Roman Rausch

Das Caffeehaus

HISTORISCHER ROMAN

 

Für Sabine F.

Rubricetur

Auf Johann Ernst Nicolaus Strauß getauften Türkhens und Caffesieders mem:

 

Ihro hochfürstlichen Gnaden [Johann Gottfried von Guttenberg] haben Innvermerkten Supplikanten gdst. verwilligt, daß er mittels Aushengung einer Tafel oder Schildes seine Profession mit Caffesieden und andern ungehindert männiglich dahier treiben und exercieren möge.

 

Sign. den 2. Martii 1697

[Würzburg] H. W. Canzley

 

«Caffee muss heiß sein wie ein Mädchen am ersten Tag, süß wie am siebten Tag und schwarz wie der Fluch der Mutter, wenn sie es erfährt.»

 

Aus: Carl Hans von Gimborn, Caffeerösten

Prolog

Belgrad, auf der Festung Kalemegdan

August 1717

 

Diese Nacht gedachte der Wesir von Belgrad, Mustafa Pasha, mit dem Mädchen Sabiha zu verbringen. Als Zeichen seines Wunsches ließ er ihr ein mit Goldfäden gewobenes und mit Edelsteinen besetztes Taschentuch zukommen. Die Kiajai, die Hofmeisterin des Harems, klatschte beim Anblick des Taschentuchs zweimal laut in die Hände, und aus allen Zimmern des Palastes eilten die Dienerinnen herbei.

Mustafa Pasha war nach dem Großwesir Chalil Pasha und dem erhabenen und allmächtigen Sultan Ahmed dem Dritten der uneingeschränkte Herrscher im wichtigsten Außenposten des türkischen Reiches – der Festung Kalemegdan in Belgrad. Er war es nicht gewohnt zu warten, allerdings wusste er um die mehrstündige Zeremonie, in der seine Auserwählte vorbereitet wurde, damit sie ihm unter die Augen treten durfte.

Das Warten fiel ihm nicht leicht, denn in dieser angenehmen Sommernacht war sein Blut in Wallung geraten, und er wollte es bald besänftigen. Die Nachricht, die dieses Gefühl ausgelöst hatte, war direkt von Sultan Ahmed aus Adrianopel gekommen. Ein Heer von zweihunderttausend Mann würde in den nächsten Tagen Belgrad erreichen, um Mustafa Pasha und seine Soldaten aus der Umklammerung der österreichischen Truppen unter dem Befehl Prinz Eugens von Savoyen zu befreien.

Es war höchste Zeit, denn Krankheiten und Hunger zehrten am Durchhaltewillen von Volk und Soldaten.

«Gebt der Neuen Bescheid», ordnete die Kiajai an und meinte damit Sabiha, die Auserwählte des Wesirs für diese Nacht. «Der Herr verlangt nach ihr.»

Einem genau festgelegten Ablauf folgend, strömten die Dienerinnen daraufhin auseinander, um ihrer jeweiligen Aufgabe nachzukommen.

Sabiha stand indes am Fenster ihres Zimmers und blickte hinunter auf die Auen der Donau und der Save. Das einfallende Licht der untergehenden Sonne – gebrochen durch ein schweres Eisengitter – warf rotgoldene Vierecke auf ihre helle Haut. Diese eine Stunde in der Dämmerung am Fenster zu stehen und das Sonnenlicht zu genießen, zählte zu den kostbarsten Momenten, die sie seit der Demission aus dem Harem des Sultans erfahren durfte. Ihren obersten Herrn hatte sie nie zu Gesicht bekommen, obwohl sie unter seiner Obhut und seinem Dach zehn Jahre gelebt hatte. Zu groß war die Konkurrenz der über tausend Haremsdamen gewesen, als dass sie sich in den wenigen Tagen, in denen er sich im Serail aufhielt, hätte hervortun können.

Anstatt sich der Trostlosigkeit zu ergeben, hatte sie die Zeit für ihre umfangreiche Ausbildung zur Odaliske genutzt. Sie beherrschte das Tanzen, rezitierte Gedichte und sang, spielte Instrumente und war im Erlernen erotischer Fertigkeiten weit vorangeschritten. Lesen und Schreiben, sowohl Arabisch als auch Persisch, hatte sie bei der Koranleserin Alina gelernt. Sie war ihre einzige Freundin unter den Frauen und weihte Sabiha auch in die hohe Kunst der Caffeezubereitung ein. «Der Caffee gewinnt das Herz eines Mannes», pflegte sie zu sagen. «Hast du es einmal sicher, folgt der Verstand auf dem Fuß. Vergiss das nie. Der Caffee ist neben unseren Schenkeln der mächtigste Verbündete im Kampf ums Überleben.»

Die Bücher, die Sabihas Wissensdurst stillten, hatte sie während des Unterrichts bei Alina einsehen dürfen. Das machte sie zu einer gebildeten jungen Frau von vierzehn Jahren, die alles mitbrachte, um den Ansprüchen eines Sultans zu genügen. Leider fehlte ihr aufgrund ihrer Jugend, sicher auch wegen ihres zuweilen ungestümen Eifers, die Kenntnis vom rechten Zeitpunkt, wann sie ihr Wissen und ihre Fertigkeiten zu ihrem Vorteil einsetzen konnte und wann sie besser schweigen sollte.

Der Kiajai, der obersten Hofmeisterin, in einem Anflug von Besserwisserei zu widersprechen, gehörte wohl zu den einfältigsten und folgenschwersten Entgleisungen ihres jungen und überschäumenden Gemüts. Sie war dem Schwert nur knapp entgangen, was sie allerdings nicht der Gnade der Kiajai zu verdanken hatte, sondern deren Boshaftigkeit. Als nämlich dem Wesir von Belgrad, Mustafa Pasha, ein Geschenk für seine erworbenen Verdienste gemacht werden sollte, war ihre Wahl auf Sabiha gefallen, wohl wissend, dass ein Leben auf der Festung Kalemegdan weitaus erniedrigender sein würde als der schnelle Hieb des Scharfrichters.

Und sie sollte recht behalten. Seit einhundert Tagen lebte Sabiha nun in den engen, ungemütlichen Mauern dieser Burg und wartete darauf, dass der Wesir sie bemerkte. Als sie an seinen Hof nach Belgrad kam, waren die Vorbereitungen auf die Belagerung durch das österreichische Heer bereits im Gange gewesen, kurz darauf folgten die ersten Schlachten zu Wasser und zu Land, die Mustafa Pasha selbst befehligte, und es dauerte nicht lange, bis wegen der Nahrungsmittelknappheit Unruhen unter den Soldaten und dem Volk aufkeimten. Bald hatte sich die Nachricht von ihrer schmachvollen Demission bei den Konkurrentinnen herumgesprochen, sodass sie deren Neid und Intrigen schutzlos ausgeliefert war.

