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Heinz-Joachim Simon

Der Palast der unsterblichen Dichter

Das größte Abenteuer seit Dumas’ Monte Christo

Historischer Roman

Simon, Heinz-Joachim: Der Palast der unsterblichen Dichter. Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe


ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-643-8

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-642-1

Print: ISBN 978-3-86282-641-4


Lektorat: Larissa Jäger, SE, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © pixabay.com / #seville-187928_1920


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© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

VON WORT UND SCHRIFT.

IHR WERDET BLIND SEIN UND

BALD TAUB.

Ihr erkennt nichts mehr,

versteht nicht mehr die Schrift …

Fremd ist euch geworden, was Homer einst sang.

Ihr wisst nichts von den Taten des Gilgamesch …

Von Hamurabi habt ihr nie gehört …

IHR WERDET BLIND SEIN UND

BALD TAUB!

Wertlos ist euch das,

was am Anfang stand

und zu Ur und Theben in Stein gehauen wurde.

IHR WERDET BLIND SEIN UND

BALD TAUB!

Ihr merkt nicht, wie nackt ihr seid,

weil ihr die Schrift missachtet und das Buch …

IHR WERDET BLIND SEIN UND

BALD TAUB!

Doch noch ist der Ton da,

graben wir noch einmal Homers Worte hinein:

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,

welcher so weit geirrt, nach des heiligen Troja Zerstörung …

Noch sind die Worte nicht verschwunden, noch die Schrift …

NOCH NICHT – DOCH BALD?

H.-J. S.

Prolog

1 – Die Einladung

Fantasie an die Macht. So stand es im Mai 1968 an den Hauswänden des Boulevard St. Michel zu Paris. In den Straßen brannten die Autos. Das Pflaster der Boulevards war aufgebrochen. Graue Steine fielen blutbefleckt zu Boden. Eine Eliteeinheit der Polizei bekämpfte die Protestierenden mit Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln. Barrikaden standen am Boulevard St. Germain. Alles schien möglich. Eine Gesellschaft ohne Repressionen. Im Laufschritt ging es durch die Straßen. Die alte Losung bekam wieder Bedeutung: Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. 1848 war gestern und 1789 nicht vergessen. Kommune war kein Schimpfwort mehr. Pausenlos tagte man in der Sorbonne.

Oh ja, es floss schon Blut. So war es also, Revolution zu machen. Mädchen schwenkten auf den Schultern ihrer Freunde rote Fahnen. Jede eine Jeanne d’Arc. Eine Zeitenwende. Der Funke sprang über, wie schon 1789, 1835 und 1848. In Berlin tagte der SDS. Untergehakt stürmte man über den Kurfürstendamm: »Ho-ho-ho Chi Minh« und »Venceremos, Genossen!«.

Verwegene Träume. Gefährliche Fantasien, schrieben die Zeitungen. Der Staatsapparat schlug zurück. Das Bürgertum ließ sich nicht anstecken. Was wollen die Chaoten? Wir leben doch in den besten aller Zeiten! In Berlin rief man »Zwei, drei, viele Vietnam!« und schwenkte das Bild von Che.

Gewiss, vieles war schief, vieles Karneval, vieles einfach Blödsinn. In der Bonner Republik ein Aufbegehren gegen den dumpfen braunen Mief. Hast du gemordet, Vater? Die Flamme wurde erstickt. Die garstigen Lieder verstummten. Ruhe kehrte ein. Man ging wieder studieren.

Von all dem war im 16. Arrondissement nichts zu spüren. Gastons Eltern waren erst kürzlich von Aix-en-Provence nach Paris gezogen. Er vermisste die lange Platanenallee vom Cours Mirabeau. Sein Vater hatte jetzt hier in der Avenue Bugeaud sein Anwaltsbüro aufgemacht. Er hoffte, in diesem Viertel der Reichen ein besseres Auskommen zu haben und es ließ sich gut an. Er, Gaston, vermochte Aix nicht zu vergessen. Es war für ihn nicht die Stadt Mirabeaus, sondern die seines Lieblingsmalers Cézanne, und wenn er an Aix dachte, sah er immer den Springbrunnen mit der großen Fontäne am Ende des Boulevards. Er spürte dann die Sonne auf seinem Gesicht.

