Dinge, Gegenstände, Tatsachen für unterschiedliche Betrachter Unterschiedliches bedeuten. Was wir bei der Feststellung von Tatsachen erwarten können, ist nicht Objektivität, sondern bestenfalls Intersubjektivität.

23

Auf diese Erfahrung antwortet eine lange Tradition europäischer Erkenntnistheorie mit der „Konvergenzhypothese“[1]. Sie geht davon aus, dass sich auch die empirisch wahrnehmbare Welt – um die es in der Beweisaufnahme ja geht – dem einzelnen Beobachter nur von der Seite her präsentiert, von der her er die Dinge anschaut. Folglich darf dieser Beobachter nicht hoffen, dass ihm die Anschauung der Dinge vollständig, dass sie ihm adäquat gelinge. Er ist vielmehr – will er sich der Gegenstände verlässlich vergewissern – auf die Beobachtung derselben Gegenstände durch andere zwingend angewiesen. Also wird von ihm Austausch, Kommunikation verlangt. Nicht schon von der Sicht eines einzelnen Beobachters, sondern erst von der Konvergenz der unterschiedlichen Zugänge zu einem Gegenstand darf Verlässlichkeit erwartet werden. Auch diese Verlässlichkeit ist freilich nur eine historische und relative: menschliche Erkenntnis ist immer verbesserungsbedürftig, sie kann sich ihres Gegenstands niemals vollständig, sondern nur asymptotisch vergewissern.

24

Daraus folgt, dass „wahre“ Erkenntnis nicht erhofft werden kann von den Beobachtungen eines einzelnen Individuums – und seien sie auch noch so sorgfältig. Erkennen ist vielmehr ein Annäherungsprozess, an dem unterschiedliche Sichtweisen beteiligt sein müssen und der auf eine Konvergenz dieser Sichtweisen abzielt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Beobachter sich untereinander konfliktfrei oder „friedfertig“ austauschen; auch im Streit kann sich Konvergenz herstellen, so lange die streitenden Beobachter sich auf die Sache beziehen. Auf diese Sicht menschlicher Erkenntnisfähigkeit kann sich zwanglos berufen, wer das Beweisantragsrecht im Strafprozess begründen will.