Doch heute hatte sie Hoffnung geschöpft. Am Morgen, während einer Feuerpause, war Mustafa Pasha mit seinen Beratern die Festungsmauern abgeschritten. Der Feind hatte seine Stellungen ausgebaut, und es schien, als würde er sich dadurch einen Vorteil in dem kräfte- und nervenaufreibenden Katz-und-Maus-Spiel dieser Belagerung versprechen. Sabiha war vom Klang hitziger Stimmen erwacht. Vollkommen nackt war sie ans Fenster getreten, um sich Klarheit zu verschaffen. Gerade noch rechtzeitig, um den Blick ihres Gebieters zu erfassen, der den Turm, in dem sie wohnte, in Augenschein nahm. Es handelte sich um einen winzigen Moment, nicht länger als der Schrei eines vorbeiziehenden Vogels. Der genügte, um die Aufmerksamkeit des Wesirs zu erringen, sie befürchtete jedoch gleichzeitig, wegen der Zurschaustellung ihrer Blöße bestraft zu werden.

Das war nur ein Teil ihrer Sorge, der andere lag in den Auen von Donau und Save, wo sich die österreichischen Truppen verschanzt hatten. Obwohl Kalemegdan wie auch die Stadt Belgrad als uneinnehmbar galten, hatte Sabiha in den letzten Wochen ausreichend Zeit gehabt, ihre Lage und die aller anderen auf dieser Burg einzuschätzen. Wenn nicht bald etwas Entscheidendes geschah, würde Mustafa Pasha den offenen Kampf suchen müssen, um sich aus der Umklammerung zu befreien, die der belagerten Festung das Leben abschnürte. Die Leidensfähigkeit der Soldaten und des Volks war nicht unbegrenzt. Zudem marschierten täglich neue Truppen die Donau herunter und stärkten das gegnerische Lager, das mittlerweile auf mehrere zehntausend angewachsen war.

Wenn die vielen Schutzwälle um Kalemegdan brachen, dann würden alle in die Hände des Feindes geraten. Siegestrunkene Soldaten würden über die Frauen des Harems herfallen wie die Fliegen über das Aas. Gefangene waren keine zu machen. Wie sollten sie auch den Weg ins fremde, ferne Feindesland überstehen?

Sabiha schüttelte es bei dem Gedanken, ihre Unschuld und ihr Leben an einen schmutzigen Barbaren zu verlieren. So weit würde sie es nicht kommen lassen. Wenn Kalemegdan fiel, dann sollte auch ihr Kopf fallen. Diesen Wunsch würde ihr keiner der Haremswächter ausschlagen.

So weit war es aber noch nicht. Noch gab es Hoffnung. Auf die Janitscharen war Verlass. Jeder Einzelne von ihnen wog drei feindliche Kämpfer auf. Wenn ihr Kampfgeist auf die anderen Soldaten überging, dann würde bei den Österreichern viel Blut fließen. Um dies zu bewerkstelligen, musste Mustafa Pasha vor seine Truppen treten und sie auf den Lohn im Himmelreich einschwören. Nur dann wahrten sie die Chance, lebend aus dieser Mausefalle zu entkommen.

Es klopfte an der Tür. Sabiha schreckte auf. War ihre Hoffnung vergebens gewesen, würde die Kiajai sie nun abholen? Nein, sagte sie sich, die Kiajai würde nicht klopfen. Sabiha öffnete. Vor der Tür stand ein Mädchen, kaum älter als sie selbst, den Kopf gesenkt.

«Der Herr verlangt nach Euch», sagte sie unerwartet demütig. «Das Bad ist angerichtet.»

Sabiha war irritiert. Noch bevor sie nach dem Grund der Anweisung fragen konnte, wiederholte das Mädchen den Befehl: «Alles ist vorbereitet. Kommt schnell.»

So folgte sie ihr, vorbei an den Zimmern der anderen Frauen, die Stufen hinunter in den Baderaum, der im untersten Stockwerk des Turms lag. Hier erwarteten sie bereits eine Handvoll Bademädchen und natürlich die Kiajai, die über alles wachte.

«Beeil dich», sagte sie, «wir haben nicht viel Zeit.»

«Was ist geschehen?», wagte Sabiha zu fragen.

«Schweig», entgegnete die Kiajai scharf. «Der Herr hat dich ausgewählt. Nun steig ins Bad.»

Beklommen kam Sabiha dem Befehl nach. Sie ließ den dünnen Stoff fallen, der ihren Körper für die Nacht hätte bedecken sollen, und stieg die Stufen ins Badebecken hinab. Es war bedeutend kleiner als im Harem von Adrianopel, und die Wände waren auch nicht mit edlem Marmor bedeckt, sondern bestanden aus großen, kräftigen Steinquadern wie die Mauern des Wehrturms.

Die Bademädchen kümmerten sich sogleich um die nackte Sabiha. Die eine wusch ihr die Arme, die andere die Haare, die Dritte den Körper. Sabiha stand während der Waschung bis zum Bauch regungslos im temperierten Wasser, das mit allerlei Ölen parfümiert worden war.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Zu welchem Zweck hatte der Wesir nach ihr schicken lassen? Für eine Bestrafung war der Aufwand zweifellos zu groß, folglich musste er anderes mit ihr im Sinn haben.

Überraschend kurz geriet das Bad, und die Kiajai drängte zur Eile. Nachdem Sabiha von vielen Händen abgetrocknet worden war, wurde sie in den nächsten Raum geführt, wo ein schwarzer Eunuch sie erwartete. Nackt hatte sie sich auf den großen, kreisrunden Stein zu legen, auf dem sich die Badenden üblicherweise von der Waschung erholten.

