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Über den Autor

Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Mehr über den Autor: www.thomasfranke.net

Für Anne.
Es ist ein unverdientes Glück, dass du dieses Leben mit mir teilst.
Ich liebe dich.

Kapitel 1

Berlin, Februar 2016

Omega schnupperte nervös. Die sterile Luft ermöglichte ihr keine Orientierung. Seine dunklen Knopfaugen glänzten im Licht der Halogenleuchten, die Schnurrhaare zitterten.

Konzentriert beobachtete Dr. Philip Morgenthau abwechselnd die Bewegungen des Tieres und die Monitore, die über der komplexen Versuchsanordnung aus Plexiglas angebracht waren. Die Grafik zeigte rege Aktivität im Hippocampus an. Die feuernden Synapsen bildeten ein komplexes orangefarbenes Muster. Nach kurzem Zögern wandte sich Omega nach links. Die blassrosa Pfoten glitten den abschüssigen Gang hinab. Der Pulsschlag erhöhte sich. Das Tier überwand seine instinktive Abneigung gegen die glatte, stark geneigte Oberfläche. Das war gut!

Das Tier fixierte das zweite Symbol von links, ein gleichschenkliges Dreieck. Die empfindsame Schnauze drückte gegen die Klappe. Omega musste 85 Prozent der ihm zur Verfügung stehenden Kraft nutzen, um den Mechanismus zu betätigen. Dann öffnete sich die Klappe, und das Tier huschte weiter. Die Elektroden auf seiner Schädeldecke klackten leise gegen Kunststoffwände.

Dr. Philip Morgenthau setzte sich auf. So weit waren bislang nur drei Tiere gekommen.

Das Smartphone in seiner Brusttasche klingelte. Er ignorierte es.

Omega hatte nun eine rautenförmige Plattform erreicht, von der aus sechs schmale Tunnel abgingen, die sich lediglich durch die Stärke des jeweiligen Luftzugs voneinander unterschieden. Ohne zu zögern, wählte das Tier den Gang, dessen Luft ihm mit Windstärke 5 entgegenblies. Bis zu dieser Stelle war bislang nur 22 β vorgedrungen, und sie hatte annähernd eine Minute gebraucht, um sich zu entscheiden. Einige Punkte im orangefarbenen Flimmern des Hippocampus leuchteten jetzt in dunklem Rot.

Dr. Morgenthau machte hastig eine digitale Kopie des Scans und legte sie im Rechner über die Originalaufnahme. Der Sitz der Ortszellen war zu 92 Prozent identisch.

Erneut meldete sich sein Handy. Er schaltete den Ton ab.

Die weiße Ratte folgte dem bogenförmigen Gang. Das Muster der roten Punkte veränderte sich.

Sie weiß es!, schoss es Morgenthau durch den Kopf. Seine Hände zitterten, als er sie an seiner Hose abwischte.

Nun gabelte sich der Plexiglastunnel innerhalb von kurzen Abständen sechsmal. Omega zögerte lediglich beim zweiten Abzweig etwa drei Sekunden lang. Es war fantastisch! Charly hatte einen ganzen Monat benötigt, um den richtigen Weg zu erlernen!

Dr. Morgenthaus Handy gab ein kurzes Brummen von sich, als es eine Kurznachricht empfing.

Das Tier erreichte eine Plattform, auf der ein kleines Schälchen mit Roggenkörnern stand. Die Schnurrhaare der Ratte zitterten. Dem überwältigend köstlichen Geruch war ein hauchfeiner Duft von etwas Fremdartigem beigemischt. Normalerweise hätte sich das Tier davon nicht abhalten lassen, doch Omega rührte das Schälchen nicht an. Sie wäre an dem vergifteten Futter zwar nicht gestorben, aber es wäre eine sehr schmerzvolle Erfahrung für sie geworden.

Dr. Morgenthau zog das Handy aus der Tasche. „Ruf mich an!“, stand auf dem Display. Die Augen des Wissenschaftlers richteten sich wieder auf die weiße Ratte.

Die Krallen des Tieres kratzten über den glatten Boden, als es eilig um eine Kurve bog und sich für die mittlere der drei Klappen entschied, die nun vor ihr auftauchten.

Dr. Morgenthau seufzte tief, als der kleine Nager sein Ziel erreichte. Mit scharfen Zähnen zerriss Omega die Plastikfolie und machte sich dann über eine Mischung frischer Körner her.

Mit der linken Hand betätigte der Wissenschaftler die Rückruftaste seines Handys, während er mit der rechten die Klappe öffnete und die weiße Ratte sanft emporhob.

„Willkommen zurück“, flüsterte er.

Das Freizeichen ertönte zweimal. Dann nahm der Angerufene ab. „Wo steckst du denn, Philip?“

„Wir haben einen Erfolg, Michael!“, unterbrach ihn Dr. Morgenthau. „Und zwar einen grandiosen Erfolg! Die Verhaltensübereinstimmung liegt bei 100 Prozent!“

„Philip – “

„100 Prozent beim ersten Versuch! Ist dir klar, was das bedeutet?!“

„Philip“, wiederholte Dr. Michael Krüger leise. „Die Klinik hat sich gemeldet. Erika …“, er räusperte sich, „… sie hatte in der Nacht eine Lungenembolie.“

„Und warum melden die sich erst jetzt?!“ Unwillkürlich presste Dr. Morgenthau die Finger der rechten Hand fester zusammen. Die Ratte fiepte leise. „Ich fahre sofort in die Klinik und werde mir die Kollegen zur Brust nehmen!“

„Philip, die Kollegen haben sehr schnell reagiert, als die Geräte Alarm gaben. Sie haben auch versucht, dich zu erreichen, aber – “

„Schon gut. Ich war im UG3, dort ist der Empfang zuweilen miserabel. Wie geht es Erika? Auf welchem Zimmer liegt sie?“

„Es tut mir so leid, Philip. Sie hat es nicht geschafft!“

„Was?“

„Erika ist tot, Philip. Sie ist vor zehn Minuten im Operationssaal verstorben.“

Dr. Morgenthau schwieg.

„Philip?“

Ein leises, kaum hörbares Knacken erklang, als das Genick der weißen Ratte brach.

