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Über das Buch

»Weine nicht, November!«

Die 16-jährige November ist ein Winterkind. Ihre Tränen können todkranken Menschen das Leben zurückschenken - aber falsch eingesetzt, bringen sie den Tod. Also versucht November seit frühester Kindheit, ihre Tränen zu unterdrücken. Doch als der rätselhafte Romeo in ihr Leben tritt, kehren lang verdrängte Erinnerungen zurück und bringen sie gehörig durcheinander …

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INHALT

1 FROST

2 EINSAMER SCHNEE

3 HAGEL

4 UNWETTER

5 VERTRAUEN

6 SCHWESTER AUS EIS

7 NEUE WEGE, NEUE TRÄNEN

8 DER TEIL VON UNS

9 GEHEIME INTERESSEN

10 UNERWARTETE UMSTÄNDE

11 EINE ANDERE WELT, EINE ANDERE GEFAHR

12 HARLEKINS LÄCHELN

13 HOLLYS TOD

14 DIE SCHREIE DER ZUKUNFT

15 FIEBERTRÄUME

16 WILDE TRÄUME UND ANDERE WAHRHEITEN

17 DIE ERSTE TRÄNE

18 VERFLUCHT SEIST DU

19 ABSCHIEDE

20 HEIMKOMMEN

21 BRECHENDE HERZEN

22 DIE FRAGE UND DIE ANTWORT

23 DER PUPPENWALD

24 DIE WEIßE SCHLEIFE

25 ASCHE UND PHÖNIX

26 HAPPYLAND

27 DIE LIEBE UND DER TOD

EPILOG

DANKSAGUNG

1

FROST

Wenn ich an meine frühe Kindheit zurückdenke, ist da sofort das Gefühl von Geborgenheit, das nur Nonna mir geben konnte. Meine gute, alte Nonna, mit ihren wissenden Augen und ihren knorrigen Händen, in denen sie meine hielt, wenn ich Angst hatte. Sie alleine war mein Fixpunkt in dieser beängstigenden Welt, an dem ich mich orientieren konnte.

Bis man mich ihr wegnahm und ich allein mit mir zurechtkommen musste.

Ich erinnere mich genau. Es war Anfang November und kurz vor meinem achten Geburtstag, als Polizisten unsere Karawane stoppten. Sie sahen mich, das Mädchen mit Haaren so hell wie gesponnenes Silber und den wasserblauen Augen, inmitten des Clans der Wölfe, alle mit kaffeebrauner Haut.

Als sich niemand als meine Eltern ausweisen konnte, rissen sie mich einfach aus Nonnas Armen. Ich schrie und wehrte mich, doch ich war machtlos gegen die fremden Männer in Uniform.

Ich spüre bei dieser Erinnerung die alte Verzweiflung, wie sie unter meine Haut rutscht und brennt.

»Nonna war mein Zuhause«, höre ich mich benommen sagen. Nonna war so viel mehr als das für mich gewesen. Sie war für mich meine Mutter, meine weise, alte Hexe, die in zauberhaften Rätseln zu mir sprach und mich mit Wissen füllte wie ein leeres Gefäß. Meine Hüterin, sie beschützte mich vor mir selbst.

»Nein, November, diese bösartige Frau hat dich geraubt, mein Kind«, höre ich die Oberschwester des Winterordens behaupten und mein Magen rebelliert. Dabei zuckt meine Hand kurz, ich spüre den Drang, meinen Mund zuzuhalten, meine Lippen zu versiegeln, und sammle mich. Ich rutsche auf dem blanken Holz des Stuhles hin und her und betrachte das Dreieck aus Metall an der Wand, in dem das Kreuz der Rosen eingebettet ist. Das Symbol für die Schwesternschaft und den Glauben an den Gott des Himmels.

»Sie waren Verbrecher. Allesamt«, fügt die hagere Frau an und mein Blick bleibt an der oberen Spitze des Dreiecks hängen.

»Das kann doch nicht …«, meine Stimme versagt.

»Du musst den Tatsachen endlich ins hässliche Antlitz sehen.«

All die Jahre soll ich um jemanden getrauert haben, der mich belogen hat? Die wenigen wirklich schönen Erinnerungen meines Lebens sollen jetzt vom Tisch gefegt werden wie ein Kartenhaus, das ich selbst so mühsam vor dem Einstürzen bewahrt habe?

»November, ich weiß. Das ist nicht leicht für dich«, versucht die Oberschwester zu mir durchzudringen. Doch ich kann mich kaum auf sie konzentrieren. Ich muss die ganze Zeit daran denken, wie ich jede Nacht, seitdem ich hier im Kloster bin, Nonnas Gesicht heraufbeschworen habe, um sie nicht zu vergessen. Dass ich unsere Lieder gesungen, an unsere Rituale gedacht und ihre Warnungen verinnerlicht habe. In jeder freien Minute an diesem tristen Ort mit seinen alten Turmzimmern und Sälen, deren Mauern einem zuzuflüstern scheinen.

»November, hörst du mir zu?«, fragt Oberschwester Klara und faltet ihre Hände auf dem wuchtigen Schreibtisch. Ich schaue auf. In ihr mageres Gesicht. Ihre Wangenknochen stechen hervor und untermalen die Härte, mit der sie jedem der Winterkinder hier in ihrem Kloster begegnet.

»Ich kann mir vorstellen, dass es dich hart trifft«, höre ich sie sagen. »Aber die Wahrheit ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Und wenn wir nicht wissen, wo wir herkommen, wie sollen wir dann wissen, wo wir hingehen?«, sinniert sie und beugt sich etwas weiter über den Tisch. Ihr in Rosen gebettetes Kreuz, das sie um ihren dünnen Hals trägt, schabt dabei leise über das Holz. Viel zu laut füllt mich das Geräusch aus. Mein Blick huscht zu dem großen Prunkfenster. Regentropfen sammeln sich an dem Glas und rennen wie Tränen an ihm hinab. Ich schlucke.

Weine nicht, kleine November waren Nonnas letzte Worte, als man mich ihr wegnahm. Vergiss es nicht, weine niemals. In ihren braunen Augen schimmerten damals Tränen. Tränen, die ich nicht weinen durfte.

»Der Clan, der dich geraubt hat, tötete deine Eltern, November. Du musst aufhören, an diese Gruppe zu glauben und dich endlich ganz und gar Gott und uns zuwenden«, beschwört die Oberschwester mich eindringlich.

Mein Leben ist ein Witz. Dieser Gedanke poltert durch meinen Kopf, als ich antworte: »Aber, das tue ich doch.« Meine Stimme ist wie ein Hauch im Wind, der zu etwas Größerem werden sollte. Und erinnert mich an die Stürme, die über die Wälder hinwegziehen und Dinge mit sich nehmen, um sie nie wieder herzugeben.

»Denkst du, wir merken nicht, dass du dich nicht von deinen alten Idealen lösen möchtest? Dass dir die Gedanken, die diese Menschen dir eingepflanzt haben, immer noch deinen Verstand vernebeln? Und dass du deine Gabe nicht preisgibst?«

»Das stimmt nicht«, lüge ich und erinnere mich an den schrecklichsten Tag in meinem Leben. An den Tag, als Tränen mit nur einem Wimpernschlag über die Ufer traten. Mit ihnen eine unheilvolle Macht, die mein Haustier tötete und sich mit kalten Tentakeln einen Weg in die Luft suchte. Nie hatte ich so viel Entsetzen empfunden. Nie hatte ich so viel Angst in den Augen anderer gesehen.

