Kann sie gerettet werden?

Thomas West

Published by BEKKERpublishing, 2019.

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Kann sie gerettet werden?

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About the Publisher

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Kann sie gerettet werden?

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Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 149 Taschenbuchseiten.

Das Ehepaar Baumann wird in das Marien-Krankenhaus eingeliefert. Wie es scheint, war in die Cremesuppe aus Nelkenschwindlingen ein giftiger Pilz gelangt. Der Mann kann das Krankenhaus nach kurzer Zeit wieder verlassen, aber seine herzkranke und nervlich angeschlagene Frau muss noch bleiben. Bei Dr. Alexandra Heinze meldet sich ihre innere Stimme, das hier etwas nicht stimmt, denn irgendwie erinnert sie das an den Kaiser Claudius, der von seiner Gattin vergiftet wurde ...

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Würziger Bratenduft schlug ihm entgegen, als er die Küche betrat. Im Herd sah er die Umrisse des Fasans. Darüber, auf der gläsernen Kochstelle dampfte der chromblitzende Topf mit der Suppe.

Normalerweise wäre nun ein heißer Strom durch seinen Bauch geschossen, und sein Mund hätte sich mit Speichel gefüllt. Heute jedoch spürte Jochen Baumann nichts dergleichen. Nur sein Herz klopfte hart und schnell. Und ihm war, als würde ein trockenes Tuch seine Mundhöhe ausfüllen.

Die Frau vor der Arbeitsplatte strich ihre weiße Schürze glatt und entnahm der offen stehenden Schublade einen Löffel. Sie hob den Deckel des Suppentopfes und tauchte den Löffel in die dampfende, cremige Flüssigkeit.

"Halt, Gundi!" Schneller, als er wollte, stand er neben ihr am Herd. "Die Pilzsuppe schmecke ich selbst ab!"

"Wie Sie wollen, Herr Baumann." Der gekränkte Unterton war nicht zu überhören. Sie legte den Löffel auf die Spüle und band sich die Schürze auf. "Den Fasan habe ich eben noch mal übergossen." Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Viel zu kurz, um die Uhrzeit wahrnehmen zu können - es war Viertel vor acht - und Baumann verstand das Zeichen. "In einer halben Stunde ist der Braten sicher soweit. Ich hab' den Wecker gestellt."

"In Ordnung Gundi, ich brauch' Sie dann nicht mehr." Baumann holte einige Gläschen aus dem Gewürzregal und stellte sie neben die Kochstelle. "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntagabend."

"Danke, Herr Baumann." Sie hängte die Schürze in einen schmalen Eckschrank und ging hinaus zur Garderobe. Vor dem Spiegel arrangierte sie ihre graue Dauerwelle und schlüpfte dann in eine grüne Trachtenjacke. "Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Abend. Das wird Ihrer Frau guttun, dass Sie sich einen ganzen Abend Zeit für sie nehmen."

Baumann überhörte die Spitze in diesem Satz einfach. Er wusste, dass sein Hausmädchen mit seiner Frau sympathisierte.

"Ich begleite Sie zur Tür." Ihr voraus ging er durch die geräumige Diele, deren Wände mit Rehbockstangen, Hirschgeweihen und ausgestopften Vögeln geschmückt waren. "Also dann, Gundi." Er reichte ihr die Hand.

Kaum hatte er die schwere Eichentür hinter Gundi Heller geschlossen, eilte er zurück in die Küche. Dort zog er ein Töpfchen auf den Herd und goss Milch hinein. Ein Blick auf die Wanduhr, dann würzte er die Pilzsuppe. Er nahm einen Löffel, bewegte die Flüssigkeit prüfend im Mund hin und her, nickte und spuckte sie in die Spüle. Die Milch kochte auf. Baumann riss eine Tüte auf und rührte ihren Inhalt, ein weißliches Pulver, in die Milch. Danach ging er zurück in die Diele.

"Helga, der erste Gang kann aufgetragen werden!", rief er die Treppe hinauf.

"Noch drei Minuten!" Sie schien noch im Badezimmer zu sein. Gundi hatte sie zu einem Melissenbad überreden können. "Das ist gut für die Nerven."

Auf Gundi, die seit fünf Jahren ihren Haushalt führte - seitdem Helga selbst dazu nicht mehr in der Lage war - auf Gundi hörte sie. Fast mehr, als auf ihren Neurologen.

