Schicksalhafte Begegnung im Krankenhaus

Thomas West

Published by BEKKERpublishing, 2019.

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Schicksalhafte Begegnung im Krankenhaus

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About the Publisher

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Schicksalhafte Begegnung im Krankenhaus

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Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 149 Taschenbuchseiten.

Marius Ballhaus wird nach der Untersuchung im Marien-Krankenhaus mitgeteilt, dass er Leukämie hat. Das bringt ihn aus dem Gleichgewicht, und er plant seinen Tod ...

Carsten trennt sich von Lara, denn diese ständigen Streitereien, ihre knallharte Kritik, das Gefühl, finanziell von ihr abhängig zu sein – er hält es nicht mehr aus ...

Die Witwe Martha Steiner wird von einem Taschendieb überfallen. Er stößt sie grob, so dass sie unglücklich mit dem Kopf auf die Stoßstange eines Autos fällt ...

Das Schicksal will es, dass alle drei im Marien-Krankenhaus zusammentreffen, in dem Dr. Alexandra Heinze arbeitet.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Ruhig war es auf dem Stationsgang. Keine hastenden Schwestern, keine wehenden Arztmäntel, kein Scheppern von Essenwagen, kaum Stimmen oder Schritte, nur ein Mann im Bademantel, der seine Besucherin an den Aufzug vor der Stationstür der Inneren begleitete. Die typische Atmosphäre der Spätnachmittage auf dieser Station. Obwohl es noch taghell war vor den großen Fenstern des Aufenthaltsraumes, spürte man schon die Ruhe des frühen Herbstabends.

Gerne hätte Marius Ballhaus sich anstecken lassen von dieser Ruhe. Gerne hätte er diese friedliche Stimmung in sich aufgesogen, sich zurückfallen lassen in den tiefen Sessel, um über einen der Witze zu lachen, an denen sein Auge beim hastigen Durchblättern der Illustrierten hängengeblieben war. Oder um sich über den Comic auf der gleichen Seite zu ärgern - er sah sofort, dass er von einem Stümper stammte, oberflächlich und ohne wirklichen Witz.

Doch er überflog alles nur, unruhig huschten seine Augen über die Worte und Bilder, immer wieder verharrte er lauschend, um sofort halb enttäuscht, halb erleichtert weiterzublättern. Sein Knie wippte auf und ab, als hätte er die Kontrolle darüber verloren.

Schließlich stand er ächzend auf und warf die Illustrierte auf den niedrigen Tisch des Aufenthaltsraumes. Die Hände in den Taschen seines schwarzen Seidenbademantels schlurfte er zum Fenster.

Marius Ballhaus war ein Hüne, über einsneunzig. Nicht dick, aber korpulent und breit in den Schultern. Das Haar über der hohen Stirn war dicht und schwarz, und obwohl Ballhaus es kurz geschnitten trug, war seine Lockenpracht nicht zu übersehen. Die große, aber schmale Nase, der leicht zusammengepresste Mund und die dunkelbraunen Augen gaben seiner Erscheinung trotz ihrer Größe etwas Südländisches. Wäre nicht die große Hornbrille gewesen, hätte man ihn leicht für einen Zirkusdirektor oder einen ungarischen Husaren halten können.

Wieder lauschte er in den Gang, wieder ließ er seufzend die Schultern sinken, als eine Besucherin, statt der erwarteten Oberärztin sich näherte.

Er begann im Stationsgang auf und ab zu schreiten. Sein Atem ging ein wenig schneller, als sonst, ja, er wusste es. Er wusste, auch dass er Angst hatte. Mit der Hand fuhr er ins Revers seines Bademantels und betastete den großen Pflasterverband über dem Brustbein. Er schüttelte sich bei der Erinnerung an die schmerzhafte Punktion. Niemals hätte er diese drei Tage auf sich genommen, wenn er nicht ein solch grenzenloses Vertrauen in seinen langjährigen Heilpraktiker gehabt hätte. Noch nie zuvor hatte er eine Klinik betreten. Einmal abgesehen von der Geburt seiner beiden Töchter. Und morgen würde er das Marien-Krankenhaus wieder verlassen, um auch die nächsten vierundvierzig Jahre einen Bogen um alle Krankenhäuser zu machen.

