Thomas West Arztroman - Hoffnung ist stärker als der Tod

Thomas West

Published by BEKKERpublishing, 2019.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Hoffnung ist stärker als der Tod

Copyright

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

Sign up for Thomas West's Mailing List

Further Reading: 10 hammerharte Strand-Krimis

Also By Thomas West

About the Publisher

image
image
image

Hoffnung ist stärker als der Tod

image

Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 150 Taschenbuchseiten.

Auf dem Weg nach Mannheim erfährt Felix Söhnker von dem Verhältnis seiner Frau. Es kommt zum Streit, und auf der regennassen Straße verliert Edith die Gewalt über den Wagen. Im Krankenhaus kommen die beiden wieder zu sich. Während Edith mit ihren schweren Verletzungen hadert, wird Felix von Schwester Marianne betreut, die selbst noch nicht über den Tod ihres Verlobten hinweggekommen ist.

image
image
image

Copyright

image

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

image
image
image

1

image

Es war immer das gleiche Bild: Der Rettungswagen mit blinkenden Blaulichtern mitten auf der Kreuzung, die den Verkehr umleitenden Polizisten, die Harley Davidson, nur halb zu sehen unter dem zertrümmerten Kühlergrill des LKW, daneben am Straßenrand der leblose, in Ledermontur gehüllte Körper, die drei weißgekleideten Gestalten, die um ihn knieten und sich hektisch an ihm zu schaffen machten, das blonde, blutverschmierte Langhaar auf dem Asphalt.

Und dann der Augenblick, den sie wohl ihr Leben lang nicht mehr vergessen würde: Eine der weißgekleideten Gestalten erhob sich und kam langsam mit hängenden Schultern auf sie zu, Alexandra Heinze, die Notärztin.

„Schwester Marianne“, presste sie mit belegter Stimme hervor, „Sie müssen jetzt ganz stark sein.“ Ein feuchter Schleier lag auf ihren graugrünen Augen. „Michael ist tot.“

Und dann zerbrach das Bild in tausend schmerzende Scherben. Und immer wachte sie mit dem Gefühl auf, als würden diese Scherben ihre Brust ausfüllen, sodass sie kaum zu atmen wagte.

Marianne Debras konnte nicht sagen, wie oft sie in dieser Nacht mit jenem Bild aufgewacht war. Ihre nackten Füße tasteten nach den Pantoffeln.

Sie griff nach dem kleinen Tablettenröhrchen auf dem Nachttisch. Mit der zitternden rechten Hand schüttelte sie das Röhrchen, bis zwei Tabletten in ihre linke Hand fielen. Sie stellte das Tablettenröhrchen zurück auf den Nachttisch, steckte sich die Tabletten in den trockenen Mund und spülte sie mit einem Schluck aus der Wasserflasche herunter.

Seufzend stand sie vom Bett auf und zog ihr schweißnasses Nachthemd aus. So heftig wie heute Nacht hatte sie der Albtraum lange nicht mehr gequält.

Doch sie kam nicht mehr dazu, über den Grund nachzudenken. Ihr Blick fiel auf den Wecker: 6.02 Uhr! Vor zwei Minuten hatte ihr Dienst begonnen!

Einen Augenblick kämpfte Schwester Marianne mit der Versuchung, auf der Intensivstation anzurufen, um sich krank zu melden. Doch der Gedanke an die fast voll belegte Station und vor allem an den frisch operierten Beatmungspatienten in der chirurgischen Einheit ließ ihr Pflichtgefühl die Oberhand gewinnen.

Sie war immerhin stellvertretende Stationsschwester. Sie hatte die Verantwortung für die Frühschicht. Sie hatte den Patienten gestern übernommen.

Auf keinen Fall durfte sie bei der Visite fehlen. Zumal der Oberarzt der Chirurgie seit einigen Wochen ein kritisches Auge auf sie hatte. Mit Dr. Höper war nicht zu spaßen.