Er war fünfzehn Jahre alt und noch gefangen in kindlichen Träumen, die von Alexandre Dumas und Victor Hugo genährt wurden. In seiner Fantasie ritt er mit D’Artagnan, litt mit Edmond Dantes im Chateau d’If, war Balsamo am Hof des Königs und bereitete die große Revolution vor. Sein Vater sorgte sich wegen seiner Träumereien.

»Er hat die Eierschalen immer noch nicht abgeworfen!«

»Lass ihm seine Jugend!«, verteidigte ihn die Mutter.

Seine Zukunft verbarg sich hinter einem Nebel. Homer hätte gemurmelt, dass die Götter sich noch uneins waren, was sie aus ihm machen wollten. Er besuchte eine Vorbereitungsschule zur Grande Ecole. Er fiel dort nicht durch Leistungen auf, sondern durch sein romantisches Aussehen: ein schmales Gesicht mit schulterlangen blonden Haaren und warmen braunen Augen.

»Hoffentlich will er nicht Maler werden oder gar Schriftsteller«, sorgte sich der Vater, wenn der Sohn dicke Wälzer aus der Bibliothek anschleppte. Bücher von Autoren, die er nicht kannte, wie Jack London, Mark Twain, Melville oder Edgar Allan Poe. Die Franzosen wie Flaubert und Zola ließ er noch gelten.

»Ich weiß, er hat Großes in sich«, setzte die Mutter seinen Bedenken entgegen.

Eine zarte, schmale Frau, so flüchtig wie eine Eisblume, sagten die Nachbarn, die Sartre und Camus las und ihren Mann mit zärtlicher Nachsicht wie ein großes Kind behandelte. Sie besuchte literarische Clubs und diskutierte dort bis in die Nacht über Verlaine, Rimbaud und Pound, dieses arme verrückte Genie.

Gaston wurde zwischen den unterschiedlichen Neigungen und Anforderungen seiner Eltern hin- und hergerissen, wobei er eindeutig der Mutter zuneigte, die ihn ein Wunderkind nannte, nur weil er infolge seines fabelhaften Gedächtnisses seitenweise Homer zitieren konnte. Auch Alexander der Große vermochte dies, pflegte sie bedeutungsvoll zu sagen. Der Vater schätzte diese Fähigkeit gering und hoffte, dass sie sich auswachsen würde.

Es geschah an einem der letzten Maitage. In der Avenue Bugeaud, dem Haus der Eltern gegenüber, lag ein schloss­ähnliches Anwesen aus der Belle Epoque mit einem vorgelagerten Park, in dessen Mitte ein Springbrunnen die Fontänen tanzen ließ. Von seinem Zimmer im dritten Stock hatte er einen guten Blick hinüber zum Palais. Links und rechts hatte es kleine turmartige Anbauten, die jedoch keinen sehr wehrhaften Eindruck machten, sondern nur beide Seiten des Gebäudes abschlossen. Dort, am Fenster des linken Turms, gewahrte er sie. Die Sonne verlieh ihr eine goldene Aureole. Er holte sein Fernglas von der Anrichte, stellte sorgsam das Okular ein und atmete tief aus. Er sah sie nun ganz deutlich.

Nie, so glaubte er, hatte er ein schöneres Gesicht gesehen. Etwas Helles, Reines ging von dem Mädchen aus. Sie erinnerte ihn an eine Fee, an die Geschichten, die ihm einst seine Großmutter erzählt hatte, eine Provenzalin. Tarascon war ihm ein Zauberwort. Er musste lächeln. Wenn er später an das Mädchen dachte, dann fiel ihm immer ihr Anblick am Fenster ein, wo eine goldene Aureole sie wie ein Traumbild aussehen ließ.

Das Mädchen hatte ihn bald entdeckt, verschwand und kam mit einem Fernglas wieder. Erschrocken zog er den Kopf zurück. Doch seine Neugier ließ ihn wieder hinübersehen. Sie winkte. Was mochte sie von ihm denken? Es war ihm peinlich. Durch die Ferngläser waren sie sich nun ganz nah. Minutenlang sahen sie sich an. Schließlich senkte sie das Fernglas, winkte noch einmal und verschwand. Er wartete. Aber sie kam nicht wieder. Er seufzte. Er spürte einen Verlust, denn er ahnte, dass etwas Außerordentliches passiert war, aber er hätte es nicht benennen können. Nun blieben ihm nur noch die Mathematikaufgaben. Über die verflixten Zahlen gebeugt, versuchte er, das Gesicht zu vergessen. Aber es gelang ihm nur sehr unvollkommen. Gibt es vielleicht doch Feen?, fragte er sich.