Ja, morgen. Morgen würde er den pubertierenden Rotzlümmeln aus der Mittelstufe wieder die Gesetze des Hebels eintrichtern. Morgen würde er in der Oberstufe wieder expressionistische Kunsttheorien diskutieren und die Kupferstichtechnik vorführen. Und zum ersten Mal seit langem freute er sich auf die Schule. Morgen - oh Gott! - morgen würde alles wieder so sein wie immer, und das Ergebnis der unseligen Blutabnahme bei seinem Heilpraktiker würde weiter nichts als der Fehler eines schlampigen Labors sein, ja, morgen ...

Wieder Schritte. Ballhaus fuhr herum, die Oberärztin.

"Tut mir leid, Herr Ballhaus, ich bin aufgehalten worden."

"Macht nichts, Frau Dr. Keller, ich habe ja Zeit."

Dr. Lore Keller ging ihm voraus in das Arztzimmer, zog ihm einen Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und bat ihn, Platz zu nehmen. An den ernsten Gesichtszügen der hochgewachsenen Frau glaubte er ablesen zu können, was sie ihm gleich sagen würde. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an.

"Die Untersuchungsergebnisse sind leider nicht gut, Herr Ballhaus." Die Ärztin blätterte in seiner Akte. "Ihr Arzt hätte Sie schon viel früher zu uns schicken müssen."

"Schenken Sie mir reinen Wein ein, Frau Dr. Keller", heiser klang seine Stimme, "als Naturwissenschaftler bin ich gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind."

Ihr Blick wurde noch ernster. Ballhaus erschrak.

"Sie haben eine Leukämie, Herr Ballhaus. Glücklicherweise keine der ganz aggressiven Formen. Sie brauchen ..."

"Wie lange noch?", unterbrach er die Ärztin. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Das Bücherregal, der Schreibtisch, die Gardinen vor dem Fenster, das Gesicht der Oberärztin - alles verschwamm.

"Tja, Herr Ballhaus, wenn man das so genau sagen könnte ...", sie sprach leise. Es entging ihm nicht, wie vorsichtig sie ihre Worte wählte. "Diese Krankheit kann so unterschiedlich verlaufen. Aber mit einer konsequenten Chemotherapie können Sie sicher noch ein paar Jahre leben."

Er schwieg. Unwirklich kam ihm die Situation vor, als ob er träumte. Er sah an der Ärztin vorbei in den flimmernden Lichtfleck des Fensters. Unendlich allein fühlte er sich.

"Wir sollten so schnell wie möglich mit der Chemotherapie beginnen, Herr Ballhaus." Sie klärte ihn über Verlauf und Nebenwirkungen der Behandlung auf. Er stellte knappe Fragen mit tonloser Stimme.

Als die Tür des Arztzimmers sich hinter ihm schloss, war es ihm, als würde ein schweres Fallgitter ihn ein für alle Mal von seinem bisherigen Leben trennen. Wie er in sein Zimmer gekommen war, wusste er nicht mehr. Irgendwann stand er vor dem Fenster und schaute auf die herbstlichen Bäume des Krankenhausgartens. Überall schwebte gelbes Laub in das Gras.

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Dieses verdammte Mischventil! Jedes Mal dauerte es zehn Minuten, bis eine einigermaßen erträgliche Wassertemperatur eingestellt war.

"Verrückt bist du, vollkommen verrückt! In unserer Situation ein derart teures Programm zu kaufen." Lara ging aufgeregt auf dem Flur vor der offenen Badezimmertür auf und ab.

"Ich brauchte das Programm, wie oft soll ich dir das noch sagen!" Endlich war die Wassertemperatur so, dass er sich nicht mehr die Finger verbrühte. Er trat unter die Dusche. Ein warmer Schauer überzog seinen Körper.

"Ich brauchte das Programm, ich brauchte das Programm!", äffte sie ihn nach. "Du brauchst ein größeres Motorrad, du brauchst eine neue Ledermontur, du brauchst einen Anzug fürs Spielkasino, du brauchst einen Anwalt für dein Bußgeldverfahren, du brauchst ...!" Ihre Stimme wurde immer so scheußlich schrill, wenn sie schrie. Sie klang ganz nah. Unter der Tür stand sie, direkt vor dem Duschvorhang. Er drückte auf die Shampoo-Flasche. Ächzend ergoss sich ein Schwall bläulich schimmernder Flüssigkeit über seine Handfläche und triefte auf seine Füße.

