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Inhalt

1 Alles ist anders
Berlin–Antwerpen

2 »Hello, Mr. Wigge«
Antwerpen–Montreal

3 Cookies in Canada
Montreal–Niagara

4 »Go West, young Man«
Cleveland–Ohio

5 Weltreise in Amerika
Albuquerque

6 Keine Geschenke im Wilden Westen
Las Vegas

7 Everybody has a Dream
Los Angeles

8 Kissenschlachten für Fortgeschrittene
San Francisco

9 Trouble in Paradise
Hawaii

10 Auf der Flucht vor Dr. Glück
Costa Rica–Panama

11 Katarinas Katamaran
Kolumbien

12 Mein Leben als Peruaner
Peru–Bolivien

13 Ein Königreich für ein Meerschweinchen
Bolivien

14 Der Mann ohne Gesicht
Chile

15 Sex and Drugs and Krümelmonster
Buenos Aires–Feuerland

16 Das Ende der Welt
Antarktis

1 Alles ist anders
Berlin–Antwerpen

Es ist der 21. Juni, der längste Tag des Jahres. Das sagt nicht nur der Kalender, ich spüre es am eigenen Körper. Seit über drei Stunden stehe ich an einer Autobahnauffahrt und versuche, weiter in Richtung Köln zu kommen. In fünf Monaten will ich es ohne einen Cent in der Tasche von hier bis in die Antarktis geschafft haben. Bei 35000 Kilometern zurückzulegender Distanz finde ich »Ende der Welt« einen passenden Namen für mein Ziel. Aus meinem Bekanntenkreis gab es die unterschiedlichsten Rückmeldungen bezüglich meines Trips. Die Meinungen reichten von »Cool!« (bester Kumpel), über »Apropos ohne Geld. Wie sieht es denn eigentlich mit Ihrem Dispo aus, Herr Wigge?« (Kundenberater meiner Bank) bis hin zu »Hmmm. Wenn du runtergehst, nimmste bitte den Müll mit!« (Mitbewohnerin). Aber auch damit lebe ich gut. Zumindest dachte ich das bis heute.

Der 21. Juni ist auch der heißeste Tag des Jahres, zumindest kommt es mir so vor. Die Hitze lässt mich zusätzlich zu der Ausrüstung auf meinem Rücken noch mehr schwitzen. Aber nicht nur die Sonne lacht. Mein Pappschild mit der Aufschrift »Ende der Welt« lässt jedem der vorbeifahrenden Autofahrer ein Lächeln über das Gesicht huschen. Ob es freundlich, mitleidig oder hämisch gemeint ist, ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Mein Gehirn käst unter der Sonnenhitze, und ich bin mit meinen Gedanken bereits in der weitaus kühleren Antarktis. Irgendwann rauscht das 2420. Auto an mir vorbei. Ich habe nachgezählt, dass jede Minute circa elf Autos an mir vorbeifahren. Macht bei 220 Minuten 2420 Autos. Glaubt man dem »Lonely Planet«-Reiseführer, gilt Deutschland als »tramperfreundliches« Land. Ein Druckfehler, da bin ich mir sicher.

Gerade als ich mit dem Gedanken spiele, mich an die entgegengesetzte Auffahrt zu stellen und wieder zurückzutrampen, hält ein roter Kastenwagen. Das Fahrerfenster kurbelt sich herunter, und eine männliche Stimme raunzt mir entgegen: »Willste mit, oder wat?«

