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Über das Buch

»Ein lautes Geräusch lässt mich herumwirbeln. Ich starre zum Schloss hinüber, wo gerade ein Sturzregen niederprasselt. Aber das Wasser kommt nicht aus den Wolken. Es strömt aus den Mäulern der Wasserspeier heraus, gerade so, als würden sie ihre Wut mit voller Wucht herausspucken. Dann versiegt der Schwall plötzlich. Und wieder ist es still. Unheimlich still. «

Steinerne Fratzen, die von den Schlossfassaden höhnisch herabgrinsen, und mysteriöse Anrufe in der Nacht – so hat Linda sich die Ankunft in ihrem neuen Zuhause nicht vorgestellt! Als dann auch noch einer der Wasserspeier mit ihr zu sprechen beginnt und von einer gefährlichen Prophezeiung berichtet, ist das erst der Anfang eines aufregenden Abenteuers …

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Inhalt

Über das Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Über die Autorin

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1. Kapitel

»Rrrr! Rrrr! Rrrr! Rrrr!«

Panisch schrecke ich hoch. Um mich herum ist es finster, und ich flehe, dass es nur ein böser Traum ist. Aber es ist kein Traum. Es ist Wirklichkeit. Im Flur schrillt das Telefon. Wie letzte Nacht. Wie vorletzte Nacht. Wie in den Nächten zuvor.

»Rrrr! Rrrr! Rrrr! Rrrr!«

Barfuß, mit klopfendem Herzen, tappe ich in den Flur, vorbei am Schlafzimmer meiner Eltern, wo wie immer heftig geschnarcht wird. Kein Wunder, dass die beiden nichts davon mitbekommen, was hier nachts abgeht. Meine Hand zittert, als ich nach dem Hörer taste. Auch in dieser Nacht leuchtet mir im Display dieselbe verdammte Nummer entgegen, diese Nummer, die ich inzwischen vor- und rückwärts auswendig kenne. Mir schießt durch den Kopf, was ich mir vorgenommen habe: Nichts sagen. Kein einziges Wort. Cool bleiben …

Wie eine Marionette nehme ich ab, presse mit angehaltenem Atem den Hörer ans Ohr.

Stille! Nur das monotone Ticken einer Uhr, dieses unerbittliche Tack Tack Tack, und es fühlt sich an, als gäbe es nur noch dieses eine Geräusch auf der Welt. Schließlich dumpfe Glockenschläge. Ein kurzes Klack, als aufgelegt wird. Und wieder ist es Punkt Mitternacht. Wie letzte Nacht. Und vorletzte Nacht.

Mein Blick bleibt am Spiegel hängen. Eine bleiche Gestalt im Schlafanzug, die rotblonden Locken wirr und verschwitzt, starrt mich horrormäßig an. Mir ist kotzübel vor Angst. Meine Finger zittern wie die von Uroma Adelheid. Aber die ist sechsundneunzig, und in dem Alter ist das total normal, meint Mom. Keine Ahnung, wie ich es trotzdem schaffe, die Anruferliste zu öffnen und auf Rückruf zu tippen.

»Kein Anschluss unter dieser Nummer. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Kein Anschluss …«

Wie jede Nacht. Scheißspiel!

Wütend trete ich mit dem Fuß gegen einen der Umzugskartons. Was aber nicht sonderlich intelligent ist. Ich reibe mir den schmerzenden Zeh, schleiche zurück ins Bett und schlafe dann anscheinend doch wieder ein.

Irgendwann schrecke ich erneut hoch; aber es ist nur Mom, die mit einem gut gelaunten »Aufstehen, Linda-Schätzchen, heute ist unser großer Umzugstag!« den Kopf zur Tür hereinstreckt. Natürlich fällt mir sofort wieder der Anruf ein, aber ich tröste mich: Bestimmt hört dieser Albtraum auf, wenn wir erst im Schloss wohnen. Wir sind jetzt nämlich Schlossbesitzer. Mein Dad hat bei einer Online-Versteigerung ein richtiges Schloss ergattert, und zwar zu einem solchen Schnäppchenpreis, dass Mom vor Begeisterung fast in Ohnmacht fiel.