Sie griff nach dem Hörer und wählte die Nummer, die ihr auch im Schlaf einfallen würde. Ihr Kollege Bert war am Apparat. „Hier Schwester Marianne, ich komme in zehn Minuten. Ich habe verschlafen.“

Duschen, Anziehen, noch schnell eine Tablette. Einmal mit der Bürste durch das kurzgeschnittene, schwarze Haar. Dann der Weg durch den Park vom Schwesternwohnheim in das Marien-Krankenhaus.

Es war noch dunkel, und es regnete in Strömen. Auf der Station, kurz vor dem Betreten des Personalraums, schnell ein Blick in die chirurgische Einheit. Dr. Höper studierte schon die Laborbefunde! Die Visite würde jeden Augenblick beginnen!

Beim Umziehen im Personalraum fiel Schwester Mariannes Blick auf den Kalender über dem Tisch mit der Kaffeemaschine. 11. November!

Ein kalter Schauer ließ ihren ganzen Körper erstarren. Deshalb waren die Albträume heute Nacht wieder so heftig gewesen. Auf den Tag genau vor einem Jahr war Michael tödlich verunglückt!

image
image
image

2

image

Als Schwester Marianne das Zimmer mit dem frisch operierten Beatmungspatienten betrat, hatte die Visite bereits begonnen. „Schön, dass Sie auch schon kommen, Schwester Marianne!“ Dr. Höpers Stimme klang kalt und gefährlich leise.

„Sie werden hoffentlich nicht böse sein, wenn wir schon mal angefangen haben!“ Spöttisch musterten seine blauen Augen Mariannes kleine, hagere Gestalt. Etwas verlegen stand sie im Türrahmen und mühte sich nervös mit dem obersten Knopf ihrer blauen Schutzkleidung ab.

„Guten Morgen, Schwester Marianne“, grüßte Dr. Lars Remmers, chirurgischer Stationsarzt der Intensivstation. Er versuchte seiner Stimme einen lockeren Unterton zu geben, um die angespannte Situation zu entkrampfen.

Die Assistenzärztin, Dr. Karin Döring, zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Mimik zeigte eine Mischung aus Besorgnis und Missbilligung. Unwillkürlich fühlte sich Marianne an die gestrige Visite erinnert, bei der die Ärztin ihr einen Fehler vorgehalten hatte: Der Herzpatient aus Bett zwei bekam immer noch ein bereits seit drei Tagen abgesetztes Medikament.

Die Krankenschwester trat zum Kopfende des Bettes neben das Beatmungsgerät und nahm die Patienten-Verlaufskurve entgegen, die Bert ihr reichte. Auf dem Gesicht ihres Kollegen lag ein Ausdruck, als wollte er sie fragen, wann sie mal wieder pünktlich zum Dienst kommen würde.

„Wir überlegen gerade, ob wir Herrn Simons heute Mittag vom Beatmungsgerät nehmen“, sagte Dr. Remmers, immer noch an Marianne gewandt, „die Spontanatmung während der Nacht brachte ganz erfreuliche Sauerstoffwerte.“

Marianne nickte und warf dem Stationsarzt einen dankbaren Blick zu. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr in einer peinlichen Situation beistand.

Während die Ärzte die Laborwerte des Frischoperierten diskutierten, versuchte Marianne sich einen Überblick über den nächtlichen Verlauf zu verschaffen.

Herr Simons hatte eine Rektumresektion hinter sich. Durch einen großen, bösartigen Tumor des Dickdarms war dieser schwerwiegende Eingriff nötig geworden. Über neun Stunden hatte die Totaloperation des Enddarmes gedauert. Vergeblich hatten Dr. Höper und sein Operationsteam versucht, dem Zweiundfünfzigjährigen einen Anus praeter zu ersparen.

Für einen Augenblick vergaß Schwester Marianne ihre Kopfschmerzen, den Kloß im Hals und das wunde Gefühl in ihrer Brust.

Mitfühlend betrachtete sie den bewusstlosen Patienten. Ein grünlich schimmernder Schlauch ragte aus seinem Mund, die daran angeschlossenen Spiralschläuche des Beatmungsgerätes lagen auf seiner Brust, die sich synchron zum rhythmischen Zischen des Beatmungsgeräts hob und senkte.