Ich blinzle, um die Erinnerung abzuschütteln.

»Dein Herz ist nicht dabei. Und das muss sich ändern, Kind. Öffne dich uns«, fordert die alte Frau vor mir nachdrücklich. »Gib preis, welche Kraft du in dir trägst.«

Weine nicht, November, hallt es in mir wider, und alles, was mich ausmacht, sträubt sich wie gewohnt dagegen, mich zu offenbaren. Die Eindringlichkeit in Nonnas Stimme sucht mich sogar nachts heim. Immer noch. Meine Hände krallen sich in den Stoff meines Kleides und ich weiche dem starren Blick der Leiterin dieses Ortes aus. In ihren Augen glimmt leiser Zorn, den sie kaum verbergen kann.

»Wir behüten Winterkinder seit mehr als dreihundert Jahren, November. Wir opfern uns für eure Sicherheit auf. Denkst du nicht, dass wir euer Vertrauen verdienen?«, fragt sie bemüht ruhig, doch ihre Körperhaltung verrät ihren Unmut.

»Ich vertraue auf euch, Oberschwester«, beeile ich mich zu erklären. »Es ist nur …« Ich verstumme, versuche meine wilden Gedanken zu zähmen. »Wie sicher sind die Berichte der Polizei? Kann es sich nicht um ein Missverständnis handeln? Vielleicht hat der Clan mich lediglich irgendwo gefunden und aufgenommen … Vielleicht haben sie mich gerettet …« Vor Gott weiß wem, schießt es mir durch den Kopf. Oberschwester Klara unterbricht mich mit einem Zischen.

»November, wirklich …« Sie legt ihren Kopf schief, feine Härchen haben sich aus ihrer strengen Frisur gelöst und legen sich dabei in Wellen. Mitleid flackert über ihre vertrocknete Miene.

»Na gut«, sagt sie plötzlich und stößt sich etwas vom Tisch ab. »Du willst es nicht anders.« Mit etwas zu viel Schwung zieht sie die Schublade vor sich auf und knallt eine Akte auf die Arbeitsfläche.

Ich fahre zusammen.

»Du willst Beweise?«, fragt sie mich und schlägt die graue Mappe mit dem Namen Winterkind Nummer 37 auf. Wie von selbst deute ich ein Kopfschütteln an. Meine Augen weiten sich, während ihre langen Finger Fotos aus einer Klarsichtfolie herausziehen. Sie sind alle an ein- und demselben Ort geschossen worden. Auf einem herrschaftlichen Anwesen mit malerischem Wald, der wie ein schützender Ring um ein kleines Herrenhaus liegt. Fast zu schön, um zu existieren.

»Das ist deine Mutter …«, erklärt die Gläubige und deutet auf eines der Fotos. Ich möchte wegschauen. Mir die tote Frau auf dem Holzboden eines weitläufigen Flures, unter der sich eine dunkle Lache Blut ausgebreitet hat, nicht ansehen. Ihr Körper ist so unnatürlich verdreht, dass es mich beinahe selbst schmerzt.

»Und das bist du«, höre ich gegen meinen Willen. Ihr Finger deutet auf ein weiteres Foto einer Überwachungskamera. Es ist unscharf, dennoch kann ich einen dunkelhäutigen Mann mit großer Nase erkennen, der ein Kleinkind mit weißblonden Haaren auf dem Arm trägt. Es hat die gleiche alabasterfarbene Haut wie ich. Die gleichen großen Augen, und neben ihm erkenne ich eindeutig Nonna, die direkt in diese Überwachungskamera schaut. Ich blicke an ihr vorbei, betrachte den Hintergrund des Bildes und erkenne den Flur, den Boden und den leblosen Umriss.

Bitte, nicht!

»Der Clan ist in das Haus eingebrochen, mit dem Ziel, dich zu stehlen. Sie wussten, dass du etwas ganz Besonderes bist. Wertvoll, machtvoll. Und sie schreckten nicht einmal vor dem Mord an einer liebenden Mutter zurück.« Ich spüre, wie mein Herzschlag einmal aussetzt, nur um daraufhin schmerzhaft in meiner Brust weiterzuschlagen. Ich fühle, wie mein Hals eng wird und ein Brennen hinter meinen Lidern einsetzt.

Nicht weinen, November.

»Nehmen Sie die Fotos weg. Bitte«, sage ich tonlos. Der kahle Raum mit seinen weißen Wänden scheint sich auf einmal um mich herumzudrehen. Ich hefte meinen Blick auf Schwester Klaras Gesicht. Ihre Miene ist versteinert, wie so oft. Nichts von ihren eigenen Emotionen trägt sie in diesem Moment nach außen. Vielleicht hat sie einfach keine, wenn andere leiden, denke ich und straffe meinen Körper. Tapfer und stark. Meine zitternden Finger finden eine Strähne meines Haares und ich drehe sie manisch, um mich von dem dumpfen Druck hinter meinen Augen abzulenken.

»Ich wollte dir das ersparen, November. Wirklich«, sagt die Oberschwester mit einem leichten Bedauern. »Aber manchmal muss man der Wahrheit in das grauenhafte Gesicht schauen, mein armes Kind.«

»Was ist mit Nonna? Wo ist sie?«, höre ich mich selbst fragen, während die Fotos wieder in der Klarsichtfolie verschwinden. Ist sie schon zur Rechenschaft gezogen worden? Hat man den Clan verurteilt?

»Eine Fahndung läuft seit einem Jahr«, beantwortet sie meine Frage und klappt die Mappe zu.

»Wie lange wissen Sie denn schon davon?«, hake ich nach.

Sie räuspert sich. Lange, aber keine Spur verlegen. »Ich habe es für besser gehalten, dich erst jetzt mit den grausigen Tatsachen zu konfrontieren«, erklärt sie und erhebt sich langsam von ihrem Platz. Ihre Knochen knacken, während sie sich gerademacht.

»Jetzt, wo du uns offenbaren musst, was in dir schlummert«, fügt sie an.

»Es ist keine Gabe, wie Sie vielleicht denken«, setze ich an und knete meine Hände. Sie sind kalt. Eiskalt. Wie tot.

Oberschwester Klara schiebt ihren Stuhl zurecht. Das schabende Geräusch auf dem alten Holzboden wühlt mich auf. Ich schaue hilflos zu der alten Frau auf, während sie auf mich zukommt.

»Ich bin verflucht«, flüstere ich. Sie legt ihre Hand unter mein Kinn, zwingt mich, ihr in die Augen zu sehen. Das Blau ihrer Iris ist hart wie gefrorenes Meerwasser.

»Jedes Gottesgeschenk hat seine dunkle Seite, mein Kind«, erklärt sie, als wäre ich noch acht Jahre alt. Als hätte ich gerade erst die Schwelle zu diesem Ort überwunden. Und die Welt, wie ich sie kannte, hinter mir gelassen.

»Ich habe dich noch nie weinen sehen, November«, spricht sie ihre Überlegungen laut aus. Die Art, wie ich die Luft einziehe, verrät ihr, dass ihre Vermutung richtig ist. Ruckartig lässt sie mich los, tritt von dem Stuhl zurück und fordert mich auf, mich zu erheben.

