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Über das Buch

Seltsame Veränderungen sind über das Hügelland hereingebrochen. Die Sonne zeigt sich so selten wie sonst eigentlich nur im Nebelmond und allerortens gibt es Gerüchte von unerklärlichen Lichtern, umgefallenen Bäumen und anderen seltsamen Vorkommnissen.

Doch vergeblich versuchen der alte Odilio Pfiffer und seine Gefährten, die anderen Quendel zu warnen. Denn, Rauchschwamm, Wirrschwamm, die meisten Quendel wollen nichts dergleichen hören. Es nahen die Tage des Maskenfests, der Glanz- und Höhepunkt auf dem Hügelländer Festkalender, und wer wollte sich den Spaß von ein paar schwarzseherischen Wichtigtuern verderben lassen?

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So quick bright things come to confusion.

WILLIAM SHAKESPEAREA Midsummer Night’s Dream

Im Dunkel der Wälder wohnen ruchlose Tiere, deren Kiefer mit unheimlich glänzenden Zähnen oder scharfen Schnäbeln versehen sind, deren Füße scharfe Klauen tragen, die danach verlangen, sich um die Kehle eines Wesens mit warmem rotem Blut zu klammern, und deren Augen vor Mordlust funkeln.

SELMA LAGERLÖFGösta Berling

Inhalt

Von nah und fern

Das Leid der Kremplinge

Augen in der Dunkelheit

Der Rat in der Rabensteiner Linde

Die Graue Trud

Ein unerwarteter Vorschlag

Der Weg durch die Hügel

Flucht zur Fischburg

Griseldis

Nebel über den Schwammwiesen

Das Bäumelburger Maskenfest

Über die Schattengrenze

Windzeit, Wolfszeit

Der weiße Wald

Figurenverzeichnis

Nebel steigt auf und vermisst die Hügel mit silbrigen Bändern. Sie verschleiern die Grenzen, doch nicht mehr lange und der Weg ist bereit. Wo geht es hinüber? Wir wissen es nicht, denn wir sind die Lämmer und die Wolfszeit hebt an. Wasser gefriert zu Eis, das nicht trägt, und die Welt wird brüchig. Nach einem kurzen Herbst kommt der Winter zu früh. Zeitig fällt er ins unbestellte Haus und lässt uns zittern und zagen. Ein Schatten lastet über dem Land, der macht den Himmel fahl und die Sonne zum blinden Spiegel. Mit mattem Schein taucht sie Wälder und Auen ins Zwielicht. Gleich einer offenen Wunde zeigt sich des Nachts der Mond blutrot. Im schwindenden Licht rücken steil aufragende Felswände enger zusammen. Wo ist der Einlass, wo ein Ausweg? Sucht in der Finsternis, die nichts und doch etwas enthält. Ein frostiger Wind weht durch die Klamm und schneidet sich an den spitzen Graten der Felsen. Hört ihr es heulen? Windzeit, Wolfszeit. Es klirren die Wolken von Schilden. Sie, die längst starben, reiten den Sturmwind und bringen Verderben. Er kommt mit Raben, die schwärzen die Schatten. Er kommt mit Schwertern, die durchtrennen den Nebel. Und die wird er finden, deren Spuren ihm künden, wo sie sich verhüllen, im Lauten, im Stillen.

Wehe, sein Schatten lastet über dem Land. Ich kann ihn spüren. Ich kann ihn sehen. Nicht nur im Traum. Doch weiß ich nicht mehr, ob ich schlafe oder wache. Noch, wer ich bin und wo ich einst war.

Erstes Kapitel

Von nah und fern

Was ist mir denn so wehe?

Es liegt ja wie im Traum

Der Grund schon, wo ich stehe,

Die Wälder säuseln kaum

Noch von der dunklen Höhe.

Es komme, wie es will,

Was ist mir denn so wehe –

Wie bald wird alles still.

JOSEPH VON EICHENDORFFTotenopfer

Ein einsamer Reiter kam die Straße vom Ufer der Kaltwasser herauf. Er schien es nicht eilig zu haben, denn er ließ sein Pony am langen Zügel das gemächliche Tempo selbst bestimmen. Gedankenverloren saß er, mit hängenden Schultern und leicht gebeugtem Kopf, ein wenig müde im Sattel und blickte nur dann und wann auf, als müsse er von Zeit zu Zeit prüfen, ob es dort, wo er nun bald des Weges kommen würde, etwas Besonderes zu entdecken gäbe. Doch nichts regte sich im Schatten der großen Bäume. Nach einem Stück freien Geländes in Ufernähe säumten sie auf beiden Seiten in langer Reihe die stetig ansteigende Straße und unterbrachen mit ihren mächtigen Stämmen die Aussicht auf die entlang der Flussniederung liegenden Wiesen und Felder.

Vor Kurzem hatten Ross und Reiter die alte Steinbrücke überquert, die am Fuße des Burgfelsens die Straße über den breiten Strom führte. Nur noch zwanzig Schlegel bergauf und sie würden aus dem weißlichen Licht einer dunstigen Sonne in die feierliche Dämmerung der alten Allee eintreten. ›Stock und Schwamm, Linden! Immer sind es Linden, als gäbe es keine anderen Bäume von Bedeutung mehr‹, dachte der Reiter, als er wieder über den Hals seines Ponys nach vorne schaute.

Wäre er aus der entgegengesetzten Richtung zur Brücke hinuntergeritten, hätte sich ihm schon seit geraumer Zeit ein großartiger Anblick geboten. Denn wer vom Dorf Rabenstein die schnurgerade Allee herabkam, zog auf dieser Blickachse ihrem überaus erhabenen Endpunkt entgegen. Von den Bäumen umrahmt und schon aus der Entfernung gut sichtbar, erhob sich, gleichsam schwerelos über dem Dunst des Flusses, die auf steilem Felsen noch doppelt hochaufstrebende Ruine der Burg Rabenstein. Äußerlich unversehrt stand der von Zinnen bekrönte Burgfried in schwindelerregender Höhe über dem Bett der Kaltwasser. Die Überreste der anderen Gebäude krochen über den Felsen mit dachlosen Mauern, in denen leere Fensterhöhlen gähnten. So schmal und senkrecht streckten sich Fels und Turm zum Himmel empor, dass ihr Umriss genau in den Ausblick passte, den die Lindenallee an ihrem Ende gestattete. Je näher man kam, desto weiter traten die Baumreihen zurück und die Ruine wuchs entsprechend und gewann stetig an Wirkung und Größe. Hoch droben umkreisten dunkle Vögel das alte Gemäuer und zerrissen die Luft mit ihren heiseren Schreien. Es waren vor allem Dohlen, die dort in Hunderten Nischen nisteten, doch es gab auch noch immer die großen Raben, die seit alters die Stätte bewohnten und der Burg vor langer Zeit zu ihrem Namen verholfen hatten. Sie teilten ihre Zuflucht mit Turmfalken und Eulen und den Krähen in den Bäumen am Fuße des Felsens. Kaum eine Taube wagte sich an den gefährlichen Ort.

