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Rike Thome

Lass mich dich lieben





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kapitel 1

 

Der Wecker tickte. Es klang in dem ruhigen Einzelzimmer der Klinik fast schon zu laut in Rebecca McKenzies Ohren. Nur das Rascheln ihres Kleides war zu hören, wenn sie sich anders auf dem Stuhl hinsetzte. Es machte der Dreiundzwanzigjährigen nichts aus, darauf zu warten, dass ihr Vater aus dem Minutenschlaf erwachte. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr mit ihm, und der Gedanke, dass Benjamin McKenzie bald von ihr gehen würde, schmerzte wie ein Betonklotz auf ihrer Brust.

Das regelmäßige und wiederkehrende Geräusch des Weckers kannte sie seit Wochen zu genüge. Das Ticken zeigte ihr mit jedem einzelnen kleinen Tack die Vergänglichkeit des Lebens an. So wie Rebecca es gerade bei ihrem Vater erleben musste …

Ihr Blick fiel auf Benjamins Brust, die sich unter der krankenhausweißen Bettdecke sanft auf und ab senkte. Früher war ihr Vater ein kräftiger und stolzer Mann gewesen. Jetzt lag ein kleines Häufchen Mensch vor ihr, das den Kampf um den tödlichen Krebs aufgegeben und sein Los angenommen hatte. Alle Hoffnung war versiegt und sie nutzten die wenigen Momente, die ihnen noch verblieben, um in Erinnerungen zu schwelgen oder Pläne für Rebeccas Zukunft zu schmieden. Seine einzige, über alles geliebte Tochter und der eine Mensch, der ihm geblieben war. Lena, seine Frau, hatte nach der Diagnose ein Leben ohne ihn vorgezogen.

 

Da Rebecca nie die Liebe ihrer Mutter gespürt hatte, war der Verlust nicht schmerzlich gewesen. Sie hatte sie schon immer auf Abstand gehalten.

Mit ihrem Vater aber verstand Rebecca sich immer bestens. Sie beide waren ein Herz und eine Seele. Daher war es für sie selbstverständlich gewesen, ihm in seiner schweren Krankheit zur Seite zu stehen und ihn zu pflegen, als er ans Bett gefesselt war. In dieser Zeit musste sie sich des Öfteren von ihm anhören, dass Gott ihn endlich von seinem Leid erlösen solle. Dabei musste sie ihm immer wieder versprechen, stark zu sein und nach seinem Tod ihr Leben zu leben.

Nur die Tatsache, dass sie nach dem Dahinscheiden ihres Vaters das Leben alleine meistern müsste, erfüllte sie mit latenter Angst und Unsicherheit. Ein riesiger Berg, von dem sie noch nicht wusste, wie sie ihn erklimmen sollte ...

Jede Sekunde kam Rebecca auch an diesem Tag wieder vor wie Stunden, die sie mit Gedanken und Grübelei verbrachte. Es wäre ihr lieber, wenn ihr noch mehr Zeit mit dem geliebten Vater verbleiben würde ... Er war ihre ganze Familie, sonst hatte sie niemanden mehr.

 

Bei diesem Gedanken schluckte sie. Die Überlegungen, wie es weitergehen sollte, wollte sie erst einmal von sich schieben, um die kurzen Stunden, die ihr mit Benjamin verblieben, noch intensiv zu nutzen. Jede Sekunde, jede Minute erschien ihr so unsagbar kostbar, auch wenn andere sie hierüber vielleicht belächelten. Sie wollte bei ihm sein so lange es ging, denn wenige Stunden zuvor hatte die Palliativstation ihr mitgeteilt, dass sein Ende näher rückte.

Sie wusste es seit Monaten. Der Tumor hatte nach seiner Streuung jede Hoffnung zunichte gemacht. Deshalb hatten sie gemeinsam beschlossen, dass ihr Vater im Krankenhaus eine medizinisch bessere und kontinuierliche Betreuung hätte. Nach monatelanger, intensiven Pflege, rückte jetzt der Tod mit unerbittlicher Härte immer näher.