Nun sitze ich also auf dem Rücksitz von Arndt und Marius, die gerade von einem Parteitag der Linken aus Berlin kommen. Nichts kann mich jetzt auf meinem Weg nach Köln noch aufhalten. Fast nichts: Meine Blase drückt, und ich muss aufs Klo. Als Marius an einem Rastplatz hält, renne ich so schnell ich kann zur Herrentoilette, werde aber kurz vor dem Ziel erbarmungslos ausgebremst. Der Zugang wird von einem Drehkreuz versperrt, und das lässt sich nur mit 50 Cent überwinden. Vor der Reise habe ich mir alle Szenarien überlegt, wie ich umsonst esse, schlafe und reise, aber nicht, wie ich kostenlos pinkeln kann. Eigentlich sollte so etwas doch kostenlos sein. Ich entdecke eine Klofrau und versuche, mit meinem Charme ans Ziel zu kommen. »Verzeihen Sie, ich müsste sehr dringend Ihre Toilette benutzen. Leider habe ich überhaupt kein Geld«, lege ich mein Schicksal in ihre Hände. »Dann geh arbeiten!«, sagt sie ungerührt. »Bitte. Es ist ein Notfall!«, versuche ich es noch einmal, aber sie beharrt auf ihrem Standpunkt. Nichts zu machen. Also bleibt nur die Notlösung.

Sehr erleichtert gehe ich aus dem angrenzenden Gebüsch der Raststätte zurück zu Marius und Arndt. Als ich ihnen von meinem Erlebnis erzähle, fühlen sie sich in ihrem Klassenkampf bestätigt. »So etwas gäbe es im Sozialismus nicht!«, wettert Marius. Vielleicht hat er recht, denke ich. Vielleicht ist nicht alles schlecht im Sozialismus.

Endlich kommen wir in Köln an. Die Stadt, in der ich sechs Jahre gelebt und gearbeitet habe, ist die erste Station auf meiner Reise. Von hier aus geht es weiter nach Belgien, von wo mich ein Containerschiff über den Atlantik nach Kanada bringen wird. Da das Schiff erst in fünf Tagen in See stechen wird, kann ich den Zwischenstopp nutzen, um ein paar alte Freunde zu besuchen. Nicht ganz ohne Hintergedanken, denn auf diese Weise kann ich die nächsten Nächte umsonst übernachten. Hardy wohnt mit seiner Freundin in einem Schrebergartenhaus an der Stadtgrenze. Als ich bei ihm an der Wohnungstür klingele, freut er sich, mich wiederzusehen, und bietet mir sein Sofa als Übernachtungsmöglichkeit an.

Während ich ihm von den Ereignissen meines ersten Tages erzähle, wird meine Stimme von meinem Bauch übertönt. Reisen bildet, macht aber auch hungrig. Leider ist Hardy nicht auf meinen Überraschungsbesuch vorbereitet, sein Kühlschrank ist leer. Gemeinsam überlegen wir, wo wir um diese Zeit noch etwas Essbares auftreiben können. Natürlich gibt es in Köln Supermärkte, die auch abends noch geöffnet haben. Das wäre die einfachste Lösung, aber da ich mich ohne Geld durchschlage und Hardys Gastfreundschaft nicht überstrapazieren will, habe ich eine andere Idee: »Dumpster Diving«, ein Trend, der aus den USA nach Deutschland gekommen ist. Dabei geht es darum, die Müllcontainer von Supermärkten nach Lebensmitteln zu durchsuchen, die nicht mehr verkauft werden können, weil das Verfallsdatum abgelaufen ist oder sie nicht mehr gut aussehen. Ich fahre mit der S-Bahn in die Innenstadt. Kostenlos, aber nicht schwarz. Wie in vielen Städten bieten auch die Kölner Verkehrsbetriebe Studenten oder Besitzern eines Jobtickets die Möglichkeit, öffentliche »Fahrgemeinschaften« zu gründen und andere Leute umsonst mit ihrem Monatsticket mitzunehmen. Allerdings erst nach 19 Uhr, also zu einer Zeit, in der die meisten Geschäfte der Stadt schließen. Genau die richtige Zeit für meinen geplanten »Einkaufsbummel«.

