Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019
Coverfoto: © Aaron Amat / https://stock.adobe.com
Illustrationen: Jeanine Reble
Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019
ISBN der Printausgabe: ISBN 978-3-95571-878-7
ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-879-4 (EPUB), 978-3-95571-881-7 (PDF), 978-3-95571-880-0 (MOBI).
Vor rund fünf Jahren traten Gisela und Herbert Ruffer an mich heran mit der Frage, ob sie einen Artikel für die Zeitschrift Freie Psychotherapie – das Magazin des Verbandes Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e. V. – beisteuern könnten. Da wir stets auf der Suche nach interessanten Beiträgen zu unserem Fachgebiet und Fallbeschreibungen aus der Praxis sind, ermutigte ich das Ehepaar Ruffer dazu. Mit dem Thema „Warum Männer mauern“ begann damals eine konstruktive Zusammenarbeit, sodass wir inzwischen schon 14 Artikel in diesem Rahmen veröffentlichen konnten. Sie alle kreisen um das Spezialgebiet der beiden Autoren, dem sie auch in ihrer Landshuter Praxis für Psycho- und Paartherapie nachgehen: Beziehungscoaching. Sie beleuchten auf anschauliche und lebendige Art verschiedene Aspekte, Phasen und Krisen im Leben von Einzelnen und Paaren. Auch das Thema „Beziehungen brauchen Grenzen“ war schon einmal Thema eines solchen Artikels.
Umso mehr freue ich mich, dass Gisela und Herbert Ruffer dieses Thema im vorliegenden Lese- und Arbeitsbuch so schön aufbereitet haben, dass es eine Lust ist, sich in die Lektüre zu vertiefen, die jeweiligen Gedankengänge nachzuvollziehen, eigene Erinnerungen und Lebenserfahrungen aktiv zu durchforsten, sich mit den vorgestellten Klienten, Paaren und Konstellationen zu vergleichen und angeleitet zu werden, gesunde Formen der Selbstbehauptung und Grenzziehung zu erlernen.
Beim Lesen spürt man das fundierte psychologische und therapeutische Wissen der beiden Autoren. Sie präsentieren es jedoch auf eine so lesefreundliche Art, dass man sich faszinieren lässt und nicht belehrt fühlt. Die Typologien, auf die sie zurückgreifen und verweisen, „sperren“ weder die beschriebenen Menschen noch die eigenen Überlegungen und Emotionen in irgendwelche Schubladen. Sie liefern im Gegenteil Verständnismodelle, warum wir alle manchmal nicht anders reagieren und handeln können, als wir es gelernt haben und deshalb für „selbstverständlich“ erachten. Dieses Verstehen, Durchleuchten und Hinterfragen öffnet gleichzeitig liebevoll Wege zur Selbstannahme – wiederum als Voraussetzung für konstruktive Veränderungen in der Zukunft. Diese werden von niemandem gefordert, was ggf. nur Widerstand auslösen würde. Stattdessen machen die Ruffers bewusst: Es gibt nie nur „Opfer“, deren Grenzen ständig verletzt werden, und „Täter“, die die Grenzen anderer missachten und bedenkenlos überschreiten. Jeder von uns kann in den unterschiedlichen Beziehungen mal die eine und mal die andere Rolle spielen. Und manche, die sich durch Grenzverletzungen anderer als ausgelieferte Opfer empfinden, entdecken, wie sie unbewusst ihre Mitmenschen geradezu eingeladen haben, sie nicht zu respektieren. Und umgekehrt wird manch anderem – gespiegelt durch die vorgestellten Typen – bewusst, wie er sich durch Nachgiebigkeit, Ausweichverhalten und Nichteinhalten von klaren Absprachen und Vereinbarungen dazu verleiten lässt, in den Raum seines Gegenübers einzudringen, ihm Entscheidungen abzunehmen und die Führung an sich zu reißen.
Die lebendig erzählten Fallgeschichten erlauben, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Sie ermutigen dazu, (wieder) an neue Möglichkeiten und alternatives Verhalten auch in eingefahrenen Beziehungen zu glauben. Bereichert wird das Ganze durch die Vielzahl von praktischen und praktikablen Übungen, die anregen und helfen, das Erkannte auf sich selbst zu beziehen und neue Horizonte zu eröffnen.
Liebe Gisela, lieber Herbert Ruffer, vielen Dank für dieses schöne und lehrreiche Buch, das beweist, dass Lernen auch Spaß machen kann!
Dr. paed. Werner Weishaupt, Dozent für Psychotherapie
Präsident des VFP e.V.