Kapitel 2

Berlin, Mai 2024

Es ist nicht deine Schuld! Tausendmal hatte er diese Worte schon gehört. Sie plätscherten über seine Seele wie Wasser über Felsen.

„Es ist nicht deine Schuld“, sagte seine Mutter leise und schaute mit leeren Augen an ihm vorbei.

„Nicht schuldig“, sagte der Richter und fügte hinzu: „Aus Mangel an Beweisen.“

„Du hättest nichts tun können“, sagten seine Freunde, aber sie wichen seinem Blick aus.

„Sie dürfen sich nicht die Schuld daran geben“, sagte sein Therapeut und verschrieb ihm weitere Medikamente.

Du bist nicht schuld!, sagte er sich selbst. Aber er glaubte sich nicht.

Wenn er sich doch nur erinnern könnte.

Die alte Villa prahlte mit ihrer stuckverzierten Fassade, die in der grellen Mittagssonne glänzte. Aber im Garten wuchs Unkraut zwischen den Rosen, und niemand kümmerte sich um den verblühten Rhododendron. Raven drückte den Messingknopf neben dem Klingelschild.

Es dauerte lange, bis eine heisere Stimme fragte: „Ja?“

„Ich bin’s … Raven.“

Schnaufendes Atmen war zu hören. „Wer?“

„Raven Adam, der Pflegehelfer.“

„Kenn ich nicht.“

„Natürlich kennen Sie mich. Wir haben gestern zusammen Dame gespielt, und Sie haben mich haushoch geschlagen.“

Schweigen.

„Frau Schubert?“, fragte Raven.

„Kenn ich nicht.“

„Ich spreche von Ihnen.“ Schmunzelnd schüttelte Raven den Kopf. „Sie sind Frau Schubert!“ Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieser Job ihm sein Lächeln zurückgeben würde?

Einige Atemzüge waren zu vernehmen, dann erklang ein ärgerliches „Was wollen Sie?!“.

Raven hatte einen Schlüssel, aber wenn irgend möglich vermied er es, ihn zu benutzen. Als er damit das erste Mal Frau Schuberts Wohnung betreten hatte, hatte sie beinahe einen Kreislaufzusammenbruch erlitten. Das zweite Mal hatte sie versucht, ihm mit einem eisernen Schürhaken den Schädel zu spalten.

„Frau Schubert, ich bin’s, Raven. Der junge Mann, der Ihre Blumen gießt.“

„Und warum kommen Sie erst jetzt?“ Das Summen des Türöffners erklang, und Raven trat ein. Der alte Sisalläufer knarzte unter seinen Füßen. Er beeilte sich, denn es war durchaus vorgekommen, dass sie ihn schon wieder vergessen hatte, wenn er bei ihrer Wohnungstür anlangte. Doch dieses Mal hätte er sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Tür stand offen, und ein faltiges Lächeln begrüßte ihn.

„Wollen Sie Kaffee?“

„Gern“, sagte Raven, denn er wusste, dass er ihr damit eine Freude machte.

„Ich habe echten Bohnenkaffee im Haus“, verkündete die alte Dame in verschwörerischem Tonfall. Dann schlurfte sie in die Küche. Mit ihren über 90 Jahren war sie körperlich noch beeindruckend rüstig. Nur ihr Geist hatte sich im Labyrinth ihrer Erinnerungen hoffnungslos verirrt. Sie ignorierte den chromglänzenden Kaffeeautomaten, der sicherlich mehr gekostet hatte, als Raven in einem Monat verdiente, und stellte einen verbeulten Teekessel auf den Herd. Dann starrte sie nachdenklich an ihm vorbei.

„Sie wollten sicherlich den Kaffee holen“, sprang er ihr bei.

Frau Schubert nickte und wandte sich ab.

Rasch füllte Raven den Wasserkocher und schaltete ihn an. Der Herd war schon vor einiger Zeit abgestellt worden. Es war einfach zu gefährlich. Manchmal kam Raven sich schäbig vor, dass er die Illusion der Selbstständigkeit aufrechterhielt, obwohl die alte Dame in Wahrheit in allen alltäglichen Dingen auf Hilfe angewiesen war. Aber dann sah er sie lächeln, und sein schlechtes Gewissen verging wieder.

Frau Schubert stellte eine Blechbüchse mit Kaffee und zwei Tassen auf den Tisch. „Aus irgendeinem Grund habe ich keine Filter mehr im Haus. Dann müssen wir ihn eben türkisch trinken.“ Sie füllte mit zitternden Händen Kaffee in die Becher. „Das schmeckt ohnehin besser.“ Sie setzte sich. „Nehmen Sie Platz.“ Sie betrachtete ihn unter hochgezogenen Brauen. „Wo ist eigentlich Ihre Uniform?“

„Ich bin der Pflegehelfer, Frau Schubert. Ihre Freundin Eleonore von Hovhede hat mich angestellt – “

„Schade, Sie sahen so schnieke aus in Ihrer Portiersuniform.“

Raven lächelte. Wer wusste schon, mit wem sie ihn gerade verwechselte.

Als das Wasser kochte, goss Raven den Kaffee auf. Unauffällig öffnete er den Kühlschrank und ergänzte in Gedanken seine Einkaufsliste.

Frau Schubert hatte Glück: Sie war wohlhabend, hatte keine Erben und eine gute Freundin, die alles dafür tat, dass sie ihren Lebensabend in der vertrauten Umgebung verbringen konnte. Die Pflegerin von der Sozialstation kam dreimal am Tag für Körperpflege und Medikamente vorbei. Raven war das Bonusprogramm. Er nahm ein angebissenes Stück Brot aus der Spüle und warf es in den Mülleimer. Als er sich umdrehte, hatte die alte Frau die Tasse Kaffee in der Hand.

„Nicht, Frau Schubert, der ist noch viel zu heiß!“

Sie trank einen Schluck und lächelte ihn kokett an. „Ach, Anton, du bist ein Spielverderber.“ Schwarze Krümel saßen in ihren Zahnlücken. Es war ein grotesker Anblick. Und dennoch wurde Raven in diesem Moment wieder bewusst, dass Frau Schubert früher einmal sehr hübsch gewesen war. Er hatte alte Fotos gesehen. Sie selbst fühlte sich in diesem Moment wieder jung und flirtete mit dem jungen Portier Anton, den sie in ihrer Jugend offenbar sehr attraktiv gefunden hatte.

