Steffen Mau

Lütten Klein

Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

Suhrkamp

Für Susanne Balthasar und Thomas A. Schmidt

»Ich hänge nicht an diesem Land,

aber es ist verdammt schwer, es loszuwerden.«

Eugen Ruge

Einleitung

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 stand ich als Soldat der Nationalen Volksarmee, mit Stahlhelm und munitionierter Kalaschnikow, vor der Werderkaserne in Schwerin. 48-stündiger Wachdienst zur Sicherung des Objekts. Das bedeutete zwei Stunden im Regen vor der Kaserne Wache stehen, dann zwei Stunden Bereitschaftsdienst, dann zwei Stunden schlafen, dann ging der Reigen von vorne los. Jemand hatte unter der Hand ein kleines batteriebetriebenes Radio besorgt, das wir uns bei der Wachablösung heimlich zusteckten, damit die Zeit nicht zu lang wurde. Ein Westsender war eingestellt, dort wurde hektisch per Liveschaltung von der Öffnung der Mauer in Berlin berichtet. Ein Kommentator ließ sich zu der weitsichtigen Prophezeiung hinreißen: »Die Mauer ist auf, das ist das Ende der DDR.« Es dauerte zwar noch ein paar Wochen, bis wir wirklich begriffen hatten, was passiert war und welche Konsequenzen Günter Schabowskis Pressekonferenz haben sollte, aber schon in dieser Nacht war an Ausruhen oder Schlafen nicht zu denken. Nach der Wache hockten wir um das Radio wie um ein Lagerfeuer und versuchten, das, was sich da gerade abspielte, zu verstehen. Größer konnte der Kontrast nicht sein: Hier die triste Soldatenstube, dort die jubelnden Massen und hupenden Trabbis auf der Bornholmer Brücke. Wohl jeder ehemalige DDR-Bürger erinnert sich daran, wie diese eine Nacht so vieles veränderte: ein Moment, in dem die Geschichte, wie von unsichtbarer Hand geleitet, plötzlich eine ganz andere Bahn einschlug.

Systemwechsel, so nennen Sozialwissenschaftler den Übergang von einer Gesellschaftsformation zu einer anderen. Systemwechsel, das war das, was uns völlig unvorbereitet traf und nun biografisch bevorstand. Der Fall der Berliner Mauer markierte gewissermaßen die politische Stunde null, die ein Davor und ein Danach trennte. Das Davor war die wirtschaftlich wie ideologisch abgewirtschaftete DDR, das Danach der Weg in die deutsche Einheit. Zwar haben wir uns angewöhnt, »die Wende« vor allem als Moment der Diskontinuität zu verstehen, diese Sicht verdeckt aber, wie stark – bei allen Brüchen und allen sich vollziehenden Wandlungen – die Verbindung zwischen dem Vorher und dem Nachher ist. Menschen und ihre Biografien, Mentalitäten und sozialen Praktiken stellen diesen Zusammenhang her. Selbst auf der Ebene von Institutionen und Strukturen verbindet sich das, was war, mit dem, was ist und sein wird. Mit »Transformationsgesellschaft Ostdeutschland« ist kein Übergang von einem Anfangs- zu einem Endzustand gemeint, sondern eine andauernde Restrukturierung und Veränderung.

Seit dem Fall der Mauer sind nunmehr dreißig Jahre vergangen – mehr Zeit, als die meisten westdeutschen Kommentatoren damals bis zu einer einigermaßen gelungenen Vollendung der deutschen Einheit veranschlagten. Wer heute das Erreichte bilanziert, sieht in der Tat grundlegende Veränderungen und viele Verbesserungen: Die Spuren der Deutschen Demokratischen Republik sind fast flächendeckend getilgt, neue soziale Arrangements haben Fuß gefasst, Menschen haben sich eingelebt. Die Freiheitsgewinne – ob beim Reisen oder beim Recht, seine Meinung frei und ungehindert zu äußern – sind enorm. Den Menschen im Osten Deutschlands geht es materiell besser, als sie zu DDR-Zeiten jemals zu hoffen gewagt hätten. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung, die Löhne wachsen, das reale Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem hat sich seit 1991 mehr als verdoppelt, Boomregionen wie Leipzig und Dresden haben sich zu Magneten einer neuen West-Ost-Wanderung entwickelt. Mitunter ist von der Wiedervereinigung als wirtschaftlicher Erfolgsgeschichte die Rede.1 Im Gleichschritt mit der ökonomischen Entwicklung ist auch das subjektive Wohlbefinden im Aufwind – der Glücksabstand zwischen Ost und West schmilzt, weil die Ostdeutschen immer zufriedener werden.2