Verband Freier Psychotherapeuten,
Heilpraktiker für Psychotherapie
und Psychologischer Berater
Lister Str. 7, 30163 Hannover
www.vfp.de
E-Mail: dr.weishaupt@vfp.de
„Der wahre Ort der Begegnung ist die Grenze.“
(Paul Tillich)
„Nein, jetzt reicht’s!“, protestierte eine Stimme in mir, als ich die Szenerie beobachtete. Sie hatte es schon wieder getan! Erneut hatte das Nachbarskind unserer Tochter im Sandkasten das Spielzeug aus der Hand gerissen. Und nun saß unsere Kleine zerbrechlich und weinend vor mir und jammerte. „Hol’ es dir zurück“, forderte ich sie auf. Aber sie schluchzte nur herzzerreißend und stammelte leise: „Ich trau mich nicht.“
Vielleicht erkennen Sie sich ja in dieser Szene wieder, als die1, der man unerlaubt etwas nimmt, als die, die sich nicht traut, für sich selbst einzutreten, oder aber als die, deren innere Stimme wie die eines Freundes sagt: „Nein! Das geht jetzt zu weit!“
Unser Sohn reagierte in vergleichbaren Situationen ganz anders. Er schaute sich sein Gegenüber kurz an, griff dann nach seinem Spielzeug, nahm es dem anderen Kind ruhig, aber beherzt aus der Hand und machte einfach weiter mit seinem Spiel. Kein Protest, kein Geschrei. Frieden. Wünschen Sie sich in Ihrem Alltag auch des Öfteren, so selbstbewusst und zielgerichtet vorgehen zu können?
Wie unterschiedlich wir gerade in alltäglichen Situationen doch reagieren! „Knicken“ wir ein oder bleiben wir souverän? In einer gelungenen Selbstbehauptung liegt offensichtlich das Geheimnis von innerem und äußerem Frieden. Und das muss auch für Sie kein Wunschtraum bleiben. Wir haben dieses Buch geschrieben, um Sie darin zu unterstützen, gesunde Selbstbehauptung zu kultivieren und Ihr Verhalten sowie Ihre innere Haltung entsprechend auszurichten. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen gehören zu den alltäglichen menschlichen Erfahrungen. Die Notwendigkeit, Grenzen zu definieren und aufrechtzuhalten, begleitet uns von Kindheit an. Für diese lange Reise sollten Sie einen Freund als Begleiter dabeihaben, eine innere Stimme, die Ihnen signalisiert, wann Zeit für ein klares Nein ist. Womöglich hat aus diesem Grund das vorliegende Buch den Weg zu Ihnen gefunden: Weil Sie feststellen mussten, dass Sie (noch) nicht zu den glücklichen Menschen gehören, die keine oder kaum Probleme damit haben, Nein zu sagen. Oder aber Sie haben dabei schon mal Schiffbruch erlitten und fragen sich nun, wie Sie eine weitere „Seenot“ verhindern können.
In unserer Arbeit als Heilpraktiker für Psycho- und Paartherapie bekommen wir Aussagen wie die folgenden fast täglich zu hören:
Für Menschen, die sich mit diesen und ähnlichen Gedanken martern und die zugrunde liegenden inneren und äußeren Konflikte angehen möchten, haben wir dieses Buch geschrieben. Für solche, die an ihren belastenden Gefühlserfahrungen grundlegend etwas ändern wollen, die den Wunsch hegen, ihr Auftreten anderen Menschen gegenüber anders, vielleicht durchsetzungsstärker oder selbstbewusster, zu gestalten. Denn das ist möglich! Sie werden während der Lektüre Personen (mit realem Hintergrund) kennenlernen, die dies geschafft haben.
Durch die vielen Geschichten in diesem Buch werden Ihnen womöglich aber auch die Augen für Ihr eigenes grenzverletzendes Verhalten geöffnet und Sie beginnen zu verstehen, warum es in Ihrem Leben immer wieder zu Grenzüberschreitungen, Verletzungen und Meinungsverschiedenheiten kommt, und in der Folge aus Hilflosigkeit auch wiederholt zu Beziehungsabbrüchen. Vielleicht überrascht Sie diese Sichtweise? Immerhin haben Sie sich dieses Buch gekauft, weil doch Sie das Opfer sind und sich endlich wehren möchten – nicht umgekehrt. Ja und Nein.
Ja, denn ihr Gefühl, wegen des anderen verletzt, wütend oder traurig zu sein, ist völlig legitim. Negative Emotionen signalisieren uns, dass etwas nicht stimmt, dass Gefahr droht. Sie haben das Recht (und die Pflicht!), sich gegen solche Gefahren zu schützen.
Nein, weil es bei dysfunktionalen zwischenmenschlichen Dynamiken nicht um Täter und Opfer geht (diese Einteilung führt selten zur Lösung), sondern um das fehlende Verständnis füreinander und die zugrunde liegenden Motive für das (grenzverletzende) Verhalten. Wenn es Ihnen gelingt, die jeweiligen Anteile – Ihre und die des anderen – zu erkennen, die zu den Grenzsituationen geführt haben, sinkt das Eskalationsrisiko. Es wird Ihnen wesentlich leichter fallen, innerlich ruhig und souverän zu bleiben und Ihren Standpunkt selbstbewusst zu vertreten.