 

Das Krankenzimmer war schlicht, aber sauber. Die Farbe weiß dominierte den Raum. Nur der kleine bunte Blumenstrauß, den sie vor zwei Tagen mitgebracht hatte, bildete einen schönen farblichen Kontrast. Blau, die Lieblingsfarbe ihres Vaters.

Rebecca hasste das Krankenhaus, weil sie es mit Schmerzen verband. Doch hier und jetzt sollte es ihrem Vater die Schmerzen nehmen, um den Übergang zu erleichtern.

Seine abgemagerte, faltige Hand lag in ihrer und immer wieder strich sie ihm über den Handrücken, um ihrem Vater zu zeigen, dass sie bei ihm war. Niemand sollte alleine sterben müssen. Sollte es mal bei ihr soweit sein, hoffte Rebecca, dass sie auch einen liebenden Menschen bei sich hätte.

Die Zimmertür klackte und Rebecca sah, dass Doreen, die junge Krankenschwester und zusätzlich ihre Nachbarin vom Haus nebenan, nach ihnen schaute. Sie hatte sie kurz zuvor angerufen und hergebeten. Vor zwei Tagen musste ihr Vater plötzlich auf die Intensivstation des Klinikums St. Antonin verlegt werden, weil seine Nieren versagten. Die Ärzte hatten ihr erklärt, dass nach und nach seine Organe versagen würden.

„Alles gut bei euch?“, wollte sie leise wissen und trat näher, um seinem Atem zu lauschen. Heimlich wischte sich Rebecca über das Gesicht. Immer wieder kamen diese Tränen, obwohl sie doch so viele geweint hatte in den letzten Wochen …

„Er wollte dich vorhin sprechen und es klang, als ob es ihm wichtig wäre“, meinte Doreen und fasste ihr mitfühlend an den Arm.

Ihre Nachbarin war ein Schatz. Auch in den vergangenen, schweren Zeiten hatte sie sich immer auf ihre Unterstützung verlassen können. In Krisen zeigten sich wahre Freundschaften.

„Danke, dass du Bescheid gegeben hast, Doreen. Ich möchte ihn schlafen lassen. Da ich im Moment nicht arbeite, kann ich gerne warten, bis er aufwacht.“

„Natürlich“, bestätigte Doreen verständnisvoll und Rebecca war froh, eine bekannte Seele hier in dem riesigen Krankenhauskomplex zu haben. Es tat gut, dass sie diesen schweren Weg nicht ganz alleine gehen musste.

„Maria“, das war Doreens Mutter, „lässt dich auch grüßen. Wenn du mal wieder vorbei kommen möchtest, dann würde uns das sehr freuen.“

Rebecca lächelte mechanisch. „Danke, das mache ich mal wieder. Aber im Moment …“, dabei fiel ihr Blick auf das Krankenhausbett.

Doreen nickte verstehend und drückte ihren Arm, bevor sie sich abwandte.

„Er hat keine Schmerzen, es strengt ihn nur alles sehr an.“

„Ich weiß“, antwortete Rebecca, denn den Verfall seines Körpers hatte sie in der Zeit, in der sie ihn gepflegt hatte, hautnah miterlebt.

Das erneute Klacken der Tür zeigte, dass Doreen den Raum verließ, um ihnen die gemeinsame Zeit zu lassen.

 

Die Bettdecke bewegte sich sacht. Benjamin erwachte und als er sie neben sich sah, strahlten seine Augen kurz auf. Dann legte sich der schon bekannte, leichte Schleier wieder über seine Augen. Ein Zeichen seiner akuten Schwäche.

„Becci.“ So nannte er sie früher immer.

Rebecca schluckte. Er tastete hilflos nach der Schnabeltasse, die auf dem Nachttisch stand. Rebecca reichte sie ihm rasch. Inzwischen konnte sie das Pflegebett bedienen. Sie stellte es hoch, damit er trinken konnte, ohne sich zu sehr anzustrengen.