Ich übrigens beinahe auch, aber vor Frust. Dieses Schloss (okay, von mir aus, Schloss ist ja prinzipiell nicht so schlimm) liegt nämlich dummerweise nicht irgendwo um die Ecke; dagegen hätte ich ja nichts gesagt. Nein, es befindet sich in der tiefsten Provinz. Nicht mal bei Google Maps ist es zu finden, und da findet man sonst jeden Mückenschiss. Sogar die Pizzeria von Paolos Eltern, und die ist jetzt wirklich nicht riesig.

Mist! Wenn ich an Paolos schwarze Augen denke und den Blick, den er mir neulich zugeworfen hat, könnte ich schon wieder heulen.

Doch dazu komme ich nicht, denn unten im Hof wird gerade wild gehupt. Anscheinend geht es nun wirklich los.

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2. Kapitel

»He … langsam! Wir haben ein handfestes Problem!«

Dad fuchtelt hektisch mit den Armen, was wohl heißt, dass Mom endlich bremsen soll. Macht sie natürlich nicht, denn im Autoradio läuft einer ihrer Lieblingssongs (irgendwas mit Sunshine) – in voller Lautstärke übrigens – und außerdem ist sie gerade so richtig gut in Fahrt: Pausenlos schmettert sie »Sunshine, sunshine« und gibt dabei Gas. Vollgas!

»Anhalten!«, brüllt Dad und stößt mich in die Seite. »Linda! Sag deiner Mutter, sie muss sofort anhalten! Sofort!«

Ich verziehe bloß das Gesicht, und Dad gibt schließlich auf. Wir sind seit fünfeinhalb Stunden unterwegs, ich hocke zwischen meinen Eltern in dem Führerhaus eines grauenhaft rumpelnden Transporters, und auf dem Schoß habe ich den Katzenkorb mit Mirabell, meiner schwarzen Katze (unheimlich süß), die ununterbrochen pupst und maunzt (weniger süß). Vor einer Woche ist sie uns zugelaufen. Weil ich geschworen habe, dass ich nur umziehe, wenn Mirabell mitkommen darf, haben meine Eltern schließlich Ja gesagt. Wobei Mom bestimmt drauf spekuliert, dass Mirabell im Schloss die Mäuse fängt. Was ich ganz klar verhindern werde! Ich finde Mäuse nämlich ebenfalls unheimlich süß.

»Könntest du bitte mal aufhören?«, flüstere ich Mirabell zu. »Bloß mal für ’ne kurze Zeit?«

Hätte ich mir aber sparen können. Mirabell denkt gar nicht daran. Wobei sie momentan noch nicht mal die größte Katastrophe ist. Viel schlimmer ist, dass ich vergessen habe, mein Smartphone aufzuladen, und jetzt ist natürlich der Akku leer. Was, wenn Paolo mir gerade pausenlos Nachrichten über WhatsApp schickt? Klar, er hat mir gleich gesagt, dass er nicht wahnsinnig gern schreibt, aber WhatsApp ist ja nicht richtig schreiben oder so, und er hat genickt, als ich ihm das erklärt habe. Ich frage mich bloß, wie lange hält ein Junge durch, wenn null Antwort kommt? Eine Weile lang bin ich total hibbelig und rutsche auf meinem Sitz hin und her. Anscheinend macht das Mirabell komplett verrückt. Jetzt maunzt sie so laut, dass Dad sich die Ohren zuhält und irgendwas von Tierheim murmelt.

»Dann gehe ich auch ins Tierheim!«, rufe ich empört.