In den vielen Jahren der Begleitung und Beratung von Menschen hat das Thema Abgrenzung im inneren und äußeren Bereich immer mehr an Bedeutung gewonnen. Bei den meisten unserer Klienten entpuppte sich die Fähigkeit, selbstbewusst Grenzen setzen zu können, als grundlegende Voraussetzung für eine neue Lebensqualität. Wie auch sonst kann ein seelisch angegriffener oder verletzter Mensch dauerhaft stabil werden, wenn er nicht die Fähigkeit erlangt, sich vor neuen Übergriffen und Anschlägen auf seine Person zu schützen? Oft genug erleben Menschen „Grenzenlosigkeit“ im Sinne eines Übermannt- oder Benutztwerdens. Das ist zum Beispiel angesichts des übergriffigen Verhaltens eines Kollegen, der Schwiegermutter oder gar einer Freundin der Fall, aber auch, wenn wir von eigenen Gefühlen überflutet werden, wenn wir hilflos wie Ertrinkende keinen (inneren) Halt mehr finden. Oder wir erleben uns selbst, beabsichtigt oder aus einer Unfähigkeit und Hilflosigkeit heraus, als Grenzverletzer im eigenen wie im zwischenmenschlichen Bereich. Denn wie oben bereits beschrieben: Eine Grenzverletzung zieht oftmals weitere Grenzüberschreitungen nach sich. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Eine klare Täter-Opfer-Trennung ist daher meist weder möglich noch förderlich.
Um all diese hier kurz angerissenen Fälle der „Grenzenlosigkeit“ soll es in diesem Buch gehen. Während des Lesens werden Sie wahrscheinlich immer wieder eigenes Verhalten und eigene Probleme wiedererkennen. Durch das Spiegeln der eigenen Muster haben Sie die Chance, sich selbst wahrhaftiger zu begegnen, sich selbst wieder näher zu kommen und Lebenszusammenhänge besser zu verstehen.
Es erscheint uns ratsam, dass Sie beim Lesen Stift und Papier zur Hand haben, weil das Wichtige durch die folgenden Zeilen nur angestoßen werden kann und dann in Gänze in Ihren Gedanken und Ihren Gefühlen auftauchen wird. Machen Sie sich also bitte Notizen. Die Wahrheiten, die Sie erkennen, bilden den Nährboden, auf dem Sie in Ihrer Persönlichkeit wachsen und sich weiterentwickeln können.
Wir werden Ihnen neun unterschiedliche Typen und das entsprechende Grenzverhalten aufführen, die uns in unserer Praxis immer wieder begegnet sind. Bestimmt gibt es mehr als nur diese und in jedem Fall gibt es zahlreiche Überschneidungen und Mischformen. Diese neun Typen sind jedoch jene, mit denen wir ausreichend vertraut sind, sodass wir die jeweiligen Neigungen und Verhaltensstile fundiert skizzieren konnten. Sie bilden ein breites Spektrum ab und schaffen somit die Grundlage für eigene Schlussfolgerungen und Übertragung auf Ihre individuelle Situation.
Wenn Sie sich selbst in einer der Darstellungen wiedererkennen, dann finden Sie wahrscheinlich genügend Anregungen zur Selbstreflexion und konkrete Schritte zum Verändern Ihrer problematischen Verhaltensweise. Ebenso für den Fall, dass Sie mit jemandem zu tun haben, der einem der Typen entspricht.
Fallbeispiele aus unserem Therapeutenalltag veranschaulichen das Dargelegte und machen Veränderungshilfen greifbarer. An dieser Stelle danken wir all unseren Klienten für ihr entgegengebrachtes Vertrauen. Nur durch ihre Offenheit konnten wir von ihnen lernen. Lediglich die Namen, Orte und Situationen wurden zum Schutz der Personen verändert, jedoch ohne die wesentlichen Sachverhalte zu verfälschen. Im Film würde es heißen: „Nach einer wahren Begebenheit.“
Das Buch ist sowohl an all jene gerichtet, die sich Tipps für ihren persönlichen Alltag holen wollen, als auch an jene, die sich in den unterschiedlichen Situationen ihres Berufslebens besser abgrenzen lernen möchten bzw. müssen. Als Therapeuten können wir Ihnen vorab eines sagen: Wenn Sie sich (noch) nicht besonders gut abgrenzen können gegen die Anforderungen, Bedürfnisse und Meinungen anderer, dann geht es Ihnen wie sehr vielen anderen Menschen. Sie sind damit nicht allein. Aber etliche haben sich trotz der Krisen, in die sie aufgrund ihrer „Grenzerfahrungen“ geraten sind, erfolgreich gemausert und fanden zu einem neuen Lebenskonzept. Das können Sie auch!
Zu unserer Qualifikation als Heilpraktiker für Psychotherapie gehört, dass wir mit unterschiedlichen Therapieformen und -methoden arbeiten. Darüber hinaus haben wir im Laufe unserer täglichen Praxis die Vorstellung gewonnen, dass jeder Mensch – Sie und wir inbegriffen – nicht nur über ein eigenes Leben mit Werten, Sprache, Kultur und Chancen verfügt, sondern auch über ganz eigene Verteidigungs- und Vermeidungsstrategien. Vielleicht haben Sie sich ja etwas angeeignet, das funktioniert. Glückwunsch! Wenn Sie bisher aber gescheitert sind, bedeutet das lediglich, dass die verwendete Technik nicht geholfen hat. Beim Lesen des Buches werden Sie sehen, dass noch viele weitere Optionen zur Verfügung stehen, um endlich ein zufriedenstellendes Ergebnis in Ihrem Leben und Ihren Beziehungen zu erzielen und dadurch mehr Freude, Friede, Freiheit und Fülle zu erfahren.