Der Eunuch nahm aus einer Schale eine gute Portion Ambra und verteilte es über ihren Körper. Er massierte es mit seinen kräftigen Händen in ihre Haut ein. Das dauerte eine Weile. Zu lange für die Kiajai. Sie wies ihn an, den Vorgang des Parfümierens abzukürzen. Aus einer zweiten Schale nahm er daraufhin eine Paste, strich sie auf seinen Finger und führte ihn in Sabihas Mund. Der süße Duft würde an den Zähnen haften bleiben und ihr einen angenehmen Atem verleihen. Ein zweiter Eunuch kam hinzu, der auf einem silbernen Tablett mehrere kleine Schalen und Bürsten trug. Er begann ihre Wimpern zu wachsen, die Augenbrauen zu einem geschwungenen Bogen zu zupfen und rote Henna behutsam auf Lippen, Wangen und Hals aufzutragen. Darauf folgten die Nägel an Fingern und Zehen. Er schliff sie akkurat und versah auch sie mit einem leuchtenden Rot. Zum Schluss widmete er sich ihren Brüsten und ihrer Scham. Sie sollten eine schöne Ornamentik erhalten, Blumen gleich, so wie sie Mustafa gefielen. Ein dritter Eunuch kämmte ihre Haare, verlieh ihnen Glanz und flocht zwei Zöpfe an den Seiten hinein.

Sabiha ließ die Prozedur geduldig über sich ergehen. So viele Jahre hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, um nun endlich ihrer Bestimmung zugeführt zu werden – eine Hanim, eine Frau und Dame zu werden, denn auf sie war die Entscheidung Mustafa Pashas gefallen und nicht auf die vielen Konkurrentinnen, die zumindest für diese Nacht das Nachsehen hatten. Längst war die Befürchtung verflogen, dass sie sich für ihre Zurschaustellung am Morgen zu verantworten hatte. Dafür war die an ihr vollführte Prozedur zu eindeutig: Die kommende Nacht würde sie das Bett ihres Herrn teilen. Nichts anderes zählte.

Wenngleich sie durch die Berichte der anderen Frauen wusste, was auf sie zukam, so klopfte ihr Herz vor Aufregung. Würde der Wesir zärtlich mit ihr sein, würde sie seinen Erwartungen entsprechen, und würde sie ihn an sich binden können, sodass er sie zu seiner Favoritin machte? Andere, die das nicht geschafft hatten, blieben zeit ihres Lebens vernachlässigt und ihrer Unschuld beraubt im Harem zurück. Auf sie schauten die Frauen mit Spott, aber auch mit Angst.

In sich versunken, ließ sie sich in das nächste Zimmer führen, wo die Ankleiderinnen bereits darauf warteten, ihren Dienst an der Auserwählten zu verrichten. Sie streiften ihr eine dünne, durchscheinende Hose über, die smaragdgrün schimmerte und an den Seiten geknöpft war. Sie reichte hinunter bis zu den Knöcheln und war mit Goldfäden gesäumt. Die Farbe war wohl gewählt, harmonierte sie doch mit ihren leuchtenden blaugrünen Augen.

Die Füße glitten in weiße Sandalen aus dünnem, weichem Leder, das mit Gold bestickt war. Den Oberkörper bedeckte ein ebenfalls smaragdgrünes, kurzes Seidenhemd, das unter den Brüsten gerafft war. Dadurch blieben Bauch und Nabel frei. Doch nur für einen Moment. Eine Ankleiderin verzierte Sabihas Mitte mit einem Rubin, den sie in dieser Größe noch nie zuvor gesehen hatte. Es folgten goldene Reife um die Arm- und Fußgelenke und mit Edelsteinen besetzte Ringe für die Ohren und Finger.

Im schwarzen Haar wurde der Talpotsch befestigt, ein Käppchen, das an der Seite mit Goldfäden verziert war und von dem eine Perlenquaste bis zur Schulter reichte.

Damit war die Arbeit der Ankleiderinnen beendet. Sie entfernten sich stillschweigend. Die Kiajai ging um Sabiha herum und prüfte, ob sie ihren Vorstellungen entsprach. Sabiha blickte derweil regungslos geradeaus, abwartend, ob sie den hohen Ansprüchen genügen würde. Als die Kiajai ihre Runde beendet hatte, trat sie vor Sabiha hin und sprach zu ihr. Allerdings hatte sich ihr Ton grundlegend verändert. Aus der strengen Hofmeisterin schien eine fürsorgliche Mutter geworden zu sein, die ihr Kind in die Hände des Ehemanns gab.

«Wenn Sie nun so weit sind, Hanim», sagte sie, erwartete jedoch keine Antwort. Die Frage war Teil des Rituals.

Sabiha nickte.

Eine Ankleiderin trat hervor und übergab der Kiajai einen dünnen Mantel. Sie warf ihn in einem Zuge um Sabihas Schultern. Damit war ihr Schicksal besiegelt. Von nun an durfte kein Mann, außer Mustafa Pasha, mehr Hand an sie legen.

Eine zweite Ankleiderin reichte der Kiajai den Asmack, den Gesichtsschleier, der am Talpotsch befestigt wurde. Nun konnte der feierliche Zug in die Gemächer des Wesirs beginnen. Unter Harfenklängen und dem Gesang der Mädchen schritt Sabiha an der Seite der Kiajai durch die Räume.

Vor ihr lag eine neue Welt. Wenn sie sich bewies, würde sie für alle Zeit aus ihrem Dasein als Dienstbotin heraustreten und in den Stand einer Herrin wechseln.

Sie betete darum, dass es gelingen möge.

Am Donauufer, im Lager der österreichischen Truppen

Dieser Kriegseinsatz sollte der erste für den Artilleristen Veit Sturm sein. Er war gut vorbereitet und hätte eigentlich um nichts bangen müssen, denn Veit kämpfte in den hinteren Reihen, weit weg vom Kampfgetümmel Mann gegen Mann. Den direkten Blick ins Auge des Feindes überwand er mit gezielten Kanonenschüssen ins fremde Lager, um den Gegner am empfindlichsten Punkt zu treffen – in seiner Kommandozentrale. Denn wer nicht wusste, auf welchen Befehl er wohin zu gehen hatte, war ein umherirrendes Lamm unter Wölfen.

Nicht dass Veit ein Feigling war, aber er wusste um die Bedeutung seines Könnens, wenn er mit einem einzigen Schuss viele tausend Feinde der Vernichtung preisgab. Das hatte etwas Mächtiges, etwas seinen Stand als Gemeiner Sprengendes. Durch diese Fertigkeit schloss er zu den hochgestellten Offizieren auf, die ansonsten nur Hochmut und Missachtung für ihn übrighatten.