Das ist doch absolut das Letzte hier. Ehrlich, ich könnte schreien vor Wut. Aber weil das die arme Mirabell garantiert bloß noch mehr aufregen würde, mache ich eben Yoga (das haben wir bei MobbyFit gelernt, das ist so eine Art Fitnessclub für Kinder). Ich presse die Lippen zusammen und summe leise »Ommmmmm«, und dann fällt mir zum Glück wieder ein, wie unwahrscheinlich es ist, dass Paolo sich heute schon bei mir meldet. Genau genommen hat er mir in dem halben Jahr bei MobbyFit nur ein einziges Mal geschrieben, und das auch bloß, weil ich versehentlich seinen linken Sportschuh eingepackt habe. Also kann ich wohl aufhören, mich über den leeren Akku aufzuregen.

Außerdem nerven andere Sachen gerade noch viel mehr. Das Verhalten von Mom und Dad nämlich. Die reden seit genau drei Stunden nicht mehr miteinander. Angefangen hat es damit, dass Dad sich komplett verfahren hat. Dafür konnte er wirklich nichts, das lag am Navi, das seinen Geist aufgegeben hat. Aber damit ging es los. Mom hat ihn dann in eine Sackgasse gelotst, versehentlich natürlich, und beim Rückwärtsfahren ist er gegen einen Laternenmast gerumst. Und das als ehemaliger Busfahrer! Peinlich, peinlich. Er war ganz schön sauer auf Mom und wahrscheinlich noch mehr auf sich selbst. Seitdem laufen ihre Gespräche (wenn man das noch so nennen kann) über mich. Was nichts Neues ist – kommt in meiner Familie häufiger vor. Der absolute Rekord lag bei zehn Tagen. Das war in den Ferien im Bayrischen Wald, und ich hatte hinterher eine Woche lang Halsschmerzen und habe keinen Ton mehr rausgekriegt. Wundert sich da noch jemand, dass ich jetzt am liebsten unsichtbar wäre?

»Linda! Sag! Deiner! Mutter …!«

Dad fuchtelt schon wieder, und außerdem hat er eine knallrote Birne. Aber deshalb mache ich mir keine Gedanken, wir glühen schließlich alle, und das liegt daran, dass sich die Heizung nicht ausschalten lässt. Außerdem ist an der Fahrerseite die Fensterkurbel abgebrochen und auf der Beifahrerseite geht das Fenster nur einen Minispalt weit auf. Aber Dad behauptet, dieser Transporter sei ein echtes Sonderangebot gewesen. Deshalb hat er ihn auch nicht gemietet, sondern Herrn Schmittke gleich abgekauft, und so fahren wir in einem himmelblauen Transporter mit der peinlichen Aufschrift Kuno Schmittke – Umziehen macht glücklich! durch die Gegend.

Dad hat den Wagen unter anderem auch gekauft, falls die Sache mit unserem Schlosshotel nicht hinhaut. Er meint, wir könnten dann ’ne Umzugsfirma aufmachen, denn Umzüge würden immer gehen, das sei eine echte Goldgrube, und Mom hat genickt und vorgeschlagen, in dem Fall doch gleich richtig groß einzusteigen, mit weltweiten Umzügen und so. Auf diese Weise würde man auch mal in andere Länder kommen, und Australien würde sie wahnsinnig interessieren, und sie würde uns da schon im Abendsonnenlicht an einem weißen Strand faulenzen sehen. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Denn das war, bevor Dad und sie sich so gewaltig in die Haare gekriegt haben.

»Anhalten!«, brüllt Dad schon wieder, und weil der Sunshine-Song im Radio zufällig gerade zu Ende ist, dreht Mom den Kopf zu mir.

»Frag deinen Vater, warum ich das tun sollte«, sagt sie und schiebt eine Strähne zurück, die sich aus ihrer Frisur gelöst hat. »Und warum er so schreit. Dazu besteht nicht der geringste Grund.« Mit einem Lächeln beugt sie sich nach vorn und schaltet das Radio aus, aus dem gerade die Stimme des Nachrichtensprechers dröhnt.

»Weil wir über vier Brücken gefahren sind! Und wir wiegen viel mehr, als die eigentlich aushalten!«, brüllt Dad. »Gewaltig mehr! Deshalb! Verdammt noch mal!«

Ich halte mir lieber mal die Ohren zu. Irgendwie scheint er noch nicht mitgekriegt zu haben, dass das Radio aus ist.

