Über das Buch

Der Wohlfahrtsstaat ermöglicht den Norwegern ein gutes Leben, die Work-Life-Balance ist selbstverständlich, und abgesehen von der Königsfamilie gibt es kaum Hierarchien. Dabei sind die Royals ähnlich entspannt und sportlich wie ihre Landsleute. Denn: Ein bisschen Ski schadet nie.

Im dünn besiedelten Norwegen ist die einzigartige Natur mit den zerklüfteten Küsten, Fjorden und Bergketten allgegenwärtig. Auch in ihrer Kreativität sind die Norweger naturverbunden und ausdauernd. So kann man mit Edvard Munch und Karl Ove Knausgård durch den Wald spazieren, feuchtfröhliche Musikfestivals in den Bergen erleben und beim Slow-TV stundenlang live zuschauen, wie sie Holz hacken oder Strickmarathons veranstalten.

Die Norweger lieben eben Herausforderungen jeglicher Art. Alva Gehrmann erlebt Aha-Momente auf Spitzbergen, begleitet eine Sámi-Familie jenseits des Polarkreises bei der Rentierwanderung, treibt auf einer Floßsauna im Oslofjord und ist mit an Bord, als »Maud«, das gestrandete Segelschiff des legendären Polarforschers Roald Amundsen, nach 100 Jahren in die Heimat zurückkehrt.

Lassen Sie sich von der nordischen Gelassenheit, Ausdauer und Abenteuerlust anstecken, sodass auch Sie sagen können: I did it Norway!

Über Alva Gehrmann

Alva Gehrmann reist seit 15 Jahren als freiberufliche Journalistin bis in die entlegenen Winkel Nordeuropas. Sie arbeitet für Print- und Onlinemedien und schreibt Sachbücher. Zuvor erschien, ebenfalls bei dtv: ›Alles ganz Isi – Isländische Lebenskunst für Anfänger und Fortgeschrittene‹. Alva Gehrmann lebt in Oslo und in Berlin. Eins ist sicher: Das Abenteuer Norwegen geht für sie weiter, denn ihre Skikünste und ihre Seetauglichkeit sind noch deutlich ausbaufähig.

Originalausgabe

© 2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

VORWORT

Als ich einem Norweger mal von meinem Alltag erzählte, sagte er: »Es scheint, dass du dorthin gehst, wo der Wind dich hinträgt.« Und so ist es. Der Wind, der Zufall und neu gewonnene Freunde haben mich über die Jahre an viele unerwartete Orte in Norwegen gebracht. Sei es auf einen stürmischen Angelausflug, ein Musikfestival in den Bergen, eine abgelegene Insel in Schmetterlingsform, eine Floßsauna im Oslofjord oder über Nacht in ein traditionelles Zelt der Sámi, der indigenen Bevölkerung des hohen Nordens.

Seit mehr als 15 Jahren berichte ich über und aus Nordeuropa. Zuvor habe ich bereits in Island und Finnland gewohnt und gelernt, dass es im Alltag umringt von wilder Natur und plötzlichen Wetterumschwüngen besser ist, nicht alles typisch deutsch bis ins letzte Detail zu planen. Also lasse ich mich öfter treiben und inspirieren.

Eines Tages erfuhr ich von der Rückholaktion eines historischen Schiffes: Nach rund hundert Jahren sollte das gestrandete Segelschiff des legendären Polarforschers Roald Amundsen heimgeführt werden. Das von Jan Wanggaard betreute Projekt gleicht einer modernen Expedition und passt zur Heimat wagemutiger Seereisender – von den Wikingern über Amundsen und Fridtjof Nansen bis hin zu Thor Heyerdahl.

Und so fasste ich den Plan, das Projekt zu verfolgen. Die mehrjährige Geschichte von der Rückkehr segelt nun durch das Buch genau wie die besonderen Begegnungen mit Norwegern, die mich gastfreundlich an ihrem Alltag teilhaben ließen und mir ihre Region zeigten. Je tiefer man in eine Gesellschaft eintaucht, desto mehr Facetten und Eigenheiten entdeckt man. Während die Isländer am liebsten im Hot Pot, den heißen Quellen, relaxen und die Finnen in ihrer Sauna schwitzen, müssen die Norweger erst einige Stunden wandern oder Ski fahren, bevor sie sich eine Pause verdient haben. Natürlich sind nicht alle gleich, aber es ist schon erstaunlich, wie sportlich die Nation ist.

Außerdem wundert mich bis heute, warum die Norweger Kaviar aus der Tube essen, selbst wenn frischer auf dem Frühstücksbuffet liegt, und ich muss über die dicken Lippen schmunzeln, wenn sie an ihrem snus, dem Oraltabak, saugen. Die kulturellen Unterschiede zeigen sich eben oft im Detail.

Neben außergewöhnlichen Schiffsprojekten und vielfältigen Besuchen in der Provinz, erlebe ich Klassiker wie die Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo, das Peer-Gynt-Festival und den Nationalfeiertag am 17. Mai, bei dem die Norweger ihre Heimat in ein für uns Deutsche gewöhnungsbedürftiges Flaggenmeer verwandeln. Ich fahre in die Ölhauptstadt Stavanger, erforsche, wie der einst relativ arme Bauernstaat sich dank der Funde vor der Küste zu einem der weltweit reichsten Länder entwickelte, und dass theoretisch jeder Norweger ein Millionär ist. Ihr wahres Glück erleben die Skandinavier jedoch vor allem mit ihrer Familie beim friluftsliv, dem Leben im Freien.

Es überrascht nicht, dass das Königreich Norwegen beim jährlichen World Happiness Report der Vereinten Nationen meist einen der Spitzenplätze belegt – mal ist es das »glücklichste Land der Welt«, mal das zweitglücklichste.

Es klingt nach einem klischeehaften Leben am Fjord, doch selbstverständlich sind die Norweger nicht ständig happy und es gibt dramatische Storys hinter der glänzenden Fassade. Das größte Trauma in jüngster Zeit ereignete sich am 22. Juli 2011. Bei dem Massaker starben 77 Menschen. Es schmerzt die Norweger bis heute, dass ausgerechnet einer von ihnen die Anschläge verübte. Die besonnene Reaktion darauf mit mehr Menschlichkeit und Offenheit beeindruckte die Weltgemeinschaft, aber auch im ansonsten weitgehend friedlichen Land gibt es – wie in den meisten Nationen – rechtsradikale Kräfte.