»Kopf hoch, mein Kind. Du wirst den Verrat deiner Nonna überwinden. Gott ist an deiner Seite«, fügt sie hinzu. Meine Knie sind weich und die Ordensschwester schiebt mich zur Tür. »Ich erwarte jetzt vollen Einsatz von dir«, mahnt sie mich ernst.

»Natürlich«, antworte ich und lege meine Hand auf den schweren Türknopf.

»Wir werden dich unterstützen, wenn du uns brauchst«, ermuntert sie mich. Die große Tür ihres Büros schwingt langsam auf und ein Strom kalter Luft lässt mich frösteln.

»Denke darüber nach. Du weißt, wo du mich findest«, sagt sie und ich verneige mich vor ihr. Der Saum meines weißen Baumwollkleides berührt den Steinboden des weitläufigen Flures federleicht. So federleicht, wie ich mich gerade fühle. Schwerelos, aber nicht auf die gute Weise.

»Gottes Gnade für euch, Oberschwester«, sage ich.

»Gottes Gnade für dich, mein Kind«, antwortet sie und faltet ihre Hände wie zum Gebet.

Die nächsten Stunden starre ich aus dem Fenster unseres Zimmers, bis Holly wie ein Wirbelwind hereinplatzt.

»Was machst du hier ganz alleine?«, fragt sie mich und knallt die Tür viel zu hart ins Schloss.

Ich fahre herum. »Bist du verrückt? Du weißt doch, wir sollen keinen Lärm machen«, erinnere ich sie an die stillen Stunden unserer Gemeinschaft und schaue zu, wie sie sich rücklings auf ihr Bett fallen lässt. Das Weiß ihres Kleides trifft auf das Weiß ihrer Bettwäsche.

»Verrückt? Ist das eine Fangfrage?«, trällert sie und hebt ihre feinen Augenbrauen. Ihre blauen Augen funkeln im wenigen Licht der Novembersonne, die ihre Strahlen durch die dunkelgrünen Vorhänge schickt.

»Nein, du hohle Nuss«, antworte ich und ziehe eine Grimasse. Mir ist eigentlich gerade gar nicht nach Gesellschaft. Auch wenn Holly meine beste Freundin ist und ich sie lieb habe.

»Du hohle Nuss doch selber«, scherzt Holly und setzt sich wieder auf. Ihre feuerroten Haare stehen ihr wirr vom Kopf ab.

»Hast du die Neuigkeiten schon gehört?«, fragt sie mich und beginnt mit ihrem Hintern auf der Matratze zu hüpfen. Ich schlucke trocken. Die letzten Neuigkeiten reichen mir für die nächsten Monate. Wenn nicht sogar Jahre.

»Ey, was hast du denn?«, fragt sie misstrauisch. »Sonst bist du doch immer die Erste, die wissen will, wenn sich an diesem monsterlangweiligen Ort etwas tut«, überlegt Holly und springt auf. In wenigen Schritten ist sie bei mir und legt ihre Arme um meine Taille. Sie drückt mich, nicht zu fest und doch bestimmt. Mein Blick wandert zu dem halb blinden Spiegel neben unseren Schränken und ich betrachte uns in ihm. Holly ragt mir bis zur Nase. Unsere Kleider verschmelzen zu einem hellen Fleck in diesem tristen Zimmer, in dem nur ein Bildnis der heiligen Rettung der gläubigen Menschen vor dem ewigen Eis die Wände schmückt. Auch die Farbe unserer Haut hebt sich nur wenig voneinander ab, bis auf Hollys Sommersprossen.

»Heute nicht«, antworte ich und schließe die Augen.

»Was ist los mit dir?«, bohrt Holly nach und verstärkt ihre Umarmung noch etwas. In diesem Moment mache ich mich beinahe unsanft von meiner Freundin los.

»Nichts, ich bin nur genervt …«, beginne ich und gehe ein paar Schritte im Zimmer umher. Holly legt ihren Kopf abwartend schief und versucht eine einzelne Braue zu heben, wie ich es tue, wenn ich ihr nicht glaube. Es misslingt ihr.

»Ah, deswegen tigerst du hier auch auf und ab wie ein Tier in einem Käfig. Und deine Aura ist schmutzig wie ein Ententümpel.«

Ich bleibe stehen und sehe sie aufmerksam an.

»Du kannst Auren sehen? Du hast deine Kraft gefunden?«, frage ich überrascht. Holly dreht auf den Fußspitzen eine Pirouette. Ihr Kleid formt eine Glocke um ihre Beine und schwingt nach, als sie stehen bleibt.

»Nein, natürlich nicht«, zwitschert sie wie ein Vögelchen im Frühling und grinst breit. Dabei kommt ihre Zahnlücke zum Vorschein. »Ich bin doch nicht wie Pia.« Ich weiß, dass sie dieses spezielle Dezemberkind nicht ausstehen kann. Pia erzählt Holly einfach zu gerne, was für eine trübe Aura sie hat. Ich glaube allerdings, dass Pia Hollys spitze Zunge nicht mag und sie deshalb nur aufzieht.

»Oh«, sage ich tonlos und wünsche mir, dass ich nichts von meinen Kräften wüsste. Oder besser, dass sie gar nicht existierten.

»Nein, alles beim Alten. Ich kann dir nur vorhersagen, wann der nächste Matheüberraschungstest ins Haus steht und wann der erste Schnee fällt«, meint sie und tänzelt auf mich zu.

»Oh, oder auch nicht?«, fragt sie sich selbst und schwenkt plötzlich hinüber zum großen Fenster. Mit einer fließenden Bewegung zieht sie den Vorhang zur Hälfte auf. »Gott, wieso schneit es und ich weiß nichts davon?« Holly macht einen Schmollmund, was mich sonst zum Lachen bringt. Nur diesmal nicht.

»Sag mal, ist das etwa Ruby?«, fragt sie eine Oktave höher und stützt sich auf das von Ameisen zerfressene Fensterbrett.

»Hat sie ihre Bestimmung entdeckt?« Ich stelle mich neben Holly. Kleinste Flocken kleben an der Scheibe und verschmelzen mit den nassen Spuren der Regentropfen. Die Wolken türmen sich zu einem unheimlichen Gebilde und verschlucken das Licht des Tages.

»Das ist ja krasser Scheiß«, stößt Holly aus. Ich drücke ihr meinen Ellenbogen in die Rippen. Schließlich ist es uns verboten zu fluchen.

Auf dem Hof stehen fünf Ordensschwestern in einem Halbkreis um die schwarzhaarige Ruby, die Köpfe gesenkt und in Gebete vertieft. Das Mädchen hebt ihre Hände über ihr Haupt, ihr Gesicht sieht angestrengt aus, wie unter Schmerzen.

»Als hätte sie in eine Zitrone gebissen«, überlegt Holly und drückt ihre Nase an das Glas. Ihr Atem lässt die Scheibe beschlagen.

»Mh«, brumme ich zustimmend und frage mich, ob es vielleicht möglich ist, seine Kraft auch wieder zu verlieren? Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr geweint. Vielleicht funktionieren meine Tränen ja gar nicht mehr? Vielleicht hat sich mein Problem verwachsen mit den Jahren? Wie eine Lebensmittelunverträglichkeit, die einfach verschwindet.