Ich mache mich auf den Weg zu einem großen Supermarkt in der Nähe des Stadtgartens und will herausfinden, ob »Dumpster Diving« auch in Köln möglich ist. Wie ein Einbrecher schleiche ich mich, bewaffnet mit einer Taschenlampe, um das Gebäude und stehe vor dem verschlossenen Tor des Hofes. Von hier kann ich die Müllcontainer bereits sehen, und angefeuert durch meinen knurrenden Magen, schaffe ich es tatsächlich, über das zwei Meter hohe Hindernis zu klettern. Ich leuchte in den ersten Container und erschrecke mich zu Tode. In dem Licht meiner Taschenlampe entdecke ich das Gesicht eines Mannes, der offenbar auch nach Essbarem sucht. »Hey, hinten anstellen!«, schnauzt er mich an. Peter, so sein Name, studiert in Köln Sozialarbeit. Seit Jahren besorgt er sich auf diese Art seine Lebensmittel, nicht aus Geldknappheit, sondern aus ideologischer Ablehnung des Konsums.

»›Freeganism‹ ist entstanden aus ›free‹ wie umsonst und ›Veganism‹ wie Veganer«, erklärt Peter. »In Köln gibt es eine richtige Freeganer-Szene. Wir treffen uns regelmäßig und kochen zusammen.« Im Monat kommt er mit 200 Euro aus. Die braucht er hauptsächlich für Versicherungen. Essen holt er sich aus Containern und er lebt in einem Bauwagen. Als sein Rucksack voll ist, überlässt Peter mir den Container. Während ich Joghurt, Wurst, Brot, Käse, Milch und Gummibärchen in meine Tasche packe, erfahre ich von Peter, dass das »Containern« im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland illegal ist. »In Deutschland hat sogar Müll einen Besitzer. Und rechtlich ist das, was wir hier machen, Diebstahl.« Tatsächlich wurde vor ein paar Jahren eine Frau in Köln zu Sozialarbeit verurteilt, weil sie sich aus einem Supermarktcontainer mit Joghurts versorgt hatte. Peter und ich haben in dieser Nacht Glück: Wir werden nicht erwischt, und unsere Ausbeute ist groß. Und auch Hardy staunt nicht schlecht, als ich ihn mit zwei Plastiktüten voller Essen überrasche.

Am nächsten Tag stelle ich mich in die Kölner Fußgängerzone mit einem Schild »Butler gegen Zugticket«. Schließlich gibt es ja auch noch eine Zeit nach meinem Kölnaufenthalt. Um mein Angebot für die Passanten reizvoll zu machen, habe ich mich als original englischer Butler gekleidet: Fliege, weißes Hemd mit Stehkragen, Weste, schwarze Hose und weiße Handschuhe – alles habe ich vor meiner Abreise in einem Berliner Secondhandladen für gerade mal 15 Euro erstanden.

Die Passanten grinsen nur müde. Dem Kölner Humor hätte ich da schon etwas mehr zugetraut, aber wahrscheinlich sind die Bürger der Medienstadt angesichts unzähliger Aktionen mit versteckten Kameras und lustigen Reportern nicht mehr so leicht zu überraschen.

Nach der ersten erfolglosen Stunde spreche ich Passanten direkt an. »Ein Zugticket nach Belgien gegen den besten Butler der Welt!«, sage ich selbstbewusst zu einer älteren Kölnerin. »Heut ist kein Karneval, Jung!«, erwidert sie und geht unbeeindruckt weiter. So vergehen noch mehrere peinliche Konfrontationen zwischen Butler und Passanten, bis ich Harald anspreche. Er ist 49, braun gebrannt und trägt ein weißes, schulterfreies Netzhemd, das in die Hose gesteckt ist. Dazu trägt er Schlangenlederstiefel. Sein leicht lichtes Haar ist lang und blond und wird teilweise durch ein Stirnband verdeckt. Meine Idee findet er super, für den Rest des Tages bucht er mich als seinen persönlichen Butler. Als wir bei ihm ankommen, fällt mein Blick als Erstes auf einen roten Ferrari, der vor seinem Haus steht – oder sagen wir besser: vor dem Anwesen. Harald erzählt mir, dass er den Wagen in den Neunzigern für 400 000 DM gekauft habe. Ich bin kein Autofreak, aber ein echter Ferrari beeindruckt mich doch. Dann drückt mir Harald Schwamm und Lappen in die Hand, damit ich »das Ding mal wieder so richtig auf Zack« bringe. Als ich den Putzlappen an die Felge drücke, um sie wieder zum Glänzen zu bringen, bekommt Harald die Krise. »Es gibt Ferraris, die wurden schon kaputt geputzt, mach es vorsichtig und nie zu lange auf einer Stelle«, lernt er mich an. Hoffentlich werde ich hier nicht noch auf mehrere Hunderttausend Euro verklagt, denke ich mir. Ein Butlerleben ist vielleicht doch ein unkalkulierbares Risiko.