Zwei Tage später begegneten sie sich wieder. Er kam von der Ecole, als er sie erblickte. Er blieb vor dem schmiedeeisernen Tor am Eingang zum Park stehen. Sie saß in einem Rollstuhl vor dem Haus und lächelte ihm zu. Vorsichtig sah er um sich, stieß das Tor auf, betrat den Park und ging zu ihr. Sie erhob sich aus dem Rollstuhl. Er sah, dass ihr rechtes Bein in einer Schiene steckte. Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Ich heiße Gaston Cartouche«, stellte er sich vor, ernsthaft, ganz gefangen von diesem zarten Gesicht mit den blauen Adern an der Schläfe.

»Cartouche, der Bandit?«, fragte sie lächelnd.

Wie weich ihre Hand ist, dachte er. Und wieder dieses Lächeln, das ihm die Kehle zuschnürte.

»Nein. Kein Bandit. Ich komme aus Aix«, sagte er unbeholfen. »Ich besuche eine Vorbereitungsschule zur Grande Ecole.«

»Eine gute Voraussetzung, um es im Leben voranzubringen.« Es klang etwas altklug, ihr Lächeln milderte dies jedoch.

»Sagt mein Vater auch. Aber ich langweile mich auf der Schule.«

»Was würdest du gern werden?«

Gaston zuckte mit den Achseln.

»Ich weiß nicht. Meine Mutter meint, dass irgendetwas mit Kunst für mich das Gegebene wäre. Mein Vater will, dass ich Anwalt werde wie er.«

Sie machte vorsichtig ein paar Schritte zurück und setzte sich wieder in den Rollstuhl.

»Entschuldige. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Michelle James. Wir sind aus England. Meine Mutter ist jedoch Französin. Sie hat großen Wert darauf gelegt, dass ich so gut Französisch spreche wie Englisch. Wir sind eigentlich aus Torquay in Devon, haben aber in letzter Zeit in London gelebt, gegenüber dem Palast der Königinmutter.«

Im Schoß hatte Michelle ein Buch. Gefesselt von ihrem Gesicht hatte er es bisher nicht bemerkt. Interessiert beugte er sich vor.

»Eine Geschichte aus zwei Städten«, las er laut vor. »Von Dickens. Ich kenne von ihm Oliver Twist und David Copperfield.«

»Du kennst Dickens?«, rief sie erfreut. »Dieses Buch spielt während der Französischen Revolution. Hör mal zu!«

Eifrig schlug sie das Buch auf: »Schon der Anfang ist großartig.«

Sie befeuchtete ihre Lippen und hob die Hand, so andeutend, dass sie etwas Wichtiges vortrug: »Es war die beste, es war die schlechteste aller Zeiten. Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das der Torheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die des Unglaubens, es waren die Tage des Lichts, es waren die der Finsternis. Es war der Lenz der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung.« Sie ließ das Buch sinken. »Ist das nicht großartig?«

»Er ist auf gleicher Höhe mit Balzac«, sagte Gaston beeindruckt.

»Du kennst dich mit Büchern aus?«

»Meine Mutter sagt immer, dass man mit Büchern ein zweites Leben lebt. Ich liebe Balzac, Hugo, Zola und all die anderen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.«

»Warum ausgerechnet Balzac und Zola?«

»Weil sie sich eine eigene Welt erschufen, mit hunderten von Figuren, die so wirklich sind wie das Leben.«

»Du liest also viel«, stellte sie befriedigt fest.

»Ja. Mein Vater nennt es Zeitverschwendung. Aber ich gehe nie ohne ein Buch aus dem Haus.«

Er zerrte an seiner Aktentasche, öffnete sie und hielt ihr ein Buch entgegen.