»Also, wenn es wehtut, eine Gabe zu erhalten, brauche ich keine«, flüstert Holly und malt einen Blitz in die Atemwolke auf dem Glas. »Dann bleibe ich lieber eine Niete.«

»Du bist keine Niete, Holly«, rüge ich sie und lege meine Hand auf ihre Schulter. Sie lacht glockenklar auf und schaut mich an.

»Du weißt genau, was Unerblühte erwartet. Eine Laufbahn als Betschwester oder ich werde einfach auf die Straße gesetzt. In die Wildnis abgeschoben, raus aus dem Schwarzen Wald, raus aus dem Leben, das ich kenne.« Holly schaut wieder hinaus. Sie lebt, seit sie ein Säugling ist, in diesem Kloster. Immer wieder bläut man uns ein, wie gefährlich die Welt außerhalb dieser Mauern und jenseits des Waldes ist. Obwohl die Bäume auch nicht ohne sind, besonders im Frühling oder Sommer. Jetzt zum nahenden Winter schlafen sie und wir können bedenkenlos zwischen ihnen umherstreichen, doch wehe sie fühlen sich vom Menschen bedroht. Holly hatte einmal ein Herz in einen Stamm einer Eiche gekratzt, eine fiese Mutprobe, erdacht von Ylvi, die allerdings die Erste war, die machte, dass sie wegkam. Denn Bäume kommunizieren miteinander und können giftige Substanzen aussenden, um sich der Schädlinge, in dem Fall uns Mädchen, zu entledigen. Holly war drei Wochen krank, als die Blütenstaubwolke der Bäume sie einnebelte.

»Das kann sicher wunderbar sein, in die weite Welt zu gehen«, überlege ich und male mir eine Zukunft mit bunter Malkreide. Hollys Augen beginnen zu leuchten.

»Du bist auch immer noch ohne Kraft. Vielleicht bleiben wir beide ja Nieten. Dann können wir gemeinsam gehen. Wir können die vielen Städte sehen, ihr Leuchten, die vielen Feste und Riesenrad fahren«, sagt sie und in ihrer Stimme liegt mit einem Mal so viel Hoffnung, dass die Möglichkeit, ihr von meinen Tränen zu erzählen, noch weiter in die Ferne rückt.

»Holly, egal, was wir werden, ich bin immer an deiner Seite«, verspreche ich ihr. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, ihre Hände fassen meine und ihre Lippen berühren flüchtig meine Wange.

»Wir sind Schwestern im Herzen, nichts kann uns trennen«, erklärt sie feierlich und ich liebe sie dafür.

»Nichts kann uns trennen«, antworte ich und lächle.

Draußen wird es wieder heller. Die riesigen Kiefern und Tannen, die das gesamte Anwesen umringen und uns viele Kilometer von der Außenwelt abschneiden, zeichnen sich deutlich vor dem zinngrauen Himmel ab.

»Schau mal«, staune ich und lege meine Hand an das Glas. »Sie hat es geschafft.«

Dicke Flocken tanzen um Rubys schlanke Gestalt herum und verschleiern die Sicht. Ihre Arme wedeln, als würde sie ein Orchester dirigieren. Und die Flocken folgen ihr wie in einer eigenwilligen Choreografie.

»Superkalifragilistisch«, zwitschert Holly und ich lache.

»Du guckst zu viele Relikte aus der alten Welt«, sage ich und atme tief durch. Ich wundere mich mal wieder, wie so vieles in den Hunderten Jahren im Eis überleben konnte. Und wie sehr der Orden an den alten Dingen festhält, wobei er zeitgleich predigt, dass die alte Lebensweise den Untergang herbeigeführt hat.

»Hier gibt es ja nichts anderes außer Aufgetautes«, beschwert Holly sich wie so oft. Ich weiß, dass ihr die wöchentlichen Ausflüge in die näheren Städte nicht reichen, und ich quittiere ihre Aussage mit einem Schnaufen.

»Also, eigentlich frage ich mich gerade, wozu Rubys Gabe gut sein soll … Denkst du, sie kann damit die Weltherrschaft an sich reißen?«, spöttelt Holly und grinst frech. »So ganz nach dem Motto: Friss meinen Schnee, Baby!«

»Keine Ahnung, warten wir es ab«, sage ich und spüre, wie ich mich ganz langsam wieder nach dem Besuch bei der Oberschwester entspanne.

Als die Glocken des Turms zum Nachmittagsgebet läuten, habe ich mein Gemüt vollends im Griff.

»Och, echt jetzt? Ist es schon wieder so weit?«, fragt Holly und taucht aus einem ihrer Lieblingsbücher auf. Sie jammert und schlurft wie unter einer schweren Last zu ihrem Nachttisch hinüber, was mir ein Schmunzeln entlockt. Holly ist gerne die Theatralische von uns beiden.

»Ja, leider«, bestätige ich mit einem Blick auf die Uhr.

Holly greift sich eine Bürste und bändigt ihre Haare, um sie hochzustecken. Ich krame die Gebetsumhänge aus dem Schrank, werfe ihr einen davon zu. Ungelenk fängt sie ihn auf dem Weg zum Boden ab. Manchmal wünschte ich, dieser grässliche Umhang würde mich einfach verschlucken. Unsichtbar machen, sodass ich tun kann, was ich will, ohne dass es jemand mitbekommt. Mich frei werden lässt wie eine Schwalbe im Wind. Ich liebe Schwalben, sie sind die wenigen Vögel, in deren genetischen Code nicht diese unbestimmte Feindseligkeit uns Menschen gegenüber programmiert wurde, wie bei so vielen Naturgeschöpfen nach der Eiszeit.

»Komm schon, begleite mich in den Vorhof zur Hölle«, scherze ich versucht vergnügt und reiche Holly meine Hand.

Sie schaut mich prüfend an. »Warte mal«, fordert Holly und stopft eine gelöste Strähne zurück in meinen Dutt. »So kann ich dich doch nicht gehen lassen. Wie schlampig du wieder aussiehst«, flüstert sie sarkastisch, bevor sie sich zur Tür wendet.

»Danke, meine Liebe. Ich bin froh, dass du an meiner Seite bist und mich auf meine Unzulänglichkeiten aufmerksam machst«, sage ich und folge ihr.

»Ja, nicht wahr?« Ihr Lachen ist ansteckend. »Auf diese Weise muss das nicht Schwester Runa machen.« Sie knüpft ihren Umhang bis zum Hals zu und zwinkert.

Auf dem Flur strömen die Winterkinder der Mittelstufe zusammen und wir werden einen Wimpernschlag später von der Menge verschluckt. Ich senke meinen Blick, schaue auf das Gewirr von Füßen und versuche neben Holly zu bleiben, was gar nicht so leicht ist.

»Was wolltest du mir eigentlich für Neuigkeiten erzählen?«, will ich wissen und hake mich bei ihr ein, bevor wir getrennt werden können.

»Ach ja!« Holly sieht mich mit einem Glitzern in den Augen an. »Es kommt ein Neuer.«

»Was du nicht sagst«, flüstere ich. Sie nickt heftig. Eine der Nonnen steht im Gang und lässt uns verstummen. Sie taxiert jeden Einzelnen mit ihren strengen Blicken. Wir trotten vorbei und ich strauchle, stütze mich an dem rauen Stein der Wand ab. Alle sind still, nur unsere Schritte machen knarrende Geräusche auf den Dielen, die beinahe im ganzen Herrenhaus ausgelegt sind, und ich warte auf den richtigen Moment, um weiterzureden.