Mom hat die Sonnenblende heruntergeklappt und mustert sich im Spiegel. Mit der linken Hand hält sie das Lenkrad fest und zieht sich mit der rechten die Lippen knallrot nach. Sie lächelt immer noch. »Linda, richte deinem Vater aus: Wenn wir vier Brücken geschafft haben, packen wir die nächsten auch. Darüber sollte er mal nachdenken, bevor er rumbrüllt. Das ist einfach eine Frage der Logik.«

Ich finde, da ist was dran. Aber bevor ich es Dad sagen kann, brüllt er schon wieder: »Aber nicht so eine popelige Holzbrücke wie die da vorn! Da sieht es verdammt noch mal anders aus! Das Holz ist bestimmt morsch! Beide Hände ans Steuer! Wie oft soll ich das noch sagen! Achtung!«

Tatsächlich umklammert Mom jetzt das Lenkrad. Dann tritt sie so abrupt auf die Bremse, dass der Motor abgewürgt wird und Mirabell vor Schreck das Maunzen einstellt.

»Ich sag’s ungern, aber wahrscheinlich hast du recht«, murmelt Mom, als wir mit einem hässlich scharrenden Geräusch direkt vor der Brücke zum Stehen kommen.

Eine Weile lang starren wir auf die kleine Brücke, die bestimmt ihre hundert Jahre auf dem Buckel hat. Wobei man Buckel wörtlich nehmen kann: In der Mitte erhebt sich nämlich deutlich sichtbar ein kleiner Höcker.

»Wir müssen leichter werden«, verkündet Dad schließlich. Er ist wieder zu Zimmerlautstärke zurückgekehrt (schon mal ein gutes Zeichen). »Wir müssen bloß ein paar Sachen rausräumen. Dann setzen wir auch bestimmt nicht auf. Auf dem Buckel, meine ich. Also los, kommt. Packen wir’s an.«

Mom mustert sich nachdenklich im Kosmetikspiegel. »Wir könnten’s doch erst mal versuchen …«

»Finde ich auch«, sage ich schnell. Ich habe nämlich genauso wenig Lust aufs Möbelschleppen wie sie. »Erst mal versuchen. Oder noch besser: Pause machen. Ich hab Hunger.«

Pause finden beide gut, und zum Glück gibt es auch kein Parkplatzproblem. Denn den Transporter können wir einfach so mitten auf der Straße stehen lassen, hier ist weit und breit überhaupt kein Verkehr. Genau genommen haben wir schon seit Ewigkeiten kein anderes Auto mehr gesehen. Während Dad hinten im Wagen verschwindet – irgendwo muss der Korb mit unserem Picknick sein –, klettern Mom und ich die Böschung hinunter zum Fluss. Der schlängelt sich grauschwarz durch die hügelige Landschaft.

»Herrlich!«, ruft Mom. Sie hat sich einen bunten Poncho übergeworfen und breitet die Arme aus. »Ist das nicht herrlich hier? Am liebsten würde ich mich in die Fluten werfen.«

Bevor sie das wirklich macht (ich traue ihr alles zu), ruft zum Glück Dad: »Es ist angerichtet! Dürfte ich die Herrschaften zu Tisch bitten?«

Das mit Herrschaften und so hat er bei einem Butlerseminar gelernt. Drei Monate dauerte der Fernkurs, und die Zeit war echt megastressig. Für Mom und mich vor allem. Wir mussten immer im Wohnzimmer sitzen, mit einer kleinen Glocke klingeln und warten, bis Dad das endlich hörte, hereinkam und fragte: »Sie wünschen?«

Irgendwann wurde klar, dass er auf dem rechten Ohr einen Hörschaden hat. Damit war das mit der Glocke durch, und Dad versprach, nur noch ab und zu beim Essen zu üben, damit er den Butler nicht verlernt. Angeblich geht in so einem Schlosshotel ohne Butler nämlich gar nichts.