Mit einem kurzen Blick in das Speisezimmer überzeugte sich Jochen Baumann vom ordnungsgemäßen Zustand der Tafel. Unnötig an sich, denn Gundi Heller machte keine Fehler - nie. Heute Abend dachte er nicht daran, sich darüber zu ärgern. Dann eilte er in den Keller. Mit dem Finger strich er an den einzelnen Fächern des Weinregals entlang. Er entschied sich für einen badischen Spätburgunder, Helgas Lieblingswein. Er zog ihn aus dem Regal und lachte trocken auf. "Einer ihrer vielen Lieblingsweine", korrigierte er sich selbst.

Wieder im Esszimmer öffnete er den Wein. Kurz darauf Helgas Schritte auf der Treppe. Er sah auf seine Armbanduhr. 19.51 Uhr. Sie trat ein.

"Oh!", rief er aus. "Schön siehst du aus!"

Helga Baumann trug ein schwarzes, eng geschnittenes Seidenkleid. Eine funkelnde Perlenkette umrahmte ihr Dekolleté. Das dunkelblonde Haar hatte sie hochgesteckt.

"Und das neue Kleid ...!" Er strahlte sie an.

Um ihren Mund lag ein bitterer, fast beleidigter Zug, als hätte ihr gerade jemand etwas gestohlen. Die blasse Gesichtshaut wirkte pergamentartig, Krähenfüße umrahmten ihre grünen Augen. Helga Baumann war groß und schlank, fast dürr, und längst schätzte sie niemand mehr auf 46 Jahre. Sie wirkte sogar älter als ihr Mann, und Jochen Baumann war damals 52 Jahre alt.

"Wo ist Gundi?" Suchend sah sie sich um.

"Sie hat ihren freien Abend genommen." Er schenkte ein. "Habe ich dir das nicht gesagt?" Er reichte ihr das Glas mit dem Wein.

"Trägst du auf?" Ungläubig sah sie ihren Mann an.

"Ja, was dachtest du denn?", lachte er. "Da staunst du, was?" Sie stießen an. "Auf die gute Bilanz der Firma", sagte er betont heiter, "deiner Firma." Er beugte sich ein Stück vor und zog die Augenbrauen hoch. Sie tranken. "Und auf den gestrigen Sieg des FC Koblenz, meines Vereins!" Wieder tranken sie. Er nur ganz kleine Schlucke. "So, und nun nimm Platz, ich hole die Suppe." In der Tür drehte er sich um. "Du wirst staunen ..."

Die Wanduhr in der Küche zeigte 19.56 Uhr. Schnell füllte er die erste Suppentasse. Die zweite schöpfte er nur halb voll und füllte sie mit der weißlichen Flüssigkeit aus dem Milchtopf auf. Den restlichen Inhalt des Topfes goss er in die Spüle. Den Topf stellte er in die Spülmaschine.

"Kann ich dir helfen, Jochen?"

"Ich bin schon soweit!" Er griff in die Hosentasche, steckte eine kleine Tablette in den Mund und spülte sie mit Wasser aus einem bereitstehenden Glas herunter. Als er die Suppentassen auf die Tafel stellte, hielt sie den Atem an.

"Ist das ..."

"Genau, Liebling, das ist eine Cremesuppe aus Nelkenschwindlingen, deinen Lieblingspilzen!" Sie sah ihn staunend an. "Hab' ich gestern Morgen von der Jagd mitgebracht. Guten Appetit!"

Sie konnte ihre Rührung kaum verbergen. Sie war es einfach nicht gewohnt, von ihrem Mann verwöhnt zu werden.

Während sie den ersten Löffel Suppe nahm, goss er ihr Wein nach. Er schielte auf seine Uhr: 20.00 Uhr. Langsam tauchte er seinen Löffel in die Suppe, langsam führte er ihn zum Mund. Das Telefon klingelte.

"Iss nur weiter, Liebling, ich gehe schon."

Er telefonierte laut.

"Tut mir leid, Sie rufen jetzt ganz ungünstig an ... ich kann jetzt wirklich nicht ... ist es denn so dringend? ... sagen wir in zwei Stunden ..."

"Wer war es denn?", fragte Helga, als er nach fünf Minuten zurück ins Speisezimmer kam.

"Ach, einer der Fußballer, wegen dem Spiel gegen die Aachener nächsten Samstag, ob ich seine Aufstellung beim Trainer durchsetzen könnte ..." Er schenkte ihr Wein nach. "Willst du noch Suppe? Der Fasan braucht noch zehn Minuten." Sie nickte.