Wie aus einer anderen Welt klingen da Berichte über die Problemzone Ostdeutschland. Diese stellen die anhaltend hohen Produktivitätsrückstände,3 die fortbestehende Ost-West-Kluft bei den politischen Einstellungen,4 den lautstarken Widerstand gegen Geflüchtete und »die da oben« sowie abgehängte Sozialräume in den Vordergrund. Gravierende Ost-West-Unterschiede gibt es beim Vertrauen in die politischen Institutionen und der Unterstützung für Marktwirtschaft und Demokratie. Laut einer Allensbach-Umfrage sehen nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie als die beste Staatsform an; im Westen sind es 77 Prozent. Nur knapp über ein Viertel der West-, aber über die Hälfte der Ostdeutschen hält den Umstand, ob man aus Ost- oder Westdeutschland stammt, für eine der wichtigsten Trennlinien in der Gesellschaft.5 Immerhin mehr als ein Drittel der Ostdeutschen sehen sich laut neuesten Umfragen als Bürger zweiter Klasse.6 Der Satz »Niemand kümmert sich um uns« steht stellvertretend für das Gefühl, gesellschaftlich zurückgesetzt, ökonomisch und politisch marginalisiert zu sein. Der Frust, so scheint es von dieser Warte aus gesehen, hat in Ostdeutschland vielleicht nicht seine Heimat, aber doch wichtige Trägerschichten gefunden.

Dieses Doppelbild der Entwicklung verweist auf das Nebeneinander von Einheitserfolgen und Scheitern, von Gewinnen und Verlusten, von Hoffnung und Enttäuschung, von Eingewöhnung und Entfremdung. Die Bilanz der Einheit ist nicht nur durchwachsen, sie ist auch durch und durch widersprüchlich. Selbst Individuen wirken oft innerlich gespalten, wenn man sie auffordert, ihre persönliche Situation zu schildern – manch einer entpuppt sich gar als frustrierter Zufriedener oder als glücklicher Enttäuschter.

Um diese Diskrepanz zu entschlüsseln, ist der Begriff der gesellschaftlichen Fraktur hilfreich. Unter einer Fraktur versteht man in der Medizin den Bruch eines Knochens. Viele Frakturen sind unter der Haut verborgen und äußerlich nicht erkennbar, manche aber liegen offen. Oft verheilen sie, wenn es jedoch zu Verschiebungen – der Terminus technicus lautet Frakturdislokationen – kommt, muss man ein Leben lang mit Funktionseinschränkungen leben. Gesellschaftliche Frakturen lassen sich in diesem Sinne als Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs verstehen, die zu Fehlstellungen führen können. Anders als bei Knochen ist die Wahrscheinlichkeit für eine – noch ein Medizinerwort – vollständige »Reposition« oder Ausheilung gesellschaftlicher Brüche sogar unwahrscheinlich. Gesundheitsmetaphern sind im gesellschaftlichen Bereich nicht ganz unproblematisch, daher hier der Hinweis, dass es nicht um Pathologien geht, sondern um die Fokussierung auf neuralgische Punkte und Reibungsflächen. Ich betrachte Ostdeutschland als eine Gesellschaft mit zahlreichen Frakturen, die sich aus den Besonderheiten von Sozialstruktur und mentaler Lagerung ergeben. Diese sind weder allein der untergegangen DDR noch den Tücken des Einigungsprozesses zuzuschreiben, sondern ergeben sich aus beidem gemeinsam. Eine frakturierte Gesellschaft, so meine ich, verliert an Robustheit und Flexibilität, auch wenn oberflächlich alles in Ordnung scheint. Durch Frakturen können die Belastbarkeit, die Beweglichkeit und die Anpassungsfähigkeit eines gesellschaftlichen Gebildes noch über lange Zeiträume eingeschränkt bleiben. Das erklärt auch die erhebliche Unzufriedenheit, während es gleichzeitig viele positiv zu bewertende Entwicklungen gibt.