Ob wir Menschen uns dazu aufmachen und Stellung beziehen, das steht und fällt mit dem Wert, den wir uns selbst und unserem Leben beimessen. Selbstwert spielt für das Setzen von angemessenen Grenzen die entscheidende Rolle. Wenn Sie in den Spiegel schauen: Wie wichtig und bedeutsam ist die Person, die Sie da sehen? Und lieben Sie sie? Sind Sie ihr Freund und stehen Sie für diesen Menschen ein, wann immer und wo immer er das braucht? Haben Sie diese innere Freundesstimme, mit der Sie sich selbst vertreten und sagen: „Passen Sie auf, wie Sie reden! Sie sprechen mit einer Person, die mir etwas bedeutet!“?
Unser Elternhaus mit seiner individuellen Konstellation und den entsprechenden Vorbildern hat uns ganz sicher darin beeinflusst und geprägt, wie wir uns heute mit uns selbst fühlen. Vielleicht waren die Erlebnisse in Ihrer Kindheit eher dramatisch oder gar traumatisch. Das kann die verbitterte innere Haltung bewirken, dass eine Veränderung nicht oder nicht mehr möglich sei. Aber wir versichern Ihnen: Das stimmt nicht! Veränderungen sind sehr wohl möglich!
Ziel des Buches ist, den Leser in seinem Verstehensprozess zu unterstützen, bevor wir ihm ein Werkzeug-Set an die Hand geben. Es geht uns nicht um Rezepte, die es zu kopieren gilt. Uns geht es ums Kapieren und Mitdenken, das heißt: Wir wollen, dass Sie zunächst ein klares Verständnis für die zwischenmenschliche Abgrenzungsproblematik gewinnen, und erst danach werden Sie mit Fertigkeiten vertraut gemacht, mit denen Sie Ihre neu gewonnenen Erkenntnisse in konkrete Handlungsmöglichkeiten umsetzen können. Am Ende dieses Buches sollten Sie einen inneren Freund haben, der ohne schlechtes Gewissen sagen kann „Nein, es reicht jetzt!“, wo und wann auch immer Ihnen das angebracht erscheint.
Alles beginnt mit dem ganz unscheinbaren Wunsch und der tiefen Hoffnung, dass etwas neu werden kann. Das ist die Sehnsucht in unseren Herzen, die uns Antrieb verleiht. Manchmal genügt ein kleiner Funke und wir wagen den ersten Schritt. Und dann können wundervolle Dinge geschehen. Was es braucht, ist ein wenig Neugierde. Denn Veränderung kann nur erfolgen, wenn man sich auf etwas Neues einlässt. Packen wir es also an!
Ihre Gisela Ruffer & Ihr Herbert Ruffer
1 Der besseren Lesbarkeit halber verwenden wir im gesamten Text das generische Maskulinum, es sei denn, im beschriebenen Kontext geht es speziell um eine weibliche Person. Die sonst verwendete männliche Form schließt Frauen, Männer und transgeschlechtliche Menschen mit ein. Wir danken für Ihr Verständnis.
„Ich bin, wie ich bin. Die einen kennen mich, die anderen können mich.“
(Konrad Adenauer)
Ja, Sie haben richtig gelesen. In diesem Kapitel soll es um die Schattenseiten der Abgrenzung gehen. Wie in Kapitel 2 bereits deutlich wurde, gibt es gute Gründe, die uns davon abhalten, Grenzen zu setzen. Das Resultat ist, dass wir Dinge tun, die wir nicht tun wollen, um kein schlechtes Gewissen zu bekommen, oder dass wir unseren Ärger herunterschlucken, um nicht anzuecken, usw. Gelingt es Ihnen jedoch, Ihr Terrain klar und deutlich abzustecken – was Sie stolz machen sollte –, so gilt auch hier, mit den entsprechenden Konsequenzen zurechtzukommen. Im Grunde geht es also immer darum, eine Entscheidung zu treffen und abzuwägen, mit welchen Konsequenzen Sie besser leben können: So liegt beispielsweise in der einen Waagschale die Option „eine Bitte abschlagen und (ggf.) ein schlechtes Gewissen bekommen“ und in der anderen „dem Wunsch nachkommen und weniger Zeit für sich selbst oder andere wichtige Aktivitäten haben“. Dadurch stehen wir jeden Tag vor unzähligen Entscheidungen. Dabei werden wir immer wieder auch Fehler machen und uns von uns selbst und anderen täuschen lassen, denn das ist menschlich …
Machen Sie mit uns einen kurzen Ausflug in die abenteuerliche Welt des menschlichen Gehirns. Sie kennen das bestimmt: Wenn wir jemanden sehen, der genussvoll in einen Apfel beißt, dann läuft uns das Wasser im Mund zusammen. Warum ist das so?
Im Jahr 1996 beschrieben der italienische Neurophysiologe Giacomo Rizzolatti und seine Mitarbeiter erstmals, dass bestimmte motorische Nervenzellen in einem Bereich des Großhirns von Schimpansen nicht nur dann reagieren (feuern), wenn die Tiere Interaktionen (nach einer Erdnuss greifen) selbst durchführen, sondern auch, wenn sie die entsprechende Geste bei Artgenossen lediglich beobachten. Die betreffenden Nervenzellen spiegeln also die Handlungen des anderen. Rizzolatti nannte sie daher auch Spiegelneurone (vgl. Kaufmann, 2018).
