Das Buch

Elenas Welt sind die Pferde. Und der Reiterhof ihrer Eltern ist ihr Leben. Besonders liebevoll kümmert sie sich um ihr Pferd Fritzi, das als Fohlen schwer verletzt und von ihren Eltern bereits aufgegeben wurde. Nun trainiert sie Fritzi heimlich zusammen mit Melike und Tim im Wald. Ausgerechnet Tim, der ihr Herz höherschlagen lässt, mit dem sie aber nie zusammen sein darf. Denn die Familien von Tim und Elena sind seit vielen Jahren verfeindet. Gemeinsam versuchen sie zu ergründen, woher dieser Hass stammt, und kommen einem dunklen Geheimnis auf die Spur …

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren 1967 in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für meine Nichte Clara

Prolog

Der Regen hatte aufgehört, die dicke graue Wolkendecke riss auf und Elena Weiland beschloss nach einem kritischen Blick von der Stalltür aus zum Himmel, die regenfreie Stunde für einen Ausritt zu nutzen, auch wenn es bereits später Nachmittag war. Der Sommer war vorüber und in den kommenden Monaten würde sie häufig genug in der Reithalle reiten müssen.

Das Mädchen stellte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel ihres Schimmelponys. Sirius spitzte die Ohren, als er merkte, dass es hinaus in die Felder und zum Wald ging und nicht in die Reitbahn. Im flotten Trab trug er seine junge Reiterin den sandigen Weg Richtung Waldrand, aber Elena lenkte ihn nach links, zu den abgeernteten Feldern und Wiesen. Sie hob den Kopf und beobachtete die Kraniche, die in V-Formation über den blassgrauen Oktoberhimmel gen Süden zogen, ihr vielstimmiges Trompeten war wie ein wehmütiger Abschiedsgruß des plötzlich so fernen Sommers. Die bunten Farben der Blätter an den Bäumen waren über Nacht blass geworden, leuchtendes Gold und Rot hatten sich in fahles Gelb und knisterndes Braun verwandelt, die Natur verlor ihre Kraft.

Elena wandte ihr Gesicht vom Wind ab und stellte mit einer Hand den Kragen ihrer Jacke auf. In den heftigen Böen, die an den Blättern zerrten, die Bäume schüttelten und den freundlichen Altweibersommer davonjagten, lag eine Ahnung von frostiger Kälte.

Sirius galoppierte an und Elena ließ ihn gewähren. Erst oben auf dem Hügelkamm parierte sie das Pony durch und wandte sich im Sattel um. Sie liebte die Aussicht hinunter auf den Amselhof, der von hier oben so klein aussah wie ein Spielzeugbauernhof. Elena stellte sich in den Steigbügeln auf und ließ ihren Blick schweifen. Rings um die Reithalle drängten sich die verschiedenen Stallgebäude, daneben wie helle, kahle Flecken die Reitplätze. Auf dem Parkplatz zwischen Reithalle, Gaststätte und dem Wohnhaus standen ein paar Autos und weiter vorn, zwischen der Scheune und den zwei großen Kastanien, kroch emsig der Traktor hin und her wie ein glänzend roter Käfer. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie über das Sirren des Windes hinweg Motorengebrumm hören.

Elena war auf dem Amselhof geboren und aufgewachsen, er war ihre Heimat und sie versäumte es nur selten, sich hier an dieser Stelle umzudrehen.

Aber nun wurde Sirius ungeduldig, er wollte weiter. Das Pony kannte jeden Feldweg und jede Galoppstrecke und es mochte einen schnellen Galopp genauso wie Elena.

Nach einer Weile erreichten Pony und Reiterin den Waldrand und tauchten in das dichte Meer aus Bäumen ein. Zwischen den Baumstämmen war es beinahe windstill, nur die Wipfel regten sich im Wind und das Laub auf dem schmalen Pfad dämpfte das Geräusch der Ponyhufe. Lautlos sprang ein Reh auf, schaute erstaunt, verharrte ein paar Sekunden und verschwand mit graziösen Sprüngen im Dunkel des Waldes. Sirius tat, als hätte er sich erschreckt, und galoppierte los. Elena grinste nur und ließ den grauen Wallach laufen.

An einer Wegkreuzung bremste sie seinen wilden Galopp. In Kürze würde die Dämmerung hereinbrechen, zu weit durfte sie nicht reiten. Sie lenkte Sirius nach rechts und parierte durch zum Schritt. Das dichte Fell, das sich das Pony bereits zugelegt hatte, dampfte in der kühlen Luft. Die hohen düsteren Fichten und Douglasien links und rechts der Schneise, die ein heftiger Sturm im letzten Frühjahr in den Wald geschlagen hatte, glichen einer gotischen Kathedrale, wie Elena sie auf der letzten Klassenfahrt besichtigt hatte, und versetzten sie in eine andächtige Stimmung. Ein paar Hundert Meter weiter hatte sie den Waldrand erreicht.

Vor ihr lag die große Koppel, auf der die Herde der Jungpferde graste, die hier einen unbeschwerten Sommer verbracht hatten. Schon bald würden die Nächte zu kalt werden und man würde sie hinunter auf den Hof holen, wo sie in großen Laufboxen mit dicker Stroheinstreu den Winter über blieben.

Der Abendnebel stieg aus den Wiesen und es sah so aus, als ob die Pferde schwebten. Eines der jungen Pferde, ein heller Fuchs mit einer breiten Blesse, hob den Kopf, blickte neugierig zu Elena und ihrem Pony herüber und stieß ein helles Wiehern aus. Die anderen taten es ihm nach und schließlich kamen sie näher, erst im Schritt, dann im Trab. Elena kannte jedes Pferd seit seiner Geburt und rief ihre Namen. Sie folgten ihr auf der anderen Seite des Zauns, dann mussten sie zurückbleiben und blickten ihr nach, wie sie den schmalen Feldweg hinab zum Amselhof entlangritt. Elena wusste, dass die Pferde noch eine Weile dort stehen würden, sich dann aber wieder dem Gras zuwenden und allmählich auf der großen Wiese verteilen würden. Unten, auf dem Hof, waren die ersten Lichter angegangen.