»Ist das nicht genial?«, kann Holly es nicht abwarten. Henry, einer der Gewissenhaftesten unter uns, dreht sich zu uns um und legt seinen Finger an die Lippen. Ich nicke ihm beschwichtigend zu.

»Das ist mal aufregend und kommt nicht oft vor«, stelle ich flüsternd fest, als er sich wieder nach vorne wendet. Wir Winterkinder sind eine überschaubare Gruppe von siebenundvierzig im Alter von sieben bis neunzehn Jahren, die keine Eltern mehr haben und unter der Barmherzigkeit der Schwestern aufwachsen. Es ist bereits zwei Jahre her, dass das letzte Winterkind zu uns kam. Mona wurde ganz alleine in unserer Hauptstadt Bärau gefunden, als sie gerade eine eingefrorene Ratte auftaute. Sie konnte mit ihren fünf Jahren bereits den Frost in sich aufnehmen und streunte wer weiß wie lange elternlos umher.

»Ja, nicht wahr?«, quietscht Holly und wird von ihrem Hintermann mit einem Zischen zum Schweigen gebracht. Sie wirbelt herum.

»Chill mal dein Leben und zisch mich nicht an. Man wird ja wohl mal etwas sagen dürfen«, meckert sie leise.

»Es ist aber Andachtszeit«, antwortet die zierliche Erna und rümpft die Nase. Als wir die steinerne Treppe erreichen, stockt der Fluss, in dem wir schwimmen, und die Oberstufe vermengt sich mit uns. Jemand drängelt und wir fädeln uns vorsichtig ein.

»Und das Beste ist, er heißt Romeo«, raunt Holly mir zu. »Wenn das nicht heiß ist! Ich liebe Romeo und Julia«, erinnert sie mich und kommt aus dem Gleichschritt. »Wenn das nicht der Stoff für eine ordentliche Romanze an diesem eingestaubten Ort ist, dann weiß ich aber auch nicht. Was meinst du, wer wird die Julia?«

Meine Hand verfehlt das Treppengeländer und ich komme aus dem Tritt. »Weiß nicht.« Die Liebe. Sie ist ein Mysterium für sich und sie schüchtert mich ein. Wie eine Göttin, die dir alles geben, aber auch alles nehmen kann, wenn sie will.

»Hallo, Ember«, höre ich jemanden hinter mir flüstern und Holly verstummt. Ich drehe mich über die Schulter zu dem siebzehnjährigen Matti um. Meine Lippen formen ein »Hallo« und ich lächle zaghaft. Er weiß, dass ich ihn mag. Und ich weiß nicht, ob es ihm auch so geht.

»Ich habe gehört, der Neue ist hässlich wie die Nacht und hat einen Sprachfehler«, erzählt er ungerührt.

Holly übersieht fast die nächste Stufe. »Ist nicht wahr!«, protestiert sie viel zu hitzig und ich schaue wieder nach vorne.

»Doch, doch. Er kommt irgendwo aus dem tiefsten Transsilvanien, oder so.«

»Das Land gibt es nicht mehr«, brumme ich.

»Doch, doch. Und dort weiß man ja über die offensichtlichen Zahnstellungsprobleme Bescheid. Überbiss, zu lange Eckzähne und so weiter«, scherzt er in meinem Rücken. »Und seit wann heißt du denn Julia, Holly?«, fragt er unvermittelt. Holly bleibt stehen und hält den Verkehr auf.

»Boah, Matti! Raus aus meinem Kopf«, verlangt sie beinahe schrill. Er hebt beschwichtigend die Arme und lacht heiser.

»Verdammte Dezemberkinder, echt jetzt!«, mault sie und geht weiter. Ich schmunzle.

»Du bist auch ein Dezemberkind«, erinnere ich sie an ihren eigenen Geburtsmonat.

»Aber ich bin nicht so ein distanzloser Arsch wie Matti«, zischt sie und nickt zu dem blonden Jungen mit den smaragdgrünen Augen.

»Na gut, na gut. Reg dich nicht auf, das bekommt deinem Teint nicht«, sagt er und zuckt entschuldigend mit den Achseln. Hollys Gesichtsfarbe wechselt von Rot zu Weiß und ich nehme ihre Hand in meine. Für einen Moment habe ich Sorge, dass sie in Ohnmacht fällt vor Ärger. Als sie jünger war, kippte sie des Öfteren einfach um.

»Matti, im Ernst. Du solltest dich was schämen«, rüge ich ihn und mein Puls beginnt zu jagen bei dem Gedanken, dass er auch in meinem Kopf herumwühlen könnte. »Du weißt genauso wie wir, dass es unter Strafe steht, unsere Gaben gegeneinander einzusetzen.«

Er räuspert sich leise, fast verlegen. »Wenn Holly aber so laut schreit, dass ich sie nicht überhören kann …«, beginnt er und versteckt sein Lächeln, indem er sich von uns abwendet.

Wir erreichen das Erdgeschoss, die große weiße Halle, und werden langsamer. Hier unten dröhnen die Glocken durch einen Lautsprecher und füllen den ganzen Raum aus. Ich widerstehe dem Drang, mir die Hände auf die Ohren zu pressen. Holly drückt mich zur Seite, direkt auf die kleine Kapelle im Haus zu. Matti legt seine Hand in meinen Rücken und eine Gänsehaut bildet sich in meinem Nacken. Das große Kreuz mit den Rosenranken über der Flügeltür hängt schief und ich bekreuzige mich wie alle anderen, die hindurchtreten. Das große Dreieck daneben symbolisiert die Dreifaltigkeit Gottes: den Vater, seine Kinder, das Eis mitsamt Aufstieg in den Himmel, als untrennbares Element.

Ich setze mich auf einen der alten Stühle und alles fühlt sich plötzlich so surreal an. Als würde ich hier nicht hingehören. Als würde ich nicht bereits neun Jahre jeden Tag hier sitzen und für meine Gabe und die der anderen beten.

Mona, das jüngste Winterkind, ein Lockenkopf mit braunen Augen, klettert auf meinen Schoß und ich ziehe sie an meine Brust. Ihre Hände sind warm und umklammern meine Finger. Ich spähe durch den schmalen Gang nach vorne, dorthin, wo das größte Klavier steht, das ich kenne. Aber was kenne ich schon?, schießt es mir durch den Kopf. Mona zappelt und fädelt ihre Finger in meine. Ich spüre ihr Unbehagen und weiß, was sie mir sagen will, obwohl sie noch nie ein Wort gesprochen hat.

»Eine Stunde, dann kannst du wieder hinaus«, flüstere ich aufmunternd in ihr lockiges Haar. Ihre Hände saugen die Kälte aus meinen Knochen und füllen mich mit Energie, die mir eigentlich Behagen bereiten sollte. Doch jetzt prickelt alles in mir unangenehm.

»Mach mal Platz«, fordert Holly, als sie sich neben mich quetscht. Matti sitzt zwei Reihen vor uns und dreht sich immer mal wieder verstohlen zu uns um.

Niemand liebt diese Gebetsstunden. Ich wette, jeder zweite wünscht sich an einen anderen Ort, weit weg, und Matti als Erster. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er die ganze heilige Zeit über demütig vor dem Altar knien musste, weil er im Unterricht aufmüpfig gewesen war. Seitdem bleiben ihm die Späße in Gegenwart der Oberschwester im Halse stecken.