Seine wächserne Haut wirkte fahl, als er sich müde zurücklehnte, sie dabei jedoch nicht aus den Augen ließ.

Trotz der Trauer in ihrer Seele musste Rebecca nun stark sein, denn es würde ihren Vater unglücklich machen, zu sehen, dass er seine trauernde Tochter alleine zurücklassen musste. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass nun endlich die Gebete ihres Vaters, erlöst zu werden, von Gott erhört wurden. Denn sie wusste nur zu gut, welche Schmerzen er die letzten Monate ertragen musste.

Rebecca zog ihren Stuhl näher heran und nahm erneut seine kalte und kraftlose Hand.

„Hallo Papa. Ich bin hier!“ Sie versuchte zu lächeln und zuversichtlich zu klingen.

Benjamin McKenzie blickte seine Tochter mit gläsernen Augen an und lächelte schwach.

„Hallo, mein Mädchen!“, begann er leise. „Gott nimmt mich nun endlich zu sich. Aber ich muss dir noch etwas ganz Wichtiges sagen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Darum bitte ich dich, mich nicht zu unterbrechen. Du sollst wissen, dass du immer mein Ein und Alles warst.“

Seine Worte kamen krächzend von ihm und Rebecca sah, wie er um Luft rang, um diese Worte herauszubringen. Gänsehaut bildete sich auf ihrem Arm, als sie spürte, wie schwer er sich tat, um mit ihr zu sprechen.

Rebecca lächelte ihn tapfer an und nickte.

„Du weißt ja, dass du einen Großvater hattest“, kam es erneut von ihm.

Sie konzentrierte sich, um seine Worte zu verstehen.

„Was du aber nicht weißt, er hat dir, mein Liebes, seine Ranch „Golden Bird“ vererbt. Gott vergebe mir, aber ich wollte es dir nicht vorher sagen, weil ich Angst hatte, dich zu verlieren.“

Rebecca erschrak über das Gebaren ihres Vaters. Warum hatte er es ihr verheimlicht? Sie wäre doch nie und nimmer von ihm fortgegangen. Hatte ihr Vater so wenig Vertrauen in sie? Als er sah, dass sie leicht erregt war, erhob er kraftlos seine Hand und sprach mit einer immer schwächer werdenden Stimme: „Ich muss dir noch mehr beichten. Lena war nicht deine leibliche Mutter. Ich führte mit ihr nur eine Zweckehe ohne Verpflichtungen und Ansprüche. Deine richtige Mutter hieß Wanda und war Tänzerin. Ich lernte sie kennen, als sie mit ihrer Truppe nach Texas kam."

 

Ihr Vater musste husten und Rebecca sah, dass es ihn unheimlich viel Kraft kostete. Dennoch sprach er weiter: „Mein Vater war mit ihr nicht einverstanden. Ich war jung und naiv und habe mich böse mit ihm zerstritten. Und brannte mit Wanda durch. So schnell, wie wir geheiratet hatten, wurden wir auch wieder geschieden. Das Ganze war nach einem halben Jahr vorbei und Wanda zog mit ihrer Truppe weiter. Eines Tages kam sie und brachte dich zu mir. Sie sagte, dass sie mit einem Kind …"

Wieder musste er husten. Rebecca hätte ihm am liebsten gesagt, er solle aufhören zu reden. Doch sie schwieg. Sie wusste, dass sie heute diese Stimme zum letzten Mal hören durfte.

"… keine Zukunft hätte und ließ dich mit sämtlichen Vollmachten bei mir. Ich habe nie daran gezweifelt, dein Vater zu sein. Nun stand ich da mit einem süßen Baby, aber ohne Frau und Mutter. Kurze Zeit später trat dann Lena in mein Leben und unterstützte mich, soweit es ging. Ich tat alles nur für dich, mein Kind“, kam er zum Schluss.

Benjamins Stimme war am Ende nur noch ein Flüstern. Die Worte ihres Vaters ließen Rebecca merkwürdigerweise unberührt. Damit bekam sie die Erklärung für Lenas Verhalten ihr gegenüber.