Raven setzte sich wieder und schob ihre Tasse mit dem heißen Kaffee ein Stück zur Seite. „Was möchten Sie denn zum Frühstück essen, Frau Schubert?“

„Weißt du, dass deine Augen ein ganz besonders dunkles Blau haben?“

„Ich mache Ihnen ein Honigbrot, Frau Schubert, und diesmal essen Sie wenigstens die Hälfte, in Ordnung?“

„Honig …“, wiederholte die alte Frau, und es klang, als teste sie den Geschmack dieses Wortes.

Das Frühstück nahm über eine Dreiviertelstunde in Anspruch. Immer wieder vergaß die alte Dame sogar das Kauen und starrte mit leerem Blick an die Küchenwand. Schließlich murmelte sie: „Der Anton ist tot. Er ist gefallen, sagen sie. Aber ich glaube, er ist erfroren, im russischen Winter. Er fror doch so leicht.“ Sie schob den Teller beiseite.

„Kommen Sie, wir gehen ein bisschen auf den Balkon. Dann können Sie mich beaufsichtigen, während ich mich um Ihre Blumen kümmere.“

Erst reagierte sie nicht, dann schrie sie ihn an. Er solle sie in Ruhe lassen. Schließlich bot sie ihm mit gezierter Bewegung ihren Arm. Ihre Finger waren kalt und ihre Haut so dünn wie Pergament. Raven öffnete die Balkontür und führte die alte Dame zu einem gepolsterten Liegestuhl. Frau Schubert setzte sich.

„Blühen die Petunien nicht herrlich?“

„Ganz wunderbar“, erwiderte Raven. Er hatte keine Ahnung von Blumen.

Nachdem er die Gießkanne mit Wasser gefüllt hatte, goss er die Balkonkästen. Dabei starrte er auf die terrakottafarbenen Plastikbehälter und versuchte, so viel Abstand wie möglich zum Geländer zu halten. Diesen Teil seines Jobs hasste er. Aber die alte Dame liebte nun einmal ihren Balkon, und sie war stets entspannter, wenn sie hier saß.

„Sie müssen die verwelkten Blätter entfernen“, wies sie ihn an.

Raven schluckte. Sie wird es gleich wieder vergessen, dachte er. Die Erkenntnis seiner eigenen Feigheit versetzte ihm einen Stich. Du bist so erbärmlich! Soll diese Angst dein gesamtes Leben bestimmen? Willst du immer auf der Flucht sein wie ein verängstigtes Kaninchen?!

Er machte einen Schritt auf die Balkonbrüstung zu, dann noch einen. Unwillkürlich huschte sein Blick zur nahe gelegenen Dachterrasse des Nachbarhauses. Eigentlich wäre es ganz einfach: per Cat Balance über das Geländer, Tic-Tac an der Mauerseite und dann oben von der Mauerkrone ein Two Foot Precision über den Hof auf den Balkon der alten Dame, den Schwung mit einer einfachen Rolle auffangen und weiter. Ganz einfach …

Eine vertrocknete Blüte hing über die rostige Brüstung. Raven beugte sich vor. Der Hof lag direkt unter ihm, Pflastersteine … Helles Grau und Anthrazit bildeten ein wellenförmiges Muster. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Es sind doch nur sechs oder sieben Meter. Er versuchte, gegen die aufkeimende Panik anzukämpfen. Du hast schon in zehnfacher, ja, hundertfacher Höhe gestanden. Sein Atem ging hektisch und flach. Das Muster der Granitsteine im Hof begann, sich zu bewegen. Es verschwamm zu einem Strudel, der sich immer schneller zu drehen begann.

Erinnerungsfetzen schossen ihm durch den Kopf:

Sie standen auf dem obersten Parkdeck, es war windig, doch für Ende September war die Luft noch ganz warm. Raven hielt die Kamera. „Du wirst berühmt werden!“, hörte er seine eigene Stimme.

Julian grinste. Es war das typische jungenhafte Grinsen seines Bruders – die Frauen liebten ihn dafür. Doch diesmal lag in seinen Augen ein Schatten. Irgendetwas stimmte nicht … Julian stand auf der Parkdeckumrandung …

Und dann kam das Nichts: ein heller Blitz … weißes Rauschen und das Trommeln seines eigenen Herzschlags.

Weit unter ihm lag Julians Gestalt. Das Pflaster färbte sich rot.

Etwas Hartes drückte gegen Ravens Nacken. Ein Schrei gellte in seinem Inneren wider. Er wusste nicht, ob er geschrien hatte oder Julian – oder war da noch jemand anderes gewesen?

Dann ein Plätschern. Vor seinem inneren Auge sah er Ströme von Blut auf helles Pflaster rinnen. Er schüttelte den Kopf, um die ungebetenen Gedanken zu vertreiben, und fand sich auf dem Boden des Balkons wieder. Es war die Halterung eines Balkonkastens, die schmerzhaft gegen seinen Nacken drückte.

Frau Schubert hockte auf ihrem Stuhl. Ihr Blick war leer. Auf dem Boden breitete sich eine Urinlache aus.

„Warten Sie“, sagte Raven. „Ich helfe Ihnen.“

Die alte Dame ließ sich widerstandslos hineinführen. Erst im Wohnzimmer riss sie sich wütend von ihm los. „Lass mich! Was fällt dir ein?“

„Frau Schubert, ich bin’s“, sagte Raven beschwichtigend.

„Verlassen Sie mein Haus oder ich rufe die Polizei!“

„In Ordnung, ich gehe. Aber erst ziehen wir Ihnen saubere Sachen an, und dann müssen Sie mir noch sagen, was ich für Sie einkaufen soll.“

Frau Schubert starrte ihn an.

„Ein Pfund Butter und das Schwarzwälder Graubrot vom Bäcker habe ich bereits aufgeschrieben – “ Die Klänge von When September Ends ließen ihn innehalten. Hastig zog Raven sein Smartphone aus der Hosentasche.

Frau Schuberts Augen verengten sich.

„Hallo, Mama, jetzt ist wirklich ein ganz schlechter Zeitpunkt – “

„Vor einigen Tagen ist ein Paket gekommen“, unterbrach ihn die tonlose Stimme seiner Mutter.