Nun stand er im tiefen Morast und blickte dem Feind direkt in die Augen. Die vielen kleinen Wachfeuer vor den Befestigungen der Stadt schimmerten, als würden sich dahinter ebenso viele rachsüchtige Türkenfratzen verbergen, bereit, ihn um die wohlverdiente Kriegsbeute zu bringen. Seit Tagen beschoss er diese Stadt, ohne einen durchschlagenden Erfolg erzwungen zu haben. Viele seiner Kanonenkugeln hatten ihre Ziele zweifellos getroffen – dafür bürgten unzählige lodernde Feuer, geborstene Wälle und das markdurchdringende Todesgeschrei jenseits der Mauern. Aber den entscheidenden Todesstoß für die rund dreißigtausend Mann starke türkische Besatzung, die sich kurz vor Eintreffen der kaiserlichen Truppen noch mit Proviant für gut drei Monate hatte versorgen lassen, diesen Todesstoß hatte er bisher nicht führen können. Das ärgerte ihn maßlos.

Von hinten hörte er ein Geräusch. Seine Hand fuhr zum Säbel.

«Wer da?!», rief er in die dunkle Uferböschung.

Aus einer Wolke blutgieriger Stechmücken trat ein blonder Mann hervor, groß in der Gestalt und den Waffenrock offen tragend. In ihm erkannte Veit seinen Stückjunker Balthasar Neumann. Die Hand wich vom Säbel, und die Hacken seiner Stiefel hätte er zum militärischen Gruß zusammengeschlagen, wäre es in diesem vermaledeiten Sumpf möglich gewesen.

Neumann schmunzelte bei dem erfolglosen Versuch der Ehrerbietung. «Lass gut sein, Veit. Wir sind auf dem Schlachtfeld und nicht auf dem Kasernenhof. Was machst du hier draußen?»

Veit wusste nicht, was er darauf antworten sollte, denn die Feindaufklärung gehörte wahrlich nicht zu seinen Aufgaben.

«Der Türke lässt dir wohl keine Ruhe», sagte Neumann aufmunternd, während er auf die Festung Kalemegdan hinüberblickte. «Ist es das?»

Veits Kehle schien wie zugeschnürt. Dass ein Offizier das Gespräch mit einem einfachen Soldaten suchte, befremdete ihn, wenngleich dieser Neumann von anderem Kaliber war als die restlichen Truppführer. Er ließ jede Distanz und auch den Hochmut vermissen, den die Offiziere sonst an den Tag legten. Vielleicht lag es daran, dass er einer von ihnen und nicht von edlem Blut war.

 

An einem Frühlingstag vor sechs Jahren war der junge Neumann nach Würzburg gekommen, mit nichts anderem als einem Wanderpäckchen auf dem Rücken. Der Torwache hatte er zur Auskunft gegeben, sein Name sei Balthasar Neumann, vierundzwanzig Jahre alt, und seine Heimatstadt sei Eger in Böhmen. Er habe dort als Sohn eines Tuchhändlers das Handwerk eines Glocken- und Geschützgießers erlernt, ferner habe er den Lehrbrief eines Büchsenmeisters und eines Ernst- und Lustfeuerwerkers in seinem Säckchen, und wenn das für den Einlass noch immer nicht reiche, dann führe er seine Mutter, eine geborene Grassold aus Würzburg, an. Nun sei er auf dem Weg zur Gießhütte des Ignaz Kopp, wo er seine Fertigkeiten vervollkommnen wolle.

Die Torwache ließ ihn passieren, und es dauerte nicht lange, bis der eifrige Geselle dem Ingenieurhauptmann und Architekten Andreas Müller auffiel. Dieser Bursche verfügt über ein seltenes Talent, sagte er über ihn. Wenn er sich wissenschaftliche Vorbildung erwerben kann, dürfte er ein großer Mann werden.

Durch dieses Lob angespornt, nahm Neumann Unterricht in Geometrie, Feldmesserei und Architektur; denn er wollte werden, was sein Gönner ihm prophezeite: ein berühmter Ingenieur und Architekt. Zeichnen und Bauen konnte er in großem Umfang aber nur auf Geheiß der Mächtigen, und das war in allen Fällen der Fürstbischof – neben seiner Berufung als oberster Glaubenshüter im Hochstift Würzburg auch der Befehlshaber der Truppen. Der gottesfürchtige Neumann zeigte allerdings wenig Begeisterung für die Karriere eines Geistlichen, und so trat er in die fürstbischöflichen Truppen ein, wo er sich schnell in den Rang eines Stückjunkers hochdiente.

Ja, das war Balthasar Neumann. Ein umherwandernder und mittelloser Handwerksbursche, der mit Talent gesegnet war und nicht eher ruhte, bis er das Ziel seines Wegs erreicht hatte. Dieser Neumann war der Leuchtturm an einer Küste, die für einen Gemeinen wie Veit unerreichbar war. Und dennoch ließ sich Veit von dessen Licht leiten, denn wenn es Neumann geschafft hatte, dann gab es Hoffnung. Und dieser Hoffnung würde er auf die Sprünge helfen, hier und jetzt in diesen verseuchten Donauauen vor Belgrad. Denn jeder tote Türke war ein Schritt hinauf zum Offizier.

 

Noch immer hatte der einfache Soldat Veit Sturm die Frage seines Stückjunkers Balthasar Neumann nicht beantwortet. Er überlegte gut, was er nun sagen sollte.

«Diese Burg gilt als uneinnehmbar.»

«So heißt es», erwiderte Neumann, der ahnte, dass dieser junge Soldat weiter dachte als bis zum nächsten Kanonenschuss. «Was gedenkst du dagegen zu unternehmen?»

Veit nahm sich auch für diese Antwort Zeit. Er blickte hinüber zum Berg, auf dem die Festung Kalemegdan thronte. «Man müsste mehr über sie erfahren.»

Neumann nickte zufrieden. Er hatte sich in dem jungen Veit nicht getäuscht. Das war genau die Antwort, die er erwartet hatte. «Nur wer weiß, wo sein Ziel ist, kann auch den Weg dorthin finden. Merk dir das gut. Das gilt für alles im Leben.»

Er legte väterlich seinen Arm auf Veits Schulter. «Komm mit zurück ins Lager. Es ist spät, und ich brauche einen ausgeschlafenen Kanonier, wenn wir morgen dem Türken Feuer unter dem Allerwertesten machen.»

Doch wie wollte er das anstellen?, fragte sich Veit. Bisher hatte das Trommelfeuer aus über zwanzig Kanonen, ebenso vielen Feuerschlangen und rund fünfzig Mörsern zwar viel Schaden in der Stadt angerichtet, aber der entscheidende Schlag war ihnen damit nicht geglückt. Der Türke saß noch immer auf der Festung Kalemegdan, und so, wie es aussah, würde er dort auch bleiben, bis ihnen die Munition ausgegangen war.

Die Feuer des Lagers tauchten vor ihnen auf, als Veit glaubte, sein Offizier könne Gedanken lesen. «Mach dir keine Sorgen», sprach Neumann, «ich habe eine Idee, und dafür brauche ich deine Hilfe. Allein schaffe ich das nicht.»