»Na gut, dann eben nicht schwimmen«, meint Mom und hakt sich bei mir unter. Trotz ihrer hochhackigen Schuhe ist sie einen halben Kopf kleiner als ich. »Linda, ich spüre es: Dieser Neustart ist eine grandiose Idee. Unser Leben fühlt sich doch jetzt schon ganz anders an. Riechst du diesen verführerischen Pizzaduft? Dieses himmlische Aroma von Olivenöl, Tomaten und Basilikum. Das riecht nach Italien. Unter uns: Ich finde es ein bisschen schade, dass unser Schloss nicht in Italien liegt.«

Ich rieche zwar nichts, aber das kann auch daran liegen, dass meine Nase gerade mal wieder dicht ist. Manchmal habe ich nämlich gegen alles Mögliche eine Allergie. Ab und zu gegen Mom. Ab und zu auch gegen Dad. Ich hoffe bloß, nicht auch noch gegen Mirabell. Die kommt mir jetzt mit erhobenem Schwanz entgegen. Laut maunzend.

»Das mit der Pupserei muss aufhören. Wenn du dich nicht benimmst, kannst du gleich hierbleiben«, sage ich. Natürlich meine ich das nicht ernst. Aber weil sie ängstlich zu mir hochschaut, nehme ich sie auf den Arm und knuddle sie ein bisschen.

»Wenn die Herrschaften bitte zu Tisch kommen würden«, sagt Dad. »Es ist angerichtet.«

Er hat sich die weißen Butlerhandschuhe übergezogen (Moms Geschenk für ihn, nachdem er die Prüfung gleich beim ersten Mal bestanden hat) und macht eine einladende Handbewegung. Auf einem der Handschuhe prangt ein dicker Soßenfleck, aber das stört jetzt niemanden.

»Wow!«, ruft Mom anerkennend und klatscht ihn ab.

Denn Dad hat drei Sessel und unseren schweren Esstisch vom Transporter gehievt, eine weiße Tischdecke und Servietten aufgelegt und die riesige Frischhaltebox mit den Pizzaresten in die Mitte gestellt (wir haben gestern Abend Abschied gefeiert in unserer Straße, und es gab Unmengen an Pizza und Pommes und Muffins). Die linke Hand auf dem Rücken (angeblich machen das Butler so) schenkt Dad dampfenden Kräutertee aus der Thermoskanne aus.

»Auf unser wundervolles neues Leben«, sagt Mom lächelnd und hebt ihre Tasse. Wir prosten einander zu, und ich überlege, dass der Umzug – von Paolo mal abgesehen – vielleicht doch nicht so schlecht ist. Immerhin hat das mit den unheimlichen Anrufen jetzt ein Ende. Ich nicke, als Dad mir ein Stück kalte Pizza auf den Teller legt. »Auf unser neues Leben«, sage ich und grinse ein bisschen, als ich entdecke, dass Mom und Dad unter dem Tisch Händchen halten.

Nach einer Weile beginnt es zu nieseln, aber eigentlich stört das fast gar nicht. Dad hat nämlich den großen Marktschirm aufgestellt (der ist noch aus der Zeit, als wir einen Gemüsestand auf dem Markt hatten). Es ist so gemütlich, dass ich am liebsten gar nicht mehr aus meinem Sessel aufstehen würde. Außerdem hat sich Mirabell auf meinem Schoß zusammengerollt und schnurrt, was das Zeug hält, und ich spüre, wie ich müde werde. Aber Dad drängelt. Er will noch eine Kommode abladen, dann, so meint er, würde es mit dem Gewicht hinhauen. Was vermutlich bedeutet, dass wir die Sachen über die Brücke schleppen müssen, um sie dann auf der anderen Seite des Flusses wieder einzuladen.

»Kann mal jemand tragen helfen?«, ruft er. »Die Sonne kommt gerade raus. Wir müssen die Zeit nutzen vor dem nächsten Regen.«

Mom nimmt noch einen Schluck Tee, dann springt sie auf.