Frau Schubert drehte sich abrupt um und eilte aus dem Zimmer.

„Mama – “

„Es kommt von der Staatsanwaltschaft. Sie schicken uns die freigegebenen Gegenstände aus der Asservatenkammer. Ich … will das hier nicht …“

Julians Sachen!, fuhr es Raven durch den Kopf. Das Video!

Aus dem Flur erklang ein Klirren.

Raven trat rasch durch die Tür. Der lang gezogene Gang erstreckte sich düster vor ihm.

„Ich hol die Sachen später ab“, sagte er. „In zwei Stunden bin ich da.“

Wortlos legte seine Mutter auf.

Raven betrat den dunklen Flur. Die alte Frau stand reglos vor einem umgestürzten Tischchen. Die Vase, die darauf gestanden hatte, war zerbrochen. Blumen lagen auf dem Boden, und Wasser tränkte den alten Perserteppich.

Sanft legte Raven eine Hand auf die Schulter der alten Dame.

„Der Mann …“, flüsterte sie leise.

„Kommen Sie, Frau Schubert.“

Die alte Dame stand stocksteif da. Plötzlich schoss ihre Hand vor und umklammerte seinen Arm. Ihre Finger waren eiskalt. „Er ist immer in der Nähe!“

„Frau Schubert, hier ist niemand außer uns. Kommen Sie!“

Raven wollte sie zurück ins Wohnzimmer führen, doch die alte Frau widersetzte sich seinem sanften Druck. „Der Mann mit dem Bart, er sieht uns!“

Etwas an ihrer Stimme ließ Raven frösteln. Obwohl die Demenz bei ihr weit fortgeschritten war, gab es immer wieder Momente, in denen der Nebel sich verflüchtigte und sie sich voll und ganz in der Gegenwart befand. Oft blitzte dann etwas von ihrer Klugheit und ihrem hintergründigen Humor auf, und jedes Mal spürte Raven, dass er der alten Dame nun ganz unverfälscht begegnete. Erschreckenderweise hatte er auch jetzt dieses Gefühl.

„Frau Schubert?“ Er suchte ihren Blick, doch sie starrte an ihm vorbei auf die Wohnungstür.

Raven fuhr herum. Bildete er sich das nur ein, oder hatte da eben noch ein Schatten auf dem Türspion gelegen?

„Warten Sie hier, Frau Schubert.“ Er ging zur Tür und sah durch den Spion. „Niemand zu sehen.“

„Er ist da draußen!“, sagte die alte Frau in einem Tonfall, der Raven einen Schauer über den Rücken jagte.

Rasch öffnete er die Tür. Nichts. Da drang ein leises Geräusch an seine Ohren: das Klacken einer sich schließenden Tür. Raven schloss die Wohnungstür und ging rasch zum Fenster. Im verwilderten Vorgarten war niemand zu sehen. Wer immer das Haus verlassen hatte, er musste sich sehr beeilt haben.

Raven versuchte zu erkennen, ob sich irgendjemand hinter der wuchernden Hecke verbarg. Dann vernahm er gedämpft das Starten eines Motors. Ein weißer Lieferwagen fuhr vorbei. Saß ein bärtiger Mann am Steuer? Er war sich nicht sicher. Der Wagen bog ab.

Raven starrte ihm hinterher. Sein Herzschlag hämmerte in seinen Ohren. Seit dem Unfall war Normalität für ihn ein Fremdwort Die Angst überfiel ihn an den seltsamsten Orten und machte jeden klaren Gedanken unmöglich. Er schloss die Augen und atmete tief ein und aus, bis sein Herzschlag sich beruhigte. Was ist nur los mit dir? Eine alte, demenzkranke Frau hat einen bärtigen Mann gesehen, und ein Lieferwagen fährt vorbei. Das ist alles. Er seufzte, zog die Gardinen wieder vor das Fenster und ging zurück in den Flur.

„Frau Schubert, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Niemand hat Sie beobachtet. Das war nur irgendein Lieferant.“

Die alte Frau warf ihm einen seltsamen Blick zu. „Er beobachtet nicht mich …“, murmelte sie leise.

Raven lächelte und wollte etwas Beruhigendes hinzufügen, aber die alte Frau fuhr fort: „… er beobachtet Sie!“

Er spürte, wie ihm erneut ein Schauer über den Rücken lief. „Was meinen Sie damit?“

Die alte Frau schwieg. Dann senkte sie den Blick. „Die schöne Vase ist kaputt. Und der Teppich ist auch ganz nass.“

Raven benötigte einen Moment, um sein Lächeln wiederzufinden. „Ich bringe das in Ordnung.“

Kapitel 3

Brasilien, Bundesstaat Pará, Mai 2023

Als sich die Tür der kleinen Cessna öffnete, schlug Mirja schwülwarme Luft entgegen. Der exotische Duft des Dschungels stieg ihr in die Nase. Regen prasselte herab, und Dampf stieg von der geteerten Landebahn auf. Seltsame Laute drangen von der wogenden grünen Masse des Urwaldes zu ihr herüber. Ein Kribbeln überlief ihre Haut. Sie schulterte ihren Rucksack und ließ den Blick über das Krankenhausgelände schweifen. Neben einer alten Villa, deren Baustil an die portugiesische Kolonialzeit erinnerte, gab es einige von einer Steinmauer umgebene Baracken. Den Blickfang bildete aber ein eleganter Klinikneubau mit einem kuppelförmigen Glasdach, an den sich ein modernes Wohngebäude anschloss. Auf der Webseite der Stiftung hatte die Klinik beeindruckend ausgesehen. Hier, wo sie die wilde Natur um sich herum hören und den heißen Atem des Dschungels spüren konnte, wirkte sie geradezu surreal. Ein ganzes Semester würde sie hier verbringen. Die Vorfreude zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht.

Sie sprang hinunter auf den nassen Asphalt. Wasser spritzte bis zum Saum ihrer kurzen Shorts, und der herunterprasselnde Regen durchnässte ihr dünnes Baumwollhemd. Mehrere junge Leute in Klinikkleidung eilten über das Rollfeld, um Medikamente, Lebensmittel und medizinisches Material auszuladen.