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"Reichen Sie mir bitte noch mal die Pinzette, Schwester Julia!" Dr. Thorsten Roloff liebte es, diesen Namen auszusprechen. Und er liebte es, den braungebrannten, schlanken Arm zu betrachten und die schmalgliedrige Hand, die ihm jetzt die Pinzette reichte.

"Autsch!", schrie der alte Mann. Er lag mit entblößtem Bauch in seinem Bett und biss die Zähne zusammen.

"Gleich vorbei." Vorsichtig füllte Dr. Roloff die Abzesshöhle mit steriler Gaze. Er wusste selbst, wie schmerzhaft es sein konnte, wenn man mit der Pinzette in einer entzündeten Wunde herumstocherte. "Schon vorbei, Herr Wegner." Er wandte sich zu der Schwester um. "Machen Sie den Verband, Schwester Julia?" Er trat vom Bett zurück.

"Ist gut, Herr Dr. Roloff." Sie beugte sich über den Patienten und begann die Bauchwunde zu verbinden.

"Die Wunde sieht schon viel besser aus, Herr Wegner."

Der Mann brummte etwas Unverständliches und starrte auf seine Bauchwunde und auf die Hände, die ihm einen frischen Verband auflegten. Roloff betrachtete das hellblonde, zu einem Zopf geflochtene und hochgesteckte Haar der Schwester.

Anfang Mai, auf dem ersten Grillfest dieses Jahres, zu dem der Chef traditionell einlud, waren sie sich näher gekommen. Drei Wochen war das her. Und am Samstag vor einer Woche hatte er Julia zu seiner Geburtstagsfete eingeladen. Gemeinsam mit drei anderen Schwestern. Damit es nicht so auffiel.

"So, fertig, Herr Wegner." Schwester Julia richtete sich auf. Auch ihre Gesichtshaut hatte diesen bronzenen Ton. Und war von Sommersprossen übersät. Wie alt mochte sie sein? Roloff hatte es noch nicht herausfinden können. Acht Jahre jünger als er selbst, schätzte er, also etwa fünfundzwanzig.

"Herr Doktor?" Roloff erschrak fast, so versunken war er in den Anblick der Schwester. Der Alte musste ihn schon ein Weilchen angestarrt haben. "Wann darf ich nach Hause?"

"Wenn die Wunde ganz zugeheilt ist, Herr Wegner."

Hilflos schaute der alte Mann ihn an.

"So in einer Woche, hoffe ich", fügte der Chirurg hinzu.

Später im Stationszimmer wusch er sich die Hände, während Julia die Instrumente und den Verbandswagen reinigte.

"Es ist schon nach acht Uhr, Sie verpassen noch Ihren Feierabend."

"Oh, den habe ich gut im Auge", lachte Julia. Es ging ihm durch und durch. "Wenn ich heute ein bisschen später gehe, macht das auch nichts, ich hab' sowieso nichts mehr vor."

"Nichts mehr vor? Am Sonntagabend?"

"Ja, morgen früh muss ich um sechs Uhr antreten, und in der vergangenen Nacht wurde es verdammt spät - wir mussten doch den Sieg unserer Mannschaft feiern."

"Der FC Koblenz hat 3 : 1 gewonnen, stimmt's?"

Julia sah den Arzt überrascht an.

"Stimmt! Seit wann interessieren Sie sich für Fußball, Herr Dr. Roloff?"

Er grinste.

"Vielleicht seitdem Sie mir auf meinem Geburtstagsfest die letzten drei Spiele so plastisch geschildert haben, dass ich schwören könnte, sie selber gesehen zu haben."

Sie wandte sich ab und schob den Verbandswagen unter den Hängeschrank. Er hatte trotzdem gesehen, dass sie rot geworden war.

"Ich fand das schön, Julia, wirklich."

"Ich genier' mich aber."

Ihre Offenheit hatte ihn von Anfang an entwaffnet. Er selber hätte so etwas nie zugegeben. "Quatsch, das müssen Sie doch nicht!" Er stellte sich neben sie. "Sie sehen doch, dass Sie es sogar geschafft haben, mich für das Spiel gestern zu interessieren."

Sie sah ihn an und grinste.

"Stimmt!" Ihre mandelförmigen, graublauen Augen schienen ihn aufmerksam zu mustern.