Das Buch versucht sich vor diesem Hintergrund nicht an einer Würdigung der Einheitserfolge, berichtet auch nicht datenreich von der ostdeutschen Aufholjagd und sich verbessernden Lebensbedingungen. Dies sei als Spoiler-Warnung vorangestellt. Es leugnet die positiven Entwicklungen nicht, ist aber absichtsvoll einseitig, indem es das Beobachtungsradar auf die Dilemmata, Unwuchten und Widersprüche richtet. Es konterkariert die Annahme relativ friktionsloser Modernisierung sowie die Diagnose der sukzessiven Normalisierung und stellt die These struktureller Brüche im ostdeutschen Entwicklungspfad dagegen. Ich gehe davon aus, dass sich trotz aller Transformationserfolge, trotz Angleichung und trotz kultureller, normativer und mentaler Eingewöhnung die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Teilgesellschaften nicht einfach ausschleichen (werden). Sowohl in sozialstruktureller wie auch in mentaler Hinsicht hat sich in Ostdeutschland eine Form der Sozialität herausgebildet, in der neben langsam steigender Zufriedenheit auch Gefühle der Benachteiligung und der politischen Entfremdung wachsen, die mehr sind als ein nicht enden wollendes Murren einiger Ewiggestriger.

Die DDR-Gesellschaft war durch eine nach unten zusammengedrückte Sozialstruktur und eine arbeiterliche Kultur geprägt, was auch auf das Dienstleistungsproletariat und die Transferklassen von heute ausstrahlt – es dominiert eine Mentalität der einfachen Leute. Gab es in der Frühphase beachtliche Aufstiegsmobilität, so war die späte DDR durch eine starre Sozialstruktur und zunehmend verstopfte Pfade in die höheren Positionen gekennzeichnet. Sie war zudem eine eingekapselte und ethnisch homogene Gesellschaft, die kaum Erfahrung mit Zuwanderung gemacht hatte. Die Vereinigung versprach zwar schnelle Freiheits-, Wohlstands- und Konsumgewinne, erfolgte aber als ökonomischer sowie sozialer Schock und strapazierte die Bewältigungskapazitäten der Menschen bis aufs Äußerste.7 Zudem fand sich die DDR-Bevölkerung über Nacht auf den unteren Rängen der gesamtdeutschen Hierarchie wieder und unterschichtete die westdeutsche Gesellschaft. Deklassierungs- und Entmündigungserfahrungen waren an der Tagesordnung, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem man gerade zum ersten Mal die beglückende Erfahrung kollektiver Handlungsfähigkeit gemacht hatte. Es gab einen massiven Elitentransfer von West nach Ost – eine Überschichtung –, die wichtigsten Schaltstellen der ostdeutschen Teilgesellschaft wurden mit neuen, importierten Eliten besetzt. Anders als beim Wiederaufbau der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im Zuge der Wiedervereinigung nicht zu einer kollektiven Aufwärtsbewegung breiter gesellschaftlicher Schichten. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Wiedervereinigung in eine Zeit fiel, als auch in Westdeutschland der »kollektive Fahrstuhl« (Ulrich Beck) ins Stocken geriet.8 Die lange Phase kollektiver Wohlfahrtsgewinne, anhaltender Prosperität und offener Aufstiegskanäle – das manchmal so bezeichnete »Goldene Zeitalter« – neigte sich dem Ende zu.9 So stellte sich nicht nur der Weg der wirtschaftlichen Erholung und des Aufschließens als weit steiniger heraus, als erwartet, es kam auch zu erheblichen Mobilitätsblockaden, welche die ostdeutsche Teilgesellschaft auf Dauer kleinhalten sollten. Der Deckel auf der nach unten zusammengedrückten Sozialstruktur wurde somit nicht gelöst, sondern in mancher Hinsicht noch fester zugeschraubt. In der Folge hat sich eine gesellschaftliche Formation herausgebildet, in der Vorbehalte, Systemskepsis und populistische Mobilisierung hervortreten, während die Selbstbindung an eine liberale Ordnung und ein tolerantes soziales und politisches Klima einen schweren Stand haben. Diese Phänomene beschreiben Ostdeutschland weder als Ganzes noch exklusiv, doch verdichten sie sich dort auf besondere Weise.