»Und Linda soll mal fix den Schraubenzieher suchen!«, ruft Dad. »Müsste im Handschuhfach liegen.«

»Kommt sofort.« Ich setze Mirabell, die sich mit ihren Krallen in meiner dicken Wolljacke verfangen hat, vorsichtig auf Moms Sessel. »Bin schon unterwegs.«

Im Handschuhfach entdecke ich eine Tüte Schokoherzen, eine große Taschenlampe und ein Schreibheft mit Dads berühmten Konstruktionen. Mein Dad wäre am liebsten Ingenieur geworden, er konstruiert nämlich wahnsinnig gern. Alles Mögliche wie Tische, die man mit einem Handgriff in bequeme Sofas oder Betten umbauen kann, und selbstreinigende Waschbecken und solche Sachen. Aber am allerliebsten Rennwagen, so richtig schnelle Flitzer. Na ja, natürlich nicht in Wirklichkeit, er macht das nur auf dem Papier, aber er überlegt sich ständig irgendwelche Verbesserungen, bis er mal den optimalen Rennwagen hat, und den will er dann auch bauen.

Aber wo soll hier ein Schraubenzieher sein? Erfolglos wühle ich mich erneut durchs Handschuhfach.

»Fehlanzeige! Kein Schraubenzieher!«, brülle ich, schnappe mir die Tüte mit den Schokoherzen und muss lächeln, als ich sehe, was in fetten roten Buchstaben auf der ersten Seite von Dads Heft steht: Weihnachtsgeschenkideen für Linda. Und darunter ein paar Zeichnungen, die nach Schlittschuhen (oder vielleicht auch Rollschuhen?) aussehen. Was vermutlich heißt, dass er gerade wieder irgendwas Geniales für Weihnachten konstruiert. Ich reiße erst mal die Tüte mit den Schokoherzen auf und überlege. Schlittschuhe sind jetzt nicht unbedingt das, was ich mir sehnlichst wünsche, und Rollschuhe ebenfalls nicht. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird: Schlittschuhe gehen gar nicht!

Tut mir leid, Dad, denke ich, fische einen Kugelschreiber aus der Ablage und streiche die Zeichnung durch. Eigentlich kann Dad mir dankbar sein, immerhin erspare ich ihm gewaltig viel Arbeit und mein enttäuschtes Gesicht an Heiligabend. Dann, nach kurzem Grübeln, schreibe ich in Schönschrift und mit Großbuchstaben PONY daneben. Ehrlich, ein Pony wäre das tollste Weihnachtsgeschenk, das ich mir vorstellen kann. Vorsichtshalber, damit Dad es auch wirklich kapiert, male ich gleich noch ein Pony dazu. Okay, sieht vielleicht eher aus wie eine Katze, aber daneben steht ja groß und deutlich, was es ist. Und jetzt, wo wir auf einem Schloss wohnen, können Mom und Dad auch nicht mehr behaupten, wir hätten keinen Platz für ein Pony. Außerdem ist das ja auch nicht so richtig groß, sonst wäre es nämlich ein Pferd. Oder soll ich mir besser gleich ein Pferd wünschen? Ein Pony ist vielleicht eher was für Kleinere, und ich bin ja immerhin schon dreizehn.

Draußen höre ich lautes Poltern – könnte die Kommode sein, die unsanft auf dem Asphalt gelandet ist – und genauso lautes Fluchen. Schnell lege ich das Heft zurück und gönne mir noch eine Handvoll Schokoherzen. Eines kullert zu Boden, und ich bücke mich, um es aufzuheben. Dabei fällt mein Blick auf ein Foto, das anscheinend aus dem Heft herausgefallen ist. Neugierig hebe ich es auf. Ein Schwarz-Weiß-Foto, so eines mit gezackten Rändern, genau wie die in Omas Fotoalbum. Mit dem Ärmel wische ich ein paar Fingerabdrücke weg. Komisches Foto …