»Die Menschliche Komödie. Gobseck, Vater Goriot, Oberst Chabert. Und alle in einem Band. Wunderbar. Die gehören auch zu meinen Lieblingsbüchern«, sagte sie aufgeregt. »Ich lese auch gern Zola. Die Rougon-Marquart-Bücher, die das Leben der Pariser Gesellschaft im Zweiten Kaiserreich schildern.«

»Und welches Buch von ihm hat dir am besten gefallen?«

»Germinal, Nana – Das Werk. Und Der Bauch von Paris. Also fast alles von ihm«, erwiderte sie glücklich lachend.

»Ja. Er war ein ganz Großer«, gestand er mit rotem Kopf.

»So wie Balzac. Die großen Schriftsteller sind alle besessen«, erwiderte sie bestimmt.

»Du liest also auch gern«, stellte er unnötigerweise fest, nur um diese Gemeinsamkeit herauszustreichen. Sie nickte eifrig.

»Aber nicht nur die Klassiker, sondern auch Sartre, Camus, Malraux. Camus vor allem. Hast du Mensch in der Revolte gelesen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ein ganz wichtiges Buch. Du solltest es lesen. Es könnte dein Leben beeinflussen. Wenn es die Studenten vom Boul’ Mich sorgsam lesen würden, hätten sie eine Chance zu begreifen, dass ihre Absolutheit auf sie selbst zurückfällt.«

»Ich werde es mir kaufen.«

»Nein. Ich werde es dir leihen. Schiebst du mich an den Eingang?«

Er stellte sich hinter den Rollstuhl und schob sie vorsichtig an die Treppe heran. Michelle erhob sich und humpelte, sich am Geländer festhaltend, die Treppe hoch.

»Warte. Ich bin gleich wieder da.«

Die Tür wurde geöffnet. Ein schwarz befrackter Diener nahm den Rollstuhl in Empfang. Gaston wartete. Er war ganz benommen und stand unter dem Eindruck, dass der Tag heller geworden war, die Vögel im Gebüsch aufgeregter lärmten und eine Lerche sich jubelnd in den azurblauen Himmel schraubte. Das Mädchen kam wieder und reichte ihm das Buch.

»Camus«, sagte sie knapp. »Du kannst es behalten. Wir haben es doppelt.«

»Sehen wir uns wieder?«, fragte er schüchtern, dabei wieder rot werdend.

»Aber ja doch. Du wohnst doch gegenüber. Wenn du mich sehen willst, stellst du ein Buch auf deine Fensterbank. Wir treffen uns dann am nächsten Tag um die gleiche Zeit wie heute im Park.«

Der schwarz gewandete Diener, mit einem weißen Haarkranz um die spiegelnde Glatze, erschien erneut.

»Gnädiges Fräulein, Ihr Vater erwartet Sie.«

Michelle nickte hoheitsvoll.

»Ist gut, Vater Goriot. Abgemacht?«, wandte sie sich Julien zu. »Er heißt natürlich anders. Aber ich nenne ihn so – nach der Romangestalt von Honoré de Balzac. Es ist also abgemacht?«

»Abgemacht!«, bestätigte er und fragte sich, was das war, was ihn warm durchströmte. Er wusste noch nicht, dass so die Liebe anfängt.

Von dem Tag an trafen sie sich wieder und wieder und erzählten einander von den Büchern, die sie gerade lasen und die der andere unbedingt lesen sollte.

Es war ein später Freitagnachmittag, der gerade in einen goldenen Abend überging, als sie unter dem Zedernbaum saßen und sie sagte: »Ich glaube, jetzt sind wir soweit. Du wirst zu den Eingeweihten gehören.«

»Zu wem?«, fragte er erstaunt.

»Du bist würdig, den Palast der unsterblichen Dichter kennenzulernen. Ich werde dich einführen. Komm heute Nacht kurz vor zwölf an unsere Tür. Ich werde dich erwarten und dir eine Welt zeigen, die dich für immer glücklich machen wird.«

Wieder spürte er dieses warme Gefühl in sich hochsteigen. Er staunte über sich selbst, als er sich sagen hörte: »Seit ich dich kenne, bin ich glücklich, Michelle.«

Sie beugte sich zu ihm, legte ihre Arme um seinen Hals und ihre Lippen berührten ihn so sanft wie die Berührung durch einen Schmetterlingsflügel.