Ich verbinde diese – zugegebenermaßen ernüchternde – Diagnose nicht mit wohlfeilen Rezepten zur Therapie, weil sozialstrukturelle und mentale Verfasstheiten nicht einfach zu reparieren sind. Worum es mir geht, ist zunächst einmal eine nüchterne Bestandsaufnahme, die uns helfen soll zu verstehen, dass wir es nicht mit Übergangsphänomenen oder damit zu tun haben, dass der Osten einfach nur anders »tickt«. Vermeiden möchte ich auch jedwede nostalgische Verklärung einer ach so gemeinschaftlichen DDR mit echter solidarischer Verbundenheit, weil soziale Kontrolle und Repression nicht nur zur DDR dazugehörten, sondern diese gleichsam konstituierten. Ebenso wenig möchte ich mich aber an dem Schulterklopfen beteiligen, dem sich alle Jubeljahre die Führungskräfte dieses Landes hingeben und dabei übersehen, dass viele der Probleme in Ostdeutschland nicht nur Erblasten des Staatssozialismus sind, sondern im Zuge von Vereinigung und Transformation reproduziert, verstärkt oder gar hergestellt wurden.

Die Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Transformation ist nur auf den ersten Blick eine Einladung zur innerdeutschen Nabelschau. Man könnte meinen, im Zeitalter globaler Turbulenzen, europäischer Krisen, transnationaler Migrationsströme und digitaler Transformationen sei der Vorgarten deutsch-deutscher Probleme doch recht klein. Wer möchte sich angesichts vermeintlicher oder tatsächlicher Bedrohungen des westlichen Erfolgsmodells mit den Befindlichkeiten einer zwar vernarbten, aber im internationalen Vergleich letztlich privilegierten Gesellschaft beschäftigen? Einerseits. Andererseits ist das Thema Ostdeutschland auch ein offenes Deutungsfeld, das den lange Zeit triumphierenden Geist des Westens herausfordert. Die Fortschritts- und Modernitätserzählung der westlichen Modellgesellschaft wirkt angekratzt, verschiedene Autoren sprechen schon von einer »großen Regression«, einem schrittweisen Aufweichen institutioneller wie normativer Errungenschaften der sozialen Moderne.10 In vielen Teilen der Welt sind politische Unternehmer erfolgreich dabei, Gegennarrative aufzubauen und daraus Kapital zu schlagen, so dass die Zukunft der westlichen Welt heute wieder offener erscheint als noch vor wenigen Dekaden. Manche konstatieren gar eine »Wiederkehr der Verdrängten«,11 die die Lasten der neoliberalen Marktentfesselung hauptsächlich zu tragen hatten; andere betonen das autoritäre und ressentimentgeladene Moment, das den neuesten sozialen Bewegungen innewohnt.12

Ostdeutschland ist hierbei keine Randnotiz, sondern möglicherweise ein Verdichtungsraum für auch andernorts zu beobachtende Verwerfungen. Eine frakturierte Gesellschaft ist anfälliger für Stimmungen, die aus dem Gefühl des Zu-kurz-Kommens entspringen, aus der Entwertung des eigenen Lebensmodells, aus kulturellen Irritationen, ökonomischer Prekarisierung und den Zumutungen zunehmender Flexibilisierung. Ostdeutschland ist ein Laboratorium dieser übergreifenden Prozesse, weil sich hier auf besondere Weise beobachten lässt, wie das lebensweltliche Gepäck und mentale Tradierungen, ökonomische Entsicherung und politische Integrationsdefizite aufeinandertreffen. Der Osten nimmt möglicherweise sogar eine Pionierrolle beim populistischen Aufstand der Unzufriedenen und Frustrierten ein.

Ich beabsichtige keine Gesamtdarstellung, weder der DDR noch der Wiedervereinigung, noch der gesellschaftlichen Transformation Ostdeutschlands. Angesichts des Umfangs der vorhandenen Literatur – in den Neunzigern gab es eine eigene Kommission zur Untersuchung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern,13 danach den Sonderforschungsbereich »Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung« (SFB 580),14 und jüngst ist eine mehr als 2000 Seiten lange Kulturgeschichte der DDR erschienen15 – wäre dies auch unredlich, wobei bei der Sichtung der Literatur schon auffällt, dass das sozialwissenschaftliche Interesse am Osten über die Zeit deutlich nachgelassen hat. Meine Ambition ist bescheidener: Ich stelle sozialstrukturelle Wandlungsprozesse seit den siebziger Jahren in den Mittelpunkt und analysiere damit im Zusammenhang stehende Mentalitätsumbrüche. Ich gehe davon aus, dass sich über die Beschreibung sich wandelnder Schichtungs- und Lagerungsbilder einer Gesellschaft – ähnlich einem Röntgenbild – auch ihr gesellschaftlicher Kern freilegen lässt.