»Norweger und Deutsche sind Freunde. Und Freunde sollten ehrlich und kritisch miteinander sein«, sagte Jostein Gaarder, der Autor von ›Sofies Welt‹, zu mir, als er von diesem Buchprojekt hörte. So erwähne ich auch den Zweiten Weltkrieg, Willy Brandts Zeit im Exil und unsere heutigen bilateralen Beziehungen.

Anfangs dachte ich, dass ich die norwegische Lebensart leicht beschreiben kann, doch nach vier Jahren weiß ich, dass die Gesellschaft des Wohlfahrtsstaates genauso vielseitig ist wie die allgegenwärtige Natur. Was die Norweger vereint, ist ihre Liebe für ein Quiz – auf Sommerfesten, Lesungen, Festivals und in den Medien. Deshalb gibt es am Ende dieses Buches eines, bei dem du dein Wissen testen kannst. Ach ja, die meisten Nordeuropäer duzen einander. Deshalb schlage ich vor, wir tun dies ebenfalls. Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Alva.

Nun wünsche ich dir viel Spaß, dich auf das Abenteuer Norwegen lesend einzulassen – und vor allem, dich treiben zu lassen. »I’ve travelled each and every highway / And more, much more than this / I did it my way«, sang Frank Sinatra schon vor 50 Jahren. Auch ich fuhr über (fast) jede Straße und entdeckte das Land auf meine eigene Art.

I did it Norway!

 

Die norwegische Sprache

Im Norwegischen gibt es zwei gleichrangige Schriftsprachen – Nynorsk und Bokmål. Nynorsk wurde Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der aufkeimenden Unabhängigkeitsbewegung als eigenständige Sprache entwickelt. Sie basiert auf einer Auswahl norwegischer Dialekte und ist im Altnordischen verankert. Parallel dazu wurde Bokmål begründet, das seinen Ursprung im Dänischen hat. Die Sprachen ähneln sich, ein Beispiel: Das Wort für Liebe ist in Bokmål »kjærlighet« und in Nynorsk »kjærleik«. In beiden Varianten werden Substantive kleingeschrieben, deshalb handhabe ich es auch im Buch so bei den kursiv gesetzten Begriffen. Die Aussprache einiger Buchstaben ist ebenfalls besonders: Das »ø« klingt wie »ö«, »å« wie ein langes »o« und æ wie »ä«. Und um es noch komplizierter zu machen, gibt es zahlreiche Dialekte mit eigenen Begriffen.

Die norwegische Sprache hört sich oft fröhlich an, weil insbesondere im Oslo-Dialekt die Satzmelodie am Ende stets nach oben geht. Der isländische Comedian Ari Eldjárn hat den Singsang treffend beschrieben: »Die Norweger lieben Skispringen und sie reden, als würden sie Ski springen.« Selbst ökonomische Begriffe zum veränderten Ölpreis klingen leicht und sportlich: oljeprishopp.

FAMILIEN

Farmleben mit Bonus-Papa und Peer Gynt,
dugnads und die Osloer Gemeinschaft

Familie Aanekre erhält immer wieder spontan Besuch. Einmal stand ein Freund sogar mit einem halben Elch vor ihrer Haustür. Der Mann hatte das tote Tier geschenkt bekommen und wollte es auf seinem Pick-up nach Hause ins dreieinhalb Autostunden entfernte Oslo transportieren. Da der Städter nicht wusste, wie man einen Elch fachgerecht zerlegt, fuhr er kurzerhand beim Bauernhof in Gudbrandsdalen vorbei. Die Familie half gerne aus.

Seit Jahrhunderten steht am Berghang umringt von saftigen Weiden Aanekre gård, die Aanekre-Farm. Traditionell liegen die Höfe in dieser Inlandsregion weit voneinander entfernt. »Außer Schussweite«, wie die Norweger zum Spaß sagen. Zum einen brauchen sie ausreichend Fläche für ihre Landwirtschaft, zum anderen genießen sie ihren individuellen Freiraum. Genügend Platz gibt es in dem skandinavischen Land ja. Kleine Dörfer und solche einzelnen Höfe bilden die Gemeinde Sør-Fron mit dem Zuhause der Familie.

»Du kannst uns jederzeit besuchen und so lange bleiben, wie du willst«, sagte Marita Aanekre am Rande einer Party. Damals kannten wir uns knapp eine Stunde. Wir haben zwar einen gemeinsamen Freund, ansonsten war ich für sie eine Fremde. Anfangs war ich mir nicht sicher, ob ich das Angebot wirklich annehmen sollte. Doch unser Freund bestätigte, dass Marita es so meint und sehr gastfreundlich sei. Also beschließe ich, sie im Sommer für eine Woche zu besuchen. Was kann ich mitbringen? Biete ich an, ihr für die Zeit Miete zu zahlen? Der Freund sagte, so funktioniere das auf dem Land nicht. Ich solle guten Wein besorgen. Das reiche.

Ende Juli fahre ich nach Gudbrandsdalen und lasse mich auf das Familienleben in der Provinz ein. Anstatt eines halben Elchs stehe ich mit reichlich Weißwein vor der Tür. Marita umarmt mich zur Begrüßung herzlich. Die temperamentvolle Mittvierzigerin hat lange schwarze Haare und strahlend blaue Augen, sie ist braun gebrannt. An diesem Sommertag trägt sie ein enganliegendes T-Shirt und Shorts, sie läuft barfuß durch die Küche.

In Nordeuropa ist es üblich, beim Betreten einer Wohnung oder eines Hauses die Schuhe auszuziehen. Und so läuft man selbst bei festlichen Privatpartys in glitzernden Kleidern und schicken Anzügen, aber auf Socken oder barfuß umher.

 

In Norwegen werden dem Besucher ständig
verlockend duftende Waffeln angeboten

Marita übernahm den Hof im Jahr 2003 von ihren Eltern. Ihre drei Brüder hatten weniger Interesse am Farmleben, sie wohnen nun in größeren Städten. Die Familie hält aber weiterhin zusammen und unterstützt sie bei der Erhaltung von Aanekre gård.

Maritas drei Kinder aus erster Ehe backen gerade in der offenen Küche Waffeln. Sie haben so viel Teig gemacht, dass er für die nächsten Tage reichen wird.