Dieses Prinzip ist auf den Menschen übertragbar. Wenn Sie beispielsweise während eines Fußballspiels mit ansehen, wie einem der Spieler der Ball mit voller Wucht in den Bauch geschossen wird, können Sie den Schmerz in Ihrem eigenen Körper quasi nachempfinden. Intuitiv verziehen Sie das Gesicht, stoßen ein gequältes „Auuuhh“ aus und krümmen sich vielleicht sogar ansatzweise. Gerade so, als hätten Sie selbst gerade das peinvolle Erlebnis gemacht. Betreiben Sie dazu auch gerne einmal „Feldforschung“: Wenn Sie mit einer anderen Person am Tisch sitzen und eine bestimmte Position einnehmen, wird es nicht lange dauern und Ihr Gegenüber wird sich genauso platzieren. Wechseln Sie ruhig einige Male Ihre Haltung, um die Wechselwirkung zu erleben. Es funktioniert, und zwar bei allem, was man uns jemals vorgemacht hat, damit wir es selbst lernen. Auch das ist das Ergebnis unserer Spiegelneuronen.
Neben den Spiegelneuronen gibt es noch die sogenannten Spindelzellen oder auch Von-Economo-Neuronen (benannt nach ihrem Entdecker Constantin von Economo). Sie findet man in der sogenannten anterioren Insula, einer kleinen Region im menschlichen Gehirn. Die Funktionen der Insula umfassen neben der Wahrnehmung und der motorischen Kontrolle auch das Selbstbewusstsein, die geistige Vitalität und vor allem die zwischenmenschlichen Erfahrungen. Vor allem der vordere Teil der anterioren Insula ist an empathischen Fähigkeiten und den menschlichen Emotionsempfindungen beteiligt. Hier entstehen Gefühle wie Liebe, Hass, Zurückweisung, Selbstsicherheit, Scham oder dergleichen. Und ebenfalls hier lokalisiert man nicht nur die Veranlagung, die eigenen Gefühle wahrnehmen zu können, sondern auch die Absichten, Gedanken und Gefühle in den Gesichtern von anderen Menschen erkennen zu wollen. Es gibt also tatsächlich eine entsprechende Hirnfunktion für ein Erkennungssystem.
Wir schauen uns alle gerne Filme an, oder? Wie schön, wenn man mitlachen, mitfiebern, mitweinen, sich gruseln oder wütend werden kann. Es sind nicht unsere eigenen Gefühle, sondern sie werden durch das produziert, was wir uns ansehen. Diese Bereiche im menschlichen Gehirn mit ihren speziellen Neuronen und Zellfunktionen schaffen also die Voraussetzungen, die uns Einfühlung in andere Menschen ermöglichen. Wir können uns die Wirklichkeit eines anderen Menschen erschließen (ob im Film oder im wirklichen Leben), indem wir das, was er sagt und tut, aufgrund unserer eigenen sozialen Erfahrungen analysieren. Wir benutzen quasi unsere eigenen mentalen Zustände wie einen Spiegel oder wie ein Model. Wenn wir eine Protagonistin im Film sehen, die unter Liebeskummer leidet, und dieses Gefühl selbst kennen, werden wir mitweinen.
Die Frage, die sich da natürlich stellt, lautet: Wie zutreffend ist das eigentlich, was wir im anderen erspüren? Vor allem angesichts der Tatsache, dass die wenigsten von uns wollen, dass man in ihnen wie in einem offenen Buch lesen kann. Wo bliebe dann die Intimität? Daher beherrschen wir nicht nur die Kunst des Spiegelns, sondern auch die Fähigkeit zur Irreführung. Mein Gegenüber kann sich also bewusst verstellen und mich gekonnt auf die falsche Fährte führen.
Wer von uns antwortet auf die Frage „Du wirkst so traurig – hast du Probleme bei der Arbeit?“ wahrheitsgemäß mit: „Oh, ja, ich fühle mich im Moment absolut unfähig.“ Oder: „Nein, es ist nicht die Arbeit. Mein Mann hat eine Affäre.“ Stattdessen setzen wir ein irritiertes und überraschtes Gesicht auf, winken ab und erzählen etwas von Kopfschmerzen oder anderen Belanglosigkeiten. Wir schaffen es also geschickt, mit Mimik, Gestik und einer Begründung, die dem Erscheinungsbild auch entsprechen könnte, unser Gegenüber zu täuschen. Zum guten Schluss bekommen wir womöglich ein Schmerzmittel angeboten und alles ist gut. Irreführung erfolgreich abgeschlossen. Offensichtlich haben wir alle die Grundausstattung zum Schauspielern in die Wiege gelegt bekommen.
Im Umgang mit zwischenmenschlichen Grenzen muss also klar sein, dass wir uns alle in einem fortwährenden Offenbarungs- und / oder Täuschungsverhalten befinden. Wir arbeiten zum Selbstschutz mit all unseren „Techniken“ daran, den anderen zu lesen und uns selbst nach Möglichkeit nicht lesen zu lassen. Das klingt erst mal negativ. Aber wie verletzbar wären wir ohne diese Ausstattung? Täuschung hilft uns, sich selbst im Sinne von sozialer Erwünschtheit darzustellen.