Zwei Stunden später führt mich Harald in seine Garage, die einen abgetrennten Teil eines öffentlichen Parkhauses ausmacht. Darin stehen weitere glänzend rote Lamborghinis, Corvettes, Cadillacs und viele andere Traumautos. Träume ich, oder bin ich bei der russischen Mafia gelandet?, frage ich mich still. Harald fährt ein Cadillac Cabrio aus den Siebzigern heraus, das sicher fünf Meter lang ist. Ich chauffiere Harald damit durch die Kölner Innenstadt. Kurven sind mit dem Ding jedes Mal eine besondere Herausforderung.

Aber trotz aller Schwierigkeiten parke ich Haralds Cadillac erfolgreich ein, und wir dinieren in einem schicken Restaurant. Besser gesagt, er diniert und ich schenke ihm den Wein nach. Immer wieder kommen Frauen zu unserem Tisch, denen man ein bewegtes Leben an den Gesichtern ansehen kann. Sie würden Harald am liebsten die Schlangenlederstiefel küssen. Durch mich schauen sie hindurch. So vergeht der Tag als Butler ziemlich amüsant, aber leider erfahre ich auch nicht richtig, wie Harald so reich geworden ist. Er sagt, dass er kein Geld habe, sondern nur von Wertgegenständen lebe. Das habe ich an den zwanzig Sportwagen in der Tiefgarage eindrucksvoll gesehen. Am Ende des Tages lädt mich Harald für die folgende Woche nach Marbella in Spanien ein, wo ich mich gleich ins gemachte Nest setzen könne, sagt er. So neugierig mich diese Aussage macht, so sehr drängt doch die Zeit: Ich verabschiede mich und bekomme 55 Euro für meinen Butlerdienst.

Das reicht genau für eine Fahrkarte nach Antwerpen. Die Suche nach einer kostenlosen Überfahrt hat lange gedauert, da das EU-Recht solche Matrosenromantik verbietet. Zum Schluss hatte ich Glück. Peter Döhle, dessen Reederei Touristen die Möglichkeit bietet, auf Containerschiffen mitzufahren, fand mein Projekt ziemlich spannend; deshalb darf ich kostenlos mitfahren.

Im Zug nach Belgien kaufe ich mir kein Ticket, sondern verstecke mich lieber auf der Toilette. Ich sehe schon vor mir, wie ich in Antwerpen triumphal mit 55 Euro aus dem Zug steige. »Dafür kann ich erst mal richtig einen draufmachen«, denke ich mir. Aber da klopft es bereits energisch an die Toilettentür, und ich muss beim Schaffner nachzahlen. Er schlägt zum normalen Tarif noch eine Sonderstrafgebühr drauf, und so komme ich nur nach Brüssel und habe lediglich einen Euro übrig. Alles lief so gut, aber ich wollte mal wieder schlauer als schlau sein, und deshalb stehe ich bei über 30 Grad in Brüssel herum und habe erst mal keine Idee, wie ich die letzte Strecke nach Antwerpen zurücklegen soll. Der Rucksack drückt immer schwerer auf meinen Schultern.

Mir fällt nur eine Lösung ein: Ich nehme den nächsten Zug nach Antwerpen und wende den Toten-Winkel-Trick an. Ich gehe sofort in das letzte Abteil, das gerade mal drei mal vier Meter groß ist und nur sechs Klappsitze hat. In den meisten Bummelzügen werden dort Fahrräder abgestellt. Meinen Rucksack stelle ich in die linke Ecke in Richtung der anderen Abteile hin. Ich selbst stelle mich in die rechte Ecke, wiederum in Richtung der anderen Abteile. In der Regel werfen die Schaffner nur einen kurzen Blick durch das Glasfenster der Tür und machen sich nicht die Mühe, auch den toten Winkel zu kontrollieren.