Elena lächelte bei dem vertrauten Anblick des Amselhofes. Wie schön es doch war, hier leben zu können!

1. Kapitel

Wie immer, wenn im Leben etwas wirklich Schlimmes passiert, geschieht es meistens ohne jede Vorwarnung und manchmal merkt man es erst gar nicht. An diesem Freitag im Oktober hatte ich auf jeden Fall keine Ahnung, welche Katastrophe der Tag mit sich bringen sollte, ganz im Gegenteil. Zuerst fing alles sogar richtig gut an, denn in der zweiten Stunde bekamen wir die Deutscharbeiten zurück.

»Eine sehr gute Leistung, Elena! Sprachlich und inhaltlich hervorragend und wirklich spannend«, sagte Frau Wernke, unsere Klassenlehrerin, und mir klappte fast der Mund auf, als ich das Heft aufschlug und eine fette rote Eins unter meinem Aufsatz sah. Deutsch war neben Erdkunde und Bio mein Lieblingsfach, aber eine Eins hatte ich noch nie geschrieben.

»Was hast ’n du?« Ariane war sonst nicht besonders scharf darauf, mit mir zu reden, doch jetzt konnte sie ihre Neugier nicht länger bezähmen und drehte sich zu mir um.

»Eine Eins«, erwiderte ich so bescheiden wie möglich.

»Glückwunsch«, brachte sie mühsam hervor und ihre babyblauen Augen funkelten feindselig. Sie warf ihr langes blondes Haar mit einer lässigen Bewegung über ihre Schulter und wandte mir wieder den Rücken zu.

Ariane konnte es nicht leiden, wenn jemand besser war als sie, und schon gar nicht ich. Früher, in der Grundschule in Steinau, waren wir mal Freundinnen gewesen, aber das war lange her.

Außer mir hatte niemand eine Eins gekriegt, Ariane also auch nicht, und das wurmte sie. Mir war klar, dass sie nur auf eine Gelegenheit lauern würde, mir eins auszuwischen, und damit musste sie nicht lange warten.

In der vierten Stunde rief unser Mathelehrer Herr Graubner ausgerechnet mich an die Tafel, obwohl ich betont unbeteiligt in mein Mathebuch geguckt hatte. Ich hasste es, vor der ganzen Klasse zu stehen und von allen angeglotzt zu werden.

»Dividiere das Produkt von 11 und 7 durch die Differenz von 12 und 5 und subtrahiere diesen Quotienten von 15.«

Äh – was? Ich stand mit der Kreide in der Hand da, starrte dämlich auf die leere Tafel und merkte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Hinter mir kicherte jemand und das machte es auch nicht besser. Mir schoss alles Mögliche durch den Kopf, nur nicht die Lösung für die Aufgabe.

»Schscht!«, zischte Herr Graubner in Richtung Klasse. »Was ist, Elena? Weißt du es nicht?«

»Nee«, gab ich zu.

Er zog Unheil verkündend die Augenbrauen hoch und streckte stumm die Hand nach der Kreide aus.

»Wer von euch weiß es?«, fragte er, ohne mich weiter zu beachten.

Keiner rührte sich, nur Ariane grinste breit und feixte, als ich mit feuerrotem Kopf an ihr vorbei zu meinem Platz ging.

»Eins in Deutsch, sechs in Mathe«, flüsterte sie vernehmlich und ihre beiden treuesten Anhängerinnen Tessa und Ricky kicherten gehorsam.

»Ariane?« Herr Graubner rief sie auf, genau wie sie es beabsichtigt hatte.

»Wer? Ich?« Sie riss ungläubig die Augen auf und deutete mit dem Finger auf sich. Alles nur Schau. In Mathe war Ariane unbestritten die Klassenbeste, sogar besser als alle Jungs.

»Ja, du, wenn’s recht ist.« Unser Mathelehrer hielt ihr grinsend die Kreide hin und glaubte wohl, er hätte sie endlich einmal drangekriegt.

Ariane tänzelte also nach vorn, warf ihre blonde Mähne zurück und löste die Aufgabe in weniger als zehn Sekunden.

»Sehr gut«, sagte Herr Graubner mit leichter Enttäuschung, weil er jetzt wohl begriffen hatte, dass er reingefallen war.

»War doch total leicht.« Ariane grinste triumphierend in meine Richtung. »Kinderkram.«

Nach der sechsten Stunde wartete ich ungeduldig auf meine beste Freundin Melike, die in die neunte Klasse ging. Der Regen prasselte auf das Dach der Pausenhalle und sammelte sich in großen Pfützen auf dem Schulhof. Pünktlich mit den Herbstferien hatte sich der Sommer endgültig verabschiedet – seit einer Woche regnete es fast ohne Unterbrechung.

Der Bus fuhr um fünf nach eins und wir hatten nur knappe zehn Minuten, um den Busbahnhof zu erreichen. Hunderte von Schülern strömten aus dem Schulgebäude und liefen an mir vorbei. Endlich tauchte Melike auf, als eine der Letzten.

»Der Wilhelm wollte noch mit mir reden.« Sie rollte die Augen. »Ich hab die Lateinarbeit wieder total verhauen, so ein Mist. Stell dir vor, er wollte wissen, ob ich verliebt bin!« Meine Freundin kicherte belustigt.

»Quatsch! Echt? Und was hast du gesagt?« Ich musste grinsen.

»Nichts.« Melike zuckte mit den Schultern und grinste auch. »Aber ich glaube, er denkt, es wäre so. In echt hab ich einfach keinen Bock auf Latein. Wer braucht denn so was?«

Ich zog mir die Kapuze meiner blauen Windjacke über den Kopf. Beeilen mussten wir uns jetzt nicht mehr, der Bus war sowieso weg.

Vorn, am Schultor, standen Ariane und ihre Busenfreundin Laura Baumgarten Arm in Arm unter einem riesigen knallgelben Regenschirm, wie siamesische Zwillinge, die der Länge nach aneinander festgewachsen waren. Ariane musste nie mit dem Bus fahren wie das gewöhnliche Fußvolk, auf das sie verächtlich hinabzusehen pflegte; ihre Mutter oder eines der ständig wechselnden Au-pair-Mädchen der Familie Teichert brachte sie morgens in die Schule und holte sie jeden Mittag wieder ab.