Sie strich zärtlich über die eingefallene Wange ihres Vaters, als sie eine Träne entdeckte.

„Ich liebe dich, Dad! Und ich bin dir dankbar für alles, was du für mich getan hast. Ich verstehe dich und bin dir nicht böse“, tröstete sie ihn.

Sie konnte sehen, wie er erleichtert aufatmete. Was brachte es ihr auch, jetzt böse auf ihn zu sein? Ihr Vater und somit ihr einziger Halt würde bald gen Himmel fahren.

„Rebecca, mein Kind. Unser Anwalt hält alles für dich bereit. Und melde dich bei der Maklerin. Sie soll das Häuschen jetzt zum Verkauf anbieten. Dieses Geld ist zusätzlich meine Mitgift für dich. Vergiss nicht, dein neues Leben zu beginnen. Ich weiß, du wirst es schaffen. Du bist eine McKenzie! Geh' jetzt und schicke Pastor Peters zu mir.“

Selbst das Flüstern klang jetzt sehr angestrengt.

„Aber Dad, ich will bei dir bleiben!“, flehte sie.

„Nein, geh' bitte. Es wird uns beiden leichter fallen. Ich liebe dich und werde dich immer in meinem Herzen tragen.“

 

Rebecca musste es wohl einsehen. Sie strich sich ihr blondes Haar hinters Ohr und verabschiedete sich ein letztes Mal von ihrem geliebten Vater. Sie sagte ihm, dass auch er immer in ihrem Herzen weiterleben würde. Er solle sich auch keine Sorgen um sie machen. Sie würde stark bleiben. Dann ging sie aus dem Zimmer, gab dem Pastor Bescheid und setzte sich draußen im Flur zu Doreen, die auf sie wartete. Tränen hatte sie jetzt keine mehr. Sie war erleichtert, dass ihr Vater von seinem Leid erlöst sein würde.

Mit gesenktem Kopf faltete sie ihre Hände im Schoss zu einem Gebet. Zehn Minuten später kam dann Pastor Peters zu ihnen zurück. „Dein Vater ist mit einem Lächeln eingeschlafen. Er ist in Gottes Händen.“

Rebecca nickte, bedankte sich, holte tief Luft und verließ die Klinik.

 

In den nächsten Tagen lenkte sie sich mit allem Möglichen ab, um das plötzliche Alleinsein besser verkraften zu können. Sie verbrachte viel Zeit bei ihrem Pferd Grace am Reitstall, wo sie vor der Krankheit ihres Vaters auch als Reitlehrerin ihr Geld verdiente. Sie erledigte den Papierkram und packte schon mal kleine Habseligkeiten ein. Dabei erinnerte sie sich an die gemeinsamen Jahre und was sie mit ihrem Vater alles erlebte. Stundenlang blätterte sie in den Fotoalben und suchte schließlich doch noch alle notwendigen Papiere, die sie für diverse Ämter benötigte, heraus, um seinen Tod bekannt zu machen.

Der Verkauf des Häuschens lief bereits. Ein Anruf bei der Maklerin, die auf den Startschuss wartete, reichte aus. Das Mobiliar und die gut erhaltenen Kleidungsstücke spendete Rebecca sehr gerne dem Obdachlosenheim. Benjamin McKenzie hatte immer schon dieses Haus unterstützt, sodass sie das guten Gewissens tun konnte. Außerdem hatte er ihr die letzten Tage immer wieder gesagt, dass sie nicht trauern, sondern sich um ihr eigenes Leben kümmern sollte. Das wäre sein Wunsch. Sie sollte nicht zu sehr in Erinnerungen schwelgen.

Ein Fotoalbum mit Bildern aus einer glücklicheren Zeit mit ihrem Vater und kleine Erinnerungsstücke von ihm, wie zum Beispiel sein Siegelring und die Uhr, waren daher das Einzige, was sie mitnahm.