Der Reiter fühlte den Rabenstein in seinem Rücken. Nicht ein einziges Mal drehte er sich im Sattel um. Erst vor zwei Tagen war er darauf zugeritten und hatte das Pony zur Eile angetrieben. Es war ein besonders nebelverhangener Morgen gewesen, wie eigentlich nicht selten im Spätherbst, wenn der Nebelmond seinem Namen alle Ehre macht – nur war laut Kalender nicht einmal der Sommer an seinem Ende angekommen. Doch das Wetter gebärdete sich, als würde es in diesem Jahr die goldenen Tage im Pilzmond einfach auslassen wollen, um ohne ein letztes Aufgebot an Sonnenwärme geradewegs in die lichtlose Zeit zu wechseln. Schöne Tage waren rar und damit die der Jahreszeit eigentlich gemäßen Gelegenheiten, wie zu einem späten Sonnenbad auf der Gartenbank, einem Picknick nach dem Beeren- und Pilzesammeln oder einem nach Abschied vom Sommer schmeckenden Spaziergang im Abendsonnenschein. Seit Mitte des Eichelmonds zeigte sich der Himmel meist eingetrübt und lastete auf dem Hügelland und der Stimmung seiner Bewohner, welche die eigenartige Witterung mit den verstörenden Ereignissen in jener nun Wolfsnacht genannten Spätsommernacht in Zusammenhang brachten. Fast überall im Land hatte sich Unerklärliches und sogar Schreckliches ereignet, das gleich einem plötzlichen Sturm über sie hereingebrochen war.

›Wobei es durchaus nicht alle Gegenden so schlimm getroffen hat wie die in der Nähe des Finsters liegenden Dörfer und ihre Umgebung. Und das macht die Lage nicht eben einfacher‹, hing der Reiter sorgenvoll seinen Gedanken nach und lenkte sein Pony in die Mitte der Straße zurück. Das Tier hatte sein gleichmütiges Trotten unterbrochen, um zielstrebig auf ein appetitlich aussehendes Grasstück am Feldrain zuzuhalten, und gehorchte nun mit missmutigem Schnauben dem Befehl seines Herrn, der sich plötzlich seiner reiterlichen Überlegenheit zu erinnern schien. »Ein wenig hurtiger bis unter die Linden, mein guter Friedo. Sei so gut!«

Der braune Schecke setzte sich in Bewegung und fiel in einen zuckelnden Trab, der sie unter den Schatten der Bäume brachte. Hier war es kühl und still. Friedo kehrte zu seinem gemächlichen Schritt zurück und sein Reiter ließ ihn gewähren. Er konnte dabei besser nachdenken und sich in dieser Einsamkeit ungestört noch ein wenig sammeln zu können, bevor der zu erwartende Trubel losbrach, war es ihm wert, später einzutreffen, als er es eigentlich versprochen hatte.

Bevor er sich wieder seinen Grübeleien und Friedos sanft schaukelndem Gang überließ, schickte er, wie gewohnt, einen spähenden Blick voraus. Gleich darauf stutzte er und griff mit plötzlicher Anspannung in die Zügel. Das Pony hielt an und spitzte die Ohren nach vorne, wo, etwa dreißig Schlegel von ihnen entfernt, eine Gestalt hinter dem Stamm einer Linde hervorgeschlüpft war. Sie war nicht sonderlich groß und trug Kleider in den Farben des Waldes, die sie zwischen den Bäumen fast unsichtbar machte. Dennoch war es dem Reiter nicht entgangen, dass der Andere aus der linken Baumreihe mit der Vorsicht eines nach allen Seiten sichernden Rehs nur zögernd ins Freie getreten war. Er musste durch den Hufschlag des Ponys längst wissen, dass jemand die Straße heraufkam.

›Dass er sich zeigt, statt im Verborgenen zu bleiben, beweist, dass er selbst keine Angst hat‹, dachte der Reiter und ärgerte sich einmal mehr über sein Misstrauen. ›Zitterschwamm, der du bist, vielleicht hat der da vorne im Schatten nicht die Spur einer bösen Absicht und wandert einfach nur querfeldein. Schmächtig ist er obendrein.‹ Doch steter Argwohn war ihm seit jener Nacht in Fleisch und Blut übergegangen und oft wusste er nicht recht, ob es sich dabei um gesunde Vorsicht oder eigentlich um ständige Furcht, zuweilen vor dem eigenen Schatten, handelte.

»Stock und Schwamm, wer da?!«, rief er mit so lauter Stimme voraus, dass Friedo unter ihm zusammenzuckte. Er versuchte, entschlossen und streng zu klingen. »Wenn ihr noch mehr seid, kommt am besten gleich alle hervor, damit wir euch sehen können. Denn ich reite nur voraus und mir folgen viele!«

Ihm fuhr der Schrecken gehörig in die Glieder, als sich daraufhin eine zweite Gestalt zeigte. Damit hatte er nicht gerechnet, den eigenen Worten zum Trotz. Dieser Zweite war noch dazu beängstigend lang und dünn und hatte sich aus dem Graugrün der Stämme gelöst, als sei er geradewegs aus einer der Linden gekommen. Dem Reiter schauderte.

Da erklang ein Kichern, das gleich darauf in Gelächter überging. Die kleinere Gestalt war plötzlich in die Mitte der Straße gesprungen und hatte sich die Kapuze ihres dunkelgrünen Umhangs vom Kopf gerissen. Zerzauste Locken wurden sichtbar und das breite Grinsen eines jungen Quendels.

»Hallo, Zwentibold! Du bist spät dran!«, rief Karlmann und winkte ihm entgegen. »Ich hatte dich gleich erkannt, aber Wilfried hier neben mir meinte, ein bisschen Vorsicht könne in diesen Tagen nie schaden, und so haben wir gewartet, um ganz sicherzugehen.«

Der Bitterling schnaubte, dass es seinem Pony alle Ehre gemacht hätte. Er war sehr erleichtert, gleichzeitig schämte er sich ein bisschen. Es ließ sich offenbar nicht ändern, dass ihn derzeit selbst die kleinste Ungewissheit, der Schatten eines Zweifels, der Hauch eines Verdachts in gelinde Aufregung versetzten. Da konnte er, um Fassung bemüht, auf leerer Straße so lange alleine dahinreiten, wie er nur wollte.

Mit einem Schnalzen und leichtem Schenkeldruck gab er Friedo zu verstehen, dass es nun munter den beiden Freunden entgegenging. Das Pony trabte, bis sie die Stelle erreicht hatten, wo der lange Müller und Karlmann auf sie warteten. Zwentibold stieg ab, klopfte Karlmann auf die Schulter und begrüßte Wilfried von den Steinen mit einem freundlichen Nicken.

Der nahm seine Pfeife aus dem rechten Mundwinkel. »Sieh da, der Bitterling!«, sagte er und lächelte ihm so herzlich und offen entgegen, dass es Zwentibold rührte. Der Kugelmüller stand nicht umsonst in dem Ruf, neben seiner Kunst, die Zeichen zu deuten, dank seines gewinnenden Wesens auch für sofortige Beruhigung sorgen zu können, sollten die Aussichten einmal nicht so rosig ausfallen.