In dem Augenblick, als wir an ihnen vorbeigingen, hielt der schneeweiße Geländewagen von Arianes Mutter am Straßenrand gegenüber.

»Hey, Ariane!«, rief Melike, bevor ich sie davon abhalten konnte. »Wir haben den Bus verpasst! Meinst du, ihr könnt uns mitnehmen?«

»Oh, leider nicht! Wir fahren zum Mittagessen ins La Strada«, antwortete Ariane, die arrogante Pute, ohne uns auch nur anzusehen. »Tut mir echt leid!«

Sie und Laura warfen sich einen kurzen Blick zu, kicherten und stiegen in den protzigen Jeep. Türen knallten, das Auto schoss röhrend davon.

»Blöde Ziege!«, schimpfte Melike wütend und äffte Arianes gezierte Sprechweise nach. »Wir gehen ins La Strada! Vielleicht esse ich ein gaaanz winziges Rinderfilet oder besser Riesengarnelen! Puh!«

Das La Strada war eines der nobelsten Restaurants in Königshofen. Mama war mit Papa einmal dort essen gewesen und hatte erzählt, es sei so vornehm, dass auf der Speisekarte nicht mal die Preise stünden.

»Hätte ich dir vorher sagen können«, bemerkte ich. »Wir haben heute die Deutscharbeit zurückgekriegt und ich hatte die einzige Eins. Ariane kocht vor Wut!«

»Echt? Das ist ja cool!«

Wir trabten durch den Regen Richtung Busbahnhof und ich grinste vor mich hin, während Melike noch eine Weile auf Ariane, Laura und ihren Lateinlehrer schimpfte. Mir war es ziemlich egal, ich freute mich auf Mamas Gesicht, wenn ich ihr gleich das Heft mit der Deutscharbeit unter die Nase halten würde. Ganz lässig natürlich. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten sich zu der Reportage »Der aufregendste Tag meines Lebens« etwas ausgedacht, aber ich hatte nicht lange überlegen müssen und die dramatische Geschichte vom Unfall meines Fohlens Fritzi von vor drei Jahren aufgeschrieben.

Als wir am Busbahnhof ankamen, war Melikes Ärger verraucht. Wir holten uns an der Imbissbude jeweils eine Tüte Pommes – Melike mit Ketchup und ich mit Mayo – und setzten uns auf die Stufen der Eisdiele.

»Kommst du heute Nachmittag in den Stall?«, fragte ich und leckte mir die Mayo von den Fingern.

»Ja, klar.« Melike nickte kauend. »Ich weiß zwar nicht, ob meine Mutter heute Morgen schon geritten ist, aber es schadet Dicky nicht, wenn er zweimal rauskommt.«

Dicky, der eigentlich Jasper hieß, gehörte Melikes Mutter, doch die hatte nur selten Zeit für ihr Pferd und war froh, wenn meine Freundin ihn ritt.

»Papa fährt aufs Turnier.« Ich klaubte die letzten Pommes aus der fettigen Tüte. »Wir können also in die große Halle und ein paar Hindernisse aufbauen.«

Papa war von Beruf Springreiter und an beinahe jedem Wochenende auf einem Turnier irgendwo in Deutschland, manchmal sogar im Ausland. Christian, mein älterer Bruder, und ich waren mit Pferden aufgewachsen und ritten natürlich auch beide.

Genau genommen gehörte der Amselhof meinem Opa, der Reitunterricht mit seinen Schulpferden gab und dafür sorgte, dass der ganze Betrieb lief. Oma war die Chefin der Gaststätte »Zur Pferdetränke«, die nicht nur bei Reitern beliebt war und im Sommer einen großen Biergarten hatte.

»Hm, das war gut.« Melike zerknüllte die Pommestüte und schnippte sie in den Mülleimer neben der Treppe. »Ariane wird heute wohl kaum im Stall auftauchen.«

»Glaub ich auch nicht«, erwiderte ich und verzog das Gesicht. »Christian fährt mit aufs Turnier und dann ist keiner da, vor dem sie eine Schau abziehen kann.«

Arianes Vater besaß drei Pferde, die auf dem Amselhof standen, von Papa trainiert und auf Turnieren vorgestellt wurden. Herr Teichert war Börsenmakler oder so etwas Ähnliches und hatte Geld wie Heu. Er und seine aufgebrezelte Frau hatten zwar keinen blassen Schimmer von Pferden, aber sie waren gute Kunden.

Melikes Klassenkameradin Laura hatte ebenfalls ein Pferd bei uns stehen, allerdings ein Dressurpferd.

Ich hatte meine Pommes inzwischen auch aufgegessen und betrachtete unser Spiegelbild im Schaufenster der Eisdiele. Gegen die zierliche Melike mit ihrem braunen Teint, den sie dem Erbe der türkischen Vorfahren ihres Vaters verdankte, ihren großen dunkelbraunen Augen, schneeweißen Zähnen und dem glänzenden schwarzen Haar kam ich mir vor wie eine hässliche bleiche Bohnenstange. Ich beneidete meine Freundin glühend um ihr Äußeres. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich meine Zahnspange und die Pickel los sein würde. Das Einzige, das ich an mir mochte, waren meine Haare. Wie Mama war ich blond. Überhaupt sah ich ihr auf Fotos von früher ziemlich ähnlich und deshalb hegte ich noch einen Rest Hoffnung, dass ich eines Tages so aussehen würde wie sie.

Während ich über mein Äußeres nachdachte, bremste direkt vor uns ein schmutziger dunkelgrüner Jeep.

»Ach du Schande, Tim Jungblut und sein Vater«, sagte ich und zog die Kapuze bis in mein Gesicht. »Bloß nicht hingucken!«

Mich hätten sie vielleicht nicht bemerkt, aber es war völlig unmöglich, Melike mit ihrer knallgelben Jacke zu übersehen. Sie strahlte an diesem grauen Tag wie ein Leuchtturm im Nebel.