"Scheiße!", zischte er.

Der Duschvorhang wurde aufgerissen. Laras wütendes Gesicht.

"Soll ich dir sagen, was du brauchst? Zwanzigtausend Mark brauchst du, um deine Schulden zu bezahlen!"

"Lass mich in Ruh'!" Er zog den Duschvorhang wieder zu und begann sich den Kopf und sein langes Haar einzuschäumen. "Lass mich in Ruh', verdammt noch mal!"

Wieder ihre lauten Schritte in der Diele. Sie schimpfte weiter. Er hielt den Kopf unter die Dusche und verstand kein Wort. Später, als er sich abtrocknete, stellte sie sich mit verschränkten Armen neben ihn.

"Carsten, Mensch! Wenn es wenigstens für deine Diplomarbeit gewesen wäre. Aber so ein teures Graphikprogramm! Nur für deine Comics!"

"Ich brauch' das." Er frottierte sich die Haare.

"Ich brauch' das", sie breitete wie flehend die Arme aus und sah an die Badezimmerdecke. "Ich kann es nicht mehr hören!" Jedes Wort betonte sie einzeln.

"Sitz' doch du mal zehn Stunden am Tag über Physik und Elektrotechnik!" Jetzt brüllte er. "Da wirst du krank im Kopf, wenn du nicht noch irgendwas Verrücktes machst."

"Natürlich! Carsten Witt, der Superstudent! Zehn Stunden am Tag büffelt er!" Sie raufte sich ihren roten Wuschelkopf und lachte laut.

Er schaltete den Fön ein.

"Ich will dir ja dein Hobby nicht nehmen ..." Sie schrie noch lauter, um den Fön zu übertönen. "Von mir aus kannst du Comics zeichnen, bis dir schlecht wird. Aber mit zwanzigtausend Schulden kaufe ich mir nicht ..."

"Ich tu' das, weil ich eventuell Geld damit machen kann", brüllte er.

"Eventuell Geld machen ...!"

Genau diese höhnische Art zu lachen war es, die ihn jedes Mal zur Raserei brachte.

"Geld machen, wie auf der Spielbank, was?!"

"Ja, zum Teufel!" Er riss den Stecker aus der Steckdose und warf den Fön auf den Wäschekorb. "Ich hab' auch schon gewonnen im Casino." Die Haarbürste war mal wieder nicht an ihrem Platz im Spiegelschrank.

"In einem Jahr 2300 Mark gewonnen. In einem Jahr 8900 Mark verloren!" Ihre grünen Augen funkelten spöttisch. "Als angehender Diplom-Physiker solltest du vielleicht deine Mathekenntnisse ein bisschen auffrischen!"

Er kam kaum durch seine Haare. Normalerweise hätte Lara ihm jetzt die Bürste aus der Hand genommen und ihm die langen Haare gebürstet. Im Spiegel sah er sein schmales Gesicht, trotzig, blass und bärtig.

"Ich wäre schon längst mit der Diplomarbeit fertig, wenn du mir geholfen hättest."

"Selbstverständlich! Ich hänge meinen Job an den Nagel und tippe dem Herrn seine Arbeit, und wir fressen unsere Kakteen."

"Ich finde es zum Kotzen, jede zweite Nacht allein zu sein!" Er spürte selber die Bitterkeit in seiner Stimme und erschrak. Doch als hätte er ein sorgsam verschlossenes Leck in seinem Hirn aufgerissen, schoss es jetzt erst recht aus ihm heraus. "Und fast jedes Wochenende bist du auf Tour. Bis nach Köln und Aachen musst du, als hätten wir in der Umgebung nicht genug Discos!"

"Ich hab' ne Riesen-Konkurrenz. Was glaubst du, wie viele männliche DJs sich auf dem Markt tummeln! Wenn ich eines Tages beim Rundfunk bin, wirst du noch froh sein, dass ich mich so krummgelegt hab'."

Er schraubte den Deostift zu und griff nach dem Haargummi an dem Haken unter dem Spiegelschränkchen.

"Ich hätte dich so oft gebraucht." Er sprach leise, und plötzlich wurden ihre Augen größer. Ein ängstlicher Ausdruck flackerte in ihnen auf. "Wenn du dabei gewesen wärst, hätte ich den Unfall nicht gebaut." Ohne sie anzusehen, ging er an ihr vorbei in sein Zimmer.

