Petra Hammesfahr

Ein süßer Sommer

Roman

1. Kapitel

Es ist schon so lange her, vierzehn Jahre, und ich träume immer noch von dem Abend, an dem Candy starb. In der vergangenen Nacht sah ich sie wieder einmal beim Cranachwäldchen am Niehler Hafen in den Wagen steigen. Da, wo später die Nutten liefen oder standen. 1990 gab es dort noch keinen Straßenstrich, keine Bedarfscontainer oder wie immer sie das nannten, als sie sich in der Presse darüber aufregten. Damals war das ein romantisches Fleckchen bei dem Stein, der den Stromkilometer 693 markierte. Dass an dieser Stelle einmal ein Mordopfer gefunden worden war, sah man nicht.

Die Bäume standen luftig, dazwischen war viel Platz für den Blick auf den Rhein und die gemächlich dahinziehenden Schleppkähne oder Ausflugsschiffe. Spätabends sah man die Lichter rundum – nicht nahe genug, um in einer sternenklaren Nacht dem Himmel etwas von seinem Flair zu nehmen. Wie geschaffen für Liebe, sagte Candy einmal.

Candy, es klingt nach Zucker. Das war sie auch. Ein Löffel Honig in der Milch meines bis dahin zwar aufregenden und abwechslungsreichen, aber trotzdem eintönigen Lebens. Ich wollte sie nicht wieder hergeben. Lieben wollte ich sie – bis ans Ende unserer Tage, wie man so sagt. Nie wieder loslassen wollte ich sie. So ist das, wenn man meint, etwas Einmaliges gefunden zu haben. Eine Frau, wie es eine zweite gar nicht geben kann. Die ganz große Liebe, von der es heißt, dass sie einem Menschen nur einmal im Leben begegnet.

Ich hatte davor nichts Vergleichbares erlebt. Und Candy wollte weg von mir, stieg in dieses verfluchte Auto. Ein 750er BMW, so hieß das zu der Zeit, da gab es noch keine 3er, 5er und 7er. Der 750er war eine schwere Kiste. Sie wirkte so klein darin, so verloren, verschwand fast hinter dem Lenkrad, das sehe ich noch vor mir, auch wenn ich nicht davon träume. Und wie sie eine Hand hob. Aber es reichte nicht ganz zu einem letzten Winken.

«Hau ab, Mike!», rief sie, als ich näher kam. «Hau endlich ab und lass mich in Ruhe!»

Mike, sie war die Einzige, die mich je so genannt hat. Alle anderen sagten Michael oder Herr Schröder. Und wie sie das aussprach, Mike – mit diesem weichen ai. Das passte zu ihr – und zu mir, jedenfalls in den wenigen Wochen, die ich mit ihr hatte.

 

Achtundzwanzig war ich in dem Sommer. Und jeder, der glaubte, mich gut zu kennen, meinte, ich sei ein Kopfmensch, rational, vernünftig, vorsichtig, sorgfältig abwägend, im Privatleben vielleicht zu bequem oder phlegmatisch. Ein Mann, der nach dem Motto lebte, dass man in einer Beziehung nur Probleme löste, die man allein gar nicht hätte. Ein Einzelgänger eben.

Im Prinzip war ich das auch – schon als Kind gewesen. Ich hatte nie einen so genannten besten Freund, kam aber mit allen gut aus. Alle mochten mich, und ich mochte alle, nur eben keinen besonders. Vielleicht hatte ich damals schon Probleme mit den Gefühlen anderer Leute. Ihr Verhalten war mir oft ein Rätsel, weil ich nicht nachvollziehen konnte, warum sie in verschiedenen Situationen die Unwahrheit sagten.

Mir persönlich war es lange Zeit zu anstrengend, kunstvolle Gebilde zu ersinnen, um Tatsachen zu vernebeln. Man musste sich doch mindestens die doppelte Menge an Fakten merken und höllisch aufpassen, dass einem bei der nächsten Schilderung diese Fakten nicht durcheinander gerieten. Vielleicht fehlte mir, wie meine Schwester Ina meinte, einfach die Phantasie zum Flunkern.

Ina war acht Jahre älter als ich, schaffte das locker und immerzu. Sie nannte es Notlügen. «Mir ist die Straßenbahn vor der Nase weggefahren», wenn sie später als befohlen heimkam. Oder: «So ein Mist, jetzt ist mir der glitschige Teller aus der Hand gerutscht», wenn sie keine Lust hatte, den kompletten Abwasch zu machen.

Besondere Vorteile hatte sie dadurch nicht, so oder so gab es Vorhaltungen, manchmal Stubenarrest, bei zerdeppertem Geschirr sogar Abstriche beim Taschengeld. Deshalb sah ich nicht ein, wozu lügen gut sein sollte.

Aber meine Mutter tat es auch. Einmal wurde ich Zeuge, wie sie das Bügeleisen auf ein weißes Hemd meines Vaters setzte und einschaltete. Sie konnte das Hemd nicht ausstehen, hatte bis dahin immer gemeckert, es sei so schwer zu bügeln. Das heiße Eisen hinterließ auf dem Stoff einen dunkelbraunen Abdruck. Und Mutter erklärte ohne das geringste Anzeichen von Schuldbewusstsein, sie habe das Eisen hochkant gestellt, als das Telefon klingelte. Es müsse ganz von allein umgekippt sein.

Später, als ich beruflich hin und wieder eine so genannte Legende brauchte, dachten sich meist andere etwas Sinnvolles aus. Damit hatte ich keine Schwierigkeiten, weil ich die Nützlichkeit falscher Behauptungen einsah. Aber als Kind wollte mir die nicht in den Kopf.