»Na, mein Junge«, wandte Zwentibold sich zuerst an Karlmann. »Wo kommt ihr denn her? Hast du dem guten Wilfried das Geleit gegeben?«

»Ja«, antwortete der junge Quendel mit einem stolzen Lächeln. »Der alte Pfiffer hat mich zur Kugelmühle geschickt und zwar ganz allein.«

»So, so, ein verantwortungsvoller Auftrag«, sagte Zwentibold und zwinkerte über Karlmanns Kopf hinweg dem Müller zu. »Ich vermute, deine Mutter und Hortensia hatten nicht das Geringste dagegen.«

Karlmanns Wangen wurde um eine Spur röter. »Um ehrlich zu sein, hat meine Mutter geschlafen und wir wollten sie nicht wecken, als Odilio mich losschickte. Hortensia kümmert sich die meiste Zeit um Onkel Bullrich. Sie hat gar nicht mitbekommen, dass ich fort bin. Odilio wollte ihr natürlich Bescheid sagen. Es gab in der Linde rein gar nichts für mich zu tun und ich stand nur überall im Weg. Zum Rabenstein hinunter und dir und den Quendelinern entgegen wollten sie mich auch nicht fortlassen. Habichts- und Bitterpilz, es ist doch albern, dass ich nun wieder wie ein grüner Moosling behandelt werde, nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben«, fügte er nach einer kurzen Pause trotzig hinzu. »Nur der alte Pfiffer scheint das anders zu sehen.«

»Schon gut, Karlmann«, entgegnete Zwentibold und klang nun ganz ernsthaft. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht necken. Ausgerechnet von mir, der so unruhig umherschleicht wie der Kater, der weiß, dass der Hund des Nachbarn los ist, musst du dir das kaum anhören.«

»Wir sind alle unruhig in diesen Tagen, mein guter Zwentibold«, pflichtete ihm Wilfried mit sorgenvollem Blick bei. »Das heißt, wenn wir schlau sind. Und das sind vielleicht nicht alle.« Er zog an der Pfeife und schickte eine aromatisch nach Honig duftende Tabakswolke in die kühle Luft. »Was ist mit den Quendelinern?«, fragte er danach ein wenig unvermittelt. »Werden sie kommen?«

»Sie werden kommen«, antwortete der Bitterling. »Das heißt, sie sind sicher schon auf dem Weg. Wenn nicht die Bäume entlang des Uferwegs so dicht stehen würden, könnten wir sie vielleicht sogar von weiter oben sehen. Ich kann euch sagen, dass es zuerst nicht ganz einfach war, Boso zu überzeugen. Er pflegt die Dinge auf seine Weise zu betrachten und in die Hand zu nehmen und Letzteres nur, wenn es ihm wirklich nötig erscheint. Ein jeder weiß ja, wie es die Quendeliner halten. Was jenseits des großen Flusses und im übrigen Land für wichtig befunden wird, bezweifeln sie erst mal aus purem Vergnügen am Widerspruch. Aber gar nicht selten haben sie recht mit ihren Zweifeln. Das muss ich zugeben.«

Der Müller nickte. »Sie haben da drüben wahrhaftig ihre eigene Art und der alte Boso ist so schlau wie ein hundertjähriger Dachs. Wenn er kommt, nimmt er die Sache ernst und das ist gut so, denn seine Stimme wird Gewicht haben im großen Chor der Klapperschwämme und Feistlinge.«

Zwentibold verzichtete höflich darauf, nachzufragen, wer mit Letzterem genau gemeint sein könnte. Ihm kamen Drogo Schneckling, der Wirt seines eigenen Dorfes Wetterstern, und der Bäcker Wenzel aus Grünlohe in den Sinn, aber auch so manche andere geachtete Persönlichkeit, nicht zuletzt aus dem Festkomitee. Er seufzte unwillkürlich und dachte mit einem Anflug von Widerstand an die für den heutigen Abend angesetzte Versammlung in der Rabensteiner Linde. Diejenigen, denen es wie immer vor allem um das bevorstehende Maskenfest und die strenge Einhaltung lang gepflegter Gewohnheiten und Traditionen ging, würden sich nicht von ein paar Spinngespinsten am nächtlichen Himmel bange machen lassen. Dieser Auffassung wäre er bis vor gar nicht langer Zeit selbst gewesen und hätte sie entschieden verteidigt. Dann gab es sicher noch jene, die Wert darauf legten, öffentlich eine gute Figur zu machen und einen Mut zu beweisen, der hoffentlich nicht bald auf eine ähnlich bittere Probe gestellt würde, wie er es selbst erleben musste.

»Wie geht es Bullrich?«, unterbrach der Kugelmüller seine Grübeleien.

Allein die Frage reichte, um den Bitterling todtraurig aussehen zu lassen. Er schüttelte ein paarmal den Kopf und strich Friedo neben sich über die samtweiche Nase, als bräuchte er freundliche Unterstützung, um dieser tragischen Angelegenheit begegnen zu können.

»Ach, frag besser nicht. Er ist nicht mehr der Alte. Du wirst es erleben. Er erinnert sich nicht einmal, was überhaupt geschehen ist, nicht wahr, Karlmann, mein lieber Junge?! Dein alter Onkel scheint wie in einem bösen Traum befangen, aus dem er nicht mehr herausfindet. Immerhin muss er inzwischen nicht mehr das Bett hüten, wenn er auch noch oft ruht. Aber wirklich besser ist es nicht geworden. Er wirkt ein bisschen wie sein eigener Geist, schattigster Schattenbart, zu dem er geworden ist.«

Der Bitterling zog sein Taschentuch aus der Westentasche und schnäuzte sich vernehmlich und auch Karlmann wirkte im höchsten Maße bekümmert.

»Ich habe Wilfried schon davon erzählt«, sagte er.

»Kurz nachdem ihr ihn aus der hohlen Linde geborgen habt, habe ich ihn einmal besucht«, sagte der Müller und sah nun seinerseits so umwölkt aus wie der graue Himmel über den Wipfeln der alten Bäume. »Odilio ließ mich holen und bat um meinen Rat. Was ich sah, war erschreckend. So schlimm es erscheint, Bullrich zu dieser anstrengenden Ratsversammlung zu bemühen und auch deine arme Mutter, lieber Karlmann – es hilft hoffentlich, den Leichtfertigen und Unverbesserlichen klarzumachen, dass niemand auf die leichte Schulter nehmen sollte, was jüngst im Hügelland geschehen ist. Dazu bedarf es keiner weiteren Vorzeichen. Es reicht ein Blick in Bullrichs bleiches Gesicht, will ich meinen.« Er schwieg und zog heftig an seiner Pfeife. Die Glut blühte auf und ein bläulicher Schleier trieb über ihre Köpfe davon.

»Wir sollten allmählich weiter«, sagte der Bitterling. »Ich habe mir viel Zeit gelassen und ihr werdet bestimmt auch schon dringend erwartet. Vor allem du, Karlmann.«

Er stieg aber nicht wieder in den Sattel, sondern begann Friedo am Zügel zu führen.