Ich verbringe die Fahrt angespannt in der rechten Ecke, bis plötzlich doch die Tür aufgeht. »Jetzt bin ich dran«, denke ich erschrocken. Aber durch die Tür kommt nur die Servicekraft mit dem Kaffeewagen. Der junge Kaffeeausschenker sieht mich dicht gedrängt in der rechten Ecke stehen. Wir schauen uns wortlos mehrere Sekunden an, dann tue ich so, als ob ich einfach nur so dastehe, und schaue aus dem Fenster. Der Junge mit dem Kaffeewagen macht sich in der anderen Ecke des Miniabteils eine Limonade auf und schaut immer wieder zu mir herüber. Er weiß genau, was gespielt wird. Nach einigen Minuten schiebt er den Kaffeewagen wieder aus dem Abteil heraus und kann sich ein Grinsen kaum verkneifen. Als ich in Antwerpen ankomme, fühle ich mich durch die fast einstündige Anspannung ziemlich erschöpft, bin aber überglücklich über meinen Erfolg.

Jetzt brauche ich unbedingt wieder etwas zu essen und nutze die Zeit für einen Versuch. Wenn ich in fünf Geschäften nach kostenlosen Lebensmitteln frage, weil ich ohne Geld ans Ende der Welt reisen möchte, wie viele werden mir etwas geben? Als Erstes gehe ich in ein nettes Café, das von einem jungen Typen geführt wird. Er findet meine Reise klasse und schenkt mir einen Kaffee und einen Muffin. Die lateinamerikanische Musik im Hintergrund lässt meine Vorfreude auf die Reise durch den amerikanischen Kontinent steigen. Als Nächstes gehe ich in ein Hotel und fülle meine Trinkflasche mit zwei Litern Leitungswasser auf. Die Verkäuferin des Fischgeschäfts lehnt meine Anfrage ab, da der Chef entscheiden müsse. Die Angestellten der Bäckerei nebenan überschlagen sich aber regelrecht: Pizzastücke, Brötchen, Brot und süße Teilchen fliegen mir nur so zu. Alle drei haben einen riesigen Spaß, als sie überlegen, wer von ihnen dafür nun mit mir reisen dürfe. Als Letztes bekomme ich beim Obststand noch zwei Äpfel gratis. Vier von fünf Fragen wurden positiv beantwortet, das lässt doch hoffen.

2 »Hello, Mr. Wigge«
Antwerpen–Montreal

Der Antwerpener Hafen ist 25 Kilometer lang und zu Fuß ziemlich schwer zu erkunden. Überall fahren LKW, und unzählige Ladekräne be- und entladen ununterbrochen die riesigen Containerschiffe, die aus der ganzen Welt hier vor Anker liegen. Alles muss schnell gehen, es gilt, keine Zeit zu verlieren. Endlich finde ich mein Schiff, und in mir kommen Abenteuergefühle auf. Die »MS Valentina« hat eine Länge von 178 Metern und ist mit 1800 Containern beladen, was ungefähr 86400 Kubikmetern oder 86 Millionen Liter Bier oder 365 Millionen Tassen Kaffee oder 7,1 Milliarden Löffeln Zucker entspricht. Ich komme mir ziemlich klein vor.

Beim Betreten des Schiffs werde ich von einem philippinischen Steward, der sich später als Julius vorstellt, höflich mit »Hello, Mr. Wigge« empfangen. Zu meiner Verwunderung besteht er darauf, meinen Rucksack zu tragen, obwohl dieser wohl schwerer und fast größer als er selbst ist.