Ich galt als naiv oder blauäugig, wie Ina das oft ausdrückte, weil ich meist jede Behauptung für bare Münze nahm. Man hielt mich für gutmütig und hilfsbereit, weil ich mich bückte, wenn ein Baby den Schnuller aus dem Kinderwagen spuckte oder einem alten Mann am Kiosk das Kleingeld für die Zeitung aus den Händen fiel.

Mit sechzehn wurde ich zuerst von meiner Schwester, im Anschluss von ihrem gesamten Bekanntenkreis häufig als Babysitter angeheuert. Dann konnten sie sich unbesorgt einen netten Abend machen. Manchmal hütete, wickelte und fütterte ich drei Zwerge zur gleichen Zeit, und alle fanden, ich mache das besser als jedes Mädchen.

Mit achtzehn machte es mir immer noch mehr Spaß, am Samstagnachmittag mit Vater das Auto zu putzen und mich anschließend in meinem Zimmer aufs Bett zu legen, einen Kopfhörer aufzusetzen und Musik zu hören. In Diskotheken zog es mich überhaupt nicht, auch nicht ins Kino, ins Schwimmbad, auf Sportplätze oder an andere Orte, wo Jugendliche sich mit Vorliebe versammelten.

Mit zwanzig ging ich zur Polizei. Meine Eltern, Ina und mein Schwager meinten übereinstimmend, das sei genau der richtige Beruf für mich, ich sei prädestiniert als Freund und Helfer. Es sei ja auch ein krisenfester Job, dass die Firma pleite ginge, stünde nicht zu befürchten. Nur ist die Sicherheit im Staatsdienst die eine Seite, auf der anderen steht ein schlichtes Rechenexempel.

Gut bezahlt werden junge Polizisten nicht. Hinzu kommt der Frust. Wer freut sich denn wirklich, wenn so ein Freund und Helfer auftaucht? Man ist der Prügelknabe der Nation. Bei Verkehrskontrollen wird man beschimpft, bei Demos mit Steinen beworfen. Holt man einen Randalierer aus einer Kneipe, muss man sich vors Schienbein treten lassen, zurücktreten darf man nicht.

Mit vierundzwanzig hatte ich schon keine Lust mehr. Und zu dem Zeitpunkt – im Februar 1986 war das – las ich die Annonce der Agentur Hamacher. «Männliche Fachkraft für Sicherheitsbereich zu guten Konditionen gesucht.» Es war etwas schwammig formuliert. Was sollte ich mir unter Sicherheitsbereich vorstellen? Ich dachte an Werkschutz, war es aber nicht.

 

Die Agentur Hamacher war eine Detektei, allerdings nicht das, was man sich gemeinhin darunter vorstellt. Zwar hatte Peter Hamacher in den sechziger Jahren so angefangen, stundenlang mit einem Fotoapparat, einem Butterbrot und einer Flasche Wasser im Auto gesessen und darauf gelauert, ein paar kompromittierende Aufnahmen schießen zu können.

Aber als ich mich bewarb, ging es längst nicht mehr vordringlich um untreue Ehemänner oder -frauen. Inzwischen wurden nur noch manchmal welche gesucht, die sich vor Unterhaltszahlungen drückten oder ihre Kinder in ein Land verschleppt hatten, aus dem diese nur schwerlich wieder rauszuholen waren.

Seit Jahren war Hamacher Chef in einer richtigen Firma, die er kontinuierlich ausgebaut hatte. Es gab sogar eine Zweigstelle in Frankfurt mit sechs Angestellten. In Köln waren es – ehe ich dazukam – sieben, drei davon Mitarbeiter im Außendienst. Das klingt vornehmer als Schnüffler oder Leibwächter. Wir verfügten sogar über ein eigenes Labor, in dem nicht nur Fotos entwickelt wurden. Dort arbeiteten zwei Leute.

Im so genannten Sekretariat saß Tamara. Sie war Ende vierzig und kam aus dem Osten. Bei ihrem Nachnamen machte sich jeder drei Knoten in die Zunge, deshalb durften alle sie duzen. Tamara hatte eine Weile für den BND gearbeitet. Was sie dort getan hatte, weiß ich nicht. Aber sie hatte diverse nützliche Erfahrungen gesammelt, die sie in der Agentur nur noch gelegentlich anwenden konnte. Sie war zuständig, wenn es darum ging, einen Lebenslauf zu kreieren, damit ein Außendienstler in irgendeiner Firma tätig werden konnte. Darüber hinaus stellte sie Informationsmaterial zusammen, schrieb Rechnungen, tippte Berichte sauber ab und fungierte als Empfangsdame.

Vom Empfang aus ging es immer erst mal zu Frau Grubert, der Chefsekretärin, die auch als Hamachers Vertretung fungierte, wenn er sich in Frankfurt oder sonst wo aufhielt.

In gewisser Hinsicht war die Agentur ebenso straff organisiert wie eine Polizeidienststelle. Aber sie war entschieden besser ausgestattet, verfügte über einen gepflegten Fuhrpark, sogar über etliche Computer. Damit war es 1986, als ich für Hamacher zu arbeiten begann, zwar noch nicht so weit her. Aus heutiger Sicht bewegte man sich bei der elektronischen Datenverarbeitung oder Erfassung noch in der Steinzeit. Es hatte noch kein Mensch etwas von Pentium-Prozessoren gehört. Man arbeitete mit 286ern auf der DOS-Ebene, später waren es 386er. Alles wurde fein säuberlich ausgedruckt, abgeheftet oder in einen Umschlag gesteckt und zur Post gebracht. Und manchmal vergingen zwei oder drei Tage, ehe der Empfänger die Sendung dann in Händen hielt, kann sich heute kaum noch jemand vorstellen.