 

Am Tag vor der Beerdigung erhielt sie vom Anwalt ihres Vaters alle Unterlagen, die sie als Erbin der Ranch ihres Großvaters auswiesen. Doch Fotos davon gab es leider keine. Sie hatte jedoch zurzeit sowieso nicht vor, dorthin zu reisen. Der Anwalt versprach, den Vorarbeiter darüber zu unterrichten und ihn darum zu bitten, sich weiterhin um die Ranch zu kümmern. Der Mann arbeitete schon über zwanzig Jahre dort und war zuverlässig.

Im Moment drehte sich in ihrem Kopf alles, sodass sie sich erst einmal wieder auf sich besinnen und in ihrem Beruf arbeiten wollte, bevor sie sich dort blicken ließ.

Rebecca informierte den Anwalt über den Umzug und dass sie ihm so rasch wie möglich ihre neue Adresse mitteilen würde. So konnte er sie wegen der Ranch im Notfall per Handy auf dem Laufenden halten. In dringenden Angelegenheiten wäre sie zwar damit erreichbar, aber das Tagesgeschäft sollte der Vorarbeiter wie bisher übernehmen. Freundlich schüttelte sie dem Anwalt zum Abschied die Hand und bedankte sich, ehe sie die Kanzlei verließ.

Rebecca rief auch in New Jersey an. Sie hatte sich dort vor einigen Wochen auf eine Annonce hin, um ihren eigentlichen Beruf als Reitlehrerin beworben. Sie bekam die Bestätigung, dass die Stelle noch frei sei. Sollte das nichts zu bedeuten haben? Sie ergriff die Chance eines Neuanfangs, sagte zu und kündigte sich für den kommenden Freitag an. Sie war durch die Pflege ihres Vaters an keinen Job gebunden, was ihr diesen Schritt nun erleichterte. Gleich nach der Beerdigung müsste sie losfahren, damit sie nicht zu spät am Abend dort eintreffen würde.

 

Am Tag der Beerdigung belud sie schon um acht Uhr morgens ihr Auto mit den wenigen Habseligkeiten, die sie besaß.

Außer ihrer Nachbarin Maria, deren Tochter Doreen und ein paar früheren Arbeitskollegen, kam niemand, um am Grab ihres Vaters Abschied zu nehmen. Nicht einmal Lena erschien, was Rebecca im tiefsten Innern schockierte. Immerhin war sie zwanzig Jahre lang, auch wenn sie sich nicht geliebt hatten, seine Frau gewesen. Sie würde ihre Stiefmutter und ihre leibliche Mutter, die sie nicht gewollt hatte, wohl nie verstehen.

Rebecca schob die negativen Gedanken beiseite, denn diese gehörten nun der Vergangenheit an. Sie ging mit Maria und Doreen nach Hause, um sich bei ihnen mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen für die lange Fahrt zu stärken. Sie wollte sich auch für ihre aufopfernde Bereitschaft bedanken und sich herzlich verabschieden.

„Hier, Maria.“ Rebecca gab ihr einen Hunderter, damit sie den ersten Monat das Grab pflegen konnte. „Ich werde dir jeden Monat das Geld dafür schicken.“

„Das mache ich doch gerne. Dein Vater war ein liebevoller Mensch. Oh Rebecca … Wir werden dich vermissen“, schluchzte Maria auf.

Doreen tätschelte die Hand ihrer Mutter und meinte: „Mutter, hier sind zu viele Erinnerungen. Für Rebecca ist es das Beste, irgendwo neu anzufangen. Sie ist schon immer sehr tapfer und stark gewesen. Daher zweifle ich nicht daran, dass sie es schafft. Und du weißt, dass es Benjamins Wunsch war, dass seine Tochter nach seinem Tod ihr Leben in die Hand nimmt und endlich wieder die Zeit mit ihren geliebten Pferden verbringt.“

Doreen zwinkerte ihr zu und lächelte.