Die junge Krankenschwester seufzte. Der Mann tat ihr leid. Nun würde er doch lernen müssen, mit einem künstlichen Darmausgang zu leben.

Der Verlaufskurve entnahm Marianne, dass Herrn Simons Zustand sich während der Nacht stabilisiert hatte. Temperaturwerte, Blutdruck, Puls und Venendruck hielten sich im Normbereich. Die Flüssigkeitsbilanz war ausgeglichen. Der Mann schien ein gesundes Herz zu haben. Allerdings hatte er seit gestern Nachmittag drei Blutkonserven benötigt. Marianne erschrak. Eine Ahnung sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte.

„Die Blutwerte sind ja gar nicht so schlecht.“ Dr. Höper sah vom Kurvenblatt mit den Laborwerten auf und musterte das bleiche Gesicht des Patienten. „Nur die Gerinnungswerte gefallen mir nicht.“

Der Oberarzt beugte sich herab und betrachtete die vier, an der Bettkante hängenden Vakuumflaschen. Sie waren gefüllt mit dem Blut, das seit dem Eingriff in die große Operationswunde nachgeblutet war. „Hat kräftig Saft gelassen, was?“

„Ja, er hat viel Blut verloren“, bestätigte Lars Remmers. Der Stationsarzt hatte seine eigene Art, dem Oberarzt der Chirurgie zu zeigen, wie wenig er dessen Redensarten schätzte.

„Wie viel Blutkonserven hat er während der Operation bekommen?“, wandte sich Dr. Höper an Schwester Marianne. „Drei“, antwortete sie. Ihr Mund war trocken. Die Ahnung begann sich zur beängstigenden Gewissheit zu verdichten.

„Und der letzte Hb-Wert?“

„Vier Komma acht“, sagte Dr. Döring, „erst zwei Stunden alt.“

„Gut“, der Oberarzt richtete sich auf, „dann geben Sie ihm im Verlauf des Vormittags die anderen drei Konserven, Schwester Marianne. Danach können Sie ihn langsam vom Beatmungsgerät entwöhnen.“

„Die drei anderen Konserven?“ Mariannes Stimme klang heiser. In ihrem schmerzenden Kopf vermischten sich das blasende Geräusch des Beatmungsgeräts, die Anweisung des Oberarztes, das Piepsen des Monitors und die Erinnerung an die Albträume dieser Nacht zu einem grellen Chaos.

Mühsam versuchte sie, sich auf die Verlaufskurve in ihrer Hand zu konzentrieren. Ihr Blick verkrallte sich am Tagesdatum: >11. 11.<. Heute war der elfte November. Heute war Michaels Todestag!

„Ja!“, bellte Dr. Höper ungeduldig. „Es sind doch sechs Konserven ausgekreuzt!“

Neben dem magischen Datum stand es in roter Schrift: Nach Anordnung von Dr. Höper drei weitere Blutkonserven bestellt. Ma. Ihr Namenskürzel.

Sie hatte das Kurvenblatt gestern Abend angelegt. Sie hatte die Anordnung des Oberarztes entgegengenommen. Und sie hatte vergessen, den Auftrag an das Labor weiterzuleiten!

„Es tut mir leid, Herr Dr. Höper ...“, stammelte Marianne. Nicht nur dem kalten Blick des Oberarztes begegnete sie, alle starrten sie vorwurfsvoll an. Eine unerträgliche Beklemmung erfüllte das Krankenzimmer. Dr. Remmers wandte sich resigniert dem Beatmungsgerät zu.

„Soll das heißen, dass für diesen Patienten kein weiteres Blut bestellt wurde?“, stieß Dr. Höper scharf hervor. Er straffte seinen sportlichen Körper und stemmte die Fäuste in seine Hüften. „Soll das heißen, dass Sie meine Anordnung nicht ausgeführt haben, Schwester Marianne?“ Seine Stimme wurde bedrohlich laut.