Bevor wir die in Norwegen so beliebten und allgegenwärtigen Waffeln essen, macht die Hausherrin für mich eine Tour über das grasbewachsene Hofgelände, zu dem außer ihrem schwarz gestrichenen Haupthaus einige kleinere Nebengebäude gehören – zum Beispiel eine alte Werkstatt und ein stabbur. So heißen die einstigen Lebensmittelspeicher, die meist aus Schutz vor Mäusen und anderen Tieren auf Pfosten errichtet wurden. Heute ist das hölzerne Haus ein Lagerraum. Es steht unter Denkmalschutz, ebenso wie das seitliche Gebäude, in dem ihre Großeltern bis ins hohe Alter lebten. Die Einrichtung dort ist gespickt mit rustikalen Sitzbänken, alten Spinnrädern und hölzernen Buttermaschinen.

»Früher haben wir Schweine gehalten, Eier verkauft und Heu gemacht«, erzählt Marita. Die angrenzende Schweinefarm hat sie nach einigen Jahren verkauft, die Landwirtschaft rechnet sich trotz Subventionen erst ab einer bestimmten Größe. Doch das war nicht Maritas Weg. Also hat sie umgesattelt, schließlich ist sie gelernte Pädagogin. »Momentan nutzen wir den Hof vor allem für Bildungszwecke.« Jede Woche kommen erziehungsschwierige Schüler zu ihr, die fernab der modernen Hektik Ruhe finden und eine neue Struktur erlernen sollen. An anderen Tagen besuchen sie Demenzerkrankte aus der Gemeinde, die in den historischen Gebäuden ihre Erinnerung trainieren.

Marita führt Aanekre gård zusammen mit ihrem neuen Partner Eskil Hovland, der der bonuspappa ihrer Kinder ist. Eskil arbeitete 20 Jahre als Industriekletterer auf Ölplattformen und wohnte an der Westküste bei Haugesund, bis er 2008 ins Inland zog. Seine Expartnerin und die beiden gemeinsamen Töchter wohnen im nahe gelegenen Gausdal. Er sieht seine Töchter so oft es geht.

Eskil hilft Maritas Kindern bei der Vorbereitung des Nachmittagskaffees und stellt die Teller bereit. Der Küchenblock samt eingelassener Spüle und großzügiger Ablagefläche dient zugleich als Esstisch. Am Ende der Tour sitzen wir dort beisammen und essen die Waffeln samt Sauercreme und Marmelade. Manche garnieren sie mit brunost, dem karamellisierten Braunkäse, der insbesondere in Gudbrandsdalen produziert und auch international verkauft wird.

Eskil schaut nebenbei auf den Plan für die nächsten Tage. Er möchte mir einige besondere Orte der Region zeigen. Es sind Sommerferien, deshalb hat die Familie theoretisch viel Zeit.

Würden sie sich nicht ehrenamtlich beim zehntägigen Peer-Gynt-Festival engagieren.

 

Peer Gynt: mehr als ein Mythos

Die kauzige Figur Peer Gynt ist den Norwegern bis heute so vertraut wie ein Nachbar. Sie geht auf einen Bauernsohn namens Per (mit einem »e«) zurück, der im 17. Jahrhundert in Gudbrandsdalen lebte. Die Storys über ihn wurden von Generation zu Generation weitergetragen und Mitte des 19. Jahrhunderts zuerst von Peter Christen Asbjørnsen in einem Märchen beschrieben. Vor rund 150 Jahren inspirierte Henrik Ibsen das abenteuerliche Leben Pers sowie die Natur zu seinem berühmten Theaterstück.

Peer Gynt ist ein Eigenbrötler, der versucht, durch Lügengeschichten der Realität zu entfliehen. Auf seinen Reisen begegnet er Trollen und Dämonen, er lebt in Nordafrika, wird durch den Sklavenhandel reich, verliert später alles und kehrt im Alter verarmt zurück nach Hause. Er vergleicht sich mit einer Zwiebel, die viele Hüllen, aber keinen Kern besitze. Am Ende rettet ihn seine Jugendliebe Solveig, die ein Leben lang auf ihn gewartet hat.

Seit 1989 wird das Theaterstück jeden August am »Originalschauplatz« in Gålå aufgeführt – das Festival ist eines der wichtigsten Kulturereignisse Norwegens. Die professionellen Hauptdarsteller wechseln alle zwei Jahre, manche Laiendarsteller bleiben über Jahrzehnte. Marita ist seit 2003 dabei, anfangs half sie hinter den Kulissen aus, nun steht sie ebenfalls auf der Bühne. Ihre Teenagertöchter Oda und Nora sowie ihr elfjähriger Sohn, der wie ihr neuer Partner Eskil heißt, spielen seit sieben Jahren mit. Ihre Rollen verändern sich je nach Alter.

Es macht den Kindern Spaß, in die Theaterwelt einzutauchen. Eine Berufsperspektive ist es für die drei nach derzeitigem Stand trotzdem nicht: Eskil ist begeisterter Snowboarder, Nora möchte Polizistin werden und die Älteste, Oda, Krankenschwester. Und wer weiß, vielleicht übernimmt doch eines der Kinder den Hof. Marita würde es freuen.

Nach der Kaffeepause fährt sie mit ihnen zu den Proben ins 15 Autominuten entfernte Gålå. Da der Bonus-Papa in diesem Jahr für die Pyrotechnik zuständig ist, muss er nicht jedes Mal mitkommen.

Vier Wochen ihrer Ferien widmet die Familie dem Stück, das vor einer dramatischen Kulisse am See aufgeführt wird. Bei jeder Inszenierung bindet der Regisseur die umliegende Natur neu und spektakulär in die Handlung ein. Auf der Freilichtbühne spielen die Aanekres vor jeweils rund 1000 Zuschauern.

Das Festival ist nicht nur ein Kulturhighlight, sondern auch ein riesiges dugnad. Man kann dugnad als ehrenamtliches Engagement, Gemeinschaftsarbeit oder Nachbarschaftshilfe übersetzen, doch für die Norweger, so sagen sie, bedeutet es viel mehr. Im Falle des Peer-Gynt-Festivals mag es vergleichbar sein mit Theaterfestspielen in anderen Ländern, die ebenfalls ohne die unbezahlte Unterstützung durch Laienkräfte undenkbar wären.

Doch in Norwegen ist freiwillige Arbeit auch im Alltag ein wichtiger Teil der Freizeitgestaltung und ein Grund, warum diese straff durchstrukturiert ist. Es finden regelmäßig dugnads statt – im Fußballverein, im Skiclub, man sammelt für das Schulorchester und hilft natürlich Freunden auf benachbarten Farmen. Die Gemeinschaft hält zusammen, das gilt auf dem Land ebenso wie in der Stadt.