„Hallo, du musst Mirja Roth sein.“ Eine junge Frau mit kurzen roten Haaren und unzähligen Sommersprossen im Gesicht hielt einen Regenschirm über sie.

„Ja.“ Mirja war nicht undankbar, dass auf dem Gelände grundsätzlich Englisch gesprochen wurde, da die Mitglieder des Teams aus aller Herren Länder kamen. Ihr Portugiesisch reichte gerade mal für die brasilianische Version von Tom und Jerry.

Die junge Frau hakte sich bei ihr unter. Sie verließen das Rollfeld und betraten einen gepflasterten Weg. „Mein Name ist Jennifer McDowell. Wir teilen uns ein Zimmer.“

„Dein Name klingt schottisch, aber dein Akzent nicht.“

„Ich komme aus Chicago, aber mein Urgroßvater wurde in Glasgow geboren. Und woher kommst du?“

„Zurzeit studiere ich an der Ohio State University in Columbus. Aber eigentlich komme ich aus Deutschland.“

An dieser Stelle ließen es sich viele Amerikaner gewöhnlich nicht nehmen, Mirja mit den Themen „deutsche Autobahn“, „Oktoberfest“ und „Adolf Hitler“ zu konfrontieren, aber Jennifer nickte nur freundlich und eilte weiter durch den Regen.

Kurz darauf erreichten sie das große Hauptgebäude.

„Willst du erst deine Sachen wegpacken oder gleich die Klinik sehen?“

„Zuerst die Klinik!“, erwiderte Mirja.

Als sich die gläsernen Türen des Krankenhausgebäudes hinter ihnen schlossen, empfing sie eine angenehme Kühle.

„Wow!“, entfuhr es Mirja. „Ist hier alles klimatisiert?“

„Die Stiftung legt großen Wert darauf, dass die medizinische Versorgung sich an modernsten Standards orientiert“, erwiderte Jennifer. „Komm, ich zeig dir alles.“

Im Erdgeschoss lagen die Geburtshilfe- und die Kinderabteilung. Die meisten Patienten dort waren indigener Abstammung, aber es gab auch Afrobrasilianer und einige Kinder mit europäischen oder asiatischen Zügen. Ausnahmslos allen war die Armut anzusehen. Die meisten Familien der Gegend verdienten ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht als Holzarbeiter oder Kleinbauern. Nur noch wenige pflegten den traditionellen Lebensstil der Ureinwohner. Einigen der kleinen Patienten schien es schon besser zu gehen. Sie tollten ausgelassen in einem eigens eingerichteten Spielzimmer. Ein kleines Mädchen starrte sie mit großen, dunklen Augen an und trat vorwitzig näher. Als Mirja niederkniete, ließ die Kleine ihre Hand vorsichtig durch die blonden Locken der jungen Frau gleiten.

Jennifer lachte. „Du solltest über eine neue Frisur nachdenken. Hier können so lange Haare irgendwann sehr lästig werden.“

Mirja warf einen knappen Blick auf die ihrer Ansicht nach äußerst kurze Kurzhaarfrisur der jungen Frau und verzog das Gesicht.

Jennifer grinste. „Warten wir ab, was du nach vier Wochen Regenwald sagen wirst.“

Mirja folgte ihr durch die weiteren Abteilungen. Die medizinische Ausstattung der Klinik war beeindruckend.

„Ich bin ehrlich begeistert von diesem Projekt. Aber es erstaunt mich, dass die ,Dr. Philip Morgenthau Stiftung‘ diese Klinik mitten in den Dschungel gesetzt hat. Allein die Logistik muss Millionen von Euro jährlich verschlingen.“

„Dr. Morgenthau hat eine besondere Verbindung zu Brasilien. Er hat viele Jahre hier gelebt.“

„Oh, das wusste ich nicht.“ Dr. Philip Morgenthau war eine weltweit anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Neurologie und Neurochirurgie. Seine bahnbrechenden Entwicklungen hatten unzählige Epileptiker von ihren Leiden befreit, und auch für Parkinsonkranke gab es neue Hoffnung. Seine Patente hatten ihn zu einem sehr reichen Mann gemacht, aber ein Großteil seines Vermögens floss in die Dr. Philip Morgenthau Stiftung, die sich ganz der humanitären Hilfe und der medizinischen Forschung widmete. Das Dschungelkrankenhaus war nur eines von Dutzenden Projekten. Zudem wurden weltweit Stipendien an begabte Studierende aus allen medizinischen Bereichen vergeben, um Entwicklung und Forschung voranzutreiben. Dabei zählten nicht nur gute Noten, sondern auch andere Kriterien, wie zum Beispiel das humanitäre Engagement. Diesem Umstand, so mutmaßte Mirja, hatte sie auch ihr Stipendium zu verdanken.

Sie trat an ein großes Panoramafenster, von dem aus man einen Teil des Geländes überblicken und weit auf den Dschungel hinausschauen konnte.

„Außerdem ist, wie bei allen Projekten der Stiftung, die medizinische Hilfe nur ein Teil des Konzepts“, fuhr Jennifer fort. „Ein weiteres Standbein ist die pharmakologische Forschung. Der Regenwald birgt noch immer eine Unmenge an bislang unbekannten Substanzen, die für die Entwicklung neuer Medikamente äußerst spannend sein könnten.“

Mirja grinste. „Du klingst wie ein wandelnder Werbeprospekt.“

„Sorry.“ Jennifer lächelte verlegen. „Bei diesem Teil des Projekts bekomme ich immer glänzende Augen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich als zweites Hauptfach Biochemie studiere.“

„Wow, ganz schön anspruchsvoll.“

Jennifer winkte ab. „Reine Neugier.“ Sie führte Mirja weiter durch das hochmoderne Gebäude. Zu den Laboratorien hatten sie allerdings keinen Zutritt.

„Wir haben hier ausschließlich S3- bis S5-Labore“, erklärte Jennifer. „Laien dürfen nicht einmal in die Nähe der Sicherheitsschleusen“, fügte sie hinzu.

Überrascht hob Mirja die Brauen. „S“ stand für „Sicherheitsstufe“, so viel wusste sie. „Stufe fünf? Ich dachte, es gibt nur vier Sicherheitsstufen?“

Jennifer grinste und zuckte mit den Achseln. Offenbar wusste sie auch nicht mehr darüber zu erzählen. Stattdessen führte sie die junge Studentin in die Ambulanz.