Marianne senkte den Kopf. Ihre Schläfen hämmerten. Wieder spürte sie die zahllosen Scherben in ihrer Brust.

„Von einer leitenden Schwester erwarte ich eine fehlerlose Betreuung meiner Frischoperierten!“ Dr. Höper schrie jetzt ungeniert drauflos. „Sie aber schaffen es nicht einmal, pünktlich zur Visite zu erscheinen!“

Er tat einen energischen Schritt auf Marianne zu. Es konnte ihm einfach nicht entgehen, wie sich ihre Augen langsam mit Tränen füllten. Dennoch beherrschte sich der Oberarzt nicht. Er schrie sogar noch lauter. „Was Sie in den letzten Monaten an Leistung bieten, ist unter aller Sau! Auf jede Schwesternschülerin im ersten Jahr kann man sich mehr verlassen!“

„Ich bitte Sie, Herr Kollege!“, platzte Lars Remmers heraus. In diesem Moment drehte sich Marianne um und stürzte schluchzend zur Tür hinaus.

image
image
image

3

image

Felix Söhnker ging ans Fenster seiner Kölner Villa, als müsste er den strömenden Regen mit eigenen Augen sehen, um dem Wetterbericht glauben zu können.

„Wir hätten doch mit dem Zug fahren sollen“, brummte er missmutig. Die Aussicht, bei diesem Wetter drei Stunden oder länger auf der Autobahn unterwegs zu sein, dämpfte seine Laune beträchtlich.

„An einem Freitag im Intercity nach Mannheim fahren!“, rief seine Frau aus. „Das sähe dir ähnlich!“ Edith Söhnker saß noch am Frühstückstisch. „Du weißt doch genau, wie sehr ich überfüllte Züge hasse!“

Felix zog es vor zu schweigen. In den letzten Jahren hatten weit geringere Anlässe als dieser zu aggressiven Auseinandersetzungen zwischen Edith und ihm geführt.

Und nach dem heftigen Streit gestern Abend wollte er einen erneuten Zusammenstoß vermeiden. Obwohl er der Realität nicht länger ausweichen konnte: Heute Nacht war zum ersten Mal das Wort gefallen, das sie beide bisher sorgsam vermieden hatten, obwohl es jeder von ihnen dachte – Scheidung!

Er hatte es ausgesprochen. Ediths Reaktion blieb erstaunlich sachlich. Sie war verstummt. Kein Schreien mehr, keine Vorwürfe, schweigend hatte sie ihn mit ihren braunen Augen angeschaut.

Und ihr Gesicht erschien ihm nicht wie das Gesicht der Frau, die er vor dreizehn Jahren geheiratet hatte, sondern wie das Gesicht einer Fremden.

Dann hatte sie langsam genickt: „Gut, Felix. Vielleicht ist es tatsächlich das Beste für uns beide.“

Er wandte sich von der regennassen Fensterscheibe ab und ging zu Edith an den Tisch. Während er sich noch eine Tasse Kaffee einschenkte, fragte er, ohne sie dabei anzuschauen: „Willst du überhaupt noch mitfahren?“

„Wenn es nur um deine Vorstellung ginge, würde ich liebend gerne hier bleiben. Dein exaltierter Theaterhaufen interessiert mich schon lange nicht mehr!“

Sie stand auf, um ins Bad zu gehen. „Die Welt durch Kunst zu verändern, das überlasse ich weiterhin dir!“ An der Tür drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Vielleicht ist es dir entgangen, dass meine Studienkollegin Laura ihren vierzigsten Geburtstag feiert. Darum fahre ich nach Mannheim. Nicht deinetwegen!“ Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Felix Söhnker stützte seufzend seinen Kopf in die großen Hände. Eine Locke seines blonden, langen Haares fiel ihm in sein schmales Gesicht. Heute morgen sah man diesem Gesicht seine achtunddreißig Jahre an.