Die Scheibe des Jeeps wurde heruntergelassen und ein dunkelblonder Junge beugte sich heraus. »Habt ihr den Bus verpasst?«, fragte er grinsend.

»Nee, wir sitzen nur so aus Spaß im Regen rum«, entgegnete Melike bissig.

»Na los, steigt ein!« Der Junge sprang aus dem Auto und hielt einladend die Tür auf. »Wir fahren sowieso durch Steinau.«

»Das kann ich nicht machen«, raunte ich meiner Freundin zu. »Wenn Papa rauskriegt, dass ich mit Jungbluts mitgefahren bin, bringt er mich um.«

»Das erfährt er schon nicht.« Melike zog mich einfach mit. »Besser, als noch eine Stunde im Regen herumhocken.«

Das fand ich schließlich auch. Und irgendwie war es aufregend, gerade weil es so absolut verboten war, mit einem Mitglied der Familie Jungblut auch nur ein Wort zu wechseln. Ich murmelte »Hallo« und quetschte mich neben Melike auf die Rückbank zwischen einen Sattel und einen Stapel Pferdedecken.

»Tach, die Damen.« Tims Vater musterte uns kurz und brauste los.

Richard Jungblut war Pferdehändler und auch Springreiter wie Papa. Ihm gehörte der Sonnenhof in Hettenbach, einem Örtchen auf der anderen Seite des Waldes. Die Feindschaft mit den Jungbluts hatte in unserer Familie Tradition und beruhte auf Gegenseitigkeit. Besonders die Männer konnten sich nicht ausstehen. Woher dieser Hass stammte, wusste ich nicht und hatte nie darüber nachgedacht. Es war eben so.

Natürlich kannte ich Tim von klein auf, schließlich waren wir auf derselben Schule und begegneten uns beinahe jedes Wochenende auf irgendeinem Reitturnier, aber es wäre mir niemals auch nur im Traum eingefallen, mit ihm zu reden, denn er war eben der Sohn von Richard Jungblut und somit ein Feind. Er ging in die Zehnte, in Christians Parallelklasse, und konnte zweifellos göttlich reiten. Mit den Verkaufspferden seines Vaters hatte er im letzten Sommer zahlreiche M-Springen und sogar drei S-Springen gewonnen.

Richard Jungblut sprach während der ganzen Fahrt kein Wort. Zweimal begegnete ich seinem forschenden Blick aus stechend blauen Augen im Rückspiegel und guckte sofort woandershin. Ob er wusste, wer ich war? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er mich wohl mitten auf der Strecke aus dem Auto geworfen. Ich saß wie auf glühenden Kohlen. Noch nie waren mir die zwölf Kilometer nach Steinau so lang vorgekommen, obwohl Tims Vater wie der Teufel durch Königshofen und die Landstraße entlangbrauste.

Melike quatschte fröhlich drauflos, so wie es ihre Art war, aber ich brachte keinen Ton über die Lippen. Was hätte ich auch schon sagen können? Also sprach außer Melike niemand und nach einer Weile fiel auch ihr nichts mehr ein. Ich war heilfroh, als der grüne Jeep an der Bushaltestelle vor dem Rathaus bremste.

»Danke fürs Mitnehmen«, murmelte ich und schlüpfte wie der Blitz hinaus in den Regen.

Herr Jungblut nickte, Tim rief uns noch »Tschüss!« nach, dann knallte die Autotür zu und der Jeep verschwand mit aufheulendem Motor.

Ich kramte in den Taschen meiner Jacke nach dem Schlüssel für das Schloss, mit dem ich jeden Morgen mein Fahrrad an den Fahrradständer neben der Bushaltestelle kettete. Melike wohnte nur ein paar Straßen vom Rathaus entfernt, sie konnte zu Fuß nach Hause laufen, aber ich hatte ungefähr zwei Kilometer zu fahren, denn der Amselhof lag außerhalb von Steinau am Waldrand, umgeben von Feldern und Wiesen.

»Also bis später!«, rief ich meiner Freundin zu.

»Ich bin um drei da!«, rief sie zurück.

2. Kapitel

Ich setzte mir die Kapuze auf und radelte die Wiesenstraße entlang, vorbei am Sportplatz und an der Mehrzweckhalle, und versuchte, nicht in den schlammigen Traktorspuren auszurutschen. Der trostlose Winter stand vor der Tür, bald konnte nur noch in der Halle geritten werden und abends würde es um fünf Uhr dunkel sein. Die Pferde mussten geschoren und mit dicken Decken gegen die Kälte geschützt werden. Wir Menschen würden trotz Daunenjacken, Schals und Handschuhen im Stall und in der Reithalle frieren.

Hinter mir hupte es. Ich warf einen Blick über die Schulter und wich auf den schmalen, aufgeweichten Grasstreifen aus, damit der große Pferdetransporter mich überholen konnte. »PFERDE – CHEVAUX – HORSES« stand in fetten Buchstaben auf der Rückseite des Lkw, und darunter »Pferdehandlung Nötzli – Adliswil, Schweiz«. Ich trat kräftiger in die Pedale. Vielleicht kamen neue Pferde auf den Amselhof!

Als ich auf den Hof gelangte, manövrierte der Lkw-Fahrer geschickt das riesige Ungetüm am Misthaufen vorbei. Im Lauf der Jahre war auf dem Amselhof viel an- und umgebaut worden; dadurch waren verschiedene Stalltrakte, Sattel- und Futterkammern und verwinkelte Höfe entstanden, in denen sich Fremde und neue Einsteller oft verirrten. Das Zentrum bildete die große Reithalle, an die sich der Schulpferdestall und die Putzhalle anschlossen. Ganz vorn, an der kurzen Seite der Reithalle, befand sich der ehemalige Hengststall, in dem heute Einsteller ihre Pferde untergebracht hatten. Dann gab es den Mittelstall, den langen Stall, den kleinen Stall und ganz hinten den alten Stall, der ausschließlich Papas Turnierpferden vorbehalten war. Während die meisten Stallungen modern und zweckmäßig waren, hatte Papas Stall etwas ganz Besonderes. Er war hoch und luftig, die Pferde hatten Fenster nach draußen mit Blick auf den Springplatz und die Galoppierbahn und konnten gleichzeitig auf die breite Stallgasse schauen.