Doch sobald eine Neuheit auf den Markt kam, wurden die Computer der Agentur damit ausgestattet. Die Außendienstler mussten sich zwar ein Büro und eine dieser Rechenmaschinen teilen, aber das war kein Problem, weil nie alle zusammen in der Firma waren. Und Hamachers Leute wurden regelmäßig geschult, um mit allen Neuerungen der elektronischen Datenverarbeitung vertraut und auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Ich war sehr beeindruckt, weil auch etliches an Überwachungsgerät zur Verfügung stand, wovon Polizisten nur träumen konnten. Dass alles ganz legal war, will ich gar nicht behaupten. Aber es war sehr effektiv, und Hamacher verstand sich darauf, seine Arbeit als seriös zu verkaufen.

Ein Großteil der Aufträge kam inzwischen aus der Industrie, große und kleinere Firmen, Handel, Banken und Versicherungen waren auch vertreten. Werkspionage, Sabotage, Versicherungsbetrug, Unterschlagung, Veruntreuung, alles, was man nicht an die große Glocke hängen wollte, um den Ruf des Unternehmens nicht zusätzlich zu schädigen, klärten Hamachers Mitarbeiter im Außendienst diskret auf.

Manchmal wurden Führungskräfte oder Wissenschaftler abgecheckt, bevor man sie unter Vertrag nahm. Und natürlich wurde in solchen Fällen geschnüffelt, ob sich jemand gerne mit Koks und Prostituierten in Hotelsuiten amüsierte. Ob jemand einen Berg Schulden hinter sich her schleppte oder heimlich der Spielleidenschaft frönte. Alles, was einen Mann in gehobener Position erpressbar oder leicht verführbar hätte machen können, musste ans Licht gebracht werden, damit der Konzern, der ihn engagieren wollte, keine böse Überraschung erlebte.

Gelegentlich musste auch ein Generaldirektor oder sonst ein wichtiger Mensch vor irgendwelchen Wirrköpfen geschützt werden. Deshalb verlangte Hamacher von der männlichen Fachkraft ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis, das es erlaubte, eine Schusswaffe zu tragen. Eine eigene Pistole musste man nicht besitzen, es gab ein ganzes Arsenal in der Agentur. Aber man sollte auf der Straße einen Ballermann tragen dürfen und wissen, wie man damit umzugehen hatte. Das wusste ich.

Weitere Voraussetzungen waren Flexibilität und Unabhängigkeit, mit anderen Worten, man hatte rund um die Uhr sieben Tage in der Woche zur Verfügung zu stehen. Die drei Wochen Jahresurlaub gab es nicht am Stück, sondern tageweise und nur, wenn die Auftragslage es erlaubte. Bei einem Mann mit Familie hätte das problematisch werden können. Deshalb bevorzugte Hamacher bei der Einstellung für den Außendienst ledige Männer. Wenn sie später heirateten, war das ihr Problem oder das ihrer Frauen.

Ich war unter etlichen Bewerbern der Einzige, der sämtliche Voraussetzungen auf Anhieb erfüllte. Jung, ungebunden, eine äußerlich unauffällige Erscheinung, körperlich in Bestform. Und ich brauchte nicht lange, um mich zu entscheiden.

Hamacher bot mir ein Gehalt, das schon im ersten Jahr doppelt so hoch war wie das, was ich bisher verdient hatte. Und sollte mich noch einmal jemand mit Steinen bewerfen oder vors Schienbein treten, durfte ich nicht nur zurückwerfen oder -treten, es wurde erwartet, dass ich es tat.

Das soll jetzt nicht heißen, dass mich die Arbeit für Hamacher mit der Zeit aggressiver machte. Ich wurde nur häufiger als meine Kollegen im Personenschutz eingesetzt. Aber mir wurden auch schon in den ersten Jahren andere Aufträge übertragen.

Ich kam viel in der Welt herum, sogar bis Nepal. Dort spürte ich einen verschollenen Erben auf. In Spanien fing ich zwei entlaufene Teenager wieder ein. Im Sudan verbrachte ich mit einem Kollegen zwei aufregende Wochen. Dahin hatte ein Vater nach der Scheidung von seiner deutschen Frau die beiden gemeinsamen Söhne gebracht, obwohl der Mutter das Sorgerecht zugesprochen worden war. Wir holten ihr die Kinder zurück. Und so etwas machte einfach Spaß, von der Genugtuung ganz zu schweigen.

Natürlich gab es hin und wieder auch Aufträge, die eher mit Widerwillen erledigt wurden. Da waren vor allem zwei Stammkunden aus Hamachers Anfängen als Detektiv, die seine beziehungsweise die Dienste seiner Mitarbeiter gelegentlich noch in Anspruch nahmen. Die eine war eine ältere Dame mit Adelstitel, die ihrer auch nicht mehr ganz jungen Tochter mit schöner Regelmäßigkeit die Hochzeitspläne zunichte machte. Sie ließ ihre Schwiegersöhne in spe durchleuchten und überzeugte mit den Ergebnissen ihre Tochter davon, es sei besser, von einer Heirat abzusehen. Manchmal stimmte das auch.

Schlimmer war der Ministerialrat Dr. Holger Gerswein, ein Schlitzohr mit dem Lebensmotto: Genuss ohne Reue. Er war Mitte fünfzig und verheiratet. Seine Ehe war kinderlos, und er betrog seine Frau, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Damit hatte er schon vor der Hochzeit angefangen. Und zu der Zeit war er einmal an die Falsche geraten. Eine junge Frau, die im Anschluss an ihre Affäre eine Erpressung versucht hätte, erzählte Hamacher einmal. Seitdem beauftragte der Herr Ministerialrat die Agentur regelmäßig damit, den Hintergrund, nach Möglichkeit auch die Gesinnung seiner jeweils neuen Gespielin auszuleuchten, um vor weiteren bösen Überraschungen sicher zu sein. Aber mit ihm hatte ich in den ersten vier Jahren nichts zu tun.