Edith hatte seinen Beruf von Anfang an mit Argwohn betrachtet. Für ihren Geschmack hatte er schon immer zu leidenschaftlich am Theater gehangen. Als sie sich kennenlernten, war sie noch fasziniert gewesen von dem künstlerischen Milieu, in dem er sich bewegte.

Er seinerseits hatte ihre nüchterne Art, die Welt zu sehen, geschätzt und sie in ihrem Beruf als Mathematiklehrerin bewundert.

Felix stieß ein bitteres Lachen aus und erhob sich. „Gegensätze ziehen sich an.“ Hatte das nicht irgendjemand auf eine Hochzeitskarte geschrieben? Damals, vor dreizehn Jahren?

Im Laufe ihrer Ehe hatte sich ihre Gegensätzlichkeit zu einer trennenden Mauer aufgeschichtet. Zu einer Mauer, die zwei Menschen voneinander trennte, die nur noch eines gemeinsam hatten: Das Gefühl gegenseitiger Fremdheit.

Seitdem Felix eine Festanstellung als Theaterregisseur erhalten hatte, war er zeitlich so beansprucht, dass sich ihre Wege auch äußerlich mehr und mehr getrennt hatten.

Heute Abend würde sein Ensemble ein Gastspiel am Mannheimer Nationaltheater geben. Seine Inszenierung des Stückes hatte in der Presse ein breites Echo gefunden. Mannheim würde nicht die einzige Stadt bleiben, aus der eine Einladung zu erwarten war.

Ein halbe Stunde später fuhr Edith den Wagen aus der Garage. Der Morgen graute bereits.

Felix stand mit dem Schirm neben der Hofeinfahrt. Als er den großen, roten Honda auf sich zurollen sah, beschlich ihn eine unbestimmte Wehmut. Er ließ seinen Blick über die Villa, den Garten und die Terrasse wandern. Gemeinsam hatten sie sich das aufgebaut.

Ein Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete die Beifahrertür. „Worauf wartest du noch“, sagte sie ungeduldig, „es ist bereits halb sieben.“

„Soll ich nicht fahren?“, fragte er, bevor er einstieg.

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Ich möchte das Steuer heute gern selbst in der Hand halten“, sagte sie und ließ den Wagen auf die Straße rollen. „Nach unserem Gespräch heute Nacht könnte das ja unsere letzte gemeinsame Fahrt sein.“

Noch ahnten beide nicht, wie recht sie damit behalten sollte.

image
image
image

4

image

Guten Morgen, Frau Kollegin.“ Dr. Clemens Stellmacher stand bereits mit Aktentasche und im Mantel an der Tür zum Bereitschaftszimmer des Notarztteams.

„Guten Morgen, Herr Stellmacher“, grüßte Alexandra Heinze zurück und drückte ihrem Kollegen die Hand. „Und? Wie war die Nacht?“

„Todlangweilig. Den Abend mit einer inoffiziellen Pizzafahrt verbracht, danach die halbe Nacht Skat gespielt, dann eine Fehlfahrt und ab ein Uhr geschlafen wie die Murmeltiere.“

Er grinste zu Karl Miller, dem Fahrer seines Notarztteams, hinüber. „Wünsche Ihnen einen ähnlich faulen Tag, Frau Kollegin. Tschüs.“

Zehn Minuten später, kurz nach halb sieben, waren auch die Sanitäter Ewald Zühlke und Jupp Friederichs zum Dienstantritt erschienen. Dr. Heinzes Notarztteam war komplett.

„Ach so“, meinte Karl Miller, bevor er die Tür hinter sich schloss. „Die Betten auf der Intensivstation sind knapp geworden. Schaut lieber nochmal rein da oben. Nicht, dass ihr mit einem Notfall auf der Matte steht, und die haben gar keinen Platz.“

„Mach ich am besten sofort“, meinte Jupp Friederichs und stand auf.

„Einen Augenblick, Herr Friederichs“, hielt ihn Dr. Heinze auf, „würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich das erledige? Ich wollte sowieso auf der Intensivstation vorbeischauen.“

„Aber bitte, Frau Doktor“, mit einer Kavaliersgeste hielt Friederichs der Ärztin die Tür auf.