Karlmann hatte bei Zwentibolds letzter Bemerkung eine Grimasse gezogen. »Was hat dich denn aufgehalten?«, wandte er sich nach einem kurzen Schweigen wieder an den Bitterling. »Bist du zwischen Quendelin und hier jemandem begegnet?«

»Ich wollte ein wenig mit mir ins Reine kommen, bevor es losgeht«, antwortete Zwentibold. »Das hätte ich mir sparen können, aber immerhin bin ich euch begegnet. Wie kommt es übrigens, dass ihr diesen Umweg genommen habt? Ihr hättet doch von der Mühle aus geradewegs durch die Felder zur Linde gehen können, statt an der Kaltwasser entlang in Richtung der Brücke.«

»Karlmann meinte, dass es nicht schaden könne, einen Blick bis zum Rabenstein hinunter zu werfen«, erklärte Wilfried und zwinkerte dem jungen Quendel zu. »Nachdem er sich zuvor fast den Hals ausgerenkt hat, um bis über die Bäume am jenseitigen Ufer Ausschau zu halten, ob die Quendeliner wirklich aufgebrochen sind. Ein schwieriges Unterfangen, denn das Wetter ist zwar schon äußerst herbstlich, aber an den Ästen steht noch das dichte Sommerlaub.«

Zwentibold lachte leise. Danach schwiegen sie wieder eine Weile. Nur ihre Schritte und Friedos Hufschlag waren zu hören und der Wind, der aufgekommen war und das Laub der Linden zauste.

Gute fünfhundert Schlegel bevor die Allee das Dorf Rabenstein erreichte, öffnete sich die linke Baumreihe und verließ ihr Ebenbild von gegenüber, um in einer großen Schlaufe einen weitläufigen Platz zu umrändern. An dessen oberem Ende stand ein einzelner Baum.

Das war die alte Gerichtslinde vom Rabenstein und dieser außerhalb des Finsters wohl gewaltigste Baum des Hügellandes musste, seinem Aussehen nach, mindestens so alt wie die Burgruine über dem Strom sein. Knorrig und grau wie ein verwitterter Felsen teilte sich sein scheunentorbreiter Stamm in vier dicke Hauptarme, als würde die Linde damit in jede der Himmelsrichtungen weisen, um ihre weitreichende Bedeutung anzuzeigen.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen dieser Anspruch durchaus berechtigt war, denn der Überlieferung nach hatten die Erbauer der Burg Rabenstein einst unter der Linde an einem steinernen Tisch zu Gericht gesessen. Noch immer hielt sich das Gerücht, dass dort auch die Richtstätte gelegen hatte, aber das war nicht bewiesen. Die Bewunderung für den altehrwürdigen Baumriesen überwog, was seinem Standort an Unheimlichem nachgesagt wurde, und ging so weit, dass die Quendel in den Anfängen des Dorfes Rabenstein gleich neben der Linde ihr Wirtshaus errichteten. Mehrere Jahrhunderte waren ins Hügelland gegangen, seit einer der ersten hier siedelnden Seitlinge, ein Urahn des heutigen Wirts, bei dieser Gelegenheit sogar entschieden hatte, den uralten Steintisch, der auf der Wiese vor der Linde noch immer Wind und Wetter trotzte, diesen stummen Zeugen aus grauester Vorzeit, in den Bau mit einzubeziehen und zum Mittelpunkt der Wirtsstube zu machen. Es zeugte zwar nicht von allzu großem Respekt vor den Sitten und Gebräuchen jenes großen Volkes, das um eben diesen Tisch versammelt über Recht und Unrecht und dabei sicher auch über Leben und Tod entschieden hatte. Aber aus der Sicht des Wirts war es ein guter Einfall.

Nun wurden bis zum Rand gefüllte Lorchelbecher über die steinerne Platte gereicht, deren Oberfläche sorgsam geschliffen worden war, und zusammen mit der mächtigen Linde galt der ungewöhnliche Schanktisch fortan als das zweite legendäre Wahrzeichen des berühmten Hauses. Seitdem war der ursprüngliche Bau immer wieder durch etliche Räume erweitert worden, um all die Gäste beherbergen zu können, die den Weg zur Rabensteiner Linde fanden, und es waren viele von nah und fern, mitunter sogar von jenseits der Landesgrenzen.

Die drei Quendel, die nun mit dem Pony Friedo die Allee hinaufkamen, sahen das bemooste Spitzdach des alten Wirtshauses zwischen den Bäumen zur Linken hervorblitzen. Darüber ragte die ausladende Krone der Linde und legte ihren gebieterischen Schatten über das Hauptgebäude und seine verwinkelten Anbauten. Schon war zu erkennen, dass auf dem Vorplatz einiges los war. Kreuz und quer standen dort mehrere der für das Hügelland typischen Wagen, vor welche üblicherweise zwei kräftige Ponys gespannt wurden. (Nur die Winterhelmlinge der Fischburg gefielen sich darin, zu allen besonderen Anlässen vierspännig vorzufahren. Allein daran wäre ihre Ankunft in Rabenstein schon aus der Entfernung zu erkennen gewesen. Aber keines ihrer imponierenden Gespanne war bisher zu sehen.)

Zwei Hausknechte der Linde waren gerade damit beschäftigt, aus einem mit Reisestaub bedeckten Wagen Gepäck zu entladen, woraus sich schließen ließ, dass sein Eigentümer aus einem der weiter entfernten Dörfer stammen musste und nicht damit rechnete, noch in der gleichen Nacht nach Hause zurückkehren zu können. Karlmann spähte angestrengt voraus, damit ihm nur nicht entging, ob besondere Persönlichkeiten unter den Quendeln vielleicht just in diesem Augenblick eintrafen. Er hatte, seit er vor gut einer Woche mit Mutter und Onkel unter dem Schutz des alten Pfiffers und Hortensias wachsamer Aufmerksamkeit in der Linde angekommen war, schon einiges darüber aufschnappen können, wer erwartet wurde. Aus jedem Winkel des Landes hatten sich diejenigen angekündigt, die in der umstrittenen Nacht etwas Bedrohliches bemerkt oder sogar am eigenen Leib erfahren hatten.

Innerhalb der Mauern des altehrwürdigen Gasthauses machte sich seit Tagen eine Atmosphäre fiebriger Erwartung breit, als stünde ein geheimnisvolles, niemals zuvor begangenes Fest ins Haus. Jedenfalls schienen die meisten der nach und nach eintreffenden Quendel, die durch die Geschehnisse keinen unmittelbaren Schaden genommen hatten, mit gespannter Vorfreude einem sicherlich aufregenden Austausch unerhörter Geschichten entgegenzusehen, der überdies ein Treffen mit entfernt wohnenden Freunden und Bekannten noch vor dem Bäumelburger Maskenfest versprach. Der alte Pfiffer hatte einen gänzlich nutzlosen Versuch unternommen, Lorchel Seitling, den Wirt der Rabensteiner Linde, zu überreden, Lorchelbecher und andere anregende Getränke erst nach der Versammlung auszuschenken. Genauso gut hätte er vorschlagen können, den Mond vom Himmel herabzuholen.