Der Fahrer von Herrn Nötzli hielt am Vordereingang des alten Stalls und sprang aus dem Fahrerhaus.

»Hallo!«, rief ich atemlos und lehnte mein Fahrrad an die Wand des Stalls.

»Hi«, erwiderte der Fahrer. Ich kannte ihn, denn er brachte öfter Pferde auf den Amselhof. Der Schweizer Pferdehändler Gerhard Nötzli machte regelmäßig Geschäfte mit Papa. Er schickte immer wieder junge talentierte Pferde her, damit Papa sie ausbildete und auf Turnieren vorstellte. Dann wurden sie verkauft und Papa bekam eine Verkaufsprovision. Allerdings kamen auch manchmal Pferde, die auf Turnieren nicht mehr so recht springen wollten, die stiegen oder andere Unarten hatten. Diese Pferde mussten korrigiert werden, bis auch sie wieder verkäuflich waren. Das war meistens ziemlich schwierig.

»Ich habe zwei Pferde für euch dabei«, sagte der Fahrer und warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss heute noch bis nach Holland fahren. Fragst du mal jemanden, wo ich die Pferde hinstellen kann?«

»Ich weiß, wo Boxen frei sind«, antwortete ich und betrat den Stall. Der würzige Geruch von Pferden und Heu schlug mir entgegen und wie immer atmete ich den vertrauten Duft tief ein.

Von Jens, unserem Bereiter, war weit und breit nichts zu sehen, dafür lag ein Sattel auf dem Boden, daneben hing eine schmutzige Trense und die Tür von der Sattelkammer stand weit offen. Typisch, dachte ich bei mir, ergriff den Sattel und hängte ihn in die Sattelkammer. Sobald Papa den Stall verlassen hatte, ließ Jens alles stehen und liegen, fing an zu telefonieren oder verdrückte sich in sein Zimmer. Ich fand eine leere Box neben meinem Pony Sirius im kleinen Stall und eine weitere im langen Stall. Dort konnten die Pferde bleiben, bis Papa anders entschied.

Der Fahrer hatte mittlerweile einen hübschen Kastanienbraunen mit einer schmalen Blesse abgeladen. Das Pferd tänzelte und wieherte aufgeregt. Seine Ohren zuckten vor und zurück, die fremde Umgebung machte es nervös, aber das war bei neuen Pferden oft der Fall. Ich streckte die Hand nach dem Führstrick aus.

»Nimm lieber den anderen«, sagte der Fahrer. »Der hier ist ein bisschen speziell.«

Ich konnte es nicht ausstehen, wenn Erwachsene mich wie ein dummes kleines Kind behandelten, immerhin war ich dreizehn und nicht fünf.

»Ich kriege das schon hin«, versicherte ich ihm und da reichte er mir endlich den Führstrick, wenn auch widerstrebend.

»Sei aber vorsichtig!«, rief er mir zu. Prompt machte das Pferd einen erschrockenen Satz, riss den Kopf hoch und stellte den Schweif auf. Aber es war nicht das erste Mal, dass ich ein nervöses Pferd führte.

»Du musst keine Angst haben«, sagte ich freundlich und klopfte ihm mit meiner freien Hand den Hals. Das Pferd sah mich aus flackernden Augen zweifelnd an und schnaubte.

»Na, komm schon. Benimm dich ein bisschen. Dir passiert nichts.«

Tatsächlich beruhigte sich der Braune und folgte mir gehorsam in den Stall.

Als auch das zweite Pferd untergebracht war, gab der Fahrer mir die Mappe mit den Frachtpapieren und Pferdepässen der beiden Pferde. Ich sah zu, wie er die Verladerampe des großen Lkw schloss und überlegte, wohin er wohl die anderen Pferde bringen würde und woher sie kamen.

Wie schön wäre es, den ganzen Tag mit Pferden zu verbringen, anstatt in der Schule herumzusitzen! Die Arbeit mit den Pferden war immer aufregend und abwechslungsreich. Natürlich war es kein Zuckerschlecken, jeden Tag Boxen auszumisten, Pferde und Sattelzeug zu pflegen und all die vielen Kleinigkeiten drum herum zu erledigen. Viele Mädchen träumten davon, Bereiterin zu werden; die wenigsten wussten, was auf sie zukam, und gaben schnell wieder auf. Ich selbst wusste genau, dass ich nach der Schule etwas mit Pferden machen würde. Es war spannend zu beobachten, wie sich die Pferde entwickelten, ob sie einen guten oder schlechten Tag hatten. Jedes Pferd hatte eine ganz eigene Persönlichkeit und Vorlieben oder Abneigungen, wie die Menschen auch. Manche waren neugierig oder verspielt, andere wollten die ganze Zeit schmusen, und wieder andere brauchten eine festere Hand, weil sie ziemlich frech sein konnten. Es gab Pferde, die lernten schnell, und andere mussten immer wieder dasselbe üben, bis sie endlich begriffen.

Gerade als der Lkw durch die großen Pfützen vom Hof gerollt war, tauchte Jens auf. Er gähnte und streckte sich.

»Werwarndas?«, nuschelte er verschlafen und kramte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche.

»Der Fahrer von Herrn Nötzli«, erwiderte ich. »Er hat zwei Pferde gebracht und ich hab ihm zwei leere Boxen gezeigt. Ich wollte dich nicht wecken.«

Jens war sofort angesäuert. »Man darf ja wohl noch Mittagspause machen«, sagte er gereizt.

»Klar.« Ich drehte mich um. Der qualmende Jens mit seinen Froschaugen, den Aknenarben und den fettigen Haaren war nicht mein Fall. Er war ungeduldig und oft grob mit den Pferden, aber Papa brauchte ihn, denn allein konnte er die Arbeit mit den vielen Pferden nicht schaffen. Es war schwer, einen zuverlässigen Mann zu finden, der die jungen Pferde auf Turnieren gut vorstellte. Und das konnte Jens. Deshalb hielt ich den Mund und ging ihm möglichst aus dem Weg.

»Du hast übrigens vergessen, die Sattelkammer abzuschließen. Und in der Stallgasse lag einer von den guten Sätteln auf dem Boden.« Das konnte ich mir dann aber doch nicht verkneifen.

»Dann räum ihn weg«, entgegnete Jens bissig.

»Hab ich schon gemacht.«

»Erzähl’s doch Papi«, murmelte er mürrisch und trat die Zigarette vor der Stalltür mit dem Absatz aus. »Du dummes Kind.«

»Blöder Aknefrosch«, erwiderte ich.

So endeten die meisten Gespräche zwischen Jens und mir. Dummes Kind war noch relativ nett, er hatte weitaus weniger schmeichelhafte Namen für mich auf Lager, aber ich wusste mich zu revanchieren.

Ich holte mein Fahrrad und schob es durch den Stall. Um die Mittagszeit war nicht viel los, die Pferde dösten in ihren Boxen oder knabberten am Stroh. Vorn an der geöffneten Stalltür lag Robbie, unser Berner Sennenhund, auf seiner karierten Decke. Als er mich kommen sah, richtete er sich auf und wedelte freudig mit dem Schwanz. Sobald ich mich jedoch auf mein Fahrrad setzte, um zum Haus hinüberzuradeln, legte er sich mit einem Seufzer wieder hin und schlief weiter.

3. Kapitel

Auf dem leeren Parkplatz vor der Gaststätte stand einsam ein silberner Opel, den ich nicht kannte. Ein Mann mit Glatze und Brille stand neben dem Auto und blickte sich suchend und ein bisschen hilflos auf dem menschenleeren Hof um. Der Mann sah freundlich und harmlos aus und ich hatte keine blasse Ahnung, dass durch ihn eine Katastrophe über alle Menschen auf dem Amselhof hereinbrechen würde, als ich mit dem Fahrrad neben ihm stoppte und ihn höflich grüßte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich. Vielleicht war er auf der Suche nach einem neuen Stall für sein Pferd. Neue Kundschaft war auf dem Amselhof immer erwünscht.

»Ich suche Herrn Ludwig Weiland«, sagte der Mann nun. »Weißt du, wo ich ihn finden kann?«

»Das ist mein Opa«, erwiderte ich. »Kommen Sie mit.«

Mittags, wenn die Gaststätte offiziell noch geschlossen war, kochte Oma für die Familie, für Jens und die Mitarbeiter, wie Mama unsere beiden Stallarbeiter Heinrich und Stani nannte.

Ich schob mein Fahrrad die Rollstuhlfahrerrampe hoch zur Tür der Gaststätte und betrat dieselbe durch die Nebentür, die auch in die Wohnung von Opa und Oma führte. Twix, mein braun-weiß gefleckter Jack-Russell-Terrier, hatte mich natürlich längst kommen hören und erwartete mich ungeduldig. Er jaulte vor Glück und hopste wie ein Flummi, als ich den Flur zwischen Gaststätte und Opas und Omas Wohnung betrat, in dem sein Tagsüberkorb stand. Seitdem ich ihn im vorletzten Sommer halb verhungert und ziemlich übel verletzt auf einem Waldparkplatz gefunden hatte, wo ihn seine Besitzer einfach angebunden zurückgelassen hatten, liebte er mich und folgte mir auf Schritt und Tritt.

Die Gaststätte war dunkel, die Stühle standen noch auf den Tischen. Kein gutes Zeichen. Oma war in der Küche, wo sie am Herd herumhantierte und leise vor sich hin schimpfte.

»Hallo, Oma«, sagte ich.

Der Mann blieb in der Tür stehen.

»Wo kommst du denn jetzt her?«, brummte Oma missgelaunt. »Heute gibt’s nichts Warmes zu essen. Der Herd ist kaputt.«

»Ich hab den Bus verpasst«, erwiderte ich. »Weißt du, wo Opa ist?«

»Irgendwo auf dem Hof. Sie wollten das Stroh abdecken.« Oma drehte sich um. Ihr Blick fiel auf den Mann mit der Aktentasche. Sie stemmte ihre kräftigen Arme in die Seiten und zog eine finstere Miene. »Sind Sie der Servicemann für den Herd, den man mir schon vor drei Stunden herschicken wollte?«

»Äh … nein«, stotterte der Mann, machte einen Schritt nach hinten und trat dabei auf Twix’ Schwanz. Mein Hund stieß einen markerschütternden Schrei aus, woraufhin der Mann vor Schreck schneeweiß im Gesicht wurde.

»Herrgott, können Sie nicht aufpassen?«, herrschte Oma den armen Mann an.

Eigentlich war Oma eine Seele von Mensch, aber oft genug stand sie allein auf weiter Flur mit der ganzen Arbeit, deshalb hatte sie meistens schlechte Laune.

»Sie können hier warten oder mitkommen«, bot ich dem freundlichen Herrn an, und als er sich eilig für letztere Möglichkeit entschied, ließ ich das Fahrrad stehen und ging, gefolgt von Twix, zu Fuß neben ihm her.

Der Amselhof war ziemlich groß, deshalb war das Fahrrad mein bevorzugtes Fortbewegungsmittel. Auch Opa, Jens und Papa waren vorwiegend mit dem Fahrrad zwischen Ställen, Koppeln, Haus, Reithallen und Gaststätte unterwegs, Christian neuerdings mit einem Minimoped, das Papa vor ein paar Monaten als Ehrenpreis bei einem Turnier gewonnen hatte.

Viele Jahre bevor ich geboren wurde, waren Opa und Oma »ausgesiedelt«. Sie hatten im Tausch gegen ihren kleinen Bauernhof mitten in Steinau ein großes Grundstück am Waldrand bekommen und dort den Amselhof gebaut. Nach und nach waren zum Haus, zur Scheune und den Stallungen die erste Reithalle mit der Gaststätte und noch mehr Ställe gekommen. Als Papa und Mama geheiratet hatten, wurde das Haus gebaut, in dem wir wohnten, und später noch eine größere Reithalle und die Reitplätze.

Auf der Wiese hinter der großen Scheune waren Opa und Heinrich damit beschäftigt, die großen Rundballen Stroh mit Planen abzudecken.