Während Alexandra Heinze mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock fuhr, fühlte sie einen leichten Druck in der Magengegend. Der Anlass, der sie heute morgen sowieso auf die Intensivstation geführt hätte, war nicht besonders erfreulich.

Als sie während des Frühstücks den Nachrichtensprecher das Datum des heutigen Tages sagen hörte, wusste sie, wen sie im Laufe dieses Vormittages sehen musste: Marianne Debras, die stellvertretende Stationsschwester der Intensivstation.

Genau heute vor einem Jahr war die junge Schwester gemeinsam mit ihrem Freund verunglückt. Auf regennasser Fahrbahn war das Motorrad der beiden ins Schleudern geraten und gegen einen LKW geprallt.

Mariannes Freund war nicht mehr zu retten gewesen. Vor dem Aufprall war die junge Frau in die bepflanzte Straßenböschung geschleudert worden und hatte den Unfall wie durch ein Wunder mit ein paar Prellungen überlebt.

Dr. Heinze versuchte den Schauer abzuschütteln, der sie bei der Erinnerung an diesen tragischen Unglücksfall erfasste. Friederichs hatte damals bereits mit der künstlichen Beatmung begonnen, als Alexandra ihm sagen musste: „Hören Sie auf damit. Der Mann ist nicht mehr zu retten. Genickbruch.“

Die Aufzugtür öffnete sich, und Dr. Heinze ging langsam auf den Eingang der Intensivstation zu. Nie würde sie den Augenblick vergessen, in dem sie Marianne Debras den Tod ihres Freundes mitteilte.

Im Verlauf des zurückliegenden Jahres hatte sie versucht, Marianne in ihrer Trauer zu begleiten. Manches Gespräch hatten sie geführt. Doch Alexandra Heinze erkannte nur zu deutlich, dass die junge Frau den Verlust ihres Partners nicht verkraften konnte.

In letzter Zeit hatten sogar ärztliche Kollegen über die nachlassende Leistungsfähigkeit der Krankenschwester geklagt. Und zwar nicht nur solche, die auf der Intensivstation arbeiteten. Alexandra Heinze dachte an den Oberarzt der Chirurgie, Dr. Höper. Der tat sich immer besonders hervor, wenn es darum ging, seinen Kollegen das Leben schwer zu machen.

Neulich hatte er sich sogar beim Chef, Professor Streithuber, über die stellvertretende Stationsschwester der Intensivstation beklagt.

Mit diesen sorgenvollen Gedanken betrat Alexandra Heinze an diesem Morgen die Intensivstation. Die Uhr über dem Stationsgang zeigte 6.40 Uhr.

Am Ende des Ganges, auf der chirurgischen Einheit öffnete sich eine Tür. Schwester Marianne stürzte heraus, rannte schluchzend den Gang hinunter und verschwand im Personalraum.

Einen Moment nur blieb die Notärztin überrascht stehen. Dann ging sie rasch auf den Personalraum zu. Sie ahnte nichts Gutes.

Schwester Marianne lag schluchzend über den Tisch gebeugt, das Gesicht in ihren Händen vergraben. Ihr Körper bebte wie im Schmerz.

Dieser Anblick übertraf Alexandra Heinzes schlimmste Befürchtungen bei Weitem. Einen Moment blieb sie im Türrahmen stehen. Doch schnell hatte sie sich wieder gefasst und zog die Tür hinter sich zu.

„Schwester Marianne, was ist geschehen?“ Teilnahmsvoll streichelte sie der jungen Frau über das kurzgeschnittene schwarze Haar.

Alexandra Heinze wusste, dass echter Schmerz nicht gleich in Worte zu fassen ist. Schwester Marianne brauchte Zeit. Nach einigen Minuten fand sie die Worte wieder.

Und nicht nur die Enttäuschung über die demütigende Kritik des Oberarztes, sondern die ganze zurückgehaltene Verzweiflung des vergangenen Jahres brach aus ihr heraus.