»Werde ein Dichter, Gaston. In allen anderen Berufen wirst du unglücklich werden.«

»Dazu muss man Talent haben.«

»Das hast du. Fantasie und Träume. Was du heute Nacht er­­leben wirst, wird dich davon überzeugen, dass du zu den Eingeweihten gehörst und in deinem Kopf bereits all das ist, was du hörst. Es muss nur noch in dir befreit werden.«

Der Greis in seinem altertümlichen Frack erschien und verbeugte sich. »Mademoiselle, Ihr Vater möchte, dass Sie ins Haus kommen. Es wird kühler und Sie dürfen sich nicht erkälten.«

»Gut, Vater Goriot. Bringen Sie mich ins Haus.«

Sie zwinkerte Gaston zu und dieser zwinkerte zurück. Der Alte hieß zwar nicht Goriot, aber er sah aus als wäre er aus dem Roman von Balzac entstiegen.

Er ging aus dem Park und wandte sich am Tor noch einmal um. Der alte Diener trug Michelle gerade die Treppe hoch.

»Du kommst doch wie abgemacht?«, rief sie ihm zu.

Er nickte heftig und ging über die Straße zu dem Haus seiner Eltern, das neben dem Eingang ein kupfernes Schild aufwies: Albert Cartouche, Rechtsanwalt und Notar stand dort in Versalbuchstaben.

Nach dem Essen bat ihn der Vater zu einem ernsthaften Gespräch in sein Büro. Wenn er ihn in sein Heiligtum bat, ging es immer um etwas sehr Unerfreuliches.

»Ich habe heute einen sehr beängstigenden Anruf von Maître Lagrange von der Ecole erhalten. Er sagte mir, dass es mit deinen Leistungen weiter bergab geht. Wenn nicht bald eine Besserung eintritt, wird man dich von der Schule werfen. Du bist dabei, dein Leben zu vergeuden!«

»Dann wird er eben etwas anderes werden als eine Bürokraft«, verteidigte ihn die Mutter, die herbeigeeilt war, um ihrem Sohn beizustehen.

»Setz ihm noch mehr solche Flausen in den Kopf und er wird ein Clochard unter den Brücken«, schnaubte der Vater. »Ich gebe ihm die Möglichkeit, an einer Grande Ecole zu studieren und als Dank verhunzt ihr beide seine Zukunft!«

»Ich weiß, dass aus ihm etwas Besonderes wird«, erwiderte die Mutter im Brustton der Überzeugung und warf ihrem Sohn einen verschwörerischen Blick zu.

Gaston saß unglücklich zwischen den beiden. Er liebte seinen Vater trotz dessen Vorhaltungen, diesen stets korrekt gekleideten Mann mit der bleichen Haut, den traurigen Augen, dem leidenden Zug um den Mund, der stets nach Lavendelwasser roch. Mit den grauen Schläfen und dem sorgfältig gestutzten Oberlippenbart sah er aus wie eine Figur aus den Erzählungen von Maupassant. Der Vater seufzte und sah niedergeschlagen zu den in rotes Leder gebundenen Gesetzesbüchern hinüber.

»Hör nicht auf die Einflüsterungen deiner Mutter. Sie ist eine Träumerin. Das ist als Frau sehr charmant, aber von uns Männern verlangt das Leben, dass wir zupacken und uns das Können, in welchem Beruf auch immer, hart erarbeiten.«

Gaston nickte, war aber bereits mit den Gedanken bei dem, was ihm Michelle in dieser Nacht eröffnen wollte. Er sah auf die Uhr.

»Hast du heute noch etwas vor?«, fragte der Vater missbilligend.

»Ich habe noch eine Verabredung«, gestand Gaston freimütig.

»Was? Zu dieser Zeit? Mit wem?«

»Du kennst sie nicht.«

»Also mit einem Mädchen? Verstehe. Ist das der Grund, warum du immer schlechter in der Schule wirst? Kommt gar nicht infrage. Mädchen und Rendezvous sind viel zu früh für dich.«

»Er ist fünfzehn. Du solltest bedenken, dass die Jugend heute früher erwachsen wird«, trat die Mutter für ihn ein.

»So lange er die Beine unter meinen Tisch stellt, richtet er sich nach meinen Anweisungen. Du bist schuld, wenn er zu einem Filou wird!«, fauchte der Vater.

Sie haben sich doch einmal geliebt, dachte Gaston. Was war mit den beiden passiert, dass sie sich so gleichgültig waren und manchmal sogar hassten?