Das Buch teilt sich, wie die meisten ostdeutschen Biografien der mittleren und älteren Jahrgänge, in zwei Teile: in ein Leben in der DDR und ein Leben im wiedervereinigten Deutschland, mit der Wende als kritischer Weichenstellung. Im ersten Teil beschreibe ich den Alltag und die Sozialstruktur der DDR. Dabei greife ich – für einen Wissenschaftler möglicherweise ungewöhnlich – auch auf das Selbsterlebte zurück. Wie haben wir gelebt? Wie hat die Arbeitsgesellschaft die Menschen integriert? Welche Rolle spielten Konformismus und Kontrolle? Wie stand es um die viel beschworene Völkerfreundschaft der DDR? Mein Befund ist der einer stark nivellierten, um die Arbeit herumstrukturierten, geschlossenen und ethnisch homogenen Gesellschaft, die sich vom westdeutschen Pendant – mittelschichtdominiert, migrantisch geprägt, zunehmend individualisiert – grundlegend unterschied. Mit verstopften Aufstiegskanälen, politischen Erstarrungstendenzen und wachsender Unzufriedenheit war die DDR zum Ende hin zudem ein erschöpftes und ausgelaugtes Land, unfähig dazu, eine neue Entwicklungsdynamik auszulösen.

Mit der Wiedervereinigung, so die Diagnose des zweiten Teils, wurden viele der strukturellen Eigenheiten allerdings nicht aufgelöst, sondern weitergetragen, mitunter sogar vertieft. Die politische Mobilisierung im Jahr 1989 wurde bald von einer Duldungsstarre abgelöst, die Menschen wurden aufgefordert, sich ohne Wenn und Aber in die neuen Verhältnisse einzupassen. Die althergebrachten Mentalitäten sollten zurückgelassen werden, um für die Gesellschaft des Westens fit zu werden. Die Erfahrung der soziokulturellen Entwertung führte zu einer Verfestigung alter Prägungen – einschließlich einer Distanz zu den politischen Institutionen und ihren Repräsentanten. Der Geburteneinbruch und die massenhafte Abwanderung der Mobilen und der Qualifizierten hinterließen tiefe, nicht ausgeheilte demografische Narben. Aufgrund der Vielzahl struktureller Frakturen gibt es eine starke Empfänglichkeit der ostdeutschen Gesellschaft für Ressentiment und Radikalisierung. Dabei ist es die Summe und Verklammerung der aus der DDR hergebrachten und der im Transformationsprozess erzeugten oder in Kauf genommenen Defekte, die die ostdeutsche Teilgesellschaft heute wie eine Hypothek belasten.

Lütten Klein (der Name stammt aus dem Wendischen und bedeutet »kleiner Ahorn«) ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin: Als DDR-typisches Neubaugebiet verkörpert er die Erfindung der sozialistischen Stadt auf der grünen Wiese mit typischen Lebenswegen und Lebensweisen. Das Viertel ist ein Ort des sozialstrukturellen Umbruchs, der viele seiner Bewohner in andere Bahnen katapultiert hat und an dem sich Beschleunigung und Stillstand treffen, wo sich Selbstbehauptungskämpfe abspielen, wo Mentalitäten und Weltbeziehungen sich aneinander reiben. Lütten Klein ist mein Fenster zur Beobachtung des sozialen Wandels in Ostdeutschland, öffnet mir einen Erfahrungsraum und den Zugang zum Erleben aus erster Hand, alle Risiken der Zeitzeugenschaft, der Subjektivität und der Verwendung des Wörtchens »ich« inklusive. Meine Perspektive verbindet die Transformation der ostdeutschen Teilgesellschaft also mit einem konkreten, von mir immer wieder besuchten und befragten Ort, so dass Vogel- und Froschperspektive zusammenkommen. Die Nutzung der eigenen biografischen Erfahrung färbt mein Porträt der ostdeutschen Gesellschaft ohne Zweifel subjektiv ein, bietet aber auch das Privileg der Innenschau, des Dabeigewesenseins. Sie tritt neben meine weiter gefasste Perspektive auf den Wandel der ostdeutschen Gesellschaft, die sich wissenschaftlicher Befunde und vieler empirischer Mosaiksteine bedient und diese zu einem eigenen Argumentationsgang verdichtet.