Nun fragen Sie sich vielleicht: Aber was ist dann die Wahrheit? Ganz sicher nicht alles, was Sie wahrnehmen. Weder bei sich selbst noch bei anderen. Denn die Wahrheit ist, dass wir uns geschickt anpassen können und die Wahrheit mitunter verleugnen. Wenn das im richtigen Maß geschieht, dann können wir von einem sozialen Miteinander ausgehen. Wenn Sie aber spüren, dass Sie sich nicht aus eigenen Stücken und aus einer selbstbestimmten Position heraus an die Gegebenheiten anpassen, sondern sich selbst verleugnen und Ihre Grenzen schon lange überrannt werden, dann wird es Zeit, Ihre Fähigkeiten zur Anpassung und Tarnung neu zu überdenken. Sie sind hier also aufgerufen, Ihre Tarnung ein Stück weit aufzugeben, sich zu zeigen und deutlich zu machen, dass hier etwas für Sie nicht in Ordnung ist.
Spiegelneuronen und Spindelzellen befähigen uns, Vermutungen darüber anzustellen, „wie jemand tickt“. Auf dieser Grundlage wägen wir auch automatisch ab, ob unser Gegenüber zu uns passt oder eher nicht: Finde ich Gemeinsamkeiten? Passt das, was der andere sagt und tut, mit meinen Werten und Überzeugungen zusammen? Kann ich den anderen „nachvollziehen“ oder sind er und sein Verhalten mir fremd? Genauso beginnt Partnerwahl, die Suche nach Freunden oder sogar nach dem nächsten Job. Wir suchen immer nach der größten Passung. In gewisser Weise ist das eine Never Ending Story, denn jede Passung kann leider ein Ablaufdatum haben. Wir verändern uns und das, was gerade noch gepasst hat, kann sich plötzlich nicht mehr stimmig anfühlen.
Ebenso müssen wir manchmal feststellen, dass es oft gar nicht erst zu einer Passung kommt, auch wenn wir uns sehr bemühen. Trotz unserer Anpassungsfähigkeit und teilweisen Selbstverleugnung scheinen wir in bestimmte Kreise oder bestimmte Gruppen nicht hineinzuwachsen. Vielleicht erfahren wir sogar offene Ablehnung: Wir werden als „unpassend“ ausgemacht und entsprechend „aussortiert“. Dieser Vorgang wird rapide beschleunigt, je klarer und schneller wir unsere individuellen Grenzen aufzeigen. Ausgrenzung, das Gefühl, „nicht dazuzugehören“, und der (falsche) Schluss, deswegen auch irgendwie „nicht richtig zu sein“, sind durchaus berechtigte und gefürchtete Konsequenzen einer Grenzziehung. Ihrer Umwelt wird es nicht gefallen, wenn Sie Nein sagen, einem Wunsch nicht nachkommen, Ihre Hilfe verweigern oder sich vielleicht auch mal gegen den Mainstream stellen. Auf manch einen wirken Sie dann nämlich unbequem. Oder der oben beschriebene Abgleich zwischen „vertraut / fremd“ fällt bei Ihrem Gegenüber negativ aus: Sie „passen“ ihm nicht. Das ist eine bittere Erfahrung und für viele von uns so schmerzhaft, dass sie versuchen, sich durch noch größere Anpassung und Aufopferung mit Systemen oder Beziehungen kompatibel zu machen in der Hoffnung, doch geliebt zu werden und dazugehören zu dürfen. Sich ausgegrenzt zu fühlen erzeugt Angst und ein tiefes Gefühl von Schmerz und Einsamkeit.
„Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Zurückweisung, Ablehnung und ‚Nicht-mitspielen-Dürfen‘ unser Gehirn an der gleichen Stelle aktivieren wie körperliche Verletzungen oder Erkrankungen. Diese Stelle nennen Wissenschaftler das Schmerzzentrum. Für unser Schmerzzentrum im Gehirn macht es also erst einmal keinen Unterschied, ob wir einen Bandscheibenvorfall haben oder von einem Menschen verlassen werden. Wenn Zurückweisung, Ablehnungen oder Ignoriertwerden weh tun, nennt man das in den Neurowissenschaften ‚soziale Schmerzen‘.“
(Nicole Alps, https://zeitzuleben.de/aus-der-gehirnforschung-soziale-ablehnung-tut-weh)
Es ist also völlig normal und unvermeidlich, dass wir auf „Nichtpassung“ mit Schmerz reagieren.