Lara protestierte heftig gegen diese Schuldzuweisung. Aber er hörte nicht mehr zu. Später, beim Frühstück, schwiegen sie. Nur das Zischen der Kaffeemaschine und das Klappern ihrer Tassen und Messer war zu hören. Er beobachtete sie. Sie war immer noch wütend. Sie schob den Teller mit dem angebissenen Brot von sich und schaltete das Radio ein. Laute Musik. Sie drehte sich eine Zigarette. Während er aß, rauchte sie und schlürfte ihren Kaffee.

Irgendwann stand er auf und schaltete das Radiogerät aus. Wütend funkelte sie ihn an.

"Lara, ich zieh' morgen aus ..."

Sie wurde blass.

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Noch einmal zog sie die kleine Harke vorsichtig durch das Grün. Das gelbe Kastanienlaub bedeckte das Beet fast vollständig. Sie dachte an den Frühsommer, als hier noch das helle Blau der Vergissmeinnicht geleuchtet hatte. Jetzt blühten nur noch die Rosen an dem dichten, kurzen Strauch direkt vor dem Stein. Mit der Hand zupfte sie das Herbstlaub auch aus dem noch grünen Strauch.

Sie war damals gegen diesen Platz gewesen, aber er wollte partout unter der alten Kastanie liegen.

"Du wirst sowieso vor mir gehen, und mir macht es nichts aus, im Herbst das Laub zu rechen." Sie wusste noch genau jedes seiner Worte. Sie selber hatte nie daran gezweifelt, dass sie ihn überleben würde. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen hatte sie damals nachgegeben. Heute liebte sie den Platz. Fast täglich kam sie hierher. Obwohl es mehr als drei Jahre her war.

Sie packte die kleine Hacke und die Heckenschere in die alte Tasche und nahm die Harke auf. Wie immer blieb sie noch einige Augenblicke stehen und sprach mit ihm.

"Wir bekommen übrigens neue Nachbarn. Grünewalds sind ausgezogen. Gestern habe ich deinen alten Kollegen Werner getroffen. Stell' dir vor, der wird jetzt zum vierten Mal Großvater. Weißt du noch, wie wir mit ihm und Lilli durch den Harz gewandert sind?" Ein Leuchten ging über ihre weichen Züge. Sie war Mitte sechzig und hatte nur wenige Falten. Auch ihr Haar war nur leicht angegraut. Sie nickte dem rötlichen Grabstein zu. ,Das Schönste, was ein Mensch hinterlassen kann, ist, dass man lächelt, wenn man sich seiner erinnert‘, stand darauf. Und: ,Helmuth Steiner, geb. 3.1.1926, gest. 24.8.1993‘.

"Morgen fahr' ich zu Lore. Das Wochenende über. Aber am Montag komme ich wieder."

Auf dem Parkplatz vor dem Friedhof verstaute sie Harke und Tasche im Kofferraum. Sie wunderte sich immer, wenn der Wagen ohne weiteres ansprang. So alt wie er war. Fast dreizehn Jahre lang hatte Helmuth an diesem Steuer gesessen.

"Ich brauch' das Auto, wenn ich euch besuchen will oder zum Friedhof fahre", hatte sie zu Lore gesagt, als die den alten VW schon in die Zeitung gesetzt hatte. Zu dem abgelegenen Friedhof hätte sie auch mit dem Bus fahren können. Und nach Bonn, wo die Familie ihrer Tochter lebte, gab es eine hervorragende Zugverbindung. Doch sie konnte sich nicht trennen von dem alten Wagen. Von seinem Wagen. Ein Jahr nach seinem Tod hatte sie den Führerschein gemacht.

Zwanzig Minuten später parkte sie vor einem Mietshaus in der Innenstadt. Kraftvoll nahm sie die Stufen bis zur Haustür. Sie war klein, und, obwohl ein wenig mollig, machte sie einen beweglichen, fast sportlichen Eindruck.

Vor der Tür kramte sie den Schlüssel aus ihrer Handtasche und steckte ihn in das Schloss. Während sie aufschloss, fiel ihr Blick auf das Klingelschild Parterre rechts: Helmuth und Martha Steiner.

Sie erledigte einige Telefonate. Bald brummte die Kaffeemaschine. Sie legte eine Platte auf: Frank Sinatra.