Er hielt innerlich den Atem an und sagte: "Am kommenden Samstag habe ich frei." Er versuchte seiner Stimme einen lockeren, fast scherzenden Klang zu verleihen. "Was halten Sie von einem indischen Abendessen, Julia?"

Offenbar hatte sie so etwas erwartet, denn sie nahm den Blick nicht von seinem Gesicht.

"Am nächsten Samstag spielt der FC gegen den Tabellenersten. Das wird das entscheidende Spiel um den Aufstieg in die zweite Liga." Sie breitete wie entschuldigend die Arme aus. "Da darf ich nicht fehlen im Fan-Club."

"Und am Donnerstagabend?" Ohne dem Gefühl der Enttäuschung Zeit zu lassen, sich auszubreiten, sprach er es aus. Sie schwieg einen Augenblick. Nachdenklich sah sie ihn an. Sie ahnte seine Gefühle, er war sich ganz sicher.

"Ich werd' es mir überlegen, ja?"

Auch das imponierte ihm. Hundert andere hätten sofort zugesagt. Eine Einladung von einem Arzt! Er versuchte, seine Aufregung hinter einer Fassade von Scherzhaftigkeit zu verbergen.

"Und wann darf ich mit Ihrer Antwort rechnen, verehrte Schwester Julia?"

"Spätestens bis Dienstag."

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"Gegen die Aachener müssen wir mit drei Spitzen spielen." Heiko Gareis, der Trainer des FC Koblenz, hob seinen Bierkrug und nahm einen tiefen Schluck. "Und du, Oliver, bleibst in der Mitte. Wir werden sie knacken!" Gareis zündete sich eine Gaulloise an. Der Aschenbecher vor ihm quoll schon fast über. "Wir werden sie knacken, verflucht!"

Oliver Seidel schlug in die ausgestreckten Hände seiner Mitspieler ein. Fast die halbe Mannschaft saß noch um den runden Tisch im Hinterzimmer ihres Stammlokals. Sie hatten sich zur offiziellen Konferenz wegen des gestrigen Spiels hier getroffen.

Der Trainer sah den jungen Mann wohlwollend an. Und Oliver Seidel wusste, was er dachte. Ohne ihn, den Starspieler, ohne seine Torjägerqualitäten, hätten sie das Spiel gestern nicht gewonnen. Ohne ihn wäre der FC Koblenz nicht in dieser Saison von Platz zwölf auf Platz drei der Tabelle gerutscht.

Seidel legte den Arm um die Frau neben ihm. Der Stolz sprengte ihm fast die Brust. Während seine Kameraden lautstark mit Garreis um die weitere Aufstellung feilschten, sah er durch die offene Schiebetür in das gut gefüllte Lokal. Als suchte er nach weiteren Zeugen seines Ruhmes. Am Tisch neben der Tür saß ein mit sportlicher Eleganz gekleideter Mann mit silbergrauem Haar. Oliver Seidel war sich plötzlich sicher, dass der ihn schon geraume Zeit beobachtet hatte. Er grüßte den Fremden mit einem kurzen Kopfnicken und beschäftigte sich wieder mit der Frau neben ihm. Ihr Haar war tiefschwarz gefärbt. Sie trug ein tief ausgeschnittenes, kurzes Kleid und glitzerte vor lauter Schmuck. Sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen der Männer, sondern hielt sich an ihren Filterzigaretten fest. Ihr angeklebten Fingernägel leuchteten rot.

Oliver gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

"Entschuldige mich einen Augenblick, Viki." Er stand auf und steuerte die Toilette an. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass der Grauhaarige sich ebenfalls erhob und ihm folgte. Obwohl sie die einzigen Männer in der Toilette waren, benutzte der Fremde das Pissoir direkt neben Oliver.

"Glückwunsch zum Sieg gestern!"

"Danke", Oliver strahlte. Er kam überhaupt nicht auf den Gedanken, sich über das Fußballinteresse des Fremden zu wundern. Für ihn waren alle Menschen Fußballfans, und zumindest in diesem Teil des Landes kannten sie Oliver Seidel, den Mittelstürmer des FC Koblenz, davon ging er jedenfalls aus.

Der Grauhaarige drückte die Spüle.

"Wird wohl nicht lange dauern, bis ein größerer Verein auf Sie aufmerksam wird."

"So, meinen Sie?" Oliver trat hinter den Mann an das Waschbecken. Er strahlte über das ganze Gesicht.

"Kaiserslautern sucht einen Stürmer."

Oliver stutzte.