Bevor die Aanekres zur Probe aufbrechen, frage ich Marita, wie ich im Haushalt helfen kann. Sie schaut für einen Moment ernst und weist mich dann auf die wichtigste Aufgabe für die kommenden Tage hin: »So viele Fliegen wie möglich töten«, sagt sie, lächelt und übergibt mir eine blutverschmierte Fliegenklatsche. Die nahe Schweinefarm lockt die summenden Zweiflügler an. Ich gebe mein Bestes und werde zur Massenmörderin, obwohl Maritas Kinder eindeutig talentierter sind.

Mit der Plastikklatsche bewaffnet schaue ich mir in Ruhe das Haupthaus an, in dem die Familie auf zwei Etagen lebt. Das Interieur des Hofes könnte problemlos in einer ›Schöner Wohnen‹-Story gezeigt werden. Zwischen Küche und offenem Ess- und Wohnzimmer steht ein Kamin, davor stapelt sich Feuerholz. Die Familie kombiniert Historisches mit Modernem: Ledercouches, Schaukelstühle samt Schafsfellen, gestickte Bilder, alte Holztruhen, Kronleuchter und eingerahmte Fotos des Nachwuchses. Neben dem Klavier hängen an der Wand zwei Gitarren. Hyggelig oder koselig nennt man gemütliche Orte wie diese.

Marita hat sich in der Einsamkeit von Gudbrandsdalen ihr kleines Paradies geschaffen, 2011 ist Eskil dazugekommen. Am frühen Abend sitzen Eskil und ich auf der mit Girlanden geschmückten Terrasse und trinken Wein. Von dort aus blicken wir hinunter auf die grünen Felder und den Fluss, der sich durch das Tal schlängelt.

Ohne das Peer-Gynt-Festival wären Eskil und Marita vermutlich kein Paar geworden. Sie betreute damals die Freizeitangebote für Festivalbesucher, wozu eine Seilrutsche gehörte. »Ein Freund von mir, der wusste, dass ich professioneller Kletterer bin, bat mich darum, bei der Sicherung der Zipline zu helfen«, erzählt der athletisch gebaute Mittvierziger. »Marita und ich haben uns sofort ineinander verliebt.« Es brauchte aber einige Zeit, bis sie ein Paar wurden. Dann zog er zu ihr. »Da ich auf einem Bauernhof aufgewachsen bin, kenne ich das Farmleben gut«, sagt er und nippt am Weinglas.

Der ehemalige Industriekletterer arbeitete auf verschiedenen Ölplattformen und verdiente gutes Geld. Sein Job war es unter anderem, in schwindelerregender Höhe Inspektionen durchzuführen und neue Kletterer anzulernen.

Ich hole eine Landkarte heraus und Eskil zeigt mir die Orte seines vorherigen Lebens: die Westküste bei Haugesund und seine Heimat am tiefsten und längsten Fjord Europas – dem Sognefjord.

Am nächsten Tag schwirren die Kinder schon durch das Haus, alle haben ihren eigenen Rhythmus und ihre Verabredungen außerhalb des Festivals. So machen Oda, Nora und der elfjährige Eskil sich das Frühstück selbst. Zwischendurch kommt die Fliegenklatsche zum Einsatz, obwohl der Bedarf in diesem Sommer relativ groß ist, haben sie nur eine einzige.

Der Bonus-Papa trinkt Kaffee und packt auf sein Brot Kaviar aus der Tube, den beliebten Aufstrich.

Eskil zeigt mir nun seine Wahlheimat. Einer der ersten Stopps ist Ringebu. Das Zentrum der Kleinstadt ziert ein vier Meter hoher Käsehobel, er ist ein Denkmal für das von der norwegischen Firma Bjørklund erfundene Küchengerät. Außerdem führt die Dänin Anni in dem Ort eine nach ihr benannte Metzgerei, sie macht angeblich die besten Würste des Landes, darunter eine »Bratwürst«. (Nein, das ist kein Tippfehler.)

Später besuchen wir die Freilichtbühne in Gålå und schauen bei den Proben zu. Ich spreche erst mit dem Regisseur und dann mit dem Peer-Gynt-Darsteller Mads Ousdal, die Marita und ihre quirligen Kinder bereits aus dem Vorjahr kennen. Auch ihr eigener Nachwuchs spielt mit. Das Team wirkt wie eine eingeschworene Gemeinschaft, in den Pausen toben die Jüngsten in Kostüm am Seeufer. Andere kämmen die Perücken der Trolle oder backen frische Waffeln, wer mag, kann sich bedienen.

»Die Festivalzeit ist sehr wichtig für unsere Familie«, sagt Marita, nun in einem bäuerlichen Kostüm. »Ich bin so glücklich, dass wir sie zusammen erleben. Meine Kinder lernen dabei auch, über das Leben und sich selbst nachzudenken und Teil von etwas Größerem zu sein.«

Kurz vor der Premiere, zwei Tage danach, fährt Eskil mit mir auf die Farm von Øystein Rudi, der in seiner Jugend ein landesweit bekannter Fiedler war. Inzwischen tritt er nur noch zum Spaß auf, meist im Begleitprogramm von Events. Wie Marita hat er mit seinem Familienhof Rudi gård einen neuen Weg eingeschlagen. In der ehemaligen Scheune finden regelmäßig Konzerte statt, an diesem Abend spielt Bjørn Eidsvåg.

Der Folksänger und Komponist um die 60 ist in Norwegen eine Legende, eine Art Mischung aus Reinhard Mey und Johnny Cash. Hunderte Menschen kommen zum Konzert. Unter das Publikum mischt sich am Abend die Peer-Gynt-Crew – darunter sind Marita, ihre Kinder, der Regisseur und die Hauptdarsteller sowie deren Familien. Im Anschluss plaudert Eidsvåg noch kurz, danach läuft der Musiker zu einem bereitstehenden Helikopter, setzt sich neben den Piloten und wenige Minuten später blicken die Besucher erstaunt gen Himmel, wie der Sänger über sie hinweg fliegt.