»Bräunlicher Stäubling und Trockenpilz!«, fuhr ihn der Wirt mit einer Empörung an, die bei seinem ansonsten eher ausgeglichenen Wesen überraschte. »Odilio Pfiffer, möchtest du ihnen vielleicht auch noch das Rauchen verbieten? Oder die Kaminfeuer ausgehen lassen, damit die kalte Stube von vornherein die Gemüter kühlt? Und dazu einen deiner Kräutertees kredenzen? Nein, meiner Treu, dies ist ein Wirtshaus, noch dazu eines mit jahrhundertelanger Tradition, und wohl noch immer das beste des Landes. Ich brächte seinen Ruf und bestimmt die nächste legendäre Linde zu Fall, so ich Wässriges servierte, noch dazu, wenn ehrwürdige Herrschaften und alte Familien von nah und fern aufeinandertreffen!«

Von da ab sparte sich der alte Pfiffer weitere Vorstöße. Kurz darauf hatte Karlmann mit angehört, wie er mit Hortensia gestritten hatte, die Odilios Absicht ungehörig fand, auf der Versammlung sowohl Bullrich als auch Beda, Karlmanns Mutter, zur Abschreckung als Opfer einer nicht zu unterschätzenden Gefahr vorzuführen, die dem Hügelland und seinen noch immer arglosen Bewohnern drohte. Zwar hatten sich beide dazu bereit erklärt, aber Hortensia blieb bei ihrer Meinung, dass weder der eine noch die andere in der Verfassung war, eine solche Anstrengung durchzuhalten.

Heimlich dachte Karlmann, dass sie damit nicht ganz unrecht hatte, vor allem, wenn er seinen so veränderten alten Onkel erlebte, der allem teilnahmslos zustimmte, das ihm vorgeschlagen wurde. Dass es bei der Versammlung hoch hergehen würde, schien so gut wie sicher; dazu war der Anlass zu ungewöhnlich und sollte der alte Pfiffer die Anwesenden genauso ausgiebig an seinem düsteren Wissen teilhaben lassen, wie ehemals seine Gefährten während ihrer nächtlichen Wanderschaft, versprach dies eine noch gar nicht einzuschätzende Wirkung auf die Zuhörerschaft.

Kaum dass er mit Wilfried und dem Bitterling auf dem Vorplatz eingetroffen war, wurden Karlmanns Grübeleien jäh unterbrochen, denn er entdeckte nun im Hintergrund, ein wenig verdeckt von den in nächster Nähe stehenden Wagen, einen klapprig aussehenden Einspänner, vor den ein Zugtier geschirrt war, das sich zu diesem eher bescheidenen Fuhrwerk im denkbar größten Gegensatz befand.

»Bei allen Quendeln, was ist denn das?«, rutschte es ihm bei diesem unerwarteten Anblick heraus.

Für einen Moment fragte er sich, ob ihm seine Einbildung einen Streich spielte und womöglich der altersschwache Wagen außergewöhnlich klein war. Dann hörte er Zwentibold neben sich staunend durch die Zähne pfeifen und sah sich in seiner Überraschung bestätigt. Wenn dieser Rappe ein Pony war, musste es sich um einen wahren Riesen seiner Art handeln.

»Stock und Riesenschirmling! Was für ein gewaltiges Tier«, wunderte sich auch der Müller. »Ich frage mich, wem dieser schwarze Nachtmahr gehört!?«

Zwentibold und Karlmann waren bei diesen Worten stehen geblieben. Friedo schnaubte und zerrte am Zügel. Mit einer gewissen Scheu schienen alle gleichzeitig in Erwägung zu ziehen, ob sie sich nun einem Geisterross gegenübersahen, das gleich den großen Wölfen vom Himmel herabgesprungen war. Das schien nicht ausgeschlossen, so wie es die Luft durch die roten Nüstern blies, sein mächtiges Haupt schüttelte und unruhig mit dem linken Huf auf der Erde scharrte – einem Huf so groß wie ein klobiges Holzscheit. Niemand stand in der Nähe, der dazu zu gehören schien, und einer der beiden Knechte, der eben wieder aus dem Inneren des Wirtshauses auf den Vorplatz zurückgekehrt war, um den entladenen Zweispänner in Richtung Stall zu führen, hielt deutlichen Abstand zu dem Gefährt.

Da näherten sich hinter ihnen lauter Hufschlag und das Rollen von Rädern. Nicht lange und ein von vier stattlichen grauen Ponys gezogener Wagen kam in rascher Fahrt die Lindenallee vom tiefer gelegenen Dorf Rabenstein herauf. Zwei Quendel in grünen Wämsern saßen auf dem Kutschbock und dahinter auf den Bänken sechs weitere Insassen in feinen Festtagskleidern. Schwere Schleppen aus kunstvoll besticktem Stoff hingen auf beiden Seiten über die Ränder des Wagens herab, den ein wohlbekanntes Wappen zierte; eine silberne Forelle, die über eine Wellenlinie sprang. Über dem Fisch prangte, ebenfalls in schimmerndem Silberglanz, der volle Mond.

»Die Herren der Fischburg«, murmelte Zwentibold. »Sie haben wie immer in Windeseile ein gutes Stück Weges hinter sich gebracht.«

Ganz unberührt ließ ihn der prächtige Auftritt trotz aller Sorgen noch immer nicht und für einen Augenblick sah er sich wieder in der großen Halle der Winterhelmlinge vor dem Kamin sitzen. Damals, vor einer gefühlten Ewigkeit am Anfang des Sommers, als ihn die Angelegenheiten des Festkomitees von Bäumelburg bis nach Stock im Knick geführt hatten. Auf dem Rückweg war ihm der Abstecher in den Süden zur Fischburg eine ehrenvolle Selbstverständlichkeit gewesen, denn der Stammbaum der Winterlinge, wie diese geachtete Quendelsippe der Einfachheit halber meist genannt wurde, wurzelte womöglich noch tiefer in der Vergangenheit, als es sich für die weitverzweigte Ahnenreihe derer von Krapp nachweisen ließ. So hatte es Zwentibold geschmeichelt, dass ihn Levin Winterhelmling, der derzeitige Burgherr, höchstpersönlich nicht nur zum Abendessen mit der Familie, sondern auch zum Übernachten eingeladen hatte. Doch seit den jüngsten Schrecknissen verspürte der Bitterling gegenüber früheren Bedeutsamkeiten seines Lebens eine beunruhigende Gleichgültigkeit und er fühlte sich schuldig, dass ihm die eigene Ordnung abhandenzukommen drohte.

»Die Burgherren und ihre eine Dame«, sagte der Müller neben ihm und vor allem Karlmann starrte die schmale Gestalt an, die, in einen blassgrünen Umhang gehüllt, auf der rückwärtigen Bank Platz genommen hatte.

Langes Haar, so silbern wie Fisch und Mond auf dem Wappen, umflatterte sie wie eine weitere kleine Standarte der Familie. Ihre Erscheinung kam Karlmann beinahe so unwirklich vor wie der große Rappe und wäre er ihr abseits der Dörfer an einem Flussufer oder stillen Waldsee begegnet, er hätte wenig Zweifel gehabt, dass Wasser ihr eigentliches Element sei. Plötzlich musste er an die steinerne Wäscherin, den geheimnisvollen Felsbrocken vor Bullrichs Haus, denken.