„Manchmal sind es auch nur Kleinigkeiten, die uns mehr unter die Haut gehen, als wir erwarten. Zum Beispiel wenn jemand eine Verabredung absagt, auf die man sich sehr gefreut hat. Oder wenn der Bekannte nicht zurückruft, obwohl man eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Man bekommt den Eindruck, ignoriert zu werden. Auch das tut weh. Womöglich fühlt man sich wie ein kleines Kind, das nicht mitspielen darf oder als Letzter in die Mannschaft beim Schulsport gewählt wird.“
(Ebenda)
Ihnen an dieser Stelle zu versichern, dass das alles nicht passieren wird, wenn Sie Ihre Grenzen aufzeigen, wäre nicht nur verantwortungslos, sondern auch schlichtweg falsch. Dieses Buch ist dazu da, Ihnen bei einer für Sie notwendigen Änderung zu helfen. Ihre Umwelt ändert sich jedoch nicht. Werden Sie unbequem, wendet sich der eine oder andere vielleicht von Ihnen ab. Dazu möchten wir Ihnen zwei Überlegungen mit auf den Weg geben:
Erste Hilfe bei sozialen Schmerzen
Ebenso sorgsam, wie Sie vermutlich mit sich bei Bauchschmerzen umgehen (sich einen Tee kochen, mit einer Wärmflasche hinlegen etc.), dürfen Sie auch mit Ihrem sozialen Schmerz verfahren. Das bedeutet zunächst einmal
Wenn Sie selbst den anderen „ausgrenzen“ müssen
Niemand will freiwillig Schmerzen ertragen müssen und die wenigsten von uns wollen vorsätzlich einen anderen Menschen verletzen. Und doch ist es nicht zu vermeiden, wenn wir auch die eigenen Grenzen achten wollen. Dazu gehört, dass auch wir Termine mit Freunden verschieben oder Beziehungen beenden müssen, die auf Dauer für uns nicht tragbar oder sogar schädlich sind. Also wissen wir um den Schmerz und fügen ihn zugleich anderen dennoch zu. Und da liegt vermutlich das größte Problem. Denn nur wenn Sie sich selbst wichtig genug sind, versetzt Sie das in die Lage, dem anderen Schmerz zuzufügen, um sich selbst zu schützen. Mit welchem Geschick Sie die Worte für Ihre Ablehnung wählen, wird entscheidend sein für den weiteren Verlauf und den verursachten Schmerz beim anderen. Wählen Sie Ihre Worte also vorsichtig und mit Bedacht. Bleiben Sie ganz bei sich selbst und geben Sie nicht Ihrem Gegenüber die Schuld daran, dass Sie auf Distanz gehen. Ganz gleich, ob Sie einen Termin absagen oder eine Beziehung beenden. Es geht dabei um Formulierungen, die Ihre eigenen berechtigten Bedürfnisse in den Vordergrund stellen wie: „Ich möchte für heute absagen, weil ich einen stressigen Tag hatte und jetzt Zeit für mich brauche …“, „Ich möchte das nicht (mehr) tun …“, „Ich möchte so nicht mehr leben …“ Mit solchen Aussagen stellen Sie sicher, dass es um Ihre eigenen Bedürfnisse geht und nicht in erster Linie an der unpassenden Art des anderen liegt, der nun verletzend kritisiert im Mittelpunkt steht.
Die Gewaltfreie Kommunikation kann Ihnen hier vielleicht auch eine Hilfe sein. Blättern Sie dazu auf die nächste Seite.
Viele Menschen zeigen ihre Grenzen nicht auf, weil sie sich vor Auseinandersetzungen regelrecht fürchten. Entweder weil sie meinen, anderen rhetorisch nicht gewachsen zu sein, oder auch, weil sie die dabei auftretende Spannung nur schwer ertragen können. Wenn es auch Ihnen so geht, dann möchten wir Sie dazu ermutigen, sich mit den Themen Streit und Versöhnung näher auseinanderzusetzen. Wenn Sie die Angst davor verlieren und einen Streit austragen können, wenn es einmal angebracht ist, wird Sie das innerlich stärken. Die wichtigste Lektion dabei beinhaltet das Wissen, wie man sich anschließend wieder verträgt. Doch bleiben wir zunächst beim Streiten. Was wir hier am Beispiel einer Paarbeziehung darlegen, kann auch mit Kindern, Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen angewendet werden. Das aufrichtige Eingeständnis von Ärger, eingebettet in eine Aussage, dass einem die Beziehung wichtig ist, bringt einander nahe.
Versuchen Sie es doch mal mit einem Gesprächsauftakt für Paare wie dem Folgenden: „Liebling, du weißt, dass ich gerne mit dir zusammen bin und gleichzeitig (bitte an dieser Stelle kein „aber“ verwenden!) macht es mich wütend, wenn überall die Klamotten rumliegen, obwohl wir eine Garderobe und Kleiderschränke haben.“
Die Botschaft „Wir müssen streiten, weil wir uns wichtig sind“ schafft die geeigneten Rahmenbedingungen für einen konstruktiven Streit, bei dem am Ende auch ein für beide Parteien zufriedenstellendes Ergebnis zustande kommen kann. Man bleibt mit einer klaren Formulierung auf Augenhöhe und sagt, was einem wichtig ist: „Mir bedeutet es viel, dass wir Zeit miteinander verbringen und gleichzeitig macht es mich wütend, dass ich so oft alleine zu Hause bin und auf dich warten muss.“
Haben sie keine Angst vor Wut! Wut ist ein Kontakt-Gefühl. Sagen Sie, was in Ihnen vor sich geht. Wenn Sie den oben vorgeschlagenen Gesprächsauftakt beherzigen, dann kann Ihr Partner es besser vertragen, wenn er von Ihnen Kritik zu hören bekommt.