Er zeigt mir meine Kajüte: Für die nächsten zwölf Tage bekomme ich eine komfortable Schlafkabine, dazu einen kleinen privaten Freizeitraum mit Stereoanlage, Satellitenfernsehen mit über unglaublichen 900 Programmen und Minibar. Er sagt, dass ich ihn bei Wünschen immer über die Schiffstelefonanlage unter der 148 erreichen könne, und verabschiedet sich höflich. Ich setze mich auf mein Bett und freue mich auf die Reise: So viel Luxus habe ich nicht erwartet. Als ich mir das Schiff anschaue, begegne ich Julius wieder. Er verweist darauf, dass ich immer um acht, zwölf und 17 Uhr speisen könne, ein Verspäten andererseits unproblematisch sei. Neben dem Speiseraum finde ich einen Fitnessraum und darüber das Schiffskino mit unzähligen DVDs. Julius erklärt mir alle technischen Details, bis schließlich das Stichwort zur Auflösung dieses Traums fällt: »Our passengers should be happy!« Die haben mich hier als Tourist und nicht als Arbeitskraft eingebucht, so wie es telefonisch besprochen war, erkenne ich plötzlich. Aber kleine Kommunikationsfehler erleichtern einem manches Mal das Leben. So beginnt meine Reise über den Atlantik äußerst entspannt: reichhaltig speisen, dann Fitness, Nachrichten von BBC, Russia Today, France 24, Deutsche Welle und Al Jazeera miteinander vergleichen, die sich in ihrer Haltung und Meinung deutlich voneinander unterscheiden. Dann heißt es DVDs für die nächsten zwölf Tage auswählen: »Casino«, um mich auf Las Vegas vorzubereiten, »Zurück in die Zukunft«, um Kindheitserinnerungen wieder aufzufrischen, »Herr der Ringe Teil 1–3«, damit ich nicht der Einzige bin, der diese Trilogie nicht gesehen hat, und weitere Klassiker mit Joe Pesci und Al Pacino. Als ich gerade noch »Das Interview« mit Steve Buscemi nehmen will, spricht mich Herr Kamrad, der deutsche Kapitän, an. »Herr Wigge, ich habe gerade gehört, dass wir noch eine zusätzliche Arbeitskraft an Bord haben!« Mir fährt ein Blitz durch den Körper, ich tue aber so, als wäre nichts: »Klar, was kann ich tun?«

So geht die Überfahrt nach Montreal für mich als richtiger Seemann weiter, der morgens um sechs Uhr aufsteht, sich seine Schutzkleidung anzieht und wehmütig den Stapel mit 35 DVDs in seiner Kabine zurücklässt. Am Montag streiche ich mit Ramir die Geländer des Schiffs, während fünf Meter hohe Wellen neben uns hochschlagen, am Dienstag helfe ich bei der Inventur aller Lebensmittel, und am Mittwoch überprüfe ich mit Viktor die Kühlanlagen der Container. Die 1800 Container sind fünf- bis siebenfach übereinandergestapelt, sodass wir uns teilweise fast 20 Meter über dem Deck befinden und in tiefe Containerschluchten hinunterschauen. Am Donnerstag bin ich mit dem Kapitän auf der Brücke und am Freitag beim Chefingenieur im Maschinenraum. Dort stehen verschiedene Arbeiten an der imposanten Hauptmaschine an, die 23000 PS hat (so viel wie 50 Ferraris von Harald) und 1600 Liter Öl zum Schmieren braucht. Für mich ist es schon ein Erfolgserlebnis, an meinem Auto das Öl nachzufüllen, aber der erfolgreiche Ölwechsel der Hauptmaschine der »MS Valentina« kommt einem indisch-tantrischen Orgasmus gleich, so weit ich ihn mir vorstellen kann. Ich darf zwar den Ölwechsel nur an einer der Seitenmaschinen machen, aber das Prozedere ist das gleiche: Kappen, Filter und Deckel abschrauben, alles so geordnet hinlegen, dass ich sie auch wieder zusammenschrauben kann, Hitzevorschriften beachten, damit es zu keinen Verbrennungen kommt, verschiedenste Sicherungen vor dem Filter entfernen, den Filter von mehreren Halterungen entfernen, wiederum alle Schrauben geordnet hinlegen, damit ich sie in richtiger Reihenfolge wieder einsetze, dann den 20er-Imbusschlüssel von Ölklumpen befreien und irgendwann den Ölfilter durch ein Labyrinth von Vorrichtungen herausnehmen. Öl ablaufen lassen, neues Öl rein und alles wieder zusammenbauen. Fertig.