„Frau Dr. Heinze, es hat keinen Sinn mehr. Ein Mensch, der nur noch Fehler macht, ist in diesem Beruf nicht zu gebrauchen. Ich kann keine Krankenschwester mehr sein! Ich werde kündigen.“

Dr. Alexandra Heinze sah das verhängnisvolle Datum auf dem Kalender. Wie sollte sie der jungen Frau Mut zusprechen?

„Marianne“, ihre Stimme klang sanft und einfühlsam, „dass Sie an einem Tag wie diesem so unglücklich sind, wer wollte das nicht verstehen. Sie haben ein Recht darauf, verzweifelt zu sein, denn Sie haben den Menschen, den Sie liebten, von einer Sekunde auf die andere verloren. Sie müssen Geduld mit sich selbst haben. Gehen Sie jetzt nach Hause. Ich rede mit der Oberschwester. Bleiben Sie aber nicht allein. Gehen Sie zu Ihren Eltern oder zu Ihren Freunden aus der Laienspielgruppe.“

„Theater spiele ich schon seit Michaels Tod nicht mehr.“ Sie richtete sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Ich habe alle Kontakte abgebrochen, seit ...“ Sie warf einen verzweifelten Blick auf den Kalender. „Seit jenem elften November ...“

„Marianne, hören Sie zu“, die graugrünen Augen der Ärztin ruhten mitfühlend auf der jungen Schwester, „gerade ein Mensch wie Sie, der die bittere Seite des Lebens kennt, kann leidenden Menschen eine wirkliche Hilfe sein.“

Dr. Heinze legte ihre Hand auf Mariannes Schulter. „Geben Sie nicht auf, Marianne, das Marien-Krankenhaus braucht Sie.“

image
image
image

5

image

Hilde Heinze mochte den Monat November nicht. Sie konnte sich an Zeiten in ihrem Leben erinnern, in denen sie zu dieser Jahreszeit regelmäßig in eine tiefe Schwermut gefallen war.

Das hatte sich mit dem Älterwerden zwar gegeben, aber die kahlen Bäume, der laubbedeckte Asphalt und die grauen Nebelschwaden des Novembers hatten für sie immer noch mit Tod und Traurigkeit zu tun.

Heute kam noch der seit Tagen nicht enden wollende Regen hinzu. Trotz ihres humorvollen Naturells beschlich sie wieder eine Spur der alten Wehmut.

„Nicht so schnell, Anuschka, ich bin keine vierzig mehr wie dein Herrchen!“

Die schwarze Dogge war den wesentlich schnelleren Schritt des Sohnes von Hilde Heinze gewöhnt. Doch Dr. Werner Heinze war seit zwei Tagen auf einem Ärztekongress für Kinderheilkunde in Köln.

Normalerweise ließ er sich seine Lieblingsbeschäftigung vor Praxisbeginn von niemandem nehmen. Wenn er aber auf einer seiner Dienstreisen war, übernahm seine Mutter gern den morgendlichen Spaziergang mit dem vierbeinigen Liebling der Familie Heinze.

„Ist ja gut“, beruhigte Hilde Heinze das aufgeregte Tier, „wir sind ja gleich am Waldrand.“

Sie bog aus der Beethovenstraße in einen schmalen Weg, der aus dem Villenviertel heraus in ein Waldstück führte. Dort angekommen löste sie das Hundehalsband von der Leine. „So, Anuschka, jetzt kannst du dich richtig austoben.“

Der Hund stob davon. „Aber lauf nicht so weit weg!“, rief sie ihm hinterher. Das hätte sie dem treuen Tier nicht sagen müssen. Anuschka liebte es zwar, den einen oder anderen Abstecher ins Gebüsch zu unternehmen, entfernte sich aber nie aus der Rufweite ihres Begleiters.

Der Regen prasselte auf den gelben Regenschirm über der alten Dame. Hilde Heinze hatte sich trotz der Verwunderung der Verkäuferin für die knallige Farbe entschieden. Das war ihre Art, den düsteren Novembertagen zu trotzen.