Ich fand, ich hatte einen tollen Job und keine Defizite im Privatleben. Ich konnte mir eine schicke Wohnung am Wiener Platz in Köln-Mülheim leisten. Nicht die üblichen viereckigen Zimmer, mein Wohnzimmer hatte sechs Ecken und zwei Ebenen. Dass auf der zweiten nur Platz für eine kleine Couch und die Stereoanlage war, störte mich nicht, es sah jedenfalls ungewöhnlich aus.

In die Einrichtung investierte ich ein kleines Vermögen. Mein Heim ist mein Schloss, nicht wahr? Mein Konto bei der Stadtsparkasse wies einen ansehnlichen Betrag auf der Haben-Seite aus. Und für die Mobilität in der knappen Freizeit gönnte ich mir 1988 einen ganz besonderen Luxus: ein Mercedes Coupé, weinrot mit beigefarbenen Ledersitzen, ein Traum von einem Auto, das nach zwei Jahren noch keine einzige Schramme und gerade mal fünftausend Kilometer auf dem Tacho hatte, weil ich beruflich immer Fahrzeuge der Agentur oder andere Verkehrsmittel wie einen Flieger oder den Zug benutzte.

Mit achtundzwanzig ging es mir in jeder Hinsicht sehr gut. Ich war nicht nur ein freier, ich war ein sorgenfreier Mann, den sein Beruf voll und ganz ausfüllte. Für die Liebe hatte ich gar keine Zeit. Natürlich hatte ich hin und wieder schon kleine Affären oder kurze Bekanntschaften gehabt, anders kann man es eigentlich nicht bezeichnen. Ein bisschen Sex. Nach ein paar Wochen war es meist vorbei. Entweder hatten die Frauen genug, weil sie sich vernachlässigt fühlten. Oder sie wurden mir lästig, weil sie zu neugierig waren und mir in meinen seltenen Mußestunden etwas abverlangten, wozu ich in dem Moment keine Lust hatte. Mal ins Kino zu gehen, ins Theater, in ein Konzert oder in ein Restaurant war ja ganz schön. Aber man musste doch nicht ständig etwas unternehmen.

Ich kochte gerne, empfand schon das Einkaufen als besonderes Vergnügen und fand es gemütlich, daheim zu essen. Ich war doch selten genug in meiner Wohnung. Wenn ich in Köln war, wollte ich es auch genießen. Ich fand so einen Abend auf der zweiten Ebene meines Wohnzimmers nicht langweilig, sondern erholsam und entspannend. Musik hören, Carlos Santana oder Pink Floyd, manchmal auch die Londoner Philharmoniker oder spanische Klänge. Die Augen schließen, abschalten und an gar nichts mehr denken. Dabei brauchte ich nicht unbedingt Gesellschaft – bis Candy meinen Weg kreuzte.

 

Ich traf sie in einem Intercity auf der Fahrt von München nach Köln, am letzten Freitag im Juni 1990. Nach vier hektischen und anstrengenden Tagen und Nächten freute ich mich auf eine geruhsame Heimfahrt. Ich hatte in München nicht sonderlich viel Schlaf bekommen. Von morgens früh bis weit in die Nacht hinein war ich zusammen mit meinem Kollegen Hartmut Bender an der Seite eines Mannes gewesen, der dort an einem Kongress teilnahm.

Ein wichtiger Mann, er arbeitete in der Entwicklungsabteilung eines Großkonzerns und hatte etwas entwickelt, wofür ihn einige in den Himmel lobten und andere in die Hölle wünschten. Es waren bei der Firmenleitung, auch bei seiner Familie ein paar durchaus ernst zu nehmende Drohungen eingegangen.

Personenschutz konnte einem das Letzte abverlangen, es kam auf die zu schützende Person an. Wenn man Glück hatte, geriet man an einen friedlichen und von der vermeintlichen oder realen Gefahr bereits eingeschüchterten Zeitgenossen, der es vorzog, sich ohne Begleitung nicht von der Stelle zu rühren.

Unser Schützling jedoch war eine rechte Frohnatur, der die Sorgen der Konzernleitung und seiner Familie für maßlos überzogen hielt. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass ihn jemand aus der Welt räumen wollte. Quer durchs Münchner Nachtleben hatte er uns gescheucht und tagsüber aus dem Kongressraum von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Überall traf er gute Bekannte. Da hatten wir uns in entsprechender Entfernung zu halten, weil es ihm peinlich war, gleich zwei Leibwächter an den Fersen zu haben, wo andere, viel wichtigere Leute nicht mal einen hatten.

Blut und Wasser hatten wir jedes Mal geschwitzt, dass wir etwas übersehen könnten. Mehr als einmal hatte er auch versucht, uns zu entwischen, sich schon in der ersten Nacht unbemerkt aus dem Hotelzimmer schleichen wollen. Doch seine Frau hatte uns vorgewarnt, sodass wir wohl oder übel nachts vor seiner Tür abwechselnd Wache schoben.