Rebecca erwiderte das Lächeln und sagte: „Macht euch mal keine Sorgen. Ich werde regelmäßig schreiben und euch auf dem Laufenden halten.“ Auch versprach sie ihnen, sie in regelmäßigen Abständen zu besuchen. Wenn Rebecca auch wusste, dass es Stunden entfernt von ihrem neuen Zuhause lag.

„Das hoffe ich doch sehr, meine Süße“, lächelte nun Maria zurück. „Ich habe dir für die lange Fahrt nach New Jersey Proviant eingepackt. Und wenn was ist, gibt es ja noch das Telefon. Nun denn, meine Liebe. Es wird Zeit zum Aufbruch. Pass gut auf dich auf, Rebecca!“

Maria und Doreen umarmten sie zum Abschied.

„Das werde ich ganz bestimmt! Wir hören voneinander. Macht es gut und nochmals vielen Dank für alles.“

 

Um einundzwanzig Uhr abends kam Rebecca nach einer nervenaufreibenden und langen Reise auf der Reitanlage in New Jersey an. Sie war froh mit ihrer Ankunft einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und nicht mehr ständig an die vergangenen, traurigen Tage des Abschieds und des Todes erinnert zu werden.

„Du bekommst es hin, meine Große. Ich bin immer bei dir und schaue von oben auf dich herab“, hatte ihr Vater spaßend letzte Woche noch zu ihr gemeint.

Darauf zählte sie jetzt und bremste den Wagen vor dem Reiterhof ab.

Neuer Mut stieg in ihr auf, als sie sich umsah.

Durch den Spätfrühling war es noch nicht allzu dunkel, sodass sie ihre Umgebung noch gut sehen konnte. Es war eine große Anlage und auf einer der Weiden befanden sich mindestens fünfzehn Pferde. Sie hielt vor einem großen Gebäude an, das wohl das Wohnhaus der Familie Jacobs sein musste. Im Rückspiegel überprüfte sie noch schnell den Sitz ihrer Frisur. Dann nahm sie ihre Handtasche mit der Empfehlung und den Unterlagen vom Beifahrersitz, stieg aus ihrem Wagen, streckte sich einmal kurz und schritt gekleidet in Jeans und Shirt auf die Haustür zu. Kurz, bevor sie anklopfen konnte, wurde sie auch schon aufgerissen und ein kleiner Junge von etwa acht Jahren stürmte an ihr vorbei in Richtung der Ställe.

„Micha, du sollst nicht so rennen. Wie oft soll ich es dir noch sagen? Vergiss nicht, deinen Vater mitzubringen“, hörte sie eine Frauenstimme rufen, bevor diese erschien.

„Entschuldigen Sie! Sind Sie Mrs. Jacobs? Ich bin Rebecca McKenzie!“

Die Frau bejahte und reichte ihr mit einem freundlichen Lächeln die Hand.

„Miss McKenzie, wie schön! Haben Sie den Weg gut finden können? Entschuldigen Sie bitte, aber mein Sohn Micha ist ein kleiner Wildfang. Bitte kommen Sie doch herein. Mein Mann wird gleich da sein. Micha holt ihn gerade.“

„Danke, sehr nett von Ihnen, Mrs. Jacobs. Und ja, dank Ihrer guten Wegbeschreibung gab es keine Probleme“, antwortete Rebecca ihr höflich.

Sie betrat mit ihr das Innere des Hauses und wurde in ein großes Arbeitszimmer geführt.

Mrs. Jacobs bot ihr einen Stuhl an. „Bitte setzen Sie sich!“

„Danke!“, lächelte Rebecca und ließ sich darauf nieder. Zwar hatte sie lange genug auf der Fahrt hierher gesessen, doch würde es sicher nicht gut ankommen, wenn sie stehen bliebe.

Danach wurde ihr eine Tasse Kaffee angeboten, die Rebecca ebenso dankend entgegen nahm.