Während der zwölf Tage auf See fällt mir auf, dass die 20-köpfige Besatzung, die aus Kapitän, Offizieren, Ingenieuren, Koch, Hilfsarbeitern und dem Steward besteht, einen streng reglementierten Tagesablauf hat. Jeder weiß, was er machen muss, fast alles läuft ohne Worte ab. Die Mannschaft ist sehr höflich zueinander. Stress oder Streit gibt es eigentlich nie, und nach Arbeitsschluss zieht sich jeder in seine Kabine zurück.

Meine Vorstellungen von der christlichen Seefahrt waren da ziemlich anders. Seit dem Telefonat mit der Reederei Peter Döhle gingen mir Bilder von zwei Meter großen, tätowierten russischen Matrosen durch den Kopf, die in dunklen und stickigen Großraumkabinen unter Deck hausen und bei viel Wodka Karten spielen.

Als ich bei der Reederei wegen der Reise angerufen habe, habe ich sogar gesagt, dass ich gerne mit den Matrosen unter Deck übernachten würde. Herr Döhle dachte bestimmt, dass Fernsehreporter einen Hang zum Übertreiben haben, und beließ mein Angebot unkommentiert. Vor der Abfahrt habe ich mich gefragt, wie die Seemänner wohl reagierten, wenn sie mir Wodka anböten und erführen, dass ich keinen Schnaps trinke. Hier sehe ich nun, dass überhaupt kein Alkohol getrunken wird. Mit einer Ausnahme. Am Samstagabend organisiert der Schiffskoch Capriano ein Grillfest: Steaks, Hähnchenschenkel und Rippchen füllen den Tisch des Essensraums. Ich sitze mit dem Kapitän und den Offizieren zusammen. Wir reden über die Schiffsentführungen vor der somalischen Küste. Ich schmeiße mein gesamtes auslandsjournalistisches Halbwissen mit in die Diskussion, um in der Runde Anerkennung zu finden. Sie lächeln nachsichtig.

Plötzlich ertönt aus der Stereoanlage hinter mir »Lambang Layassayh, Lamam Hanang«. Ich drehe mich erschrocken um und sehe, wie mein Matrosenkollege Ramir lautstark und in eigenwilliger Tonlage ein philippinisches Liebeslied in die Karaokemaschine singt. Dazu läuft eine Videoschleife von westlichen Bikinischönheiten der Achtzigerjahre, die sich am Strand von Malibu räkeln. Der Kapitän grinst nur und sagt, dass elf der 20 Seeleute von den Philippinen kämen und philippinisches Liebesliedkaraoke ihre größte Leidenschaft sei. Die Stimmung ist gut. Mir gehen die Bilder der letzten Tage durch den Kopf, zum Beispiel, wie Ramir zehn Stunden täglich das Schiffsgeländer streicht. Die größte Abwechslung dabei ist wohl, dass er hin und wieder von einer der fünf Meter hohen Wellen erfasst wird, die über das Deck schießen. Er hat mir erzählt, dass sein Vertrag immer sechs oder acht Monate am Stück laufe und er solange auch von seiner Familie getrennt sei. In diesen sechs bis acht Monaten heißt es sechseinhalb Tage pro Woche arbeiten, nur sonntags ist der halbe Tag frei. Abwechslung gibt es nur samstags beim Karaoke oder bei einem der seltenen Landgänge. Viktor aus der Ukraine hat mir im Maschinenraum verraten, dass das Tollste an seinem Job sei, dass jeder Tag bei seiner Familie wie Urlaub sei und er mit seiner Frau noch keinen Tag Routine oder Stress erlebt habe. Ich nicke nachdenklich, werde aber schnell aus meinen Gedanken zurückgeholt. Auf der Karaokemaschine läuft »The Time of my Life« aus »Dirty Dancing«. Schnell stehe ich auf und schnappe mir das Mikrofon.