Nun befand sich dieser agile Mensch, der offenbar niemals müde wurde, auf dem Heimflug – mit Hartmut Bender an seiner Seite. Es hatte nur einer von uns fliegen können, weil wir zwei Schusswaffen mitführten und damit nicht in die Maschine steigen durften. Aus dem Grund war ich auch schon mit dem Zug und den Schießeisen im Gepäck vorausgefahren. Um der Gerechtigkeit willen hätten wir für den Rückweg tauschen können. Großartig gelost oder ausdiskutiert, wer von uns schneller daheim sein durfte, hatten wir jedoch nicht.

Hartmut Bender war zwanzig Jahre älter als ich. Und er war verheiratet – schon zum dritten Mal. Jetzt war er zum ersten Mal Vater geworden, zwei Monate früher als erwartet. Das hatte er am Mittwochabend in München erfahren, seitdem war er ein bisschen aus dem Häuschen und verständlicherweise bestrebt, schnellstmöglich an das Bett seiner Frau zu gelangen und sich zu überzeugen, dass es dem winzigen, leichtgewichtigen Töchterchen wirklich den Umständen entsprechend gut ging.

Und ich fuhr gerne mit dem Zug. Man hatte entschieden mehr Platz als im Flieger, konnte die Beine ausstrecken, sich mal die Füße vertreten, genüsslich Kaffee oder sonst etwas trinken, und niemand kam, um eine halbe Stunde vor der Einfahrt in einen Bahnhof die Becher wieder einzusammeln.

Also hatte ich kommentarlos die beiden Berettas und eine nicht mehr ganz volle und von häufigen Transporten leicht lädierte Schachtel Munition – Kaliber 9 mm, wenn schon, denn schon – in meine Reisetasche gepackt, Hartmut Bender und den wibbeligen Chemiker zum Flughafen gefahren, den Mietwagen zurückgegeben und mich von einem Taxi zum Münchner Hauptbahnhof bringen lassen.

Ich war rechtschaffen müde und freute mich auf ein paar erholsame Tage. Bis einschließlich des kommenden Mittwochs hatte ich nämlich Urlaub. Bis Augsburg saß ich allein im Abteil und versuchte, ein bisschen zu dösen, was mir nicht gelang, weil es auf dem Gang zu laut war. Nebenan hatte sich eine Gruppe junger Leute niedergelassen, Studenten vermutlich. Es waren so viele, dass sie nicht alle in einem Abteil Platz gefunden hatten. Einige drückten sich um die Tür und auf dem Gang herum und beteiligten sich von dort aus lebhaft an der Unterhaltung.

Ich schaute die meiste Zeit aus dem Fenster, einfach nur so, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Und im Augsburger Bahnhof sah ich sie dann. Sie fiel schon deshalb auf, weil sie über einer weit geschnittenen Blousonjacke ein Monstrum von Rucksack auf dem Rücken trug, auf dem in abenteuerlicher Weise mit Lederriemen ein zusammengerollter Schlafsack befestigt war. Zusätzlich schleppte sie vor den Knien eine prall gefüllte Reisetasche aus geblümtem Gobelin-Stoff, die ziemlich antiquiert und geflickt aussah.

Mit beiden Händen hielt sie die Tasche fest und behinderte sich damit. Von ihrer linken Schulter baumelte noch ein winziges rotes Täschchen am Riemen, der ständig herunterrutschte und mit Schulterzuckungen in seiner Position gehalten wurde. Ich sah sie nur ein paar Sekunden lang auf dem Bahnsteig. Als der Zug zum Stehen kam, verschwand sie aus meinem Blickfeld, um kurz darauf vor der Tür meines Abteils wieder aufzutauchen. – Candy.

Um so etwas wie sie machte ich normalerweise einen weiten Bogen. Ein reizendes Persönchen, wobei die Betonung auf dem Wort reizend liegt. Sie konnte einen Menschen innerhalb von Sekunden in ein Fragezeichen verwandeln, zur Weißglut oder in die Flucht treiben. Gleichzeitig war sie die Sanftmut und Naivität in Person. Typ Nervensäge. Behütete Tochter aus wohlhabender Familie, geliebt und gehätschelt von sämtlichen Anverwandten.

Nicht ganz einssechzig groß, sie reichte mir gerade mal bis an die Schulter, nur knappe fünfzig Kilo schwer, aber imstande, mehr als das Doppelte ihres eigenen Gewichts hinter sich herzuschleifen, um rund einen Meter anzuheben und über die Kante in den Kofferraum eines BMW zu hieven. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, sonst würde ich es nicht glauben.

Neunzehn Jahre alt war sie, ein Bündel aus Energie und Lebenslust, ausgestattet mit einem eisernen Willen. Was sie sich in den Kopf setzte, zog sie auch durch – auf Gedeih und Verderb. Manchmal war sie melancholisch, manchmal überschwänglich und immer mit einem schnellen Urteil bei der Hand. Für Candy war die Welt nur gut oder böse, dazwischen gab es nichts. Und Langeweile war bei ihr ein Fremdwort.

So auf Anhieb war nichts an ihr, was mich in irgendeiner Weise angesprochen hätte. Ein rundes, noch kindlich weiches Gesicht, glatte Haut, ein kleiner Mund mit prallen Lippen, den sie nur mit äußerster Willenskraft oder im Zustand tiefster Depression geschlossen halten konnte. Beim Küssen funktionierte das auch, wie ich später feststellen durfte. Da hielt sie ihn zwar nicht geschlossen, aber sie war still mit hingebungsvoller Ausdauer.

Nackenlanges, leicht gewelltes, dunkelblondes Haar, grüne Augen, deren Farbe manchmal von Unbarmherzigkeit ins Braune getrieben wurde. Und dann strahlten sie arktische Kälte aus. Sie war zierlich wie ein Kind. Und lästig war sie mir in den ersten Stunden, furchtbar lästig. Ein junges Mädchen mit zu schwerem Gepäck und dem Herzen auf der Zunge.

 

Sie hatte die Tür zum Abteil noch nicht völlig zur Seite geschoben, da lief ihr Mund bereits über. Zuerst die üblichen Floskeln. «Ist hier noch frei?» Sah man doch, außer mir saß keiner da, außer meiner Reisetasche stand oder lag auch kein Gepäckstück herum. «Darf ich mich zu Ihnen setzen?» Konnte ich kaum verhindern, ich hatte die restlichen Plätze ja nicht reserviert.

Ich nickte. Sie lächelte mich an und zeigte dabei eine Reihe kleiner, schneeweißer Zähne im Oberkiefer, die sich hervorragend für eine Zahnpasta-Reklame geeignet hätten, während sie sich mitsamt der quer vor den Knien gehaltenen Reisetasche und dem Monstrum von Rucksack durch die Tür zwängte.

Dann bekam ich auch schon die pralle Reisetasche in die Seite gerammt, weil ich leichtsinnigerweise die Armlehne zum Nebensitz hochgeklappt hatte, um es bequemer zu haben. Was ich für einen Flicken gehalten hatte, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Lederstreifen, der offenbar nachträglich angenäht worden war, um die Tasche sicher zu verschließen. In Form eines Riegels war der Streifen unter den Handgriffen durchgeführt. An seinem Ende befand sich ein kleiner Metallring, auf dem Gobelin-Stoff ein zweiter Ring, beide waren durch ein winziges Vorhängeschloss miteinander verbunden.

Das kleine rote Täschchen warf sie hinterher, es fiel mir in den Schoß. Ihr Gesicht hatte in etwa den gleichen Farbton und glänzte feucht, als sie sich unter Verrenkungen bemühte, den Rucksack loszuwerden. Linke Schulter nach unten beugen, linke Hand unter den breiten Gurt schieben, einige hoffnungsvolle, aber ergebnislose Zuckungen mit der Schulter, und die gleichen Bemühungen auf der rechten Seite, bis ich mich schließlich erbarmte. «Darf ich Ihnen helfen?»

Sie schenkte mir das zweite Lächeln, welches praktisch nahtlos in das erste überging und sich nur durch die Intensität von diesem abhob. Ein langer Seufzer begleitete das Strahlen. «Das wäre sehr nett von Ihnen.»

Dann stellte sie fest, dass ich mich garantiert bereits über ihre Bekleidung gewundert hätte. Das hatte ich tatsächlich. Draußen herrschten hochsommerliche Temperaturen. Und sie trug diese Blousonjacke, wattiert, mit einem Gummizug in der Taille und vier beutelartigen Aufsatztaschen zu beiden Seiten der Vorderteile. Die Taschen hatte sie mit allem nur denkbaren Kleinkram gefüllt. Papiertücher, Münzgeld, ihre Fahrkarte, zwei Lippenstifte und ein Deoroller, zwei Tüten mit Pfefferminzbonbons, zu Kugeln gedrückte Alufolie, in der sich vor Tagen belegte Brote befunden haben mochten, jetzt waren die Kerngehäuse einiger abgenagter Äpfel darin eingewickelt.

Aber die erstaunlich geräumigen Aufsatztaschen waren nicht der einzige Grund, aus dem Candy sich entschlossen hatte, die Jacke zu tragen, statt sie im Gepäck mit sich zu führen. Es hing auch mit dem Gewicht des Rucksacks zusammen. Die Gurte ohne Abpolsterung auf den Schultern, unmöglich! Mit der Jacke und darunter noch einem dicken Pullover trug sich das Ding entschieden angenehmer.

Das alles erfuhr ich innerhalb der ersten drei, höchstens vier Sekunden, während ich ihr den Rucksack abnahm. Nun hätte ich mich natürlich über das Gewicht desselben wundern können. Doch bevor es dazu kam, erklärte Candy auch das, zumindest fing sie damit an. Vor ein paar Tagen, als sie in Hamburg in den Zug gestiegen war, um ihre Tante Gertrud in Augsburg zu besuchen, hatten sich nur der Schlafsack, das Waschzeug und etwas Obst im Rucksack befunden. Da hatte sie sich mit der Jacke über dem T-Shirt begnügt. Und das war eigentlich schon zu warm gewesen. Ob ich nicht auch fand, dass es für einen Juni in diesen Breiten viel zu heiß sei? Und ob ich mir vorstellen könne, was diese unnatürlichen Wetterbedingungen auslöste? Nein?

Die Umweltverschmutzung, was denn sonst!? Das Ozonloch, die unverantwortliche Verschwendung unersetzlicher Rohstoffe. Es musste ja jeder ein Auto haben! Wer ging denn noch einen Schritt zu Fuß oder nahm für längere Strecken ein öffentliches Verkehrsmittel? Nur Leute wie wir.

Sie hatte den Faden verloren, was immer für das Gewicht des Rucksacks verantwortlich sein mochte, erfuhr ich vorerst nicht. Stattdessen machte sie sich daran, mir zu danken. Es war wirklich unwahrscheinlich nett von mir, ihr zu helfen. Man traf heutzutage leider kaum noch Leute, die nett und auch noch hilfsbereit waren. Ihre Stimme überschlug sich vor Eifer, mir meine Einmaligkeit zu bescheinigen. Zwischen den einzelnen Worten und Sätzen war nicht die Zeit gewesen für einen Atemzug. Den holte sie jetzt nach und ließ sich dabei auf den Sitz mir gegenüber fallen.

Mir fiel währenddessen der Rucksack fast aus den Händen. Ich war bestimmt nicht schwächlich, stemmte bei den Übungen, die Hamacher seinen Mitarbeitern im Außendienst der Fitness halber verordnete, bis zu fünfzig Kilo. Der Rucksack musste schwerer sein und blieb erst mal zwischen meinen Beinen stehen.

Ich hievte ihn später neben ihre Reisetasche auf einen Sitz, stieß mir dabei das Knie an einer der vielen steinharten Ausbuchtungen. Fragte mich, ob sie Goldbarren oder Steine darin verstaut hatte und auf dem Weg zu irgendeiner Demo war. War wieder mal glücklich, den Beruf gewechselt zu haben, und musste flüchtig an eine Ameise denken, die ja erwiesenermaßen auch das Mehrfache ihres eigenen Körpergewichts schleppen konnte.

Währenddessen hörte ich mir an, dass Tante Gertrud im nächsten Jahr vierundsechzig wurde, die älteste Schwester ihrer Mutter war, keine eigenen Kinder hatte und vermutlich allein deshalb aus lauter Sorge um die Nichte halb verrückt wurde. Tante Gertrud hätte Candy eigentlich gerne persönlich zum Bahnhof gebracht, hatte aber heute Nachmittag an der Uni zu tun gehabt, sodass Candy notgedrungen ein Taxi genommen hatte.

Noch lieber hätte Tante Gertrud es gesehen, wenn Candy in Augsburg geblieben wäre. Aber Europa lockte. In den nächsten sechs bis acht Wochen wollte Candy so viel wie eben möglich davon sehen. Die schmutzigen Kanäle von Venedig, die auch nicht eben klaren Grachten von Amsterdam, ein Stück vom Rhein, dessen Wasserqualität sich ja angeblich verbessert haben sollte, was Candy allerdings nicht so unbesehen glaubte. Die Rhone, die Seine, den Po und natürlich die Adria, dieses erbarmungswürdige Fleckchen, dessen ökologischen Tod niemand mehr verhindern konnte.

Wenn das Studium erst begonnen hatte, war es vorbei mit dem Reisen. Da sollte man sich nicht zu lange an einem Ort aufhalten, vor allem dann nicht, wenn man den Ort ohnehin schon kannte wie seine eigene Hosentasche.

«Kennen Sie Augsburg?»

Ich hütete mich, den beständig plätschernden Wasserfall mit mehr als einem Kopfschütteln zu kommentieren, und ließ mir vom Sommer 88 berichten, in dem Candy volle drei Wochen bei Tante Gertrud verbracht hatte, um ihren Eltern nach einem Umzug beim Einräumen nicht im Weg zu stehen.

Inzwischen hatte sie die Beine ausgestreckt und zwei vergebliche Versuche unternommen, sie übereinander zu schlagen. Doch ihre Jeans war anscheinend zu eng. Die Jacke hatte sie neben sich gelegt, darunter trug sie tatsächlich einen offenbar selbst gestrickten und entsprechend dehnbaren Pullover. Er wurde urplötzlich und mitten in einem Satz über den Kopf gerissen und auf die Jacke gepackt.

Mit dem Pullover rutschte auch ihr ärmelloses T-Shirt in die Höhe, darunter kam ein Streifen sonnengebräunter Haut zum Vorschein und ein ziemlich dicker, breiter, ebenfalls brauner Gürtel, den sie auf der nackten Haut trug.

Candy fuhr einmal mit gespreizten Fingern durch ihr Haar, stopfte das T-Shirt zurück in den Bund der Jeans, kramte in den Jackentaschen nach einem Lippenstift, zog sich, als sie ihn endlich gefunden hatte, ohne Spiegel die Lippen nach und plapperte unerbittlich weiter. Ich hatte nur noch das Bedürfnis, mich nach nebenan zu setzen. Ein ganzer Hörsaal voller Studenten konnte nicht anstrengender sein als dieses Mädchen.

 

Was hat sie mir nicht alles erzählt in den ersten Stunden dieser Fahrt. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich wäre gar nicht dazu gekommen, mir eigene Gedanken zu machen. Bevor eine Frage auch nur auftauchen konnte, hatte Candy sie bereits beantwortet. Sie sprach ein ausgezeichnetes Deutsch, allerdings mit dem typischen, breiten Akzent der Amerikaner. Über den ich mich doch gewiss schon gewundert hatte, oder nicht?

Aber sie war Deutsche, Ehrenwort. Und sie hatte praktisch von Anfang an Deutsch und Englisch gesprochen. Geboren war sie nämlich in den Staaten, stand jedenfalls in ihrem Pass, stimmte aber gar nicht. Sie war auf einem Schiff zur Welt gekommen, auf einem Forschungsschiff, um genau zu sein, das unter der Flagge der USA lief. Und damit sie als Geburtsort nicht irgendeinen Längen- oder Breitengrad angeben musste – wie hätte sich das denn angehört, siebzehn Grad östlicher Länge oder Breite oder so ähnlich, darunter hätte sich doch kein Mensch etwas vorstellen können –, hatte Dad ihre Geburt erst registrieren lassen, als sie wieder an Land waren. Dabei hatte er sie dann zwangsläufig ein bisschen jünger machen müssen, das merkte aber heute kein Mensch mehr, oder doch?

Und ihre Mutter stammte ebenso wie Margarete und Tante Gertrud aus Hamburg. Margarete war übrigens die jüngere Schwester ihrer Mutter – inzwischen auch schon Anfang sechzig und damit zwanzig Jahre älter als «meine Mutter».