»Jedenfalls sieht sie anders aus als alle, die ich kenne«, murmelte er in der Hoffnung, unbeteiligt zu klingen. »Ist sie denn überhaupt jung mit diesen silbrigen Haaren?«

»Der Anzahl der Jahre nach nur wenig älter als du. Das ist Griseldis, die einzige Schwester von vier älteren Brüdern und seit zwei Maskenfesten die Winterkönigin der Helmlinge«, gab der Bitterling so geheimnisvoll von sich, dass es dem alten Pfiffer alle Ehre gemacht hätte. »Hast du sie in Bäumelburg denn noch nicht gesehen, mit der Krone aus beraureiften Zweigen und einer Maske wie aus Nebelschleiern vor dem Gesicht? Seit zwei Jahren führt sie den Zug ihrer alten Sippe an und, Stock und Schwamm, ich muss schon sagen, es ist eine eindringliche Vorstellung, die die Winterlinge abgeben. Es heißt, dass sie in direkter Linie von den Unterirdischen abstammen und in den tiefen Gewölben der Fischburg soll es Eingänge zu Tunneln geben, die einst vom Huldavolk benutzt wurden.«

»Nein, ich sehe sie zum ersten Mal«, gab Karlmann zur Antwort. »Nach Vaters Tod hat Mutter doch entschieden, das Maskenfest zwei Jahre lang nicht zu besuchen, und ich kann mir kaum vorstellen, dass wir ausgerechnet unter den jetzigen Umständen dieses Mal dabei sein werden.« Er seufzte voller Bedauern und starrte dem Vierspänner hinterher, der nun unter lautem Geschnaube der energisch gezügelten Ponys genau vor der Eingangstür der Linde zu stehen kam. Mehrere eilfertige Hausknechte und auch einige neugierige Gäste entströmten ihr, denn diese Ankunft war auch im Inneren des Wirtshauses nicht unbemerkt geblieben.

»Oh, seht nur, da ist Hortensia«, stellte Karlmann fest und versuchte halbherzig, sich hinter Zwentibolds Pony zu ducken.

Es waren offensichtlich nicht die Neuankömmlinge, nach denen sie Ausschau gehalten hatte. Denn sie grüßte nur flüchtig und ein wenig geistesabwesend, als sie auf der Schwelle um ein Haar mit einem der Helmlingsbrüder zusammenstieß, der sich gerade anschickte, seiner zarten Schwester vom Wagen zu helfen.

›Wir haben uns wohl alle verändert, die wir gemeinsam auf dem Weg zum Finster waren‹, dachte der Bitterling, als ihm das auffiel. ›Wenn selbst einer Samtfuß-Krempling so viel im Kopf herumspukt, dass sie bei der Begrüßung einer der vornehmsten Familien des Landes nicht recht bei der Sache zu sein scheint.‹

Dem energischen Schritt nach, mit dem Hortensia auf sie zusteuerte, schien sie allerdings noch ganz die altbekannte entschlossene und ein wenig hochmütige Dame. Doch was geschehen war, hatte in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen, als sei sie nun stets auf der Hut, ob nicht weitere Gefahren lauerten, um in ihr altvertrautes Leben einzubrechen. Auch der nahe Umgang mit dem alten Pfiffer trug dazu bei, der in den vergangenen Wochen nur wenige Gelegenheiten ausgelassen hatte, sich in düsteren Vorahnungen zu ergehen und Vorsicht anzumahnen. Wenn Hortensia mitunter versuchte, dies als Übertreibungen eines in die Jahre gekommenen Eigenbrötlers abzutun, genügte ein einziger Blick auf Bullrich oder Beda und es gelang ihr nicht mehr, Odilios Warnungen zurückzudrängen. Immer wieder kehrten die Erlebnisse der Schreckensnacht mit unbarmherziger Wucht zurück. Der Gang zum Finster, der unheimliche Nebel mit dem fremden Land dahinter, die Wölfe, ihre unterirdische Flucht, die düstere Grabkammer und schließlich Bullrichs befremdliche Wiederkehr, mehr tot als lebendig, wogen schwer auf ihrem Gemüt. Kaum minder hatte sie getroffen, was sie gar nicht selbst erlebt, sondern erst durch ihre beiden daheim zurückgelassenen Freundinnen erfahren hatte. Dass nämlich die fremde Bedrohung in Gestalt eines Grabunholds, oder was auch immer durch den Nebel so unerbittlich nach Beda gegriffen hatte, dass dieses Scheusal ausgerechnet auf Hortensias eigenem Grund und Boden Einzug gehalten hatte. Dessen heilige Unversehrtheit damit fürs Erste zerstört war, auch wenn beinahe alles unverändert schien; sowohl im Inneren wie auch im Garten.

Aber eben nur beinahe, denn der eigentliche Schauplatz des Schreckens und zuvor denkbar unschuldigste Ort, ihre geliebte Rosenlaube, war genau wie die arme Beda nicht unbeschadet davongekommen. Die beiden prächtigen Kletterrosen, der ganze Stolz der Gärtnerin, hingen in traurigen graubraunen Ranken über den immer deutlicher hervortretenden Verstrebungen, als wären sie inmitten der prächtigsten Fülle ihrer späten Blüte von einem grimmigen Frost versehrt worden. Etwas Ähnliches musste den noch von Hortensias Großmutter gesetzten Stöcken wohl widerfahren sein und so erhob sich der einstige Lieblingsplatz auf dem grünen Rasen nun wie ein unheilvolles Mahnmal. Die Enkelin mochte kaum hinsehen, geschweige denn das Innere der Laube betreten. Die abgestorbenen Rosen als Zeichen persönlich drohenden Unheils zu werten, entsprach zwar einer typischen Wesensart der Quendel, auf welche die Sippe der Samtfuß-Kremplinge stets mit einer gewissen Ungeduld herabgesehen hatte. Und trotzdem musste sich Hortensia, goldgelber Zitterling sei es geklagt, eingestehen, dass eine nur mühsam zu verbergende Verzagtheit über sie gekommen war, wogegen alles, was sie an wehrhaften Eigenschaften aufzubieten hatte, einfach nicht greifen wollte. Von innerer Unruhe geplagt, ließ sie ihre Umgebung daher noch strenger spüren, wenn ihr etwas missfiel.

»Bei allen Quendeln, ich muss schon sagen, das ist doch mehr als allerhand, sich bei Tau und Tag wortlos davonzuschleichen, junger Schattenbart«, schoss sie auf Karlmann zu.

Zwentibolds Pony wich erschreckt zurück.

»Nun, nun«, sagte der Bitterling beschwichtigend und schien damit nicht nur Friedo zu meinen.