"Ach ..." Er beugte sich über das Waschbecken und merkte plötzlich, wie der andere ihn im Spiegel beobachtete, während er sich die Hände trocknete.

"Die hatten gestern jemanden zum Spiel geschickt. Nächsten Samstag wird wohl sogar der Co-Trainer Ihre Ballkünste beobachten."

Oliver fuhr blitzartig herum.

"Wer sind Sie?"

Der Mann hatte schon die äußere Türklinke in der Hand.

"Ein Förderer guten Fußballs, auf Wiedersehen." Die Tür fiel ins Schloss.

Als er zurück zu ihrem Tisch ging, konnte er den Fremden nirgends mehr entdecken. Er fühlte sich plötzlich durcheinander.

"Also Jungs, jetzt nehmen wir erst einmal diese Hürde, und dann reden wir über die Zeit nach dem Aufstieg!" Wie durch einen Nebel hörte Oliver die Stimme seines Trainers.

Sein Mannschaftskollege Stiebert beugte sich an sein Ohr.

"Ich hab' gehört, unser Vizepräsident lässt tausend Mark pro Nase springen, wenn wir gewinnen."

"Wenig genug", der Gedanke an Baumann, seinen Chef, verdross Oliver, "verdient sich dumm und dämlich mit seinen Nobelschlitten. Der Alte würde sicher eine höhere Prämie setzen." Er wandte sich an die rauchende Frau. "Ich bring dich jetzt nach Hause."

Sie protestierte, aber er kümmerte sich nicht darum. Zwanzig Minuten später stieg sie aus seinem BMW und verschwand beleidigt in einem Wohnhaus.

"Ich ruf' dich die Woche mal an", rief er ihr nach.

Er konnte sie im Augenblick nicht ertragen. Nicht sie. Er gab Gas und fuhr in die Stadt zurück. >Kaiserslautern sucht einen Stürmer<. Er konnte an nichts anderes mehr denken. Er musste mit irgendjemandem darüber reden.

Vor einem Appartementhaus am Stadtrand hielt er. Ungeduldig klingelte er. Aus der Sprechanlage drang wie von fern eine weibliche Stimme: "Ja?"

"Ich bin's, Gitti, der Oliver." Als er sich kurz darauf an einen Türrahmen des zweiten Obergeschosses lehnte, trommelte er mit den Fingern an die Tür. Eine Blondine im Morgenmantel öffnete. Er nahm sie grußlos in den Arm und küsste sie auf den Mund.

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"Ist Werner schon zu Hause?" Alexandra Heinze telefonierte vom Notarztzimmer aus. Hinter ihr am Tisch saßen Jupp Friederichs und Ewald Zühlke. Sie lasen die Samstagszeitung. Gestern waren sie nicht dazu gekommen.

"Nein", Hilde Heinzes Stimme am anderen Ende der Leitung, "und wie geht es bei dir?"

"Danke, gut, ein ruhiger Dienst, kein Vergleich mit gestern." Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. "Aber warum ist Werner noch nicht zu Hause." Sie sah auf die Wanduhr: Halbneun. "Der Kongress war doch nach dem Mittagessen zu Ende."

"Er hat aus dem IC angerufen. Sein Zug hatte schon in Hamburg eine Stunde Verspätung. Jetzt mach' dir mal keine Sorgen, Alexandra. Er schätzte, dass er gegen neun Uhr zu Hause sein würde."

Alexandra Heinze seufzte: "Ist gut, Hilde, grüße ihn von mir und sage ihm, dass ich heute wahrscheinlich pünktlich sein werde."

"Ich werd' ihm einen Zettel schreiben."

Alexandra stutzte. Ihre Schwiegermutter achtete zwar auf einen geregelten Tagesrhythmus, aber dass sie so früh zu Bett gehen wollte, war doch ungewöhnlich.

"Fühlst du dich nicht wohl?"

"Wie kommst du denn darauf?"

"Na, weil du so früh schlafen gehst."

Am anderen Ende der Leitung hörte die Ärztin ihre Schwiegermutter in schallendes Gelächter ausbrechen.

"Wer sagt denn, dass ich schlafen gehe! Ich habe noch etwas vor."

"Oh ..."

"Also, einen angenehmen Dienst noch, Alexandra."