„War Dr. Morgenthau eigentlich schon mal hier?“, erkundigte Mirja sich nach einer Weile.

„Soweit ich weiß nur zur Eröffnung des Projekts. Ich glaube auch nicht, dass er noch mal auftauchen wird. Die Reise hierher ist ja ganz schön beschwerlich.“

Mirja nickte. Dr. Morgenthau war schon ein alter Mann, inzwischen musste er weit über 80 sein. Neulich hatte sie in der Zeitung gelesen, dass er sich zur Ruhe setzen und seinem Sohn die Stiftung überlassen wollte. Das brachte die Gerüchteküche zum Brodeln, denn über diesen Sohn war bislang so gut wie nichts bekannt. Viele mutmaßten, dass er ein Karrieremacher sei, der seinem Vater nicht das Wasser reichen konnte. Es war schwer einzuschätzen, ob an diesen Gerüchten etwas dran war. Aber zumindest vom Namen her brauchte sich niemand umzustellen, denn der Sohn hieß Dr. Philip Morgenthau junior. Ein Umstand, durch den der alte Mann zumindest in Mirjas Augen einige Sympathien eingebüßt hatte. Wenn jemand seinem Kind nicht einmal einen eigenen Namen zugestand, war die Gefahr recht groß, dass er auch Schwierigkeiten hatte, ihm ein selbstständiges Leben zu gestatten.

Während Mirja gedankenversunken ihren Blick über das herrliche Panorama schweifen ließ, bemerkte sie eine Gruppe von Menschen, die sich bei einem der älteren barackenähnlichen Gebäude hinter der Villa versammelt hatten. Die Leute trugen blaue Uniformen und schienen aufgeregt miteinander zu diskutieren.

„Was ist denn da hinten los?“

Jennifer trat neben sie. „Wo?“

„Dort drüben bei den Baracken.“

Jennifer warf nur einen flüchtigen Blick in die gewiesene Richtung. „Die Gebäude gehören zum ältesten Teil der Anlage. Sie werden demnächst renoviert.“

„Die Leute sehen aber nicht wie Bauarbeiter aus!“

„Noch wird nicht gebaut. Die meisten Baracken stehen leer, einige werden als Lager genutzt und einige wenige auch als notdürftige Quarantänestationen. Die Männer dort unten gehören zum Personal. Vielleicht hat sich wieder ein Tier in die Kanalisation geschlichen.“ Sie kicherte. „Vor einigen Wochen hatte sich eine Anakonda in den Abwasserrohren versteckt. Es hat drei Tage gedauert, bis die das Biest endlich gefunden hatten. Die meisten Praktikanten fanden das allerdings gar nicht witzig. Einige meiner Kommilitoninnen hatten schon Verstopfung.“

Mirja runzelte die Stirn. „Warum befinden sich die Quarantänestationen bei den alten Baracken?“

„In der Klinik werden nur die akuten Fälle versorgt“, sagte Jennifer. „Für die chronischen Verläufe ist dort nicht genug Platz. Im Gegensatz zu den ärmlichen Hütten, in denen unsere Patienten üblicherweise hausen, sind die Baracken reinste Luxusappartements. Komm“, sie legte Mirja die Hand auf die Schulter, „ich zeige dir unsere Unterkünfte.“

Es nieselte nur noch ein wenig, als sie zu einigen Nebengebäuden gingen und diese betraten. Reggaeklänge hallten durch das Treppenhaus. Jennifer führte sie in den ersten Stock. Als sie die Tür zur ersten Wohnung öffnete, drang Mirja der Geruch von gebratenen Zwiebeln in die Nase.

„Hier ist unser Zuhause. Es gibt drei Zimmer mit jeweils zwei Bewohnern, ein Bad, eine Gemeinschaftsküche und ein Wohnzimmer.“

„Hey, das klingt ja richtig familiär!“

„Warte mal, bist du Spüldienst hattest! Wir teilen uns die Bude mit zwei Mädchen, die ich noch nie gesehen habe, weil sie sich auf einer monatelangen Projektreise befinden“, sie wies auf eine verschlossene Zimmertür, „und zwei Jungs, die ständig Hunger haben.“ Jennifer deutete auf die offene Küchentür. Am Herd stand ein dunkelhaariger junger Mann mit kurzen Shorts und nacktem Oberkörper. Er briet irgendetwas in einer riesigen Pfanne. Unter seiner braunen Haut zeichneten sich klar definierte Muskeln ab.

„Hi Manuel“, sagte Jennifer. „Das ist Mirja.“

„Hi!“, rief der junge Mann ihnen über die Schulter zu. „Appetit auf Mucequa de Peixe?“ Er hielt ihnen die riesige Pfanne entgegen.

Mirja konnte jede Menge Reis, Zwiebeln und ölige Garnelen ausmachen. „Danke. Später vielleicht.“

Sie gingen an einem weiteren Zimmer vorbei. Es stand halb offen. „Der Typ am Laptop ist Pit“, erklärte Jennifer. „Sag ,guten Tag‘, Pit!“

Mirja konnte hinter dem aufgeklappten Laptop eine hohe rötliche Stirn und dünne blonde Haare ausmachen.

„Hi, ich bin Mirja.“ Sie erntete jedoch nur Schweigen.

„Mach dir nichts draus.“ Jennifer grinste. „Sobald er am Computer sitzt, ist er nicht mehr von dieser Welt. Komm, unser Zimmer liegt am Ende des Flurs.“

„Nicht schlecht!“, kommentierte Mirja, als sie die Tür öffnete. Das Zimmer musste fast 20 Quadratmeter groß sein. Jeder hatte ein Bett, einen Schreibtisch und einen großen Schrank.

„Du hast kabellose Verbindung zum Hausnetzwerk. Internet gibt es über Satellit.“

„Unglaublich.“

„Tja, du hast Glück. Das ist das coolste Studentenwohnheim der südlichen Hemisphäre.“

„Sieht ganz danach aus.“ Mirja zog sich rasch trockene Kleidung an und begann, ihre Sachen einzuräumen.

