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Thomas West

Die falsche Ärztin

Die falsche Ärztin

Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West


Der Umfang dieses Buchs entspricht 139 Taschenbuchseiten.


Frau Dr. Alexandra Heinze hat verschlafen. Eilig macht sie sich auf zum Marien-Krankenhaus. Prompt schnappt ihr eine junge, ihr unbekannte Frau den Parkplatz weg, was sie ziemlich wütend werden lässt. Aber ihre Wut verraucht bald, und sie freundet sich mit der neuen Ärztin an. Alexandra spürt jedoch, dass sie ein Geheimnis mit sich herumträgt …


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COVER MARA LAUE

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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1

Es war einer dieser Montage, an denen man am liebsten im Bett bleiben würde. Der Abend zuvor war lang und feucht gewesen - Alexandra und Werner waren auf einer Geburtstagsparty versumpft - und am Morgen peitschte der Regen gegen die Schlafzimmerfenster. Davon wachte Alexandra auf. "Bleib noch einen Augenblick liegen!", brummte Werner und öffnete die Arme. Sie kuschelte sich an ihn, und die Wärme seines Körpers zog sie wieder hinab in einen dämmrigen Schlummer.

Irgendwann klopfte es.

"Alexandra!?" Die Stimme ihrer Schwiegermutter drang durch die Tür. "Alexandra! Hast du verschlafen?"

Alexandra öffnete die Augen und blinzelte zu dem Wecker auf Werners Nachttisch. Der behauptete, es sei 6.55 Uhr.

"Oh, Mist!", schimpfte Alexandra und sprang aus dem Bett. Sie hätte schon vor fünfundfünfzig Minuten in der Klinik sein müssen!

"Ich koch dir schnell einen Kaffee", krächzte Werner und schob sich aus den Federn. Alexandra stürzte die Treppe hinunter zum Telefon. Hilde hatte sich schon wieder in ihr Zimmer im Erdgeschoss zurückgezogen. Der Anrufbeantworter blinkte, mindestens drei Anrufe waren eingegangen - nicht einmal das Telefon hatte sie gehört! Wahrscheinlich hatte die Klinik versucht, sie zu erreichen.

Sie wählte die Nummer des Bereitschaftszimmers. Ewald Zühlke war am Apparat.

"Sorry, ich hab' verschlafen", stöhnte Alexandra ins Telefon. "In einer Viertelstunde bin ich da."

Der Sanitäter gab sich einsilbig. Er pflegte morgens nie viel zu sprechen. Alexandra hoffte nur, dass ihr Kollege Conrady nicht allzu sauer sein würde. Er hatte Nachtdienst gehabt und wartete sicher schon ungeduldig auf die Ablösung.

"Mach Platz Anuschka - ich muss ins Bad!" Alexandra drängte sich an der schwarzen Dogge vorbei. Die Hundedame spürte die Hektik und winselte beunruhigt.

Zehn Minuten später war die Notärztin geduscht und angezogen. Im Stehen stürzte sie einen Kaffee hinunter. Werner saß im Morgenmantel am Küchentisch.

"Sei so lieb und lös mir eine Aspirin auf, Schatz!", sagte Alexandra. "Ich hätte nach dem Rotwein keinen Sekt mehr trinken sollen." Sie fasste sich an den schmerzenden Kopf.

Werner ging zum Medizinschrank und holte die Tabletten heraus. Während die Brausetablette im Wasserglas sprudelte, sah er auf die Uhr.

"Ich glaube, ich leg' mich noch einmal hin", brummte er, "vor neun Uhr gehe ich heute nicht in die Praxis."

"Du Glücklicher!" Alexandra leerte das Glas mit einem Zug, küsste ihren Mann auf die Wange, tätschelte dem Hund den Hals und huschte aus dem Haus. Auf der Treppe vor der Haustür schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch. Der Morgen hätte längst dämmern müssen, aber der verregnete Himmel war immer noch stockdunkel. Alexandra hasste solche trüben Märztage. Sie sehnte den Frühling herbei.

"Wenigstens schneit es nicht mehr", seufzte sie und schloss die Garage auf.

Wenige Minuten später bog sie auf den Parkplatz vor dem Personalwohnheim des Marien-Krankenhauses ein. Es war zehn vor halb acht. Die meisten Parkplätze waren belegt. An einem der wenigen freien fuhr sie vor lauter Hektik vorbei.

"Du schläfst ja noch halb, Alexandra!", schimpfte sie und trat auf die Bremse. Sie schwor sich, nie wieder auf eine Geburtstagsfeier zu gehen, wenn sie am nächsten Morgen Frühdienst hatte.

Den Rückwärtsgang einlegen, den Blinker setzten und nach hinten schauen. Durch den Wasserschleier auf ihrer Heckscheibe sah Alexandra ein Scheinwerferpaar auftauchen. Ein Kleinwagen bog mit einem Affenzahn in den Parkplatz ein. Ohne abzubremsen, fuhr er auf sie zu. "Du wirst doch nicht etwa ...?"

Tatsächlich scherte das Fahrzeug in die Parklücke ein, die Alexandra für sich ausgespäht hatte. "So ein frecher Bursche!" Sie war stinksauer und drückte auf die Hupe. Aus dem Kleinwagen stieg ein Frau aus, schloss hastig ihr Fahrzeug ab und machte Anstalten, im Laufschritt in den Krankenhausgarten zu eilen.

"Unverschämtes Weib!" Alexandra platzte der Kragen. Sie stieß die Wagentür auf und stieg aus. "He, Sie! Das war mein Parkplatz!"

Im Laufen drehte die Frau sich um. Blonde Haarsträhnen wehten aus dem hochgeschlagenen Kragen ihrer schwarzen Lederjacke.

"Tut mir leid - ich hab's unheimlich eilig!", sprach's und rannte weiter.

"Natürlich - eilig haben Sie's!", schrie Alexandra ganz gegen ihre Art hinter ihr her. "Machen Sie sich keine Gedanken! Sie sind sicher die einzige auf der Welt, die es heute Morgen eilig hat!" Die Frau reagierte nicht einmal und verschwand zwischen den Rhododendronsträuchern, die den Gartenweg zum Hintereingang der Klinik säumten.

Alexandra ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

"Ich hab' ja alle Zeit der Welt! Bin ja nur eine Notärztin, die ein bisschen verschlafen hat! Anderthalb Stunden zu spät - was ist das schon!" Schimpfend suchte sie sich einen neuen Parkplatz.

Dr. Herbert Conrady war nicht eben glücklich über Alexandras Verspätung, sagte aber nichts. Sie versprach ihm, ihn übernächste Woche, während seiner nächsten Frühschicht, an einem Tag anderthalb Stunden früher abzulösen.

Der Vormittag ging genauso weiter, wie der Tag angefangen hatte. Kaum hatte Conrady die Tür hinter sich geschlossen, rief schon die Rettungsleitstelle an. Jupp Friedrichs ging ans Telefon. "Auffahrunfall auf der Autobahn!", verkündete er. "Die haben auf Sie gewartet, Frau Doktor!"

Im strömenden Regen musste die Notärztin wenig später einem schwerverletzten Autofahrer durch das eingeschlagene Seitenfenster eine Infusion anlegen. Der Mann war in seinem Wagen eingeklemmt, und die Feuerwehr ließ auf sich warten. