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Aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen

Im Anhang »Im Grunde verlasse ich die Arbeit nie« Ein Gespräch mit Mona Høvring

Was helfen kønnte

Mona Høvring

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© Agnete Brun

Mona Høvring, geboren 1962 in Norwegen, begann ihre schriftstellerische Laufbahn als Lyrikerin. Seit 1998 erschienen zahlreiche Gedichtsammlungen. »Was helfen könnte«, ihren ersten Roman, brachte sie 2004 heraus. Er stieß in Norwegen auf begeisterte Resonanz und wurde vor kurzem auch ins Dänische übersetzt. Kritiker fühlen sich an Sylvia Plaths »Die Glasglocke« und Françoise Sagans »Bonjour Tristesse« erinnert. Seither folgten drei weitere hochgelobte und in mehrere Sprachen übersetzte Romane. 2012 erschien »Venterommet i Atlanteren« (Das Wartezimmer im Atlantik), 2013 »Camillas lange netter« (Camillas lange Nächte) und 2018 »Fordi Venus passerte en alpe ol den dagen jeg blei født« (Weil am Tag meiner Geburt Venus ein Alpenveilchen passierte). Mona Høvring erhielt diverse Preise, u. a. den Språklig samlings litteraturpris für ihr Gesamtwerk.

Ebba D. Drolshagen beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Übersetzen: Einerseits übersetzt sie – buchstäblich – Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen ins Deutsche, andererseits vergessene oder übersehene Themen in erzählende Sachbücher. Das begann vor Jahren mit den Engelsfiguren auf den Gräbern des 19. Jahrhunderts und reicht über Schönheit, Krieg, Liebe und verwegene Seefahrer bis zu einer Kulturgeschichte des Handstrickens.

Die Übersetzung dieses Buches wurde von NORLA gefördert

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Quellen

Das Motto dieses Buches ist ein Zitat aus Natalie Sarraute, Kindheit, übersetzt von Elmar Tophoven, Berlin, Suhrkamp, 2017, S. 12

Zitat auf Seite 137 aus Françoise Sagan, Bonjour Tristesse, übersetzt von Helga Treichl, Ullstein, Berlin, 1996, S. 40

Originalausgabe 2019

© 2019 image

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing / Hamburg

alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen

Titel der Originalausgabe: Noe som hjelper

© Forlaget Oktober as, 2004

Published in agreement with Oslo Literary Agency

Lektorat: Karen Nölle

Gestaltung: Kathleen Bernsdorf

Cover: Kathleen Bernsdorf, Abbildung: 123rf.com / belchonock

Schriften: Antwerp, Josefin Sans

ISBN 978-3-942374-98-9

eISBN 978-3-942374-99-6

www.editionfuenf.de

»Kleine Teile von etwas noch Lebendigem … ich möchte, bevor sie verschwinden … lass mich …«

Nathalie Sarraute

Inhalt

SUPER 8

Lesen, schreiben, rechnen

Nichts

Es folgt die Süße

Wie wenig wir brauchen, um glücklich zu sein

Bevor ich wegging

»Im Grunde verlasse ich die Arbeit nie«

SUPER 8

Als ich neun Jahre alt war, lernte ich schwimmen. Meine Mutter brachte es mir im Traum bei, da war sie schon tot.

In dem Traum spielten der Nachbarsjunge und ich mit Murmeln. Ich war gut und hatte schon mehrere Runden gewonnen, als meine Mutter mich rief. Sie stand unten an der Straße. Ich unterbrach das Spiel sofort, ließ die kostbaren Glasmurmeln liegen und lief zu ihr. Sie drückte mich an sich und fragte, ob wir baden gehen wollten. Im Einkaufsnetz hatte sie alles dabei, was wir brauchten: unsere Badeanzüge und die großen, hellblauen Handtücher, die immer so rau waren, weil sie draußen in der prallen Sonne und dem rastlosen Wind auf der Leine zum Trocknen aufgehängt wurden. Sie hatte kalten Saft in der Thermosflasche, eine alte Zeitung und ein paar Holzscheite. Es war ein Wunschtraum. Ich war so glücklich.

Am Strand machten wir zwischen den Steinen ein Feuer. Wir zogen die Badeanzüge an und gingen ins Wasser.

– Es ist lauwarm, sagte ich. Wir sind wohl auf eine warme Quelle gestoßen.

– Vielleicht hat das Feuer das Meer aufgewärmt, meinte meine Mutter.

Als wir weiter draußen waren, zeigte sie mir, wie ich Arme und Beine bewegen musste. Die rechte Hand hielt sie unter mein Kinn, die linke unter den angespannten Bauch.

– Du musst nicht zappeln, sagte sie. Es ist nicht nötig, dass du dich so anstrengst.

Sie sprach ruhig, sagte, ich solle mich vom Wasser tragen lassen, dürfe das Atmen nicht vergessen.

– Wenn du die Luft anhältst, gehst du unter.

Es war, als glitte ich in ein anderes Dasein hinein. Für kurze Zeit bewegte ich mich in einer neuen Wirklichkeit, aber kaum hatte ich gesagt, jetzt könne sie mich loslassen, jetzt könne ich schwimmen, wachte ich auf, und obwohl es noch Nacht war, verließ ich das Bett, nahm den Badeanzug aus der Kommode und schlich mich aus dem Schlafzimmer.

Im Bad nahm ich ein Handtuch von der Trockenleine. Ich fand die Bademütze nicht, schnappte aber die gerüschte Duschhaube, die auf der Badewannenarmatur hing. Ich zog sie gleich über und musste mich etwas mühen, bis ich die langen, hellbraunen Haare unter den Haubenrand gestopft hatte.

Das Badezeug packte ich in den Sportbeutel. Ich hatte ihn im Handarbeitsunterricht genäht, er war aus Leinen, mit Kreuzstich waren ein geschnörkeltes L und ein ebenso geschnörkeltes S darauf gestickt, unter diese Initialen hatte ich zwei Margeriten gestickt, die aussahen, als ob sie im Wind wippten.

Ich ging in die Küche, holte Erdbeermarmelade aus dem Kühlschrank und Brot aus der Brotdose. Ich schnitt zwei dicke Scheiben ab und schmierte sie. Das steife Butterbrotpapier wurde klebrig, weil die Marmelade herausquoll, aber ich machte ein Gummiband drum, damit alles zusammenhielt.

Bevor ich ging, schrieb ich meinem Vater mit dem Zeigefinger eine Nachricht auf die beschlagene Fensterscheibe:

Lieber Papa

ich bin baden gegangen

herzliche Grüße

Laura

Ich hatte noch Platz für ein kleines Herz und malte einen Pfeil durch. In den letzten Wochen hatte ich überall Herzen gezeichnet; auf den Ranzen, den Rücken der gelben Regenjacke, die Innenseite meines Handgelenks.

Im engen Flur schlüpfte ich in die Stoffschuhe. Ich blieb einen Moment stehen und hörte auf den plätschernden Regen. Plötzlich bildete ich mir ein, dass da draußen jemand herumlief und schluchzte, eine Kinderschar, die voll Kummer umherstreifte, und obwohl ich wusste, dass es nur das Unwetter war, zögerte ich kurz, bevor ich die Haustür öffnete und in die Dunkelheit hinausging.

Ich kannte den Weg, weil meine Mutter mit meinem Bruder Magnus und mir oft lange Strandspaziergänge gemacht hatte. Sie sang fast immer, ihre Stimme war schön und sicher. Einmal fragte ich sie, ob sie ein Gesangsstern werden wolle, da antwortete sie, dass sie wohl eher ein Seestern werden würde, wuschelte mir durchs Haar und lachte.

Als ich am Strand war, zog ich den Badeanzug an, legte meine Kleider in den Sportbeutel und lief zum Wasser hinunter. Als es mir bis zum Nabel reichte, begann ich zum ersten Mal in meinem Leben zu schwimmen. Das Meer war kalt, aber daran gewöhnte ich mich schnell. Ich machte die Bewegungen, die ich gerade im Traum gelernt hatte, es war ganz einfach, es war genau, wie ich mir vorgestellt hatte.

Ich prüfte immer wieder, ob ich noch Grund unter den Füßen hatte und kehrte erst um, als ich merkte, dass ich nicht mehr stehen konnte. Da begann ich zurückzuschwimmen. Mein Atem ging schneller, ich schluckte Wasser und begann, mit Armen und Beinen zu schlagen. Jetzt sterbe ich, dachte ich, mein Körper wurde ganz steif und wollte sich nicht mehr tragen lassen. Verschreckt und verzweifelt krümmte ich mich zusammen. Mein Knie traf auf etwas Weiches. Ich richtete den Oberkörper auf und fand auf dem Sandboden das Gleichgewicht wieder, so blieb ich stehen, kniend, wie das Mädchen auf dem Bild über meinem Bett. Aber hatte ich keinen Engel vor mir. Ich hatte nur die Nacht, den Strand und die Steine am Ufer.

Ich richtete mich auf und ging an Land, nahm frierend das Handtuch aus dem Sportbeutel und wickelte mich ein, setzte mich auf einen Stein und holte das Brot heraus. Ich erinnerte mich an etwas, das passiert war, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Ich stand nackt im Sand und sah zu meiner Mutter, die ein zwischen den Steinen ein Feuer machte. Wir hatten ein windgeschütztes Eckchen gefunden, aber ich bibberte und zitterte so sehr, dass ich mit den Zähnen klapperte. Als meine Mutter das Feuer angezündet hatte, richtete sie sich auf.

– Ach, mein kleines Strandnelkchen, sagte sie. Bibber, bibber.

Sie lächelte und machte mich nach, stellte sich mit steifen Beinen und hochgezogenen Schultern hin, hielt die Arme gerade, ein wenig von der Hüfte abgespreizt, und zitterte am ganzen Körper. Sie war so schön, meine Mutter, muskulös und üppig. Ihre Brüste wölbten den Badeanzug. Ach, sie waren so wunderbar. Ich dachte, dass ich auch solche haben wollte.

– Bibber, bibber, sagte sie wieder und fing an, mich von oben bis unten abzurubbeln, auf einmal sah ich ihr Skelett, sah durch alles hindurch, durch all das Runde und Weiche, durch ihre Haut, rosa wie Quallen, durch die Muskeln, die klumpigen Wurzeln glichen, Adern wie bläulich rote Flüsse, die vielarmigen Sehnen; erfrorene und grauweiße Zweige, die Lunge, die an Tang und Algen, Seegras, meeresleuchtende Flimmerhärchen denken ließen, winzig kleine Muscheln hingen in langen, pfirsichfarbenen Fasern. Rischel, raschel hörte ich es von da drinnen, aber ich sagte es ihr nicht, erzählte ihr nicht, was ich sah, denn ich wollte nicht, dass sie traurig wurde. Stattdessen schloss ich die Augen, und sie begann zu singen, ihre Stimme war klar und warm.

Als der Gesang verstummte, schaute ich sie an; sie war nicht mehr durchsichtig, jetzt hatte sie wieder ihre Stirn und ihre Wangen, das nasse Haar und die runden Schultern.

Ich habe zwei Fotografien, die mein Vater kurz vor meiner Geburt gemacht hat. Das eine zeigt Spuren meiner Mutter im Sand, deutliche Abdrücke ihrer kleinen Füße. Auf dem anderen Foto schaut sie über das Meer. Ihre Haare sind zerzaust, sie hat die Hände in den Rücken gestemmt, der Bauch unter dem türkisfarbenen Mantel ist groß und ragt weit vor. Es wirkt, als friere sie, aber das Licht ist warm, weich und körnig, ich glaube, sie lächelt. Etwas hinter ihr im Sand sitzt mein Bruder Magnus. Er trägt eine Ohrenklappen-Mütze aus hellblauem Nylon, einen weißen Eskimopullover mit buntem Muster und über den Windeln eine braune Cordhose. In der Hand hält er, wie die meisten Kinder, wenn sie am Strand sind, eine Schaufel. Die Schaufel ist knallrot in seiner Marzipanhand, das kugelrunde Gesicht wirkt froh und zufrieden. Dieses Bild macht immer, dass ich mir meine Mutter als gemütlich und freundlich vorstelle. Ich habe entschieden, mich so an sie zu erinnern.