Aber wie auch immer: Margarete war dafür verantwortlich, dass die gesamte Familie, mit Ausnahme von Tante Gertrud, lange Jahre in Philadelphia gelebt hatte. Vetter Tom, seine Frau Heather und die beiden Söhne lebten immer noch dort. Die restliche Familie war vor zwei Jahren in die alte Heimat zurückgekehrt und wohnte wieder in Hamburg. Mit Ausnahme von Tante Gertrud natürlich, die war aus Augsburg nicht mehr wegzudenken, obwohl sie früher auch gerne in Heidelberg gelebt hatte.

Wahrscheinlich hatte Candy wegen dieses Umzugs im letzten Sommer ihr Abitur nicht ganz mit eins gemacht wie erhofft und erwartet. Es musste am Schulwechsel gelegen haben. Das war doch eine sehr große Umstellung gewesen. Nach dem Abitur hatte sie sich um einen Studienplatz in Meeresbiologie beworben. Was sollte man auch sonst studieren, wenn man mit Wasser unter dem Kiel das Licht der Welt erblickt hatte? Gut, Ozeanographie hätte sich noch angeboten, war aber nicht ganz nach ihrem Geschmack. Sie fühlte sich den Fischen, den Walen und den Robben sehr verbunden. Und das Plankton musste ja auch geschützt werden.

Im vergangenen Oktober hatte sie den gewünschten Platz nicht bekommen, auch im März war sie leer ausgegangen. Aber irgendwann musste das klappen, man musste nur hartnäckig sein und durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Einen Teil der Wartezeit hatte sie sich mit Arbeit vertrieben, sieben Monate lang, in einem Schnellrestaurant. Eine elende Plackerei war das gewesen, regelrechte Ausbeutung, ehrlich, für einen Hungerlohn. Jeden Pfennig hatte sie eisern gespart für ihren Europatrip. Die Familie hatte noch ein wenig draufgelegt. Und wenn sie sich ihr Geld geschickt einteilte, würde es bis Spanien reichen. Aber jetzt fuhr sie erst einmal nach Köln.

Ich vermutete, dass sie sich von der Wasserqualität des Rheins an Ort und Stelle überzeugen wollte und in dem Monstrum von Rucksack vielleicht ein komplettes Labor mitschleppte.

«Kennen Sie Köln?»

Ich war nahe daran, noch einmal den Kopf zu schütteln, nickte jedoch flüchtig und in der Hoffnung, sie damit zu ein paar Fragen zu inspirieren und dann mit Einsilbigkeit zum Schweigen zu bringen. Das war eine Fehlspekulation. Fragen an mich hatte Candy nicht.

Sie hatte schon ungefähr zwei Stunden lang erzählt, ab und zu nur durch die Schaffnerin unterbrochen, die nachschauen wollte, ob jemand zugestiegen war, als ihr endlich auffiel, dass wir uns noch gar nicht richtig miteinander bekannt gemacht hatten. Das Versäumnis wurde augenblicklich nachgeholt.

Ihre rechte Hand, die gerade in einer Jackentasche nach einem Pfefferminzbonbon gewühlt hatte, streckte sich mir mitsamt dem Bonbon entgegen. Doch das fiel ihr noch rechtzeitig auf, und sie machte aus der Not ein Angebot.

«Nehmen Sie ruhig, ich habe genug davon.»

Die kleinen Zähne blitzten mich wieder an. Alles an ihr, mit Ausnahme der Augen, war so klein. Das Gesicht, die Füße, die Hände. Feste, warme Kinderhände mit brauner Haut und kurzen, rund gefeilten Fingernägeln. Es war ein sonderbares Gefühl, sie für einen Moment zu halten, den festen Druck zu erwidern und dabei ebenfalls zu lächeln.

Vielleicht kam dabei ein wenig Sympathie auf. Sie wirkte so unbekümmert und tatendurstig, als ob die malträtierten Weltmeere, die Seine, der Po, der Rhein und die Adria nur auf eine Candy hofften. Vertrauensselig, als könne kein Mensch auf dumme Gedanken kommen, wenn sie bereitwillig mitteilte, dass sie den Lohn von sieben Monaten harter Arbeit, mit Beiträgen der Familie auf die runde Summe von siebentausend Mark gebracht, in dem Gürtel unter dem T-Shirt um die Taille trug. Abgesehen davon, dass allein schon ihre Taille den einen oder anderen auf dumme Gedanken hätte bringen können.

Ich stellte mich mit vollem Namen vor, Michael Schröder. Ihren Familiennamen erfuhr ich vorerst nicht, bei einer Reisebekanntschaft konnte der nur stören. Einfach nur Candy, bitte. So wurde sie seit Jahr und Tag genannt. Genau genommen hieß sie Candida. Ihre Mutter hatte den Namen für sie ausgesucht. Das klang, als sei damit alles erklärt.

Und es klang ein wenig verhangen. Die Munterkeit in ihrer Stimme war mit einem Mal wie ausgelöscht. Sie schaute mich auch nicht mehr an, wie sie es die ganze Zeit über getan hatte, drehte das Gesicht zum Fenster und betrachtete die vorbeihuschende Landschaft. Doch ich war zu müde, um dem auf Anhieb eine besondere Bedeutung beizumessen.

Ihre Mutter hatte George Bernard Shaw geliebt, vor allem dieses eine Stück von ihm, nach der gleichnamigen Figur Candida benannt. Das erfuhr ich noch.

Ich hatte damals noch nichts von dem Stück gehört und weiß bis heute nicht, worum es darin geht. Später habe ich zwar ein paar Mal daran gedacht, es zu lesen. Getan habe ich es nie, weil ich anfangs meinte, in frischen Wunden sollte man nicht herumstochern. Und irgendwann war es nicht mehr wichtig. Es hätte sie doch nicht wieder lebendig gemacht.