 

Familienbande: Oda, Eskil, Nora und ihre
Mutter Marita im Kostüm am See von Gålå

»Manchmal helfen wir bei Rudis Festen ehrenamtlich aus«, erzählt Marita. »Es ist wichtig, dass wir in der Gemeinde zusammenhalten.« Sie ist zudem im regionalen Bauernverband, in der Kirche und in weiteren Organisationen tätig. »Manchmal übermannt einen die freiwillige Arbeit, vor allem, weil ich nie Nein sagen kann. Andererseits finde ich es auch wichtig, Dinge gemeinsam aufzubauen.« Jetzt ist sie etwas müde von den Proben.

Am nächsten Vormittag hat Marita frei und so fahren wir zu einer Sommerweide in den Bergen, wo befreundete Bauern ihre rund 30 Kühe wie zu alten Zeiten halten. Sie verwenden lediglich einfache Melkmaschinen. Selbstverständlich packen Marita und Eskil gleich mit an: »Yte før du kan nyte« – sinngemäß: Man muss sich die Entspannung erst verdienen. Da sind sie sehr protestantisch.

Zur Brotzeit in der Hütte, bei der unter anderem Kaviar in der Tube und brunost gereicht werden, servieren die Bauern frische Milch. Ein Truck kommt über den schmalen Weg zur Farm und pumpt die Milch für den Verkauf ab. Die Menge wird automatisch berechnet.

Marita und Eskil wollen ihre Sommerhütte, die unweit von Gålå liegt, und ein Nebenhaus von Aanekre gård demnächst an Touristen vermieten. In ländlichen Regionen muss man sich eben immer wieder neu erfinden, um langfristig gute Einnahmequellen zu haben. »Unser Ziel ist es, dass die Häuser der Farm mit Menschen, Tieren und Aktivitäten gefüllt sind«, sagt Marita. Und als wäre es abgesprochen, wirft die Katze während meiner Zeit in Gudbrandsdalen mehrere Junge und es tauchen spontan Freunde von Eskil auf. Das Ehepaar ist auf der Durchreise, eigentlich wollten sie nur für einen Kaffee bleiben. Dann übernachten sie doch in einer winzigen Hütte mit Grasdach, in der man kaum aufrecht stehen kann und die beiden Betten den Innenraum fast ausfüllen.

Abends sitzen wir am langen Esstisch, Oda singt ein Lied am Klavier, das Notenbuch enthält unter anderem Songs von Bjørn Eidsvåg. Wir applaudieren. Anfang August stehen sie, ihre Geschwister und ihre Mutter dann auf der Freilichtbühne des Peer-Gynt-Festivals. Für internationale Besucher fasst ein Mitarbeiter vorher die Story zusammen und händigt Texte auf Englisch und Deutsch aus. Im Hintergrund lässt Eskil die Pyrotechnik knallen.

Marita würde gerne mal die Rolle des Peer Gynt spielen. »Und so den Rebell in mir ausleben. In unserem Alltag gibt es so viele Regeln, und für Menschen wie mich kann es frustrierend sein, so kontrolliert und ›normal‹ zu leben«, sagt sie. Es wäre bestimmt fantastisch, diese Figur zu analysieren. »Denn Peer Gynt wurde gemobbt, er war ein Außenseiter. Man kann sicherlich viel von seinen Erlebnissen lernen.«

Hätte Marita auch gerne den echten Norweger Per, auf dem die Rolle beruht, getroffen? »Auf jeden Fall. Und mit meinem pädagogischen Hintergrund hätte ich sicherlich versucht, ihm zu helfen, bessere Lebensentscheidungen zu treffen«, sagt sie lachend.

 

Norwegische Idylle: die Aussicht
von Maritas Farm auf das Tal

 

Die Hauptstadt-Farm

Nach den Sommerferien kehrt auch in Oslo wieder der Alltag ein. Dort wohne ich in einem Häuserblock mit dörflich anmutendem Namen: Tysklandgården, die »deutsche Farm«. Im ehemaligen Arbeiterviertel Torshov stehen einige Häuserblöcke, in denen sich jeweils rund 100 Parteien einen grün bewachsenen Hof teilen. Schräg gegenüber von der deutschen Farm liegt Frankreich beziehungsweise Frankrikegården, dahinter ist Italien. Meine Nachbarn erzählten mir, dass der französische und der italienische Block einst so benannt wurden, weil in den Eckwohnungen Diplomaten aus den jeweiligen Ländern residierten. In Tysklandgården sei das zwar nicht so gewesen, aber oberhalb von Italien und Frankreich liege schließlich Deutschland.

Unser Häuserblock ist wie ein Dorf inmitten der Hauptstadt. Hier wohnen junge Paare, die sich ihr erstes 30-Quadratmeter-Apartment leisten können, Singles auf 50 Quadratmetern, Familien mit drei Kindern auf zwei Etagen und ältere Ehepaare, die schon in Torshov lebten, lange bevor es wie das angrenzende Szeneviertel Grünerløkka gentrifiziert wurde.

Der Zufall hat mich nach Tysklandgården gebracht. Während meiner ersten journalistischen Reise in Norwegen lernte ich auf einer Privatparty zum 17. Mai, dem Nationalfeiertag, die Schauspielerin Elisabet Topp kennen. Bald darauf tauschten wir für zwei Wochen Wohnungen und lernten so gegenseitig unsere Städte Oslo und Berlin besser kennen.

Das war 2015. Da Elisabet häufig auf Tour ist, ergab sich danach immer wieder die Gelegenheit, ihr Apartment für kürzere Zeit günstig zu mieten. Als sie einen Job in einer anderen Stadt annahm, wurde Tysklandgården zu meinem Osloer Zuhause.

Elisabets Liebe zur Berliner Theaterszene zeigt sich an einem Bertolt-Brecht-Plakat und einem Volksbühnen-Poster, das Oscar Wilde zitiert: »Everything is going to be fine in the end. If it’s not fine it’s not the end.«

Das hoffe ich auch stets, wenn die Nachbarskinder bis in schwindelerregende Höhe auf dem Baum vor meinem Fenster herumklettern. Manchmal hüpfen gleich vier Jungen und Mädchen in der circa sieben Meter hohen Vogelkirsche auf den immer schmaler werdenden Ästen herum.

In einer regulären Arbeitswoche bringen die Eltern ihre Kinder morgens früh in den nahen Kindergarten, die Schüler laufen oder radeln zur Schule, die Erwachsenen fahren mit dem Fahrrad oder der Tram zum Job. Die älteren Trams sind ausrangierte Waggons aus Düsseldorf, wie eine Plakette an der Innentür verrät. Die Bahnen bringen die Torshover in 15 Minuten durch Grünerløkka bis ins Zentrum.