»Stock und Schwamm, mit dir ist es kaum besser, Zwentibold Bitterling, lass dir das gleich gesagt sein! Wir hatten dich bereits gestern Abend zurückerwartet. Der eine kommt nicht an, der andere macht sich, mir nichts, dir nichts, einfach davon! Und beides nur wenige Stunden vor der Versammlung, noch dazu mit der eigenen kranken Verwandtschaft im Haus. Es bleibt eben alles in ein und derselben Familie und danach an anderen hängen!«

»Mir war aufgetragen worden, in der Mühle Bescheid zu geben, dass es heute Abend losgehen wird.« Karlmann vermied es wohlweislich, Odilios Namen zu nennen.

»Wenn du nicht seit Neuestem zur Dienstschar der Linde gehörst, kann es nur einer sein, der dich auf eigene Faust losgeschickt hat«, schimpfte Hortensia. »Du kannst von Glück sagen, dass deine arme Mutter bis kurz vor Mittag geschlafen hat und dann Besuch von den Stäublingsschwestern aus Schierlingsstätten bekam, was, auch ohne krank zu sein, schon anstrengend genug ist. Natürlich hat sie zwischendurch nach dir gefragt. Ich habe ihr gesagt, dass alle Naslang neue Gäste in ihren Wagen einträfen und es dich vor Aufregung kaum im Haus halten würde. Stock und Trolltäubling, ein Quäntchen Wahrheit war dabei, aber weiter werde ich die gute Beda nicht hinters Licht führen, wenn es sich vermeiden lässt. Und das wird es, mein Bester, denn ab jetzt wirst du nichts mehr unternehmen, das nicht vorher mit deiner Mutter oder mir abgesprochen wurde!«

»Sie war in Sorge?«, fragte Karlmann niedergeschlagen. Seine gute Laune, mit der er sich kurz nach Sonnenaufgang in die Wiesen unterhalb der Linde getrollt hatte, war augenblicklich verflogen. Es schien ihm nun selbst grob und unbedacht, voller Vorfreude auf die aufregenden Enthüllungen der Versammlung unter dem Morgengesang der Vögel durch das taunasse Gras gestromert zu sein. Der Zustand seiner einst unverwüstlichen Mutter lastete auf ihm wie ein düsterer Schatten und nichts wünschte er sich mehr, als dass sie endlich wieder vollkommen gesund würde. Aber manchmal, während er so sehnlich darauf wartete und es sich trotzdem nicht einstellen wollte, musste er diesen Schatten einfach abschütteln wie ein junger Hund das Wasser aus dem Fell nach einem Bad in einem schlammigen Bach.

Hortensia war die betroffene Miene des jungen Quendels nicht entgangen. »Nun aber rasch ins Haus mit dir und hinauf zu deiner Mutter«, sagte sie mit deutlich sanfterer Stimme. »Und komme nur nicht auf die Idee, ihr in schillernden Farben von deinem Morgenausflug zu berichten. Sie hat in diesen Tagen wenig Sinn für einsame Unternehmungen.«

Karlmann nickte hastig in die Runde, um danach die wenigen Stufen zur weit offen stehenden Wirtshaustür hinaufzuspringen.

Von einem Tisch am Eingang leuchtete eine große Laterne aus buntem Glas einladend in das bleiche Zwielicht des Tages hinaus. Die Wirtsleute Lorchel und Lamella Seitling waren noch damit beschäftigt, die Winterlinge freundlich willkommen zu heißen, während auf dem Hof das geschäftige Treiben zunahm, da nun ein Wagen nach dem anderen einzutreffen begann.

»Seht nur, die Ritterlinge aus Orripark«, rief Hortensia dem Bitterling und Wilfried zu und versuchte, den Lärm der heranrollenden Räder und den Hufschlag vieler Ponys zu übertönen. »Sie müssen von den Winterlingen überholt worden sein, kein Wunder bei deren schnellen Ponys! Gleich dahinter kommt nun auch halb Grünlohe den Hügel hinauf. Zeitig wie immer, wenn es um ein geselliges Treffen geht«, fügte sie spöttisch hinzu. Dann klang sie plötzlich müde. »Wilfried, Zwentibold, lasst uns nun auch hineingehen. Ich werde euch zu eurem Zimmer im hinteren Teil der Linde führen, weitab vom Trubel. Dort haben wir auch Bullrich und Beda untergebracht. Der alte Pfiffer wartet schon. Hier brummt es nun bald wie in einem Bienenschwarm und der Reisestaub mischt sich ungut mit diesem fahlen Licht und verwandelt es in Nebelschwaden. Bei allen finsteren Wäldern, ich kann Nebel derzeit nur schlecht ertragen. Seit gut zwei Wochen haben wir kein Streifchen blauen Himmels zu sehen bekommen. Alles hat sich eingetrübt seit jener Nacht.«

Sie seufzte und rief dann einen der zunächst stehenden Knechte heran, der mit zwei anderen darauf wartete, die entladenen Wagen vom Vorplatz zu den Ställen geleiten zu können. »Enno, sei so gut und kümmere dich auch um Herrn Bitterlings Pony.«

Zwentibold übergab die Zügel und klopfte Friedo freundschaftlich den Hals, bevor ihn der junge Pferdebursche mit sich fortnahm.

Mit dem geschäftigen Treiben im Rücken betraten Hortensia, Wilfried und Zwentibold die geräumige Eingangshalle der Rabensteiner Linde. Auch hier wimmelte es von sich einander begrüßenden Gästen, inmitten derer die Wirtsleute ihre Bediensteten hin und her scheuchten, um alle gebührend in Empfang nehmen zu können. Diejenigen, die sich aus den entfernteren Landesteilen auf den Weg nach Rabenstein gemacht hatten, zogen es vor, erst einmal die für sie vorbereiteten Zimmer zu beziehen, um sich ein wenig zu erholen. Andere, die aus der näheren Umgebung gekommen und schon auf der Schwelle auf gute Bekannte getroffen waren, nahmen dies zum Anlass, gleich ein gemeinsames Gläschen oder auch zwei in einem der kleineren Gasträume einzunehmen.

Lamella, die Wirtin, hatte überall auf den Tischen, Simsen und Fensterbänken hübsche Vasen und Krüge mit herbstlichen Sträußen bestückt und über den Kaminen sowie dem legendären Schanktisch in der großen Wirtsstube festliche Girlanden aus Efeu und Geißblatt aufhängen lassen. Wenig deutete auf ein Treffen hin, das nicht aus reinem Vergnügen angesetzt worden war.

Zweites Kapitel

Das Leid der Kremplinge

In der Nacht mit meinem Kummer

Lieg ich schlaflos wach;

Träumend wie im halben Schlummer,

Wandle ich bei Tag.