Die Schwestern in ihren grauen Kutten versammeln sich hinter dem wuchtigen Altar aus Kirschholz. Ihre Hände sind gefaltet, ihre Blicke gesenkt, während Oberschwester Klara mit strenger Miene eintritt. Es wird mucksmäuschenstill in dem stets festlich geschmückten Raum des Herrenhauses und Ruby schreitet gehüllt im mit Silberstickereien verzierten Umhang durch die Reihen nach vorne. Dicht hinter der Ältesten. Ihre grazile Erscheinung wirkt noch aristokratischer als sonst und einige von uns ziehen scharf die Luft ein bei ihrem wunderschönen Anblick. Besonders Gregor, der heimlich in das Januarmädchen verliebt ist. Holly kneift mich, fängt meine Aufmerksamkeit und deutet auf Rubys Hände, die kraftlos an ihrer Seite baumeln. Eine Haltung, die nicht zu ihr passt, und erst jetzt erkenne ich, dass sie verbunden sind. Etwas Rot tritt durch den weißen Stoff und leuchtet wie ein Schandfleck in dieser Reinheit der Kapelle.

»Was ist mit ihr passiert?«, wundere ich mich. Holly zuckt die Achseln und schaut dem offensichtlich verletzten Mädchen nach.

»Meine lieben Winterkinder«, eröffnet Oberschwester Klara mit einer erhabenen Geste. »Heute ist ein großer Tag des Erwachens«, beginnt sie und nimmt Ruby, die angespannt über uns hinwegschaut, in Empfang. Die Oberschwester legt ihre dürren Hände auf ihr schwarzes Haupt, während sie sich tief vor ihr verbeugt.

»Ein besonderes Erwachen, das nicht ohne Schrecken einherging …«, redet sie weiter und Ruby erhebt sich langsam wieder. Sie reckt ihr Kinn auf eine Weise vor, die an Trotz erinnert. Ihre Augen wirken dabei, als hätte sie vor nicht allzu langer Zeit geweint. Und ich muss es wissen. Nichts habe ich so sehr studiert wie das Phänomen des Weinens. Solange es sich auf das Beobachten beschränkte.

»Heute hat Ruby ihre Gabe gefunden und sie willkommen geheißen. In Demut und Gottesfurcht wird sie ab heute dienen und die Welt zu einem besseren Ort machen«, verkündet die Oberschwester noch lauter. Ihre Stimme wird von den Wänden hin und her geworfen und donnert wie ein D-Zug durch den Raum. »Lieber Gott, wir danken dir«, antworten die übrigen Schwestern im Chor und wir stimmen mit ein.

»Gott hat seinen Schäflein ein weiteres Geschenk gemacht und wir alle nehmen es dankbar an«, höre ich weiter zu. Mein Blick huscht über die Winterkinder. Ein Meer aus Weiß mit unterschiedlichen Haarfarben und ich frage mich, ob es stimmt, dass unser Leben immer und stets in Gottes Hand liegt. Ob er uns jederzeit wieder von der Erde tilgen wird, wenn wir ihm nicht mehr gefallen, wie die Schwestern es sagen.

»Gott, wir danken dir«, singt der Chor erneut, während ich versuche, Nonnas alten Kinderreim aus dem Kopf zu kriegen.

Deine Gabe, meine Gabe, lass sie nie alleine. Deine Gabe, meine Gabe, heimlich still und leise. Meine Gabe, deine Gabe, kann uns alle töten. Meine Gabe, deine Gabe, der Frostkuss ist vonnöten.

»Ruby wird ihre Aufgabe mit Würde tragen und sie nach deinen Wünschen einsetzen, oh Herr«, verspricht die Oberschwester.

Rubys Miene ist reglos. Die verbundenen Hände, die an ihrer Seite hängen, zittern kaum merklich.

»Gott, erbarme dich unser«, erhebt sich der Chor. Meine Gedanken rennen davon. Nonna hatte nie von Gott gesprochen. In ihren Geschichten war es immer der Winteratem, der den Winterkindern ihre Macht überträgt.

Mona legt ihren Kopf an meine Schulter und ich werde schläfrig. Nonnas Stimme erklingt erneut in meinem Kopf:

Es waren einmal Väterchen Frost und Gevatter Tod. Die hatten einen Streit darüber, wer machtvoller sei. Väterchen Frost meinte, dass ohne seinen Schnee und Hagel, der die Ernten zerstörte, weniger Menschen verhungern würden. Er bestand darauf, dass ohne sein Eis, das Menschen auf Seen verschluckt, nicht halb so viele Seelen Gevatter Tod folgen würden. Dass ohne seinen Winteratem niemand erfrieren würde oder von Krankheit so sehr gezeichnet wäre, dass sein Ende absehbar war. Daraufhin wurde Gevatter Tod sehr wütend und forderte Väterchen Frost heraus …

Ich kneife die Augen zusammen und versuche mich zu erinnern, wie die Geschichte weiterging. Doch plötzlich ist da nur noch Leere, die mir lauthals ins Ohr schreit. Mir wird so übel, dass ich Mona von meinem Schoß schubse und aufspringe.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragt Holly alarmiert. Ich kann nicht antworten, quetsche mich an ihr vorbei und presse mir die Hand vor den Mund, mein Magen rebelliert.

Die Stimmen der Betenden verschwimmen zu einem breiigen Singsang und ich stürme aus der Kapelle hinaus. Meine Schritte hallen wie Gewehrschüsse durch den Flur, während ich ihn durchquere. Und ich kann erst wieder atmen, als mich draußen auf dem Hof die kalte Novemberluft in Empfang nimmt und mein überhitztes Gesicht kühlt. Ich drehe mich um, schaue zurück zum übermächtigen Gebäude, das sich grau über mir erhebt und seinen Schatten weit vorauswirft. Fast ist es, als würde sein Raunen und Flüstern mich warnen wollen. Mich auffordern, in den Schwarzen Wald zu fliehen und nicht wieder zurückzukommen.

2

EINSAMER SCHNEE

In dieser Nacht träume ich das erste Mal seit langer Zeit wieder vom Clan.

Ich war wieder klein, saß auf Nonnas Flickendecke meiner Schlafstätte und presste meine Nase am kleinen rechteckigen Fenster des Wohnwagens platt. Nonna stand draußen im Nieselregen und unterhielt sich mit Silvano, dem Anführer unseres Trecks nach Osten. Sie schienen über irgendwas zu streiten. Silvano gestikulierte wild und Nonnas unnachgiebiger Blick drückte ihn dann und wann einfach nieder, als würde er die Schwere der Welt in sich tragen. Ich wusste, was es hieß, wenn sie einen so ansah, und wendete mich von dieser Szene lieber ab. In dem Augenblick bemerkte ich, dass die Wohnwagentür einen Spalt offen stand. Mein Herz machte einen Satz.