"So Martha, dann genehmige dir mal ein Stück Kuchen und einen Schwarzen." Irgendwann hatte sie sich zum ersten Mal dabei ertappt, wie sie laut mit sich selbst sprach. Am Anfang war sie erschrocken. Heute erzählte sie es lachend beim Bäcker.

Nach dem Kuchen nahm sie eine Schachtel Filterzigaretten aus der Kristallschale auf dem Tisch. Als die Zigarette brannte, zog sie die Schublade des Tisches auf.

"Und jetzt das große Glück." Ordentlich gebündelt lagen die Scheine neben dem Schreibmäppchen und den Briefkoverts. Den obersten legte sie auf die Illustrierte, die sie von der Tischmitte zu sich herangezogen hatte. Sie schloss die Schublade und begann den Schein auszufüllen.

Ihr Mann hatte schon Lotto gespielt, als sie ihn kennenlernte. Vor siebenundvierzig Jahren. Und in diesen siebenundvierzig Jahren hatte er zweimal gewonnen: Einmal achtzig Mark, einmal über zweitausend Mark. Das war ein Vierer gewesen.

"Das nächste Mal ist ein Sechser dran", hatte er damals gesagt.

Seitdem er tot war, füllte sie die Lottoscheine aus. Seine Lottoscheine. Genau wie er füllte sie drei Felder aus, genau wie er benutzte sie immer Zahlenkombinationen aus ihren Geburtsdaten: 1, 3, 26 und 12, 10, 34 - ihr Geburtsdatum.

"Dass du ja nicht vergisst, den Schein abzugeben, bevor du morgen nach Bonn fährst, Martha!"

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Dr. Alexandra Heinze begann bald nach Dienstantritt ihre Morgenrunde durch die Klinik: in den OP, nach dem heutigen Programm schauen, ein paar Worte mit dem Personal wechseln, dann auf die Intensiv-Station, nachschauen, wie viele Betten noch frei waren oder nach Patienten sehen, die sie gestern eingeliefert hatte, dann auf die Chirurgie, ein Gespräch mit Rudolf Benrath und schließlich auf die Innere.

Dort stand im Schwesternzimmer ein großer, schwarzhaariger Mann im dunklen Trenchcoat. Neben sich einen Koffer. Es war ungewöhnlich, dass um diese Zeit - es war noch nicht einmal acht Uhr - Patienten entlassen oder aufgenommen wurden.

"Frau Dr. Keller kommt in einer Viertelstunde", sagte die Stationsschwester, Schwester Marion, zu dem Mann. "Sie möchten bitte schon mal diesen Schein unterschreiben."

Der Mann nahm ihr den Zettel aus der Hand, den sie ihm entgegenstreckte, hob seine dunkle Hornbrille hoch und las.

"Das ist eine Erklärung, dass Sie gegen ärztlichen Rat und auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen," erklärte Marion.

"Aha", der Mann nahm die Brille ab und legte den Schein auf den Schreibtisch. Aus seinem Mantel zog er einen Füllfederhalter. Er schraubte ihn auf und unterzeichnete die Erklärung.

Alexandra Heinze stand in der Eingangstür des Stationszimmers - direkt hinter dem Mann. Er hatte sie bis jetzt noch gar nicht bemerkt.

Der Mann richtete sich auf und steckte den Federhalter zurück in seine Innentasche.

"Auf Wiedersehen, Schwester Marion, und vielen Dank." Er streckte seine Hand aus.

"Aber wollen Sie denn nicht noch einmal mit Frau Dr. Keller sprechen, Herr Ballhaus?" Etwas hilflos dreinblickend schüttelte sie ihm die Hand.

"Nein, ich werde jetzt gehen." Er griff nach seinem Koffer, dreht sich um und wollte herausstürmen. Fast wäre er mit der Notärztin zusammengeprallt.

"O, pardon, Frau Dr." Obwohl er höflich lächelte, sah Alexandra Heinze eine dunkle Trauer in seinen braunen Augen. Sie trat beiseite und ließ ihn durch. Mit großen Schritten eilte er über den Stationsgang. Sie hörten das Scharren der sich hinter ihm schließenden Tür.

Schwester Marion seufzte.

"Frau Dr. Keller hat gestern Abend eine Stunde lang mit ihm gesprochen. Er will sich unter keinen Umständen behandeln lassen."