Sie hatte also noch etwas vor. So, so. Kopfschüttelnd legte Alexandra auf. Einen Augenblick blieb sie unschlüssig vor dem Schreibtisch stehen. Sollte sie noch eine Runde durch die Klinik drehen? Hinter ihr raschelten die Zeitungen. Sie sah sich nach ihren lesenden Sanitätern um. Ganz vertieft waren sie. Zühlke kaute ein Butterbrot. Alexandra Heinze zuckte mit den Schultern, griff nach ihrer Tasche und zog ein Buch heraus. Eine Zeitlang lang waren sie alle drei in ihre Lektüre vertieft. Jupp Friederichs brach das konzentrierte Schweigen irgendwann.

"Der Mann ist tot."

"Welcher Mann?", brummte Zühlke mit vollem Mund. Neugierig sah Alexandra Heinze von ihrem Buch auf.

"Na den sie vor zwei Wochen in Köln entführt hatten, den Immobilienmakler."

"Ach so, richtig."

"Haben sie das auch mitgekriegt, Frau Doktor?" Friederichs ließ die Zeitung sinken.

Alexandra nickte.

"Kam ja ständig in den Nachrichten. Trotz Lösegeldzahlung ermordet?"

"Schweine!", mampfte Zühlke.

"Nein, nicht ermordet, gestorben. Diabetisches Koma." Friederichs hob die Zeitung und las vor: "Fünf Tage nach der Übergabe einer Lösegeldsumme von zweimillionen Mark fand die Kölner Polizei den Immobilienmakler tot in einem Schrebergartenhaus. Obwohl den Entführern die schwere Zuckerkrankheit ihres Opfers bekannt war, hatten sie es nicht ausreichend mit dem lebensnotwendigen Insulin versorgt ..."

Die Ärztin klappte ihr Buch zu. "Furchtbar ..."

"Diese Schweine", stieß Zühlke noch einmal aus.

Alexandra ging diese schlimme Nachricht sehr zu Herzen. Natürlich hatten sie zu Hause den Fall in den Nachrichten und der Zeitung verfolgt. Dass Geldnot oder sogar einfach nur Geldgier Menschen zu solch schrecklichen Taten veranlassen konnte! Oder gab es noch ganz andere Motive?

Plötzlich zerriss das Schrillen des Notfallpiepsers die Stille. Jupp Friederichs ging ans Telefon. Die Rettungsleitstelle hatte einen Notfall.

"Mist!", schimpfte Zühlke. "Wir haben doch gestern wirklich genug geschuftet!" Er packte sein angebissenes Brot in eine Plastikbox. "Warum kann der Tag nicht so zu Ende gehen, wie es sich für einen Sonntag gehört?"

Alexandra Heinze stand schon an der Tür. Diedrichs legte auf.

"Wir dürfen", er nannte die Adresse. Ein Vorort, feinere Wohngegend.

"Dann wollen wir mal, meine Herren." Alexandra eilte voraus. "Vielleicht ist es ja nichts Ernstes ..."

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Erschrocken tastete Gundi Heller ihre Jackentaschen ab. Kein Schlüssel! Sie durchwühlte hektisch ihre Handtasche. Auch dort keine Spur von ihrem Hausschlüssel! Sie zog sich an der Haltestange hoch und balancierte nach vorne zum Busfahrer.

"Du dummes, dummes altes Weib!", schimpfte sie mit sich selbst. "Ausgerechnet heute lässt du den Schlüssel in der Schürze, ausgerechnet heute, wo du mit Lisbeth ins Kino willst!"

Nachdem sie den Fasan in den Herd geschoben hatte, war sie mit dem Müll zum Container gegangen. Ihr Schlüssel zur Baumann-Villa hing an ihrem privaten Schlüsselbund, und da der hauseigene Schlüssel nicht in der Tür gesteckt hatte, hatte sie ihr Schlüsselbund aus dem Mantel geangelt - die Haustür durfte keinen Augenblick offen stehen bleiben, darauf legte ihre Chefin allergrößten Wert - und später dann in der Schürze vergessen.

Gottseidank näherte sich der Bus erst dem Ortsausgang, und Gottseidank hielt der Busfahrer ohne große Diskussionen an und ließ Gundi Heller auf offener Strecke aussteigen.

Es war gegen neun Uhr und die ersten Schleier der Dämmerung lagen dunstig über den Feldern am Ortsrand und über den Wipfeln des nahen Waldes. Trotz des schönen Frühsommertages spürte Gundi fröstelnd die Kühle der nahenden Juninacht. Natürlich - morgen oder übermorgen begannen die Eisheiligen.