»Wer ist das Mädchen?«, bohrte der Vater. »Eines der Flittchen aus den Jazzkellern des Quartier Latin?«

»Du bist hoffnungslos altmodisch, Albert. Bei den jungen Leuten ist Beat angesagt. Oder hast du noch nichts von den Beatles gehört?«

»Diese Pilzköpfe aus England? O tempora, o mores. Wohin steuert die Welt? Also, was ist das für ein Mädchen?«

»Es ist Michelle James, aus dem Palais gegenüber«, gestand er mürrisch. Er hatte dabei das Gefühl, Michelle zu verraten.

»Diese Engländer?«, staunte der Vater. »Na immerhin, es scheinen mir ordentliche Leute zu sein.«

»Na klar, weil sie ein Palais haben«, kommentierte die Mutter ironisch.

»Es lässt jedenfalls darauf schließen, dass es eine honorige Familie ist. Also meinetwegen. Aber pass auf. Für etwas Ernstes bist du noch viel zu jung. Nicht, dass du eine ernste Verbindung eingehen musst.«

»Albert, du wirst geschmacklos«, mahnte die Mutter.

»Er würde sich seine ganze Zukunft verbauen«, fuhr Albert Cartouche unbeirrt fort. »Habt ihr schon …? Du weißt, was ich meine.«

»Nein. Haben wir nicht«, antwortete Gaston verlegen.

Er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen. Bisher begnügte er sich mit dem Playboy als Vorlage für gewisse körperliche Vergnügungen.

»So ganz hast du deinen Verstand also noch nicht verloren. Was interessiert dich denn an dem Mädchen? Oder besser, was interessiert ein Mädchen, das in einem Palast wohnt, an Gaston Cartouche?«

»Wir reden viel über Bücher. Sie ist ungeheuer belesen.«

»Ein Blaustrumpf!«, höhnte der Vater. »Aber andererseits vielleicht doch ganz gut, dass ihr keine anderen Interessen habt.«

»Bravo, mein Sohn«, freute sich die Mutter.

Er war froh, dass er sich mit der Bemerkung, noch lernen zu müssen, nach oben auf sein Zimmer verdrücken konnte. Statt sein Pensum zu studieren, vertiefte er sich in Stendhals ›Kartause von Parma‹. Der Roman spielte in einer Zeit, in der noch Kronen in der Gosse lagen, wie Napoleon es einst formuliert hatte.

Um halb elf wurde es unten ruhig, die Eltern gingen früh zu Bett. Als es kurz nach halb zwölf war und er sich sicher sein konnte, dass seine Eltern schliefen, schlich er die Treppe hinunter und öffnete behutsam die Haustür. Er zuckte zusammen, als sie laut quietschte. Er stand wie gebannt und horchte. Nein, die Eltern waren nicht wach geworden. Er trat hinaus und sah die Straße hinunter. Niemand war zu sehen. Er lief zum schmiedeeisernen Tor des Palais. Es war nicht verschlossen. Gaston ging über den Kiesweg auf das Palais zu. Unter seinen Füßen knirschten die Steine. Die Tür vor ihm öffnete sich, kaum dass er die Treppe erreicht hatte. Michelle stand im Eingang. Sie machte einen Knicks und wies hinter sich.

»Willkommen im Palast der unsterblichen Dichter.«

Er griff nach ihrer Hand und ihre Finger verschränkten sich mit seinen. Hand in Hand gingen sie in die große Empfangshalle, die meterhohe rotbraune Bücherregale aufwies. Er ging betont langsam, nahm Rücksicht auf ihre Behinderung. Sie schüttelte den Kopf. Lächelte. »Es geht schon.«

Sie stiegen eine Treppe hoch und betraten eine weitere holzgetäfelte Halle, in der ein Kamin brannte. Michelle legte den Finger auf den Mund und wies auf den großen Tisch, an dem sechs Männer und eine Frau saßen. Gaston kannte sie alle. In der Mitte des Tisches lag ein Totenkopf. Vor den Männern standen gläserne Pokale, in denen es golden schimmerte. Über ihnen brannte ein wagenradgroßer Lüster.

»Das kann doch nicht möglich sein«, entfuhr es ihm.