Jennifer ließ sich aufs Sofa fallen. „Hast du eigentlich einen Freund?“

Mirja warf einen Blick über die Schulter und runzelte die Stirn. „Du bist ganz schön neugierig.“

„Hey, ich studiere Biochemie. Neugier gehört bei uns zum Job dazu“, erwiderte Jennifer und lächelte unschuldig. „Also?“

Mirja wandte sich ab und blickte aus dem Fenster hinaus zum tropischen Regenwald. „Vielleicht …“, erwiderte sie schließlich.

„,Vielleicht‘? Das klingt interessant.“

Mirja reagierte nicht auf die unausgesprochene Aufforderung.

„Hey, schon gut. Ich habe verstanden“, reagierte Jennifer, ohne im mindesten beleidigt zu klingen. „Wie auch immer.“ Die junge Frau stand auf. „Nimm dich vor Manuel in Acht.“

„Was meinst du damit?“, fragte Mirja.

„Männern, die ständig Hunger haben, kann man nicht trauen.“

„Wieso? Ist er etwa Kannibale?“

„Wer weiß?!“, erwiderte Jennifer grinsend. „Ich muss jetzt zum Dienst. Genieße den Abend. Morgen früh gibt es dann die Einführungsveranstaltung für alle Neuen.“

Mirja ließ sich aufs Bett sinken. Sie war müde und gleichzeitig viel zu aufgekratzt, um an Schlafen auch nur zu denken. Noch vor einem halben Jahr war sie fest davon ausgegangen, dass sie ihr Studium an der Humboldt-Universität in Berlin beenden würde. Doch dann war sie am Salatbüfett in der Mensa irgendwie mit einer Kommilitonin ins Gespräch gekommen, die ihr von den Stipendien der Dr. Philip Morgenthau Stiftung erzählt hatte. Mirja hatte sich beworben und ein paar Gespräche geführt. Und dann war alles plötzlich ganz schnell gegangen. Innerhalb weniger Wochen hatte sie eine Zusage erhalten.

Hast du eigentlich einen Freund? Mirja starrte an die Decke. Fast zeitgleich zu ihrer Bewerbung um ein Stipendium hatte sie Julian kennengelernt – und Raven. Julian war ein toller Typ, charmant, sportlich, gut aussehend. Sie hatten sich geküsst. Aber sein Bruder Raven war etwas ganz Besonderes. Sie hatte das Gefühl, ihm vorbehaltlos vertrauen zu können. Seltsamerweise hatte genau das sie auch verunsichert … Hatte sie einen Freund?

Ein durchdringender Signalton riss sie aus ihren Gedanken. Er schwoll langsam ab und wieder an. Dann erklang aus einem unsichtbaren Lautsprecher eine Computerdurchsage: „Feueralarm, bitte verlassen Sie umgehend das Gebäude!“ Sie sprang auf und eilte aus dem Zimmer. Der Geruch von verbranntem Essen stieg ihr in die Nase. Eine dichte Qualmwolke drang aus der Küche.

„Pass doch auf!“, brüllte jemand.

Durch den dichten Rauch hindurch sah Mirja ihre beiden neuen Mitbewohner. Während Manuel hustend ein Kissen auf eine qualmende Pfanne drückte, machte sich Pit hektisch am Fenster zu schaffen. Er zerrte am Griff und brüllte dem verhinderten Koch über die Schulter hinweg zu: „Nun unternimm endlich was gegen diesen verdammten Qualm!“

„Was glaubst du, was ich hier mache?!“, schrie Manuel zurück.

„Feueralarm, bitte verlassen Sie umgehend das Gebäude“, erklang es erneut aus den Lautsprechern.

Der beißende Rauch brannte in Mirjas Augen. Sie eilte an dem hustenden Manuel vorbei und stieß Pit beiseite. „Lass mich mal!“ Sie packte den Fensterhebel, drehte ihn in die andere Richtung und riss das Fenster auf. Schwülheiße Luft drang herein. Mirja wirbelte herum, riss dem verdutzten Manuel die Pfanne aus den Händen und warf sie kurzerhand nach draußen. Die qualmenden Reste landeten auf dem Rasen. Unten sammelten sich bereits die anderen Bewohner des Hauses. Alle starrten zu ihnen herauf. Männer eilten aus dem Krankenhaus. Ein Löschfahrzeug kam angebraust.

Mirja spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Durch den langsam abziehenden Qualm erkannte sie Manuels Gesicht. Er bedachte sie mit einem seltsamen Blick. Dann blinzelte er mehrfach und krächzte: „Komm, wir verschwinden besser.“

Hustend zogen sich die drei aus der Küche zurück.

„Wie hast du das angestellt?“, fragte Mirja, als sie die Küchentür geschlossen hatten und durch den Flur eilten. „Wolltest du die Garnelen flambieren?“

„Ich … äh, hatte einen wichtigen Anruf … und da – “

„Wichtiger Anruf!“, unterbrach Pit ihn in ätzendem Tonfall. „Wahrscheinlich hat dir deine Cheerleaderfreundin wieder ihre neueste Unterwäsche gezeigt!“

„Halt die Klappe!“, entgegnete Manuel.

Sie eilten die Treppen hinunter. Die Männer der Institutsfeuerwehr kamen ihnen entgegen. „Befindet sich der Brandherd im ersten Stock?“, rief der erste.

„Äh …“ Pit warf Manuel einen raschen Blick zu. Doch der reagierte nicht.

Der Feuerwehrmann winkte ungeduldig ab. „Treten Sie zur Seite.“

„Tut uns leid, es ist nur ein Fehlalarm“, mischte sich Mirja ein. „Uns ist das Essen angebrannt.“

Der Feuerwehrmann sah sie stirnrunzelnd an. Dann sagte er: „Gut, wir überprüfen das. Sie melden sich unten beim Einsatzleiter.“

„Warum habt ihr nichts gesagt?“, zischte Mirja den beiden zu, als die Feuerwehrleute an ihnen vorbeigeeilt waren.

Manuel zuckte die Achseln. „Ist doch irgendwie ein bisschen peinlich, oder?“

Sie traten ins Freie. Um sie herum herrschte Chaos. Aufgeregte Studenten liefen durcheinander. Es waren mittlerweile bereits zwei Löschfahrzeuge und mehrere weitere Wagen vor Ort. Dutzende von Angestellten in blauen Anzügen eilten umher.