Veit glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Neumann bat ihn, den Hilfskanonier Veit Sturm, um Hilfe. Er hätte aus hundert anderen wählen können, und ein jeder hätte sich geehrt gefühlt, aber er nahm stattdessen ihn.

«Ich bin für alles bereit», antwortete er.

«Gut, dann komm mit. Es gibt einiges zu besprechen. Aber ein Spaziergang wird es nicht. Das ist dir doch bewusst?»

«Sicher, sonst hättet Ihr auch gleich einen anderen nehmen können.»

Neumann klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und führte ihn in sein Zelt. Dort lag auf einem kleinen Feldtisch Kartenmaterial. Er rollte es auf und weihte Veit in seinen geheimen, waghalsigen Plan ein.

Was Neumann ihm da unterbreitete, war ein Abenteuer, das Mut, Kaltschnäuzigkeit und Todesverachtung verlangte. Wenn es glückte, und dafür standen die Zeichen nicht schlecht, dann wäre die Schlacht um Belgrad geschlagen, und der Wesir müsste gesenkten Hauptes an den Bosporus zurück. Die Reichshauptstadt Wien würde damit vor einer erneuten Belagerung durch eine türkische Streitmacht verschont bleiben.

***

Veit traute diesem János nicht.

Nach dem Fall von Temesvár hatte sich der undurchsichtige Ungar unter die abziehenden Türken gemischt und ihnen seine Treue versichert. Mit Befehlen des Großwesirs war er nach Belgrad geschickt worden, um dem dort eingekesselten Mustafa Pasha mitzuteilen, dass Hilfe unterwegs war.

Bei Sturm und Regen lief er jedoch ins gegnerische Lager über und bot seine Informationen Prinz Eugen an. Der war nicht minder misstrauisch als Veit gewesen, schenkte ihm aber letztlich Glauben. Zu ungeheuerlich waren die Neuigkeiten, die er brachte. Ein türkisches Heer von zweihunderttausend Mann Stärke war auf dem Weg nach Belgrad, um den eingeschlossenen Brüdern zu Hilfe zu eilen. In weniger als einer Woche sollte es Kalemegdan erreicht haben. Damit stünde den siebzigtausend Mann auf Seiten des Kaisers mehr als die dreifache Anzahl Türken gegenüber. Türken, die für die verlorenen Schlachten bei Temesvár und Peterwardein auf Rache sannen. Niemand, auch nicht der zuvor gegen die Kaiserlichen opponierende János, hätte das erfinden können.

Nun war Eile geboten. Wenn die türkische Übermacht aufmarschiert war, fochten die Kaiserlichen einen Zweifrontenkrieg – auf der einen Seite die dreißigtausend Mann in Belgrad und im Rücken die zweihunderttausend des Chalil Pasha. Damit wären sie eingeschnürt und von jedem Nachschub abgeschnitten. Wenn sie überleben wollten, mussten sie jetzt handeln.

Veits kommandierender Offizier, der Stückjunker Balthasar Neumann, ließ sich von János den Weg in die Stadt erklären. Dabei deutete er auf die von ihm selbst angefertigte Karte. Der Dauerbeschuss der letzten Tage hatte auf der von Donau und Save abgewandten Seite ein Loch in die Befestigungen gerissen, das von den Türken nur unzureichend ausgebessert worden war. Bei passender Gelegenheit wäre es für ein oder zwei Mann möglich, hindurchzuschlüpfen und den Weg hinauf zum Kalemegdan zu finden.

«Was ist mit den Wachen?», fragte Neumann misstrauisch.

János winkte ab. Die Truppen seien in schlechter Verfassung, seit der Belagerung unzureichend verpflegt und nicht bei der Sache. Ihr Ungehorsam den Offizieren gegenüber habe sich bis nach Adrianopel herumgesprochen und bereite dem Großwesir große Sorgen. Lediglich vor den Janitscharen, dem Söldnerheer des Sultans, habe er sich in Acht zu nehmen. Deren Lager befände sich jedoch weit weg von der Stelle, die er als Zugang in die Stadt ausgewählt hatte.

«Wird er uns begleiten?», fragte Veit unvermittelt in die Stille, die Neumann für die Abschätzung ihrer Chancen auf das Gelingen nutzte. Die Frage ging an János vorbei und richtete sich an Neumann. Doch statt seiner antwortete der Überläufer.

«Ich bringe Euch bis an die Mauern. Alles Weitere müsst Ihr allein bewerkstelligen.»

Veit machte keine Anstalten, János Aufmerksamkeit zu schenken. Einzig, was sein Stückjunker sagte, hatte für ihn Gewicht.

«Wir gehen allein», entschied Neumann.

«Und wenn es eine Falle ist?», fragte Veit unverhohlen.

János’ Hand schnellte zum Gürtel, dort, wo er einen kurzen Türkendolch trug. «Will der mich einen Verräter schimpfen?», fragte er aufbrausend.

«Beruhigt euch», befahl Neumann und führte János’ Hand zurück auf den Tisch. «Wenn wir nicht zurückkommen, wird ein anderer über Wahrheit und Lüge zu entscheiden wissen. Bis dahin haben wir keine Zeit zu verlieren.»

Wie besprochen führte János Neumann und Veit bis an die Mauer. Auf dieser Seite der Befestigungsanlage herrschte eine verdächtige Ruhe. Der leuchtende Halbmond warf sein Licht auf ein baumdickes Loch, das eine fehlgeleitete Kanonenkugel gerissen haben musste, so weit war es von dem eigentlichen Ziel des Kalemegdan entfernt.

Neumann, Veit und János lagen im hüfthohen Gebüsch und beobachteten den Mauergrat. Alle zwei Minuten kontrollierte eine Wache diesen Abschnitt, bevor sie zum nächstgelegenen Wachturm weiterging. Diese kurze Zeit mussten sie nutzen, um das auf Kopfhöhe gelegene Loch zu erreichen und zu überwinden. Wie es dahinter aussah, wussten sie nicht.

Veit war bei dem Gedanken, sich auf das Wort eines Verräters zu verlassen, nicht wohl zumute. Er schaute seinen Stückjunker zweifelnd an.

«Nur Mut», flüsterte dieser und schickte János zurück ins Lager. «Wenn der Mond hinter der Wolke verschwindet, wollen wir es wagen», sagte er und deutete dabei auf die Schlieren einer dünnen Wolkenschicht, die allmählich das Licht von dem freien Feld, das vor ihnen lag, nahm.