»Muck?«, rief ich alarmiert und horchte. Doch der Kater lag nicht mehr auf seinem Platz vor dem Bett und ich sprang auf, um ihn zu suchen. Ich ließ mich auf die Knie fallen, um unter die Möbel schauen zu können. Er war nicht da. Nonna hatte mich so oft ermahnt, dass ich auf das Tier aufpassen müsse. Meine Beine trugen mich zur Tür, ich spähte hinaus. Der Wind wehte Wortfetzen und das Rauschen vorbeifahrender Autos wie einen wütenden Spielball zu mir herüber. Vorsichtig stieg ich aus, schlich zwischen den Wohnwagen umher. Es waren sieben an der Zahl und sie sahen ganz unterschiedlich aus. Der Letzte war silbern und kantig wie Nonnas Brotschatulle. Der Erste wurde von einem rostigen Auto gezogen und war mit bunten Aufklebern verziert. Am Straßenrand standen andere Leute des Clans und rauchten Zigaretten, der Qualm trieb mir in dünnen Schwaden entgegen.

»Muck«, rief ich leise und spähte in das anliegende Maisfeld, vor dem Nonna mich gewarnt hatte. Es war so hoch, dass ich zweimal so groß sein müsste, um es überschauen zu können, und mir wurde ganz mulmig zumute. Diese Pflanzen konnten einem Streiche spielen, wenn man sich in ihnen verlief. Deshalb ernteten auch nur Maschinen das goldgelbe Korn, wenn es reif war, und nicht wie einst Menschen mit Werkzeug.

»Kater, wo bist du?«, fragte ich und meine Tonlage kippte ins Weinerliche. Er durfte einfach nicht fort sein, er war doch mein bester Freund! Das Wesen, was mich am meisten verstand und immer für mich da war. Plötzlich ertönte sein kratziges Miauen. Ich wirbelte herum und entdeckte ihn unter einem der Wagen.

»Da bist du ja«, sagte ich erleichtert und versuchte ihn zu erreichen. Meine Strumpfhose wurde nass, während ich mich auf den Knien vorwärtsschob, und mein roter Pulli verhakte sich an der Karosserie. Muck sträubte sich, als ich seine Tatze fassen wollte, und entzog sich meinem Griff. Ich krabbelte hektisch auf ihn zu, das Tier erschrak und rannte einfach los. Fort von mir. Direkt auf die Straße. Ein Auto hupte. Reifen quietschten. Ich drückte mich platt auf den Boden und sah, wie Mucks kleiner schwarzer Körper von einem Fahrzeug erfasst und zur Seite katapultiert wurde.

Die Zeit stand plötzlich still. Bis mein dröhnender Herzschlag mich unter dem Wohnwagen heraustrieb und zur Straße rennen ließ. Der Fahrer des Autos gab einfach wieder Gas und fuhr davon. Muck zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, sein Maul war weit aufgerissen und er fiepte. Der seltsamste Ton, den ich bis dahin gehört hatte. Ich spürte den Schmerz kaum, als ich mich vor ihm auf den Asphalt fallen ließ. Die weiche Haut meiner Knie riss auf. Nur vage nahm ich wahr, dass Nonnas Name gerufen wurde. Die Stimme, die sie rief, klang beunruhigt, fast ängstlich.

»Muck, mein armer Muck«, flüsterte ich meinem Kater zu und schob meine Hände unter seinen Körper, um ihn aufzuheben. Dunkles Rot färbte meine helle Haut und mir entfuhr ein spitzer Schrei. Mit ihm begannen meine Augen zu brennen. Mit ihm löste sich schuldgetränkte Trauer, die mit einem Donnern Einzug in meine Seele hielt. Mit ihm trat die erste Träne über die Ufer und tropfte auf Mucks schwarzes Fell. Der Himmel verdunkelte sich urplötzlich. Die Träne dampfte, eine seltsame Hitze ging von ihr aus, als sie durch das schwarze Fell sickerte. Plötzlich riss Muck seine Augen auf. Sie rollten in seinen Höhlen, als er zu zucken begann.

Er stirbt, er stirbt unter furchtbaren Qualen, dachte ich. Und diese Erkenntnis bohrte sich in meine Brust.

Als Nonna ihre Hand auf meine Schulter legte, hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Mach, dass es aufhört«, wimmerte ich und kniff die Augen fest zusammen. Weitere Tränen lösten sich aus meinem Wimpernkranz. Tränen, die wie Nonna mir versprach, eines Tages Glück bedeuten könnten, schickten nun ihre unheilvolle Macht in die Luft. Fast konnte ich wahrnehmen, wie sie sich wie summende Schallwellen fortbewegten.

»Weine nicht, November, bitte weine nicht«, flehte Nonna mich an. Ihre brüchige Stimme bebte. Ich schaute mich zu ihr um. Mucks toter Körper rutschte dabei von meinem Schoß und ich schluchzte trocken. Nonnas schwarzes von Silberfäden durchzogenes Haar hatte sich vollends aus ihrem Knoten gelöst und versteckte ihr rundes Gesicht. Mein Blick glitt an ihr vorbei zu den Menschen aus dem Clan. Silvano trieb seine Familie in den Wohnwagen in vermeintliche Sicherheit. Ein anderer Wagen startete den Motor und fuhr mit durchdrehenden Reifen an. Kies spritzte in alle Richtungen. Zwei Männer tauchten in das Maisfeld ein und rannten Hals über Kopf davon. Ich schmeckte Salz auf meinen Lippen und versuchte gegen den Druck in meiner Brust anzukämpfen.

»Atme ganz ruhig, November. Tief in den Bauch«, mahnte Nonna mich und ich griff nach ihrer beringten Hand. Sie fühlte sich so dürr an. Ich hatte gar nicht in Erinnerung, dass sie hart und kalt war. Wind frischte auf und wehte Nonna die Haare aus dem Gesicht. Mein Atem stockte. Ihre Haut löste sich auf und hing in Fetzen von ihren Wangenknochen.

»Es wird alles gut, mein Engel«, tröstete sie mich und drückte mit ihren Fingern meine. Mein Blick huschte nach unten, auf ihre tote Hand.

Ich riss mich los, schrie, so laut ich konnte …

Mein Sturz wird durch meine Bettdecke, in die ich mich hoffnungslos verheddert habe, gebremst. Trotzdem stoße ich mir gehörig den Kopf, als ich auf dem Boden aufkomme.

Holly knipst ihr Licht an und starrt auf mich hinunter. Sofort überprüfe ich, ob ich im Schlaf geweint habe, und atme erleichtert auf. Nichts. Meine Augen sind trocken.

»Du willst mir immer noch erzählen, dass alles gut mit dir ist, oder?«, fragt meine Freundin und geht vor mir in die Hocke. Ich befreie mich aus der Decke und rapple mich mit ihrer Hilfe auf.

»Ja«, antworte ich zittrig.

»Aha.« Holly stöhnt und kriecht wieder in ihr Bett. »Dann schrei wenigstens leise«, murrt sie und ist sichtlich sauer darüber, dass ich mich ihr nicht anvertraue.

»Es tut mir wirklich leid«, sage ich tonlos und ordne meine Kissen. Holly hat keine Ahnung, wie sehr es mir leidtut. Ich würde so viel dafür geben, wenn ich darüber reden könnte. Aber alles in mir sträubt sich mit einer so enormen Kraft dagegen, sodass ich diese Hemmschwelle nicht überwinden kann.

Am nächsten Morgen habe ich mich wieder fest im Griff. Holly ist immer noch verstimmt und wirkt ziemlich einsilbig auf mich. Bis wir nach dem Mittagessen aus dem Speisesaal kommen, den Flur durchqueren und am Büro der Oberschwester vorbeigehen.

»Halt mal«, zischt Holly plötzlich und zupft an dem langen Ärmel meines Kleides.