Über wissenschaftliche Quellen und meinen eigenen Erfahrungshorizont hinaus nutze ich Informationen aus zahlreichen Erkundungen vor Ort, die ich zwischen Sommer 2017 und März 2019 unternommen habe. Über dreißig Interviews habe ich mit heutigen und ehemaligen Lütten Kleinern geführt. Oft hat mir erst der Stallgeruch Zugang zu meinen Gesprächspartnern verschafft. Einige habe ich aus meinem Bekanntenkreis rekrutiert, bei anderen einfach geklingelt oder sie an der Straßenbahnhaltestelle angesprochen, wieder andere als Amts- oder Funktionsträger kontaktiert. Einige haben mich zu sich ein-, dann wieder ausgeladen, manches Gespräch lief ins Leere. Bis auf diejenigen, die ich aufgrund ihrer Funktion interviewt habe, wurden die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner anonymisiert. Ihre Erzählungen und Weltsichten – den O-Ton des Erlebens – nutze ich, um den Gegenstand anschaulicher zu machen, wissenschaftliche Einsichten und Argumente mit Leben zu füllen und den Erfahrungen eine Stimme zu geben – also eher mit illustrierendem Anspruch denn im Sinne einer methodisch abgesicherten qualitativen Studie. Meine Gesprächspartner rückten auch mein eigenes Bild des Lütten Kleiner Alltags von damals und heute zurecht.

Als Teilnehmer am »Experiment Vereinigung«16 bin ich in meiner Betrachtung dieses Großversuchs natürlich befangen, aber vielleicht auch nicht mehr als eine amerikanische Kollegin, die sich zur Situation in den USA äußert, oder ein französischer Soziologe, der die französische Gesellschaft untersucht. Wolle man etwas über die DDR wissen, so hat es mein 2018 verstorbener akademischer Lehrer Wolfgang Zapf immer betont, brauche man »Ortskenner«, allein durch Außenanschauung und Fernerkundung ginge das nicht. Für mich selbst waren die Vor-Ort-Besuche eine Herausforderung. Zu vielen und zu vielem habe ich sowohl Distanz als auch Nähe empfunden. Distanz, weil mein eigenes Leben heute mit dem Lütten Kleiner Alltag so wenig gemein hat; Nähe, weil mir die Art, auf die Welt zu schauen, und das mentale Gepäck vieler Bewohner dann doch vertraut waren.

All jenen, die mir als Interviewpartner Rede und Antwort gestanden haben, bin ich zu Dank verpflichtet. Danken möchte ich zudem allen, die mir während des Schreibprozesses Stichworte und Anregungen geliefert haben, oft vermutlich ohne dass sie dies selbst merkten. Ein besonderer Dank geht an Thomas A. Schmidt, Susanne Balthasar, Fabian Gülzau, Bernd Hunger, Sebastian Büttner, Michael Windzio, Kerstin Martens, Jürgen Gerhards, Kirsten Hartmann, Thomas Lux, Birgit Mau, Stefan Svallfors, Heike Solga, Hans Nitschke, Hagen Schulz-Forberg, Meta Cramer und Sven Schenkewitz. Marten Körner hat mir als Fotograf und Freund neue Blicke eröffnet. Katja Kerstiens hat den Text gewohnt souverän und kritisch gelesen und mich zu vielen Verbesserungen motiviert. Carolin Blauth und Julian Heide haben mir bei den Recherchen geholfen und Grafiken erstellt. Heinrich Geiselberger hat mich beim Suhrkamp Verlag betreut. Ohne ihn, seine Ermunterungen, sein Vertrauen in das Projekt und seine gekonnte Arbeit am Text wäre das Buch nicht zustande gekommen. Christian Heilbronn hat mir schon zu einem frühen Zeitpunkt wichtiges Feedback gegeben. Große Teile dieses Buchs konnte ich als Visiting Fellow am Center for European Studies an der Harvard University schreiben. Für die Einladung und den intensiven Austausch bin ich insbesondere Gregorz Ekiert, Peter Hall und Michèle Lamont zu Dank verpflichtet.

I. Leben in der DDR