Veit hätte nur zu gern seinen Stückjunker von dem wahnwitzigen Unterfangen abgehalten. Woher nahm Neumann nur diese Gewissheit, dass sie jenseits der Mauer nicht von türkischen Krummsäbeln aufgespießt würden?

Für weitere Zweifel fehlte die Zeit. Eine Wolke schob sich vor das verräterische Licht. Die Wachen konnten sie nun nicht mehr sehen. Allein ihre Schritte würden ihnen verraten, ob sie den Sprung hinüber zur Mauer wagen konnten.

Gespannt horchten sie in das Halbdunkel hinein. Da kamen sie. Ruhig und leise, ohne den geringsten Verdacht, ihre Schritte wurden heller und verblassten alsbald wieder. Jetzt galt es. Neumann erhob sich, und Veit folgte ihm die wenigen Schritte hinüber zur Mauer. Geduckt huschten sie wie Diebe in der Nacht über das freie Feld.

Mit dem Rücken zur Wand stellte sich Neumann hin und baute mit den Händen für Veit eine Räuberleiter. Er nahm sie mit Leichtigkeit, drückte sich hoch bis ans Loch und spähte hinein. Da glomm ein Feuer, drum herum zwei Körper, die zu schlafen schienen; ihre Waffen an der Seite für den unmittelbaren Zugriff bereit. Zur Linken eine Hütte, verlassen und unverdächtig. Auf der rechten Seite stand ein Karren.

Veit spürte einen Druck an seinem Fuß. Ohne dass er einen weiteren Gedanken auf das feindliche Terrain verschwenden konnte, schob es ihn in das Loch hinein. Er streckte seine Hand nach unten, die Neumann ergriff. Was hätte Veit darum gegeben, wenn sein Stückjunker nur nicht so schwer gewesen wäre. Es schien ihm, als würde er ihn geradewegs wieder zurückziehen – er hätte wahrlich nichts dagegen gehabt.

Neumann zwängte sich durch die schmale Öffnung. Ein rascher Blick hinüber zu den beiden Schlafenden, und schon betrat er Feindesland. Keinen Augenblick zu spät, denn die Wache näherte sich. Ihre Schritte wurden lauter und bedrohlicher. Veit huschte hinüber zu einem Karren und schob sich unter die Ladefläche, Neumann tat das Gleiche.

Sie harrten aus, bis die Schritte verklungen waren. Dann gingen sie los, die Mauer entlang, so wie János es ihnen beschrieben hatte. Ihr Weg führte sie vorbei an niedergebrannten Hütten, stinkenden Kloaken und achtlos aufgetürmten, verwesenden Leibern. Auch wenn sie von Gerüchten gehört hatten, dass es um den Willen zum Durchhalten schlecht bestellt war, so konnten Neumann und Veit kaum glauben, wie miserabel es um die Stadt und ihre Bürger tatsächlich stand. Auf dieser Seite der Front war das blanke Entsetzen zu Hause. Hunger, Krankheit und Elend begleiteten sie auf ihrem Weg den Hügel hinauf, wo sich die Festung Kalemegdan befand. Türken wie Serben hätten um jede Stunde froh sein müssen, die ihnen weiteres Leid ersparte.

Noch immer wollte sich Veits Unbehagen nicht legen. Viel zu einfach war es ihnen gelungen, die Mauer und die Wachen zu überwinden, den langen Weg durch die Stadt unbemerkt zu nehmen und jeder erwarteten Konfrontation mit dem Feind zu entgehen. Sein Gefährte Neumann teilte diese Zweifel nicht. Er vertraute auf die Gunst der Stunde und ging unerschrocken voran.

Als sie den inneren Wall der Festung erreicht hatten, änderte sich das Bild. Der Gestank der unteren Stadt war verflogen. Stattdessen meinte Veit, in einem Garten voller Rosen zu stehen. Ihr Duft erfüllte die Nacht zu allen Seiten.

«Wir nähern uns dem Palast», flüsterte Neumann und zeigte auf eine Brücke, die den Festungsgraben überspannte und sie zum Ziel ihres Unternehmens bringen würde.

Doch wie sollte das gelingen? Am Tor standen zwei Wachen, auf den Zinnen patrouillierten weitere, und jenseits der Festungsmauer waren noch mehr Wachen zu erwarten. Veits schlechtes Gefühl schien sich zu bewahrheiten. János hatte sie geradewegs in die Arme des Feindes geführt. Von hier aus gab es kein Vor und kein Zurück. Sie saßen in der Falle.

Weshalb blieb Neumann so ruhig, fragte er sich. Statt nach einem Ausweg aus der verzwickten Lage zu suchen, legte er sich im Schutz der Nacht hinter eine Mauer und wartete.

«Herr», flüsterte Veit besorgt, «lasst uns schnell verschwinden, bevor uns eine Wache entdeckt.»

Doch Neumann dachte nicht daran. Er legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen.

So verging eine Stunde und eine weitere, bis sich die Lage im Donner eines Geschützes grundlegend änderte. Veit hörte das schrille Pfeifen des anfliegenden Geschosses und warf sich, die Hände schützend über den Kopf gelegt, der Länge nach hin. Wie unsinnig das war, dachte er im selben Moment, denn wenn das Geschoss in der Nähe einschlug, dann würden ihm die umherschwirrenden Gesteinssplitter ohnehin den Leib zerfetzen und die Druckwelle die Adern zerreißen.

Veit wähnte sich im Glück, als das Pfeifen über ihnen verebbte und der Einschlag weit hinter den Festungsmauern ertönte. Die Erleichterung währte nicht lange. Ein zweites Geschoss war im Anflug. Dieses Mal machte es nicht den langen Weg, sondern schlug zu Füßen des Festungshügels ein.

Mit bebender Stimme richtete er das Wort an seinen Stückjunker: «Wer schießt da auf uns?»

«Die unsrigen. Wer sonst?», antwortete Neumann überraschend gut gelaunt.

«Aber warum?»

«Deshalb», erwiderte Neumann und wies ihn an, das Treiben auf der Festungsmauer zu beobachten.

Unsicher richtete sich Veit auf. Die Wachen waren durch den unerwarteten Beschuss bei Nacht in helle Aufregung versetzt worden. Sie rannten ziellos umher und suchten sich, ähnlich wie Veit, vor den tödlichen Geschossen in Sicherheit zu bringen. Die Torwachen machten keine Ausnahme. Im Schutz der dicken Festungsmauern suchten sie ihr Heil.