Alexandra setzte sich auf einen freien Stuhl.

"Was hat er denn?"

"Leukämie."

"Was für eine?"

"Ist noch nicht ganz sicher. Das müsste noch abgeklärt werden. Jedenfalls keine akute." Schwester Marion wandte sich dem Medischrank zu, um auf einem in viele, beschriftete Felder unterteilten Tablett die Mittagsmedikamente zu richten. "Aber sein Arzt hat ihn ziemlich spät geschickt. Die Blutbilder und das Punktat sehen nicht gut aus."

Wieder das Scharren der Tür, dann Schritte, an denen Alexandra die Oberärztin Lore Keller erkannte. Schon erschien ihre kräftige, hochgewachsene Gestalt vor der Glasfront des Stationszimmers. Sie trat ein.

"Hallo, Alexandra." Und gleich an Schwester Marion gewandt: "Ist Herr Ballhaus noch in seinem Zimmer?"

"Der ist schon gegangen." Die Schwester reichte der Ärztin das von Ballhaus unterschriebene Formular. Kopfschüttelnd nahm Dr. Keller es entgegen.

"Ich habe mit Engelszungen geredet, um den Mann zu einer Chemotherapie zu überreden." Sie ging auf Alexandra zu und begrüßte sie. "Der ist so getroffen von seiner Diagnose, ich glaube, der hat gar nicht richtig zugehört."

Die beiden Ärztinnen verließen das Stationszimmer und gingen ins Arztzimmer.

"Wie geht es dir?", wollte Lore Keller von Alexandra wissen.

"Danke. Ich bin gesund, die Arbeit macht mir meistens Spaß, Werner eist sich sogar ab und zu von seiner geliebten Praxis los, um etwas mit mir zu unternehmen, und Hilde bemuttert uns rührend. Was will ich mehr?" Sie lachte ihre ältere Kollegin an. "Das Leben meint es ganz gut mit mir im Moment." Sie setzte sich auf einen der beiden Schreibtischsessel. "Und wie geht es dir?"

"Darüber denke ich selten nach, ehrlich gesagt", die Oberärztin stand vor dem Spiegel und brachte ihre Frisur in Ordnung. Solange Alexandra sie kannte, trug sie eine Dauerwelle. Alexandra fand das schon immer amüsant. Sie selber fand diese Frisuren altmodisch. Lore Keller drehte sich zu ihrer Kollegin um.

"Der Sommer war sehr ruhig. Mit dem Personal geht es einigermaßen. Ich hoffe, es wird nicht wieder so einen Wechsel geben wie Anfang letzten Jahres." Sie ließ sich in den zweiten Sessel fallen und rollte ein Stück an Alexandra heran. "Der Chef, dieses Arbeitstier, hat jetzt eine Studie von der Uni Bochum ins Haus geholt. Da geht's um Bluthochdruck. Wahrscheinlich will er mal wieder den Namen Kranz in der Ärztezeitschrift lesen. Und sonst", sie hob wie entschuldigend die Hände, "es ist Herbst und ich rechne mit einigen Todesfällen in den nächsten Wochen."

Alexandra schüttelte den Kopf.

"Eigentlich wollte ich wissen, wie es dir geht, und du erzählst mir nur von unserer Klinik."

Lore Keller stutzte einen Augenblick.

"So? Habe ich das getan?" Sie lächelte. "Mir? Nun, ich war drei Wochen auf Rügen. Hat mir gut getan."

Es klopfte. Schwester Marion trat mit wichtigem Gesicht ein. Bevor sie sprach, schloss sie die Tür hinter sich.

"Es fehlt schon wieder Fortral."

Lore Keller presste die Lippen zusammen und seufzte.

"Seit drei Wochen", sie sah ihre Kollegin an, "ständig fehlt Fortral, Temgesic, oder sonst irgendein Schmerzmittel." Sie stand auf und folgte der Schwester ins Stationszimmer. Alexandra schloss sich ihnen an.

Dr. Lore Keller ließ sich die Formulare der letzten Medikamentenbestellung zeigen, recherchierte in den Kurven und im Nachtwachenprotokoll, wer in der vergangenen Woche wie oft und welches Schmerzmittel verabreicht bekam, und verglich schließlich den Sollbestand mit der tatsächlichen Menge der Ampullen.