Sie starb im Sommer. Noch immer sehe ich sie vor mir, wie sie aus dem Haus geht, am Apfelbaum vorbei, die kleine Steigung zum Gartentor hinauf. Vielleicht blieb sie, wie so oft, vor dem Unterwäschegeschäft stehen, vielleicht betrachtete sie ein Weilchen all das Schöne, das sie dort verkauften, bevor sie weiterging, vorbei an der Apotheke, dem Telegrafenamt, dem Bethaus. Vielleicht war es so, vielleicht nicht. Woran ich mich erinnere ist, dass ich in die erste Klasse ging und es ein klarer Tag war. Ich trug ein Kleid. Ich erinnere mich an das Flattern des Stoffes, die leichten Liebkosungen meiner Knie. Magnus kam zur Schule und holte mich, bevor die letzte Stunde vorbei war. Er sagte nicht viel, nur, dass ich mit ihm nach Hause gehen müsse, sein Gesicht verriet nichts. Wir liefen schnell. Ich weiß nicht warum, aber ich war voller Erwartungen. Ich sah ein Paket vor mir, vielleicht ein Geschenk.

Als wir nach Hause kamen, war es dort nicht wie sonst. Wir hörten Stimmen aus der Küche, sie waren leise, sie murmelten, als tauschten sie Geheimnisse aus. Magnus ging mit mir ins Wohnzimmer, da blieben wir sitzen und warteten. Es war warm und stickig, ich fing an zu schwitzen. Mir fiel ein, das ich im Ranzen draußen im Flur eine Flasche Saft hatte. Ich holte sie, und als ich zurückkam, setzte ich mich versehentlich auf das Heizöfchen. Morgens war es kalt gewesen, jemand hatte das Öfchen angemacht und vergessen, es wieder auszuschalten. Der Zischlaut klang wie eine fauchende Kreuzotter, die man überrascht hatte, wie eine wütende Katze. Es roch versengt, und ich schrie.

Mein Vater kam aus der Küche. Er war kreidebleich, ich schob das darauf, dass er wusste, wie weh es tat, sich zu verbrennen.

– Was hast du ihr gesagt?, fragte er und packte Magnus fest am Arm.

– Nichts, sagte Magnus. Sie hat sich am Ofen verbrannt.

Vater hob mein Kleid hoch, und ich drehte mich so, dass ich es auch sehen konnte. Ich hatte rote Streifen auf den Oberschenkeln. Als ich das sah, hörte ich auf zu weinen. Es brannte und schmerzte, aber ich wollte tapfer sein.

Mein Vater zog mich hinter sich ins Bad. Er drehte den Hahn auf und ließ Wasser in die Wanne laufen. Ich begann, das Kleid aufzuknöpfen, aber er setzte mich ins kalte Wasser, bevor ich fertig war. Das Kleid stieg wie eine Blase vor mir auf, aber ich lachte nicht, weil es so wehtat und nicht aufhörte.

– Bleib hier sitzen, sagte mein Vater und ging.

Um mich wurde es ganz still. Erst tat es gut, im kalten Wasser zu sitzen, die Schenkel an das kalte Porzellan gedrückt, aber dann kehrten die Schmerzen zurück, und ich begann zu frieren. Ich wollte nach meinem Vater rufen, ließ es aber und lauschte stattdessen dem Tropfen des Wasserhahns. Sonst war nichts zu hören. Niemand sprach, niemand ging über die Dielen, niemand schloss eine Tür.

Einer der frommen Jungen aus dem Bethaus hatte erzählt, dass Jesus jederzeit auf die Erde zurückkehren konnte und dass dann alle, die nicht errettet waren, in die Hölle kämen, wo ewige Qualen herrschten. Vielleicht, dachte ich, war das gerade passiert. Die Seligen waren alle in den Himmel aufgefahren und ich saß jetzt in der Hölle, bis in alle Ewigkeit würde ich in diesem halbdunklen Badezimmer sitzen, im kalten Wasser und mit Brandwunden, die furchtbar wehtaten. Aber das musste ein Irrtum sein, denn ich glaubte doch an Jesus, jedenfalls versuchte ich es, ich sprach jeden Abend, wenn ich daran dachte, ein Nachtgebet, und das Fräulein hatte gesagt, dass alle Kinder zu Ihm kommen durften. Jesus hatte mich wohl vergessen, dachte ich, und das war ja nicht verwunderlich, er musste sich um so furchtbar viel kümmern, es gab so viele Kinder auf der Welt.

Ich hörte Schritte und begann zu weinen.

– Jesus, sagte ich laut. Ich bin hier.

Die Tür ging auf, da stand mein Vater.

– Wo warst du so lange?

– In der Apotheke. Ich habe Salbe für dich gekauft. Du kannst jetzt aus der Wanne kommen.