Neumann verfolgte den Beschuss aufmerksam. Entweder zu kurz oder zu lang geriet das Feuer der Kanonen. Von den Ufern der Donau und der Save aus hatten die Kanoniere keinen Einblick in die hochgelegene Festung Kalemegdan, und genau das galt es mit ihrem Besuch zu ändern.

Veit beäugte am Boden kauernd Neumann, wie er jeden Schuss aufmerksam verfolgte. Nun dämmerte es auch ihm, warum sein Stückjunker diesen gefährlichen Ausflug in Feindesland unternommen hatte. Sie leisteten Aufklärungsarbeit. Noch bevor Veit es wagen konnte, seinen verehrten Offizier auf die möglichen Folgen dieses Unterfangens hinzuweisen, erhob der sich.

«Los jetzt», sagte er, «das ist der rechte Zeitpunkt.»

«Wohin wollt Ihr, Herr?», rief Veit, doch seine Frage erreichte Neumann nicht mehr.

Geradewegs rannte er auf die Brücke zu, während über ihnen die Kanonenkugeln pfiffen.

Veit zögerte nun auch nicht mehr und nahm die Verfolgung auf. Das laute Stapfen ihrer Schritte auf den Holzplanken der Brücke verlor sich im dumpfen Dröhnen der Geschosse, die ringsum einschlugen, nur nicht im Innenhof der Festung – dem eigentlichen Ziel.

Am Tor angekommen, blickten sie auf das vor ihnen liegende Gelände. Da war der lange wuchtige Bau, den Neumann nach János’ Beschreibung als Palast des Wesirs ausmachte, dort konnten sie die Stallungen und die Gerätehäuser erkennen. Zwischen weiteren Gebäuden und der Festungsanlage liefen die Wachen aufgeregt umher.

Veit klebte sich an die Fersen seines Stückjunkers, der offenbar genau wusste, wohin er wollte. Im Schutz der Nacht und des allgegenwärtigen Chaos hielt er auf den großen Bau zu, dessen Fenster hell erleuchtet waren. Auch wenn bisher alles gutgegangen war, so musste ihr Glück nicht ewig währen, dachte Veit und rief Neumann zu, sich von dem wahrscheinlich gutbewachten Palast fernzuhalten. Doch Neumann hörte nicht, bis sie die Mauern des Palastes erreicht hatten.

Nun endlich schien er ein Einsehen zu haben und ging hinter einer Säule in Deckung. Außer Atem tat es ihm Veit gleich.

«Herr, ich verstehe nicht», sagte er geradeheraus, doch Neumann schnitt ihm das Wort ab.

«Still», befahl er. «Wir haben nicht viel Zeit. Geh du nach links, ich nehme die andere Seite.»

«Was soll ich tun?», fragte Veit.

«Halte Ausschau nach allem, was wir für das rechte Maß unserer Kanonen gebrauchen können.»

«Aber es ist Nacht und …», widersprach Veit.

Zu spät. Neumann hatte sich bereits davongemacht. Nach wenigen Schritten verlor sich seine Gestalt in der Dunkelheit.

Da saß er nun, mit dem Rücken an der Pforte des Feindes, und wusste nicht, was er machen sollte. Sein Herr hatte ihn verlassen. Nie und nimmer könnte er es allein aus dieser Festung zurück ins sichere Lager schaffen. Wenn das Tageslicht anbrach, würden sie ihn wie einen Hammel aufspießen und über dem Feuer braten. Wenn er Glück hatte, verlor er schnell seinen Kopf, und das befürchtete Martyrium bliebe ihm erspart.

Aber so weit war es noch nicht. Er musste nur schnell sein, nicht nach links oder rechts schauen, sondern den Hügel hinunterrennen, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Niemand vermutete in diesem Durcheinander den Feind in den eigenen Reihen.

Veit erhob sich, bereit, seinen offenbar vom Teufel besessenen Stückjunker dem Schicksal zu überlassen, als er Geräusche hörte. Sie drangen durch ein Fenster aus dem Inneren des Palastes an sein Ohr, eine Musik, so fremd und eigenartig, wie er sie noch nie gehört hatte.

Er sah ein Mädchen mit seidig glänzenden schwarzen Haaren, die ihm bis zu den nackten Schultern reichten. In seinen Augen funkelte ein Grün, nein, ein grünes Blau, das Veit in dieser Pracht niemals zuvor gesehen hatte. Ihr Mund war rot und wohl geformt, die Zähne leuchteten so weiß wie der Schnee in seiner Heimat. Dieses Geschöpf war nahezu unbekleidet, die kleinen Brüste schimmerten durch den dünnen Stoff.

Veit verfolgte jede Bewegung ihrer Hüften mit stockendem Atem. Nicht anders erging es dem Mann, den er nun erblickte. Er saß zurückgelehnt auf großen Kissen, die mit feinstem Faden bestickt waren. In seinen Augen brannten Leidenschaft und Hingabe, seine Lippen, versteckt hinter einem langen schwarzen Bart, verlangten nach der Vereinigung mit der Schönen. Diese junge Frau spielte ein Spiel mit ihm, das ihm gut bekannt war und das er nun auf dem Höhepunkt seines Verlangens nicht länger hinauszögern wollte. Ein Wink seiner mit Ringen und Edelsteinen geschmückten Hand befahl sie herbei.

«Komm zu mir», flüsterte Mustafa Pasha.

Doch die Schöne gehorchte ihm nicht. Sie ging stattdessen neben einem kleinen Tisch in die Knie, auf dem eine verzierte Silberkanne mit einer ebenfalls silbernen Tasse stand. Sie schenkte daraus eine schwarzbraun schimmernde Flüssigkeit ein und reichte die Tasse ihrem Herrn.

«Möge der Caffee Eure Lenden stärken.»

Sie blickte dabei zu Boden, wie es sich geziemte. Mustafa Pasha nahm die Tasse, schlürfte und genoss das aromatische Getränk.

Sabiha tanzte indes weiter. Der Caffee würde eine kurze Zeit brauchen, um die erwünschte Wirkung zu entfalten. So lange wollte sie ihr Spiel um Verführung und Verweigerung fortführen. Doch Mustafa Pasha hatte andere Pläne. «Komm her. Ich befehle es dir», sprach er, jedoch ohne jegliche Schärfe in seinen Worten.

Nun endlich leistete Sabiha der Aufforderung Folge. Sie kniete zu seinen Füßen, senkte das Haupt und wartete auf die nächste Anweisung, als sich jemand an der Tür bemerkbar machte.

Mustafa Pasha reagierte ungehalten. «Was ist?!»