»Opa!«, rief ich. »Hier ist jemand, der dich sucht!«

Der Mann hatte offenbar nicht damit gerechnet, über den ganzen Hof marschieren zu müssen. Sein hellgrauer Anzug war vom Regen mittlerweile dunkelgrau geworden.

»Das ist mein Opa«, erklärte ich dem Mann.

»Vielen Dank«, erwiderte er höflich.

Opa kletterte von den Rundballen herunter. Er trug wie üblich seine blaue Arbeitshose, ein altes kariertes Hemd und eine Weste, dazu auf dem Kopf eine ausgeblichene Baseballkappe. Als er nun näher kam, klopfte er Strohhalme und Staub von seinen Kleidern und wischte sich seine Hand an der Arbeitshose ab. Den Mann überragte er um einen ganzen Kopf.

»Sind Sie Ludwig Weiland?«, fragte der Mann überflüssigerweise, denn ich hatte es ihm ja schon gesagt.

Opa konnte es nicht leiden, bei einer Arbeit unterbrochen zu werden, aber er nickte und lächelte sogar ein bisschen. Potenzielle neue Kunden waren wichtig, deshalb ließ er sich seine Verärgerung nicht anmerken.

»Moser«, stellte sich der Mann vor. »Obergerichtsvollzieher.«

Opa hörte auf zu lächeln. »Moment«, sagte er knapp, wandte sich zu Heinrich um und gab ihm noch ein paar Anweisungen, bevor er mit Herrn Moser verschwand und mich einfach stehen ließ.

4. Kapitel

»Hi, Mama, ich bin wieder da!« Ich streifte mir im Windfang die schmutzigen Schuhe von den Füßen und erwischte Twix gerade noch rechtzeitig am Halsband, bevor er ins Wohnzimmer sausen und auf die Couch springen konnte.

»Hiergeblieben!«, flüsterte ich und deutete auf die Fußmatte. Twix ließ die Ohren hängen, setzte sich aber gehorsam.

Mama saß am Küchentisch und öffnete die Post. »Na, mein Schatz.« Sie blickte kurz auf und lächelte mich an, dann wandte sie sich wieder den Briefen zu. »Es ist noch Kartoffelsalat im Kühlschrank. Wie war es in der Schule?«

»Och, wie immer«, sagte ich betont gelangweilt. Gleich würde ich Mama mit der Eins überraschen. Ich öffnete meinen Rucksack, nahm das Deutschheft heraus und setzte mich zu Mama an den Tisch. »Melike und ich haben den Bus verpasst, und rate mal, wer uns mitgenommen hat!«

Ich konnte nicht anders, ich musste einfach mit jemandem über diese merkwürdige Begegnung sprechen.

»Du wirst es mir gleich verraten.«

»Tim Jungblut und sein Vater!« Ich senkte die Stimme und kicherte. »Der hat kein Wort geredet und mich nur im Rückspiegel angestarrt.«

»Wie kommst du dazu, zu diesen Leuten ins Auto zu steigen?«

Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich Papas Stimme direkt hinter mir vernahm.

»Elena!«

Ich drehte mich um. Es fiel mir schwer, Papas Blick standzuhalten. Wenn er mich so anschaute, wie er es jetzt tat, dann hatte ich immer das Gefühl, wieder sechs Jahre alt zu sein und alles falsch zu machen.

»Ich … wir … hatten den Bus verpasst«, stotterte ich verlegen. »Und Melike meinte …«

»Ich wünsche nicht, dass du mit denen sprichst. Das weißt du genau«, unterbrach Papa mich scharf. »Du hättest die paar Minuten warten und den nächsten Bus nehmen können.«

Ich senkte den Kopf und rollte das Deutschheft in meinen Fingern zu einer Wurst zusammen. Schlechter Zeitpunkt, um mit einer Eins zu kommen.

»Hast du mein rotes Jackett aus der Reinigung geholt?«, wandte Papa sich nun an Mama. Ich war schon wieder vergessen. »Wir müssen in einer halben Stunde los, sonst kommen wir zu spät zum Turnier.«

»Ich habe es vorhin in den großen Lkw gehängt«, erwiderte Mama, die wie immer alles bestens im Griff hatte. »Die Stiefel und die Hemden sind auch schon drin, und die Pferdepässe habe ich Jens gegeben.«

»Gut. Danke.«

Papa wollte gerade wieder die Küche verlassen, als mir die neuen Pferde einfielen.

»Ach Papa«, sagte ich zaghaft, »der Fahrer von Herrn Nötzli war da und hat zwei Pferde gebracht. Ich hab ihm gesagt, er soll sie in die leere Box neben Sirius und in den langen Stall neben Dimitri stellen.«

Er nickte nur. Offensichtlich war ich bei ihm in Ungnade gefallen, denn er würdigte mich keines Blickes mehr und ging an mir vorbei, als wäre ich durchsichtig. Die Haustür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.

»Ich geh hoch«, sagte ich zu Mama. »Hausaufgaben machen.«

»Ja, tu das«, erwiderte sie leise, in Gedanken ganz woanders.

Ich wartete darauf, dass sie noch etwas zu mir sagte, aber es kam nichts mehr, deshalb gab ich Twix einen Wink. Auf den hatte er nur gewartet. Lautlos huschte er an der Küchentür vorbei und sprang vor mir die Treppe hoch.

Ich ergriff meinen Rucksack und steckte das Deutschheft zurück. Vom Fenster meines Zimmers aus konnte ich über die Parkplätze und die Grünfläche im Hof bis zur Reithalle schauen. Der silberne Opel war nicht mehr da. Christian kam gerade mit dem Minimoped aus der Stalltür gekurvt. Papa und er wechselten ein paar Worte und verschwanden dann gemeinsam im Stall. Mit einem Seufzer ließ ich mich auf mein Bett fallen und zog meinen Hund in die Arme.