Manuel räusperte sich und spuckte auf den Boden. „Ich hätte nie gedacht, dass mein Mucequa de Peixe so wirkungsvoll sein kann.“ Er grinste schief. „Am besten, ich rede mal mit dem Einsatzleiter.“ Der junge Mann wandte sich rasch ab und ging auf eines der Löschfahrzeuge zu.

Mirja wollte ihm folgen, aber Pit legte ihr die Hand auf die Schulter. „Lass nur, er macht das schon.“

Verwundert blickte Mirja ihn an. Sein Zorn auf Manuel schien mit einem Mal verraucht zu sein. Der blasse junge Mann wirkte angespannt.

„Was ist los?“, fragte sie ihn. „Habe ich irgendetwas verpasst?“

„Nichts außer einem zu fetten Abendessen“, erwiderte Pit. Aber sein Grinsen wollte nicht so recht zu seinen weit aufgerissenen Augen passen. „Komm, wir mischen uns unter die Leute.“

Unschlüssig blickte Mirja zu den Einsatzwagen hinüber. Manuel sprach mit einem der Feuerwehrleute. Es sah nicht so aus, als würde es Ärger geben. Als sie sich wieder umdrehte, war Pit verschwunden. Unschlüssig blieb sie einen Moment stehen, dann wandte sie sich von der aufgeregten Menge ab und schlenderte langsam über das Gelände.

Die Wege waren ordentlich geharkt, der Rasen gestutzt. Ihr Blick wanderte über das gläserne Kuppeldach der Klinik. Der moderne Bau und das parkähnliche Grundstück standen in krassem Gegensatz zur wuchernden Wildnis des Regenwaldes. Vielleicht steckte auch eine gewisse Symbolik dahinter? Die Dr. Philip Morgenthau Stiftung stand für den medizinischen Fortschritt. Einstmals tödliche Krankheiten waren nun kein unentrinnbares Schicksal mehr. Alles war machbar. Mirja runzelte die Stirn. Unwillkürlich lenkte sie ihre Schritte zu den älteren Teilen der Anlage. Alles war machbar, aber schon ein kleiner Brand konnte den perfekten Ablauf durcheinanderbringen. Mirja schmunzelte. Der Mensch würde niemals alles unter Kontrolle haben. Erstaunlicherweise hatte dieser Gedanke etwas Tröstliches.

Sie ging an der Mauer entlang, die den Barackenkomplex umgab. Die Steine waren zum Teil verwittert und moosbewachsen. In die Mauerkrone hatte man Stahlpfeiler eingesetzt, zwischen die Stacheldraht gespannt war. Alles wirkte neu. Als sie weiterging, entfernte sich der Pfad von der Mauer, und sie fand sich in dichtem Dornengestrüpp wieder.

Mirja blieb stehen. Das Buschwerk schien nicht zu der gepflegten Ordnung der restlichen Grünanlage zu passen. Es war, als hätte das dunkle Herz des Dschungels seine Finger ausgestreckt, um das ihm abgerungene Gebiet zurückzuerobern.

Ein plötzliches Geräusch ließ sie zusammenzucken. Eine Glasscheibe klirrte. Hastige Schritte erklangen. Mirja warf einen Blick über die Schulter. Niemand war in der Nähe. Das Wohngebäude verdeckte die Menschenmenge.

Vorsichtig ging sie auf die Dornenhecke zu und versuchte zu erkennen, was hinter der Mauer vor sich ging. Erneut ein Geräusch, ein dumpfer Laut, gefolgt von einem halb erstickten Gurgeln. Versuchte dort jemand, um Hilfe zu schreien?

„Hallo?“, rief Mirja halblaut.

Keine Antwort, nur so etwas wie ein leises Stöhnen.

Mirja zögerte einen Moment, dann folgte sie dem Geräusch und hielt Ausschau nach einer Lücke in der dichten Hecke. Schließlich fand sie einen niedrigen Durchgang. Sie zwängte sich gebückt hindurch. Dornen zerrten an ihren Haaren und hinterließen Schrammen auf ihrer Haut. Dann war sie endlich durch. Mirja richtete sich auf – und erstarrte.

Auf der anderen Seite des Drahtzauns befand sich eine alte Baracke, deren Tür offen stand. Davor lag ein Mann in blauer Uniform reglos auf dem Boden. Einer seiner Arme war ausgestreckt, der andere verdeckte sein Gesicht.

„Hallo?“, krächzte Mirja.

Im Halbdunkel der Türöffnung bewegte sich etwas.

„Hallo, ist da jemand? Hier liegt ein Mann. Er braucht Hilfe!“, rief Mirja nun etwas lauter.

Eine Gestalt trat aus dem Dämmerlicht der Baracke.

Mirja riss erschrocken die Augen auf.

Der barfüßige Mann trug eine weite Cordhose und ein Armeehemd. Sein Bart war ungepflegt und lange Haare hingen ihm bis auf die Schultern. In seinem Blick lag etwas Wildes, etwas, das ihr Angst machte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.

Unwillkürlich wich Mirja einen Schritt zurück.

Zwei Atemzüge lang starrte er sie hasserfüllt an. Dann stieß er ein schrilles, abgehaktes Lachen aus.

Mirja war wie gelähmt.

Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des Mannes, seine angespannte Haltung erschlaffte. Ein seltsamer Ausdruck glitt über seine Züge, als würde er aus dem Schlaf erwachen.

„Wer sind Sie?“, fragte er auf Deutsch.

Mirja schluckte. Ihr Mund fühlte sich trocken an. „Ich … bin … Mein Name ist Mirja Roth … ich bin Praktikantin hier im Institut. Sie müssen einen Arzt holen. Der Mann braucht Hilfe.“

Der Angesprochene schien durch sie hindurchzusehen. Dann senkte er den Blick. Erst jetzt schien er den Bewusstlosen zu bemerken. Wie in Trance kniete er nieder und kontrollierte den Puls des Mannes.

„Bleiben Sie ganz ruhig“, sagte er tonlos. „Ich … bin Arzt.“

Dornen kratzten ihr über ihre Wange, als Mirja durch die Hecke zurückkroch. Sie glaubte ihren wummernden Herzschlag zu hören, als sie über die gepflegten Pfade zurück zum Wohnheim eilte, um Hilfe zu holen.