 

Während des Wartens auf ihren Mann, erfuhr Rebecca dann von ihr einiges über die Reitanlage und warum es so schwer wäre, eine geeignete Lehrerin zu finden. Nicht viele schienen sich mit dem Dressurreiten auszukennen, was Rebeccas Glück war. Es war eben nicht das typische Westernreiten, sondern der englische Reitstil. Dafür eignete sich auch nicht jede Rasse. Ein gut ausgebildetes Dressurpferd hielt eine andere Körperhaltung beim Reiten ein, beherrschte den Mitteltrab, den Mittelgalopp, sowie das Traben auf der Stelle. Und das waren nur wenige Kleinigkeiten, die das Pferd beherrschen musste.

Mrs. Jacobs ließ sie wissen, dass sie ihr nach dem Einstellungsgespräch noch das Nötigste zeigen wolle, bevor es dunkel werden würde. Auch die kleine Hütte, die Rebecca bewohnen sollte.

Ein Klopfen an der Tür riss die beiden Frauen aus ihrer Plauderei und herein kam ein gut aussehender Mann mittleren Alters, mit seinem Sprössling.

Rebecca erhob sich. Dies schien ihr zukünftiger Chef zu sein, denn er hielt ihr lächelnd die Hand entgegen und hieß sie willkommen. Auch der kleine Wildfang grüßte wohlerzogen.

„Bitte setzen Sie sich doch wieder, Miss McKenzie!“, meinte er.

„Danke! Und bitte nennen Sie mich Rebecca!“

Mister Jacobs nickte. „Also Rebecca! Meine Frau kennen Sie ja schon. Der kleine Wicht hier ist mein Sohn Micha und ich heiße Adam“, stellte er sich vor.

Mister Jacobs meinte noch: „Übrigens unser Beileid. Es muss schwer für Sie gewesen sein. Sie sind noch so jung.“

Das berührte Rebecca. „Danke! Ja, es war nicht leicht, aber ich bin froh, dass mein Vater nun erlöst ist. Ich habe ihn viele Monate gepflegt, daher weiß ich, durch welche Hölle er mit seinen Schmerzen ging.“

Ihre beiden Arbeitgeber nickten mitfühlend und Mister Jacobs sah sich dann die Empfehlung und Bewerbungsunterlagen an, während seine Frau sich mit ihrem Sohn beschäftigte.

 

Rebecca erkannte, dass Mister Jacobs der Führende des Unternehmens war.

Als er mit ihren Unterlagen fertig war, wies er sie in ihre Aufgaben ein. Seine Frau verließ währenddessen mit ihrem Sohn das Arbeitszimmer.

Nach einiger Zeit meldete Rebecca sich zu Wort und gab sich einverstanden. Der Lohn, den sie für ihre Tätigkeit als Reitlehrerin bekommen würde, tat dazu sein Übriges. Es war bei Weitem mehr, als sie damals in dem kleinen Reitstall zuhause bekam. Damit konnte sich leben lassen, zumal sie für ihr Dach über dem Kopf nicht extra zahlen musste. Laut Aussage ihres Arbeitgebers, war alles im Lohn berücksichtigt.

„Das ist schön! Mit Ihren Unterlagen ist ebenfalls alles in bester Ordnung, Rebecca. Ich freue mich, Sie als unser neues Teammitglied begrüßen zu dürfen.“

„Vielen Dank!“

„Sie müssen mich nun entschuldigen, aber ich habe noch ein wenig zu arbeiten. Meine Frau hat Ihnen sicherlich schon gesagt, dass sie Sie herumführen wird?“

Rebecca nickte lächelnd. Beide erhoben sich, reichten sich die Hand und verließen das Arbeitszimmer.

Mit Mrs. Jacobs und ihrem Sohn begab sie sich sogleich auf Besichtigungstour.

„Dann werde ich Ihnen mal das Nötigste zeigen. Morgen können wir gerne alles andere besichtigen. Ihre Arbeit beginnt nicht vor Montag. Nutzen Sie die Gelegenheit und ruhen Sie sich mal richtig aus“, lächelte ihre Chefin höflich und mit aufrichtiger Anteilnahme.

„Danke, das werde ich tun!“