Vormittags gehört der Innenhof den Vögeln und einigen Katzen, die über das weitläufige Gelände streunen. Gelegentlich fegt eine etwa Siebzigjährige vor ihrem Hauseingang und zupft Unkraut im Blumenbeet. Wenn ich zu Hause arbeite, öffne ich oft das Fenster zum Hof. Das Vogelgezwitscher hat etwas Beruhigendes. An einem Vormittag pickt eine Kohlmeise auf das Fensterbrett, als wollte sie bei mir anklopfen. Ich erschrecke mich so, dass sie wegfliegt. Die Meise versteckt sich in der Vogelkirsche, schaut hoch, macht erneut einen Anlauf. Doch sie traut mir nicht.

Ab nachmittags übernehmen die Kinder wieder das Regiment im Hof und auf dem Baum. Die Eltern können die Abenteuer ihres Nachwuchses aus den dreistöckigen Gebäuden gut im Auge behalten, und die Akustik erlaubt es, selbst im letzten Winkel ihr Treiben zu hören. Ab 17 Uhr rufen sie nach ihnen – das middag, Abendessen, beginnt in Norwegen recht früh. Die Mahlzeit ist warm, nachdem es mittags meist nur Kaltes wie Sandwiches, Tomaten und Gurkenstücke gab. Im Anschluss gehen die Kinder und Eltern ihren zahlreichen Hobbys nach.

Oft sieht es auf dem Hof aus, als hätte ein Tornado die Spielzeugautos, Plastikbagger und Schaufeln durcheinandergewirbelt. Die Dreiräder werden nicht abgeschlossen, man vertraut einander. Zwar haben beide Hofeingänge Gatter, doch sie sind nie verriegelt und so kann theoretisch jeder ins Dorf kommen. In Berlin wären die Dreiräder schon lange weg.

Wie sehr ich von 20 Jahren Berlin geprägt bin, wo in jede Wohnung unseres Hauses im Prenzlauer Berg eingebrochen wurde, merke ich bei meiner Geburtstagsfeier mit Freunden. Wir sitzen im Hof an einer Tafel direkt neben meinem Eingang. Neun Parteien leben in dem Hausabschnitt, ein Drittel der Bewohner kenne ich. Wenn einer meiner Gäste etwas aus meinem Apartment in der ersten Etage holen oder zur Toilette will, hole ich jeweils den Schlüssel aus meiner Tasche. Nachdem das bereits einige Male so gegangen ist, kommt ein Freund wieder runter und sagt: »Ich weigere mich, deine Wohnungstür abzuschließen. Hier passiert nichts und wir sitzen direkt neben dem Hauseingang. Entspann dich, Alva!« Die Freunde grinsen. Ich spiele in meinem Kopf durch, wie theoretisch jeder meinen Laptop und mein Portemonnaie klauen kann, und merke schnell, wie albern es ist. In manchen Stadtteilen Oslos schließen die Norweger sogar die Haustür nicht ab.

 

Auch im Winter ist es in
Tysklandgården gemütlich

Wir bleiben bis zum späten Maiabend draußen und meine Freunde singen mir den klassischen Geburtstagssong, bei dem sie, wie der Text es besagt, unter anderem aufspringen, sich verbeugen und um die eigene Achse drehen. Das Lied endet mit einem lauten »Gratulere«. Sicherlich hat es bei der Akustik der ganze Hof mitbekommen. Über das Jahr hinweg feiern so manche ihre Geburtstage im Freien. Wer eine größere Anzahl an Gästen erwartet, warnt die Nachbarn über die Facebook-Seite der Wohnungsgemeinschaft vor.

Dort wurde auch auf das Fußballspiel hingewiesen, bei dem unser Häuserblock gegen einen Block aus der Nachbarschaft antritt. Das Match »Tysklandgården vs. Lirekassa FC« findet an einem Wochentag nachmittags auf dem nahe gelegenen Bolzplatz statt. Meine Nachbarn haben für das Freundschaftsspiel extra T-Shirts drucken lassen, auf denen eine deutsche Flagge abgebildet sein soll, allerdings wurde die Reihenfolge der Streifen vertauscht. Ich traue mich nicht, es zu erwähnen, das schiene mir typisch deutsch. Ein Junge zupft seine Mutter am Ärmel: »Hää, die Flagge sieht aber komisch aus.« Als sie mich fragen, bestätige ich den Fehler, und wir lachen darüber. Das gegnerische Team ist blau-weiß gekleidet. Ein Vater hat offenbar sein altes Maradona-T-Shirt hervorgekramt, es liegt sehr eng an. Vor dem Anpfiff erklärt ein Kommentator übers Mikrofon die Regeln. Ein Team setzt sich aus zwei Erwachsenen und drei Kindern zusammen, es wird alle fünf Minuten ausgewechselt, sodass möglichst viele spielen können.

Wer nicht auf dem Platz steht, feuert die Teams mit lauten Rufen an: »Heia, Tyskland!« und »Heia, Lirekassa!«, schallt es über den Bolzplatz. Meine Aufgabe ist es, die Zeit zu stoppen, damit unser Team rechtzeitig auswechselt. Das Spiel soll in erster Linie Spaß machen, beim Sport entwickeln die Norweger aber schnell Ehrgeiz und so kämpfen sie um jeden Ballbesitz. Wie Nachbarin Lisbet, die mit ihrem Mann und den drei Söhnen seit 2005 in Tysklandgården wohnt. Sie schießt ein Tor.

Lirekassa FC gewinnt 4:3, am Ende posieren beide Mannschaften fürs Foto, das am Abend auf Facebook gepostet wird. Beim Nachhauseweg spazieren wir an einem Dutzend Holzkisten mit Minibeeten vorbei, die an der Außenseite unseres Hausblocks stehen. Jede Box trägt einen Namen. Bei »Oscar & Vilde« muss ich an den irischen Schriftsteller denken, sage ich zu Lisbet. »Stimmt, darüber habe ich nie nachgedacht. Vilde ist bei uns ein gewöhnlicher weiblicher Vorname.«

 

Glück, Gleichheit, Familiensinn

Die Gemeinschaft in Tysklandgården ist besonders, zugleich ist sie charakteristisch für das freundliche und vertrauensvolle Miteinander im Wohlfahrtsstaat. Kurz nachdem Norwegen zum »glücklichsten Land der Welt« gekürt wurde, geben Kronprinz Haakon und seine bürgerliche Frau, Kronprinzessin Mette-Marit, CNN eines ihrer seltenen Interviews. Eigentlich geht es um das Technologie-Event »Oslo Innovation Week«, bei dem der Kronprinz als Schirmherr auftritt. Die Tech-Reporterin interessiert jedoch auch die Gefühlslage. Sie habe in Oslo bisher nur fröhliche Leute getroffen, sagt sie. Seien die Norweger denn ständig glücklich?