»Ich bin froh, dass Papa aufs Turnier fährt«, sagte ich zu Twix, der die Ohren spitzte, den Kopf schief legte und mich ansah, als ob er jedes Wort verstünde. »Hoffentlich gewinnt er das Springen und vergisst, dass er sauer auf mich ist.«

Ich konnte mich nicht dazu aufraffen, meinen Schulkram aus dem Rucksack zu holen und mich an die Hausaufgaben zu setzen. Als kurz vor drei die beiden Lkws mit Papa, Christian und Jens vom Hof rollten, schlüpfte ich in meine Reithose und machte mich auf den Weg zu Fritzi.

Twix und ich liefen durch den prasselnden Regen über den Hof, vorbei an der überdachten Führmaschine und der kleinen Reithalle, vor der sich eine riesengroße Pfütze gebildet hatte. Die Scheune lag ein ganzes Stück vom Hof entfernt. Unter dem Heuboden, auf dem sich bis unter das Dach die duftenden Heuballen stapelten, gab es zehn große Laufboxen, die zwar nicht so schön und hell, dafür aber billiger waren als die Boxen in den anderen Ställen. Hier waren ein paar alte Pferde untergebracht, die von ihren Besitzern das Gnadenbrot bekamen. Und in einer der Boxen stand mein Liebling, der dunkelbraune Hengst Fritzi.

Er hatte mich natürlich längst kommen hören, streckte erwartungsvoll seinen Kopf über die Trennwand und wieherte ungeduldig, als ich nun das große Tor zur Seite schob.

»Hey, Fritzi!« Ich nestelte ein zerbröseltes Zuckerstück aus meiner Jackentasche und gab es ihm, dann ergriff ich Halfter und Strick, die an einem Haken vor der Box hingen. Obwohl er erst vier Jahre alt war, hatte Fritzi schon eine tragische Lebensgeschichte. Im Mai vor vier Jahren war er genau an meinem neunten Geburtstag auf die Welt gekommen. Papa und Mama hatten große Hoffnungen in das Hengstfohlen mit dem großen Stern und den vier weißen Fesseln gesetzt, denn seine Mutter war Gretna, Mamas alte Stute, die ein tolles Springpferd gewesen war, und sein Vater der berühmte Fuchshengst For Pleasure, der auf Olympiaden und Weltmeisterschaften unzählige Goldmedaillen gewonnen hatte. Mein Geburtstag war durch Fritzis Geburt zu kurz gekommen, alles hatte sich um das Fohlen gedreht.

»Weißt du was«, hatte Papa zu mir gesagt, als sie zusammen mit dem Tierarzt und ein paar Leuten im Stall Sekt getrunken hatten, »wir schenken dir das Fohlen zum Geburtstag, Elena. Dann ist es in guten Händen.«

Ich war zunächst sprachlos gewesen. »Du meinst, es gehört ganz richtig mir? Mir ganz allein?«, hatte ich mich dann ungläubig vergewissert.

»Na ja«, hatte Papa gesagt und mir zugezwinkert, »vielleicht lässt du mich später mal auf ihm reiten.«

Alle hatten gelacht und es hatte noch mehr Sekt gegeben. Seit diesem Tag hatte ich mich sehr um Gretna und ihren kleinen Sohn gekümmert. Fritzi folgte mir bald auf Schritt und Tritt, und als er im Oktober von seiner Mutter getrennt und mit drei gleichaltrigen Hengstfohlen in einen Laufstall gebracht wurde, hatte er kaum getrauert.

Doch kurz nach seinem ersten Geburtstag war etwas Schreckliches geschehen. Zusammen mit seinen drei Kumpeln war Fritzi auf die große Waldkoppel mit dem stabilen Holzzaun gebracht worden, wo sie den ganzen Sommer draußen verbringen konnten. Niemand hatte sich später erklären können, wie es den vier jungen Hengsten gelungen war, aus der Koppel auszubrechen. Neugierig und übermütig waren sie in den Feldern herumgaloppiert und ausgerechnet Fritzi war bei diesem Ausflug auf die Straße geraten und von einem Auto erwischt worden.

Die Polizei war auf den Amselhof gekommen und hatte Papa gefragt, ob es eines von seinen Pferden sein könnte, das auf der Straße zwischen Steinau und Königshofen angefahren worden war. Papa hatte sämtliche Koppeln kontrolliert und dabei feststellen müssen, dass die Jährlinge fehlten. Drei von ihnen hatte man auf einer Wiese gefunden, aber Fritzi war verschwunden geblieben.

Eine große Suchaktion hatte begonnen und am späten Abend hatten die Männer das Pferd im Steinauer Moor gefunden – schwer verletzt und halb verrückt vor Angst! Fritzi hatte nicht mehr auf sein linkes Hinterbein auftreten können, hatte aus tiefen Wunden geblutet; aber das Schlimmste war gewesen, dass er sich von niemandem mehr hatte anfassen lassen. Schließlich hatte Papa mich geholt und tatsächlich war es mir gelungen, an Fritzi heranzukommen, ihm ein Halfter anzulegen und ihn auf den Pferdeanhänger zu führen.

»Am besten erschießen wir ihn gleich hier«, hatte Papa düster gesagt.

»Nein, Papa, nein!«, hatte ich entsetzt geschrien. »Das kannst du nicht tun! Fritzi gehört mir! Du hast ihn mir geschenkt!«

»Das Pferd wird wahrscheinlich nie mehr zu etwas zu gebrauchen sein«, hatte Papa streng gesagt. »Schau ihn dir doch an!«

Das hatte ich getan und es war ein furchtbarer Anblick gewesen.

»Bitte, Papa, bring ihn in die Klinik!«, hatte ich gebettelt. »Bitte, bitte, bitte!«

Papa hatte geseufzt, aber dann war er doch mit Fritzi in die Tierklinik gefahren. Dort hatten die Tierärzte die kaputten Sehnen und Bänder des verletzten Beins kunstvoll zusammengeflickt, aber mehr hatten sie nicht tun können. Den Rest, so hatten sie gesagt, müsse die Natur machen.

Papa hatte versucht, mich davon zu überzeugen, dass es für Fritzi das Beste sei, ihn von seinem Leiden zu erlösen, doch ich war hartnäckig geblieben. Fritzi war mein Pferd und mir war es herzlich egal gewesen, ob er später springen konnte oder nicht.