Die Herrschaften um den Tisch beachteten sie nicht, schienen sie nicht einmal zu sehen. »Du siehst nur das, was in deinem Kopf ist«, flüsterte Michelle. »Es sind Balzac, Zola, Hugo und Dumas. Der mit dem mächtigen Bart ist Flaubert. Die schöne Frau ist George Sand. Der Dürre mit den karierten Hosen ist Dickens aus England.«

»Ja. Ich erkenne sie alle«, bestätigte er flüsternd. »Manche hat Daumier gezeichnet.«

»Du kannst ruhig lauter sprechen. Wir gehören nicht zu ihrer Welt.«

»Sie sind … Geister?«

»Und doch sind sie unsterblich und bleiben für uns lebendig. Sie sind deinem Kopf entstiegen. Aber nun wollen wir ihnen zuhören. Es wird eine aufregende Nacht. Setzen wir uns etwas abseits neben den Kamin.«

»Wie fangen wir es an?« George Sand sah fordernd in die Runde. »Wo habt ihr nur den scheußlichen Totenkopf her?«, setzte sie hinzu und kräuselte indigniert die Nase.

»Das ist der Schädel des großen François Villon, der treffliche Sänger und Vagant, der uns manch schönen derben Vers geschenkt hat«, erklärte Balzac mit dem ihm eigenen Pathos.

»Das beantwortet nicht meine Frage.«

»Ich habe ihn bei dem Trödler Archantes entdeckt. Er versichert mir mit Expertise, dass es der Originalschädel des großen Villon ist.«

»Hauptsache, du glaubst daran«, gab George Sand schnippisch zurück. »Schlepp aber nicht mehr von dem Zeug an.«

»Er wird eines Tages noch mit dem Jochbein des großen Homer auftauchen«, lästerte Dumas grinsend.

»Hört auf! Fangen wir endlich an. Ich denke, die Geschichte sollte mit meinem Tod enden«, schlug Zola vor.

Bis auf Flaubert nickten alle traurig.

»Nein. Wir sollten das nicht gleich am Anfang festlegen. Lassen wir die Geschichte sich entwickeln.«

»Wir sollten gleich stürmisch in die Geschichte einsteigen«, schlug Balzac vor. »Ich hätte zur Anfeuerung meiner Fantasie gern noch einen Mokka.«

Daraufhin tauchte ein Diener auf und stellte den Mokka vor ihn hin.

»Das ist doch Vater Goriot aus meinem gleichnamigen Roman!«, staunte Balzac.

»Wir sind im Palast der Unsterblichkeit, mein Guter«, erwiderte George Sand mit maliziösem Lächeln.

»Wir sollten endlich anfangen«, drängte Flaubert.

»Du meinst, wir sollten mit den Tagen der Kommune beginnen?«, fragte Hugo.

»Ja, mein Lieber. Um zu erklären, warum man Zola umbrachte, müssen wir zu den Tagen der Schande und Ehre zurückgehen«, pflichtete George Sand bei.

»Zu den Tagen, als die Elenden gegen ihr Unglück aufbegehrten? Da bin ich dabei«, stimmte auch Zola zu.

Balzac zupfte sich die Kutte zurecht und nahm einen Schluck Mokka.

»Ganz vorzüglich! Die richtige Stärke«, stellte er fest.

»Wie machen wir es?«, drängte die Sand.

»Ich denke mir das so«, sagte Dumas nachdenklich. »Jeder erzählt ein Kapitel. Der nächste muss dann die Geschichte fortführen. Ich denke, Dickens sollte anfangen. Er hat über Kinder ein paar hervorragende Sachen geschrieben. Ich bewundere dich für deinen Oliver Twist und den … Dings Copperfield. Gute Literatur!«

»David Copperfield«, korrigierte Dickens indigniert.

»Schon gut, alter Freund. Ich lege danach mit dem nächsten Kapitel los und dann greift Zola den Faden auf und so weiter. Bei den Eiern des François Villon, wir, die Unsterblichen, basteln eine Geschichte unserer Geschichten zusammen. Das wird ein Spaß!« Balzacs Gesicht glühte vor Begeisterung.

»Wir werden die Gestalten aus unseren Büchern mitspielen lassen. Wir werden die Schwierigkeit haben, die unterschiedlichen Stile zu einer Einheit zu verschmelzen.«

»Ach was, George Sand kann alles mitschreiben. Sie wird schon darauf achten, dass wir die Kapitel nicht zu unterschiedlich erzählen«, schlug Dumas vor.