Die Kronprinzessin lächelt. »Ich glaube schon, dass die Norweger ziemlich glücklich sind. Das hat aber andere Gründe, als die Leute denken. Natürlich hilft eine stabile Wirtschaft, die Tatsache, dass Schulen kostenlos sind, man bei Bedarf Zugang zu medizinischer Versorgung hat und wir über ein soziales System verfügen, das sich um die Bürger kümmert, wenn sie krank werden.« Wichtig sei insbesondere folgender Aspekt: »Die Menschen müssen sich sicher fühlen. Wenn sie nicht sicher sind, sind sie nicht glücklich oder können ihren Familien nicht genügend Zeit widmen.«

Dem zukünftigen König ist es wichtig, das Bild abzurunden. »Wir stehen ebenfalls vor Herausforderungen und Problemen, mit denen wir kämpfen. Auch hier ist nicht alles perfekt. Es ist also noch viel zu tun, doch wir haben Glück.« Die CNN-Reporterin will wissen, ob es ein Geheimnis der Zufriedenheit gebe. »Es macht uns sehr glücklich, draußen in der Natur zu sein«, erklärt die Kronprinzessin. »Sonntags müssen wir (…) raus in die Natur, eine søndagstur machen, wie wir es nennen.«

Das »müssen« klingt sehr streng, doch so ist es tatsächlich. Am Wochenende ist es in Tysklandgården erstaunlich still, die meisten Familien sind dann auf Tour. Die einen fahren gleich das gesamte Wochenende über weg, andere unternehmen ausgiebige Ausflüge. In Norwegen ist die Natur selbst in der Hauptstadt direkt um die Ecke – seien es der Oslofjord mit seinen vielen Inseln, die umliegenden Wälder oder Seen. Die Natur erdet die Norweger. Wer sonntags nicht unterwegs ist, hat zumindest ein leicht schlechtes Gewissen: »Yte før du kan nyte!« eben.

Sicherlich ist in anderen Ländern der Alltag ebenfalls strukturiert. Und doch ist es erstaunlich, wie konform viele Norweger leben. Es erinnert mich an eine Loipe, in der man auf dem vorgebahnten Weg leicht dahingleitet. Als ich dem Autor Morten A. Strøksnes, mit dem ich zuvor auf Bootstour vor den Lofoten war, von diesem Vergleich erzähle, bestätigt er meinen Eindruck. »Und trotzdem fühlen sich die meisten wie Amundsen oder Nansen.« Also wie Abenteurer, die fernab der klassischen Pfade wandeln. Während sie in der Natur sind, mag das sogar stimmen, im Alltag weniger.

Ein Aspekt, der hier mit reinspielt und die Gesellschaft definiert, ist das janteloven. Das »Gesetz von Jante« geht auf einen Roman zurück, in dem ein Kodex beschrieben wird, der in Skandinavien präsent ist. Er besagt unter anderem, dass niemand denken soll, er sei besser als der andere.

Den Hang zur Gleichheit erlebt der Designer T-Michael täglich in seinem Geschäft Norwegian Rain. Mit einem Kollegen entwirft der Maßschneider in Bergen schlichte, aber raffinierte Regenmäntel. Da es in der Metropole an der Westküste gut 250 Tage im Jahr regnet, ist es ein durchaus nützliches Kleidungsstück. Oft fragen die Kunden T-Michael, welches das beliebteste Modell sei. Anstatt dann ein anderes zu wählen, entscheiden sie sich genau für dieses. Bloß nicht auffallen, lieber Teil der Gemeinschaft sein. Es hat schon fast sozialistische Züge.

Die Gleichheit hat natürlich viel Positives. Es ist normal, dass man sich auf die Familie konzentriert und so eine bessere Work-Life-Balance herrscht. Bei der zwölfmonatigen Elternzeit sind zehn Wochen den Vätern vorbehalten, die verfallen, wenn diese sie nicht nehmen. So werden die Männer von Anfang an in die Erziehung einbezogen. Es ist selbst für Firmenchefs normal, pünktlich das Büro zu verlassen, um den Sohn zum Fußballtraining zu fahren. Als die Frau von Verkehrsminister Ketil Solvik-Olsen im Sommer 2018 ein interessantes Jobangebot in den USA bekommt, um dort ein Jahr lang als Ärztin zu arbeiten, legt er sein Amt nieder. Seine Frau habe oft wegen seiner politischen Karriere zurückstecken müssen, nun sei sie dran. Außerdem sei der Auslandsaufenthalt für die beiden gemeinsamen Kinder eine gute Erfahrung. Nun muss man bei Politikern ja immer ein bisschen vorsichtig sein, was Kalkül oder internen Konflikten geschuldet ist, die Schlagwörter auf seiner Website bestätigen Solvik-Olsens Prioritäten: »Familienvater, Radfahrer, Autonarr, Politiker«. Solvik-Olsens Rücktritt ist zwei Tage in den Nachrichten, danach kümmert sich das Land um andere Dinge.

Wer am Freitag nach 15 Uhr im Büro sitzt, ist in Norwegen kein vorbildlicher Arbeiter, sondern vernachlässigt die Familie. Sofern nicht gerade ein Sportturnier oder Fest ansteht, bleibt die Kernfamilie am Wochenende meist unter sich. Viele zieht es dann in ihre einsam gelegenen Hütten. Je größer der Abstand zur Außenwelt, desto besser. Vermutlich erholen sie sich dort von der Routine, dem Gemeinschaftssinn und werden zu Eigenbrötlern wie Peer Gynt – ohne dafür Lügengeschichten erfinden zu müssen.

An einem Ort jedoch kann man täglich Hunderte norwegische Familien hautnah erleben: im Dyreparken in Kristiansand. Seit 1966 ist in der südlichen Küstenstadt diese Mischung aus Zoo und Entertainment-Park zu finden.