HEINRICH HEINEBuch der Lieder

Unter einem reich geschnitzten Türsturz war Karlmann in einen Gang eingebogen, der von der Eingangshalle um mehrere Ecken und schließlich treppauf in einen ruhigen Teil des Gasthauses führte. Es handelte sich um einen der ältesten Anbauten, der noch aus der Zeit stammte, als der in der Abfolge der Seitlinge vierte Lindenwirt das Haupthaus zum ersten Mal erweitert hatte. Hier lagen vier geräumige Zimmer, die man bis heute für Gäste bereithielt, die besonderen Wert auf Abgeschiedenheit legten. Zum reichen Legendenschatz der Rabensteiner Linde gehörte, dass jene »die grünen Westzimmer« genannten Räumlichkeiten ursprünglich für Angehörige des großen Volkes eingerichtet worden waren, als es noch keine Seltenheit war, dass Menschen das Hügelland nicht nur durchquerten, sondern sich sogar für eine Weile dort aufhielten. Da aus dieser Zeit keine Gästebücher erhalten waren, ließ sich nicht mehr eindeutig feststellen, wer erstmals hier Quartier genommen hatte. In allen späteren Verzeichnissen fanden sich nur noch Namen, bei deren Trägern es sich ohne Zweifel um Quendel handelte, doch das Gerücht hielt sich so hartnäckig wie die dicken Moospolster auf dem Wirtshausdach, dass die ersten Gäste direkte Nachfahren jenes Volkes gewesen waren, das sich vor Zeitaltern und lange vor der Erbauung des Hauses unter dem damals noch jungen Lindenbaum versammelt hatte. Den Zusatz grün hatten die alten Zimmer wegen ihrer eichengrünen Täfelung erhalten, mit der bis zur Schulterhöhe eines Menschen (und damit gut vier Handbreit über dem Scheitel eines Quendels) auch der Gang verkleidet war. Entsprechend hoch waren die Decken und außer in diesem ersten Anbau und der großen Schankstube gab es in der Linde keine anderen Räume, die eine ähnliche Höhe aufzuweisen hatten.

Es hieß, dass jene Menschen, die in den Tagen des vierten Wirts in der Linde einzukehren pflegten, über die Kaltwasser bei Stock im Knick ins Hügelland einreisten, um dann später, entlang des großen Stroms, die Grenzen der von Quendeln bewohnten Gegenden hinter sich zu lassen und weiter in den Westen zu ziehen. Weder wer sie waren noch woher sie stammten, hatte sich überliefert; auch nicht, wohin sie schließlich reisten. Die jetzigen Bewohner des Hügellandes hegten zwar ein gewisses Interesse an ihrer eigenen Vergangenheit, aber nicht an der anderer Völker und was es einst an Verbindungen gegeben haben mochte, war vergessen. Angeblich hatten die durchreisenden Menschen mit Dingen gehandelt, wie sie unter ihresgleichen begehrt und gebräuchlich waren, darunter Brünnen, Schwerter und Speere, die ein Quendel kaum tragen konnte. Aber auch – und damit wussten die Bewohner des Hügellandes sehr bald eine ganze Menge anzufangen – kostbar gewirkte Stoffe und Lederwaren, bis dahin unbekannte Pflanzen und heilende Kräuter und, nicht zuletzt und vor allen Dingen, Tabak. Nicht lange und dessen Anbau und Gebrauch wurde mit größter Leidenschaft gepflegt und kaum ein Hügelländer, der nicht im Brustton der Überzeugung behauptet hätte, dass edles Rauchwerk eine ureigene Erfindung der Quendel sei.

Nur in Stock an der äußersten östlichen Landesgrenze konnte es auch heute noch sein, dass hin und wieder ein Mensch in einem nahe der Brücke gelegenen Gasthaus auftauchte. Doch schon nach kurzer Rast würde er sich aufmachen und auf eine der alten Fahrstraßen zurückkehren, die am jenseitigen Ufer der Kaltwasser nach Norden, Süden und Osten in eine Ferne führten, welche das kleine Land der Quendel sich selbst überließ.

An nichts von alledem aus den Tiefen der Zeitalter dachte Karlmann auf seinem Weg zu den grünen Westzimmern, obwohl er, dank Odilio, mittlerweile mehr darüber zu sagen gewusst hätte als die meisten anderen in Rabenstein und Umgebung. Denn der alte Pfiffer pflegte seit einer Weile, wenn es sich ergab, Bullrichs aufgeweckten Neffen beiseitezunehmen, um ihm Geschichten zu erzählen, die bei Beda und Hortensia sicherlich mehr als ein Stirnrunzeln hervorgerufen hätten. Der junge Quendel fühlte sich geschmeichelt. Mit einem Anflug von familiärem Eigensinn sah er sich seinem Onkel verpflichtet, der es stets gewagt hatte, »über den Hutrand hinauszusehen«, eine Redewendung, mit der man im Hügelland einen vertretbaren Wissensdurst umschrieb. Doch alles in Maßen, wohlgemerkt, und ganz sicher war damit nicht jene gefährliche Neugier gemeint, die Bullrich umtrieb und zuletzt ins Unglück gestürzt hatte.

Karlmann erreichte die Treppe, die aus dem Gang in den Flur hinaufführte, an dem die Zimmer lagen. Er dachte an das große Pferd, das, wie er unterwegs aus einem Fenster hatte sehen können, auf dem Vorplatz noch immer ungeduldig am gleichen Platz ausharrte, von seinem unbekannten Herrn offenbar vergessen und von anderen gemieden, die sich darum hätten kümmern sollen. Von der Schwärze des Rappen war es gedanklich nur ein Sprung in weitaus lichtere Gefilde, in denen das Silberhaar der hübschen Griseldis mit den Emblemen ihres Hauses um die Wette strahlte. Karlmann fragte sich, wo in der Linde sie mit ihren Brüdern wohl untergebracht war und ob er darauf hoffen konnte, sie am Abend bei der Versammlung zu sehen.

Der Lindenwirt Lorchel Seitling war Odilios Zimmerwunsch mit einiger Zuvorkommenheit begegnet. Denn was die um den alten Pfiffer versammelte Schar auf ihrer nächtlichen Suche am Rande des Finsters und darüber hinaus erlebt und erduldet hatte, machte noch am darauffolgenden Morgen in Grünlohe die Runde und hatte einen Tag später die nähere und fernere Umgebung erreicht. Mittlerweile wusste man im ganzen Hügelland darüber Bescheid, dass sich, bei allen Pilzringen der friedlichen Wälder, der wunderliche alte Schattenbart tatsächlich unterstanden hatte, in den Finster zu wandern. Nur um darin verloren zu gehen, selbstverständlich! Damit musste er, so waren sich viele schon vor der Versammlung einig, heraufbeschworen haben, was sich danach an Unheimlichem nicht nur in unmittelbarer Nähe des Waldes, sondern vielerorts im Hügelland ereignet hatte. Nach dem, was bisher darüber bekannt war, hatte es niemanden schlimmer getroffen als jene, die zu viel gewagt hatten. Bullrich, aber auch seine Retter, die besser auf den nächsten Morgen gewartet hätten, um mit Dorfältesten, Familienoberhäuptern und anderen ratskundigen Quendeln wie etwa Wilfried von den Steinen in Ruhe zu besprechen, was zu tun sei.

Was hingegen passierte, wenn man sich leichtfertig auf solch zwielichtige Gestalten wie den Wirrling Fendel Eichhase einließ, zeigte sich an dem entsetzlichen Unglück, das über die Wettersterner Kremplingsfamilie hereingebrochen war. Ihnen war in der Wolfsnacht das Allerschrecklichste widerfahren; der Verlust eines geliebten Familienmitglieds, und diese grabesschwere Heimsuchung wog noch doppelt, weil es sich um ein Kind handelte, das sie verloren hatten.