»Du hast wohl mit Porthos zu viel Wein gebechert? Ich bin eine genauso gute Erzählerin wie ihr. Nein, ich bin nicht eure Schreibmadame.«

»Wir werden Vater Goriot bitten, alles aufzuschreiben. Er liebt auch gute Geschichten«, schlug Flaubert beschwichtigend vor.

»Warum eine Gestalt von Balzac?«, protestierte Dumas. »Immer steht Balzac im Mittelpunkt.«

»Bleibt friedlich!«, mahnte Flaubert. »Habt ihr alle verstanden, wie die Regeln sind?«

»Klar doch«, winkte Hugo ab. »Jeder muss mit seiner Erzählung an die vorherige anschließen und dann den Stab weitergeben.«

»Richtig. Aber es muss glaubwürdig abschließen. Nur so wird ein Buch draus, das ein guter Verlag veröffentlichen wird.«

»Wir müssen in die Figuren hineinkriechen, damit der Erzählstil nicht zu unterschiedlich wird.«

»Ich finde, wir haben genug geredet, wir sollten beginnen«, drängte Dumas. »Unser Epos endet mit dem Verbrechen an Zola und mit der Aufdeckung, wer das Verbrechen begangen hat. Genau so dramatisch würde ich gleich einsteigen.«

»Du hast die Trommel laut genug geschlagen. Dickens, fang endlich an!«, sagte die Sand und stieß Rauchkringel aus, die sich langsam auf Dumas zubewegten. »Sonst wird er uns gleich wieder daran erinnern, dass seine Bücher weltweit die größte Verbreitung gefunden haben.«

»Stimmt das etwa nicht?«, fauchte Dumas. »Vor mir liegt auflagenmäßig nur die Bibel.«

»Gib nicht so an«, grollte Balzac. »Du hast eine Menge Schinken für kleine Dienstmädchen und gelangweilte Bürgersfrauen verzapft. Große Literatur ist was anderes.«

»Große Literatur? Was ist das?«, brauste Dumas auf. »Meine Bücher liest man in Amerika und in Argentinien. Selbst im fernen Australien kennt man den Namen Alexandre Dumas. Der große Garibaldi war ein Verehrer von mir. Es gibt wohl kein Buch, das häufiger verlegt wurde als ›Die drei Musketiere‹. Da kommt ihr alle nicht mit. Selbst wenn ihr eure Auflagen zusammenlegt.«

»Angeber! Du bist mal wieder unerträglich«, fauchte Balzac.

»Hört auf zu streiten!«, fuhr die Sand dazwischen. »Ihr benehmt euch wie kleine Jungs. Also, wir sind uns einig, dass Dickens beginnt. Er ist der Gast und ihm gebührt die Ehre anzufangen. ›Oliver Twist‹ ist wirklich ein feines Buch. Und mit Revolutionen kennt er sich aus, was sein Roman ›Die zwei Städte‹ beweist.«

»Also los! Genug geredet. Fangen wir an«, sagte Hugo ungeduldig.

»Wieso genug geredet? Es geht doch ums Reden«, sagte Dumas mit selbstgefälligem Blinzeln.

»Ja, Englishman, lass deine Pickwickier aufmarschieren.«

»He, unsere Geschichte spielt in Paris«, meldete sich Zola.

»Wir haben Azincourt vergeben und vergessen. Erzähl es so authentisch wie möglich«, forderte Dumas.

»Hör auf!«, blaffte Balzac. »Schon seit der Eroberung von Orléans durch die Heilige Jungfrau Jeanne d’Arc ist diese Schmach getilgt.«

»Die die Engländer verbrannt haben«, keilte Dumas zurück.

»Es waren Franzosen, die sie verurteilten«, erinnerte Zola.

»Ja. Bei uns gibt es immer wieder mal ein paar vortreffliche Kanaillen«, gab Flaubert zu.

»Ich stelle es mir so vor: Julien Morgon steht auf den Champs Elysées und sieht zu, wie die Armee vorbeidefiliert. Und das Volk schreit begeistert: ›Krieg!‹. Nie hatten die Regimenter des Kaiserreiches prächtiger ausgesehen …«

1. Buch

Das alte schöne Lied von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.