»Was ist denn?«

Sie nickt in Richtung des Haupteingangs. Dort steht ein verwaister Koffer, dessen schwarzes Leder an mehreren Stellen aufgerissen ist. Hinter uns verteilen sich die Schwärme anderer Schüler auf verschiedene Gänge und mein Blick heftet sich an diesen fremden Gegenstand, der mich in eine immense Unruhe versetzt.

»Meinst du, der gehört dem Neuen?«, höre ich Holly aufgeregt fragen.

»Keine Ahnung«, antworte ich und setze mich in dem Augenblick wieder in Bewegung, in dem die schwere Bürotür aufschwingt. Die Zeit verlangsamt sich. Der Neue, ein hochgewachsener Junge mit dunklen Locken, tritt mit Oberschwester Klara heraus, die auf ihn einredet. Unsere Blicke treffen sich, verhaken sich miteinander und kommen nicht voneinander los. Das dunkle Braun seiner Augen entwickelt einen enormen Sog und ich muss mich regelrecht zwingen, diesen verstörenden Moment zu unterbrechen.

»Was war das denn?«, flüstert Holly und bleibt stehen, während ich auf die Treppe hinauf zu den Zimmern zusteuere. »Warte doch mal.« Sie eilt mir nach und angelt nach meiner Hand. Ich treibe meine Schritte voran, werde schneller, gehetzter. Das Bild dieses Romeos hat sich mir eingebrannt. Seine verwegene Aura, die Augen, die eine gewisse Traurigkeit in sich bergen, und sein sinnlicher Mund. Seine zerschlissene Lederjacke, die Jeans, alles ließ ihn wie einen James Dean aus einer anderen Zeit aussehen. Aber das ist es nicht, was mich aufwühlt. Vielmehr ist es ein Gefühl, dass wir uns kennen. Als würde es zwischen uns eine Verbindung geben.

Hollys Mund formt stumm Worte, während sie sich neben mich stellt. Die Botschaft ist klar: »Ist der heiß.« Auf meinen Lippen zuckt es nervös und ich wage einen Blick zurück über meine Schulter. Und das soll ich umgehend bereuen.

»Ach, November!«, ruft mich in dem Moment Oberschwester Klara und winkt mich zu sich und dem Neuen heran.

Holly sieht mich fassungslos an, weil ich einfach weitergehen will, und hält mich zurück.

»Spinnst du?«, flüstert sie und runzelt die Stirn.

»November und Holly, würdet ihr beide bitte zu mir kommen!«

Das ist keine Frage, sondern ein Befehl. Meine Beine wollen immer noch nicht stehen bleiben. Holly ruckt an meinem Arm.

»Tickst du noch richtig?«, zischt sie und deutet ein Kopfschütteln über mein Benehmen an.

»Ja, aber natürlich, Oberschwester«, beeilt sie sich, für uns zu sprechen, und ich bleibe endlich stehen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Holly ist mit wenigen Schritten unten bei ihnen. Ich folge ihr. Der Neue steckt seine Hände in die Hosentaschen, seine Miene verrät nichts darüber, wie er sich fühlt.

»Kinder, ich möchte, dass ihr unseren Neuling Romeo zur Oberstufe begleitet«, erklärt Oberschwester Klara knapp. Ihr Blick tastet mich ab, wie so oft. So suchend, so kühl.

»Hallo, ich bin Holly«, stellt meine Freundin sich gewinnend lächelnd vor und streckt dem Jungen, der sich sicher schon eine ganze Weile rasieren muss, ihre Hand entgegen. »Freut mich sehr, dass ich da bin«, scherzt sie. Ich frage mich, wie alt dieser Romeo wohl sein mag. Sicher über achtzehn. So viel steht fest.

»Ich bitte um Benehmen, Holly«, tadelt die Oberschwester sofort und deutet auf den verwaisten Koffer, der nicht unweit von uns steht, und redet dann weiter mit dem Neuankömmling.

»Es gibt hier klare Regeln und Grenzen. Lassen Sie sich von Ihrem Zimmernachbarn einweisen«, rät sie und er nickt leise lächelnd. Ich kann diese Art des Lächelns nicht einordnen. Es hat etwas Ironisches an sich. Eine Frechheit, die hier im Keim erstickt wird. So viel steht fest.

Holly schnappt sich seinen einsamen Koffer. Sofort schnauft sie unter dem Gewicht.

»Was hast du da drin? Backsteine?«, fragt sie und ächzt. Er hebt eine Augenbraue lässig an und antwortet: »Nein, Waffen. Ein ganzes Arsenal, um genau zu sein.«

Holly grinst dümmlich. »Du bist witzig.«

»Mal sehen, wie lange du das noch findest«, murmelt er und weicht Schwester Klaras Blick aus, die ihn jetzt mit schmalen Augen mustert.

»Nun gut. Wir haben alles besprochen, für’s Erste«, verkündet sie gedehnt, schaut beiläufig auf ihre Armbanduhr und in dem Augenblick wendet der Neue sich mir zu und sein Lächeln wird sanfter.

»Hallo, mein Name ist Romeo«, stellt er sich vor. Seine Stimme ist samtig und ich bemerke erst nicht, dass er mir seine Hand entgegenhält.

»Ember.« Zögerlich ergreife ich sie und verfluche meine plötzlich schwitzenden Handflächen.

»Bring ihn zu Mattiaschek, er weiß Bescheid und wartet auf ihn«, befiehlt die Oberschwester mir und wendet sich schließlich ohne ein weiteres Wort von uns ab. Die Tür zu ihrem Büro fällt laut hinter ihr ins Schloss. Romeos Daumen streicht sacht über meinen Handrücken und die Zeit verlangsamt sich erneut. Bis seine Mundwinkel verräterisch zu zucken beginnen, während ich ihn so vertieft betrachte.

Holly räuspert sich lautstark neben uns. »Können wir dann mal?«

Romeo lässt mich so ruckartig los, als würde ich ihn plötzlich mit Hitze versengen. Ich blinzle verwirrt, nehme Abstand und schaue zu Boden auf die Karoformen der Fliesen, als ein Hauch Spott über sein schönes Gesicht flackert. Peinlich. Was denke ich mir nur dabei, ihn so anzustarren?

»Gib schon her, kleiner Redhead«, höre ich Romeo belustigt zu Holly sagen und schaue wieder auf. Er nimmt ihr seinen schweren Koffer ab und trägt ihn mit Leichtigkeit.

»Ich heiße Holly«, erinnert meine Freundin ihn und lächelt wieder so dümmlich. So wie es aussieht, ist sie auch von seiner äußeren Hülle beeindruckt. Doch ein gutes Aussehen ist nur Schein und der kann bekanntlich trügen. Ich straffe meine Schultern und gehe voran. Einige der jüngeren Kinder durchqueren den Flur und strömen auf den Innenhof. Sie lärmen so sehr, dass ich Romeos nächste Frage kaum verstehe.

»Und hier lebt ihr also alle? Ihr Winterkinder?«

»Ja, und du jetzt auch, wie es aussieht«, antwortet Holly und macht einen Ausfallschritt, um auf seiner Höhe zu bleiben.

»Ja, das sieht so aus.« In seiner Stimme liegt eine Spur Trauer, während er die Bilder des Weltuntergangs an den Wänden betrachtet. Die Motive sind immer gleich. Eis und Tod. Und Gott, der seinen mahnenden Finger erhebt.