Wichtig bei Streitgesprächen ist, dass Sie – obwohl Sie aufgebracht sind – das aktuelle und eigentliche Problem nicht aus den Augen verlieren. Fragen Sie sich daher immer mal wieder „Worum geht es mir hier jetzt eigentlich?“ und kehren Sie dann gegebenenfalls neu zum Thema zurück, bis Sie eine mögliche Lösung für das ärgerliche Problem gefunden haben.
Die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg
Kurz gesagt, beschäftigt sich die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) mit den vier Schritten (Beobachtung, Gefühle, Bedürfnisse, Bitte) für eine gelingende Kommunikation. Daraus hat Rosenberg dann folgendes Formulierungsmuster entwickelt (2016):
„Wenn ich A (Beobachtung) sehe, dann fühle ich B (Gefühl), weil ich C (Bedürfnis) brauche. Deshalb möchte ich jetzt gern D (Bitte).“
Empathie ist an dieser Stelle eine wesentliche Grundvoraussetzung für das Gelingen. Einerseits die Empathie im Sinne von „Einfühlung in den anderen“, andererseits aber auch Selbstempathie: Was hier nämlich zunächst wie ein Rhetoriktool zur klareren Formulierung von Bedürfnissen, Gefühlen und Bitten anmutet, ist eigentlich als Reflektionshilfe zur Klärung meiner eigenen Befindlichkeit, meiner inneren Haltung zu begreifen.
Wie schon beschrieben, wurden unsere emotionalen Muster in der Kindheit geprägt. Gefühle, die in Konflikten hochkommen, stammen also meist aus unserer Lebensgeschichte und wurden schon vor langer Zeit angelegt. Bei einer Grenzverletzung, einem Streit, fühlen wir zum Beispiel die gleiche kindliche Ohnmacht, Unfähigkeit, Wertlosigkeit und die unerfüllten Bedürfnisse. Doch nun, als erwachsene Person, muss ich nicht länger diesem Automatismus der Gefühle ausgeliefert bleiben. Durch die Gewaltfreie Kommunikation gehe ich aufmerksamer und achtsamer mit mir und meinen Mitmenschen um, denn ich kann sie nicht unüberlegt auf alte und unreflektierte Verhaltensmuster anwenden. Durch GFK
Ein weiterer Tipp: Um sich selbst und den (Gesprächs-)Partner gegen Emotionsüberflutung und verbale Ausuferungen zu schützen, vereinbaren Sie ein Codewort zur Streitunterbrechung, quasi eine Art verbales Time-out-Zeichen. Ein Paar, das wir kennen, hat sich „Erdbeer-Schorsch“ erkoren, weil sie das an ihre Tochter erinnert. (Diese hatte eigentlich „Erzbischof“ sagen wollen, bekam aufgrund ihres Alters jedoch noch nur ein Wort heraus, das wie „Erdbeer-Schorsch“ klang. Das Paar erinnert sich gerne daran, wie alle, die in der Situation dabei waren, Tränen gelacht hatten.) Ein simples „Mir wird’s grad zu viel, ich brauch mal eine Pause“ tut es aber auch, bevor die Emotionen noch weiter hochkochen.
Probieren Sie die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation auch im beruflichen Kontext aus: „Mir ist aufgefallen, dass … (Beobachtung)“ → „Ich fühle mich … (Gefühl)“ → „Mir fehlt dadurch … (Bedürfnis)“ → „Könnten wir zusammen daran arbeiten, dass … (Bitte)?“. Das sind nur Formulierungsbeispiele, die Ihnen als Grundlage dienen sollen, Ihre eigenen Sätze zu gestalten. Bereiten Sie sich auf solch ein Gespräch gründlich vor und dann machen Sie beherzt einen Termin aus.
Wenn Sie beständig von einem Kollegen attackiert werden und das Gefühl haben, alleine nicht weiterzukommen, suchen Sie sich einen Dritten, entweder einen professionellen Mediator oder eine andere Person, die in der Lage ist, fair zu vermitteln. Sie können auch einen Vorgesetzten mit ins Boot holen. Machen Sie feste Redezeiten aus, und sollten die Emotionen zu sehr eskalieren, nehmen Sie sich eine kurze Auszeit.
Für ein gelingendes Konfliktgespräch ist es nicht nur notwendig, die Lösung des Problems im Auge zu behalten. Seien Sie auch bereit, für das eigene problematische Verhalten die Verantwortung zu übernehmen. Überlegen Sie, welchen Anteil Sie selbst an den Unstimmigkeiten haben könnten. Was hilft: Versetzen Sie sich dazu einmal unvoreingenommen in die Lage des anderen. Manchmal öffnet das die Augen für Lösungsansätze.
Prinzipiell gilt: Versuchen Sie konstruktiv zu bleiben und Ich-Botschaften zu senden: „Ich fühle mich aufgrund der Situation / des Streits / des Wortwechsels etc. sehr unwohl und würde mich besser fühlen, wenn wir das einmal (mithilfe eines Mediators) besprechen. Geht es Ihnen ähnlich?“ Fragen helfen dabei, Ihr Gegenüber zum Nachdenken anzuregen und empathisch zu involvieren.
Versöhnungsrituale