Als ich Freunden erzähle, dass ich ihn besuchen werde, hat jeder eine Anekdote parat. Die einen schwärmen von Kaptein Sabeltann (Käpt’n Säbelzahn), einem legendären Piraten, der mit Pinky und Sunniva gruselige Abenteuer erlebt und diese bei einer im wahrsten Sinne des Wortes explosiven Abendshow vorführt. Andere schwärmen von Julius. In den Achtzigerjahren begleitete der Nationalsender NRK ein Schimpansenbaby, das seine Artgenossen verstoßen hatten und nun bei der Familie des Zoodirektors lebte. Die junge Generation schaut sich die alten Folgen in der Mediathek an. Dort sieht man, wie Julius das Haus von Edvard Moseid aufmischt und seine Kinder mit dem Schimpansen spielen.

Im Dyreparken-Hotel liegt ein riesiger Schimpanse auf dem Boden. Er trägt, wie der einstige TV-Star, eine rot-weiß gestreifte Unterhose, dazu ein Shirt mit der Aufschrift »Julius« und lächelt, selbst als sich mehrere Kinder auf ihn stürzen. Mit einem Plüschtier kann man es ja machen. Der echte Schimpanse sei mittlerweile launisch geworden, deuten die Hotelangestellten an. Ich will ihn später bei der Tierpräsentation im Außengehege besuchen.

Zunächst erkunde ich das Gelände. Ich sehe Flamingos, Giraffen und Zebras und laufe durch diverse Themenparks, die neben Käpt’n Säbelzahn noch weitere beliebte Welten aus norwegischen Kinderromanen lebendig machen. Fünfjährige laufen in Piratenkostümen mit goldglänzenden Säbeln vorbei. Zwischen den einzelnen Entertainment-Welten erstreckt sich, wie sollte es in Norwegen anders sein, reichlich Natur, in der mit Gras bedeckte Holzhütten stehen.

Am Spielplatz in waldiger Umgebung treffe ich Frank Husevåg. Zwei seiner Töchter klettern gerade auf den Holzgerüsten, während seine Frau Norunn mit der Jüngsten unterwegs ist. »Unsere Kinder haben verschiedene Interessen, da müssen wir uns aufteilen«, sagt der Mittvierziger. Die Familie kommt aus der Nähe von Ålesund und bleibt für drei Tage, sie übernachten im Piratenhotel Abra Havn.

Um 13 Uhr steht die Familie, nun vereint, bei Julius. Norunn Røsvik hat den Schimpansen als Kind gesehen, jetzt will sie das Erlebnis mit ihren Töchtern teilen. Rund 100 Kinder und Erwachsene schauen zur hügeligen Insel, auf der neun Schimpansen im offenen Gehege hocken. »Julius, Juuulius«, rufen die Kinder, als erwarteten sie einen Popstar. Er ist fast 40 Jahre alt und der Anführer, was er durch laute Rufe und kleine Rangeleien klarmacht.

Immerhin ist er heute guter Stimmung. Tierpflegerin Tanya bestätigt nach der Präsentation seine Launenhaftigkeit. »Er hatte vorher noch Sex«, sagt sie und lächelt. Manchmal unterhält ihn auch ein iPad. Einige Kinder kommen auf die Tierpflegerin zugelaufen und fragen, woran man den TV-Star von den anderen Artgenossen unterscheiden kann. »Er hat weiße Flecken um die Nase«, sagt Tanya.

In gewisser Weise ist Julius für Norweger eine Art Familienmitglied. »Manche können sich daran erinnern, wie der junge Schimpanse an der Hand des Zoodirektors durch den Park spazierte«, erzählt die Dyreparken-Angestellte. Mittlerweile ist er wohl eher der verrückte Onkel, den man trotz seines gelegentlich rüpelhaften Verhaltens mag. Vor einigen Jahren kam sogar eine Biografie über den Schimpansen heraus.

Die Familie aus Ålesund sucht nach drei Tagen umringt von Fabelwesen, Tieren und Hunderten Menschen wieder die Einsamkeit. Im Anschluss fahren sie zu ihrem abgelegenen Ferienhaus an der Westküste. »Wir haben dort kein Fernsehen, kein Internet und zum nächsten Supermarkt fahren wir mit dem Boot«, sagt Frank. »Die Mädchen spielen draußen oder schwimmen und wir können uns entspannen.«

Ein bisschen beneide ich die Norweger um ihre Feriendomizile – auf 5,3 Millionen Einwohner kommen laut Statistisk sentralbyrå (SSB), dem norwegischen Statistikamt, 460 000 Hütten oder Ferienhäuser –, die langen Urlaube und Wochenenden in der Natur. Wer viel Freizeit hat, muss diese gut füllen. Manchmal scheint es mir, als sei diese Zeit wie ein zweiter Job: mehrmals die Woche die Kinder zum Sport bringen bzw. abholen, designierter Trainer oder Fahrer bei Turnieren sein, Familienfeste vorbereiten, die obligatorische Sonntagstour inklusive imposantem Fotobeweis für Social Media – und dann natürlich die zahlreichen dugnads.

In Tysklandgården organisiert die dugnads der Vorstand der Wohnungsbaugenossenschaft, in der alle Eigentümer sich zusammengeschlossen haben. Landesweit besitzen über 77 Prozent der Bürger ihre Apartments. Terje Falch vom Vorstand kündigt den Event per Zettelaushang und via Facebook an. Sein motivierender Slogan: »We can do it!« Terje lebt mit seiner Frau Ingvild Bø und den drei Kindern im Nebenhaus. Von der Küche im Hochparterre aus überblicken sie den Hof. Die Kinder- und Schlafzimmer liegen im Souterrain, wo ihre beiden Töchter und ihr Sohn an diesem Sonntagvormittag gerade lesen und am Computer spielen.

Die dugnads bestehen darin, den Hof für den Sommer vorzubereiten beziehungsweise für die langen, dunklen Tage winterfest zu machen. Im Frühling werden die Gartenmöbel aufgestellt, Hecken geschnitten und der Hof gefegt. Zur Belohnung servieren sie anschließend gegrillte Würstchen und Limonade.

So sehr die Norweger ihre Tradition hochhalten, meist taucht nur ein Drittel der Anwohner auf. »Als wir jünger waren, haben wir auch nicht teilgenommen«, sagt Terje verständnisvoll. Für Neuankömmlinge wie mich ist es sehr nett, weil man so einige Nachbarn besser kennenlernt.