Die Tür öffnete sich, und ein Diener trat in unterwürfig gebeugter Haltung ein.

«Herr, die Janitscharen melden feindliche Bewegungen», sagte er furchtsam, wohl wissend, dass er den denkbar ungeeignetsten Moment für das Überbringen der Nachricht gewählt hatte. «Was sollen wir tun?»

Mustafa Pasha war der Frage überdrüssig. «Nichts, und jetzt lass mich allein.»

Der Diener verharrte ängstlich im Raum. «Aber, Herr, sie schießen auf uns.»

«Ich habe es gehört, und sie schießen heute schlechter denn je. Und jetzt geh, bevor ich dir den Kopf abschlagen lasse.»

Gebeugt, wie er gekommen war, verließ der Mann die Gemächer. Mustafa Pasha widmete sich wieder der Schönen zu seinen Füßen. «Nun komm zu mir.» Er breitete die Arme aus. Diesmal rechnete er nicht mit Widerstand.

Sabiha war alarmiert. Wenn sie in den Jahren der Ausbildung im Serail des Sultans etwas über die Kriegskunst gelernt hatte, dann war es, niemals am Urteil der Janitscharen zu zweifeln. Sie waren die treuesten und am besten ausgebildeten Soldaten des Reiches. Das Leben des Sultans, und mit ihm das Leben aller, lag in ihren Händen. Wenn die Janitscharen in Sorge gerieten, drohte unmittelbar Gefahr.

«Mein Herr», sagte Sabiha, «darf ich sprechen?»

Verwundert, aber neugierig willigte er ein.

Sabiha hob den Kopf. Ihr Blick offenbarte Entschlossenheit, jedoch auch Respekt. «Verzeiht meine Dreistigkeit, aber Eure Soldaten erwarten Euch», sagte sie zart, um jeden Anschein einer Belehrung zu vermeiden.

Im Nu wich die Leichtigkeit der Verärgerung. Mustafa Pasha richtete sich unvermittelt auf. «Wer ist der Herr in diesem Haus?»

«Ihr und niemand anderes», antwortete Sabiha beflissen.

«Wieso glauben meine Diener, mir sagen zu müssen, was ich zu tun habe?»

Sabiha ging nicht auf die Vorhaltung ein. Stattdessen beharrte sie, mit allem gebotenen Respekt, auf ihrer Bitte. «Die Soldaten erwarten Eure Befehle, um drohende Gefahr von diesem Palast abzuwenden.»

Missmutig erhob er sich, zupfte seine Kleidung zurecht und stellte sich hinter Sabiha, die nach wie vor am Boden kniete. «Ich bin vor dir gewarnt worden», begann er. «Du seist ein eigensinniges, widerspenstiges und freches Ding.»

Sabiha konnte sich gut vorstellen, wer dieses Urteil über sie gefällt hatte. Die Kiajais hatten sich untereinander verständigt.

«Du hast einen reizenden und noch dazu klugen Kopf», fuhr er fort, «dem jedoch kein langes und friedliches Leben auf seinen Schultern beschieden sein wird. Sprich offen, wieso ich mich dieses unerwartet großzügigen Geschenks des Sultans erfreuen darf. Ist der Sultan meiner überdrüssig? Bist du die Schlange in meinem Haus?»

Sabiha war sich des Ernstes der Frage bewusst. Es war kein Geheimnis, dass Haremsdamen, die verdienten Untertanen zum Geschenk gemacht wurden, ein enges Verhältnis zum Herrscherhaus behielten. Sie waren das diskrete Ohr in den fernen Schaltzentralen des Reiches. Wann immer sich Unmut regte oder gar Ränke geschmiedet wurden, so erfuhr der Sultan über seine reizvollen Geschenke schnell davon.

«Glaubt mir», sprach Sabiha, «nichts von dem, was mir nachgesagt wird, trifft zu.»

«Du lügst», entgegnete Mustafa Pasha. «Du bist zweifellos hübsch und talentiert. Ich frage mich nur, ob du auch so dumm bist, zu glauben, ich könnte dir trauen.»

Sabiha brannte eine Erwiderung auf der Zunge, doch sie beherrschte sich.

Mustafa Pasha setzte sich in die Kissen. «Was hattest du heute Morgen am Fenster zu suchen?»

Sabiha öffnete die Augen. «Ich blickte hinunter auf den Feind.»

«Und, hast du ihn gesehen?»

«Ja, Herr.»

«Macht er dir Angst?»

«Nachdem Temesvár und Peterwardein gefallen sind: ja, mein Herr.»

Mustafa Pasha merkte auf. «Was weißt du darüber?»

Alles, wollte sie ihm entgegnen, doch sie schwieg. Sie hätte sonst die Quelle ihrer Informationen preisgeben müssen und damit ihre Koranleserin und Freundin dem Tod übereignet. Die Koranleserin pflegte gute Kontakte jenseits des Harems und wusste über alles Bescheid, was sich im Reich tat und welche Gerüchte im Umlauf waren.

«Nur, was man sich am Hof davon erzählt», antwortete Sabiha.

Mustafa Pasha reagierte nervös. «Was wird dort gesprochen?»

«Man fürchtet eine erneute Niederlage. Im Volk gärt die Unzufriedenheit. Niemand ist mehr sicher …»

Sabihas Ausführungen wurden durch mehrere Schüsse unterbrochen, die wegen ihrer Lautstärke aus unmittelbarer Nähe kommen mussten.

Mustafa Pasha sprang auf, Sabiha sah zum Fenster. Dort erblickte sie das Gesicht eines jungen Mannes im Waffenrock der Ungläubigen.

Veit schaute dieser wunderschönen jungen Frau direkt in die blaugrünen Augen. Sein Herz stockte, sodass ihm der Aufruhr in seiner nächsten Umgebung beinahe entging. Schüsse pfiffen, und aufgeregte Kommandos wurden gerufen. Aus dem Dunkel rannte eine Gestalt auf ihn zu. Er griff nach seiner Pistole.

«Nimm die Beine in die Hand», rief Balthasar Neumann und schlug einen Haken, um den türkischen Musketenkugeln zu entkommen.

Veit war wie erstarrt. Doch als auch in seiner Nähe die Kugeln Löcher in die Mauern rissen, setzte er sich in Bewegung. In schnellen und weiten Schritten lief er Neumann hinterher.

Sabiha blieb allein am Fenster zurück. Sie spürte, dass dies der Anfang vom Ende war.

«Ein Schatz ist geborgen.»

Johann Philipp Franz von Schönborn

Fürstbischof von Würzburg

1719 bis 1724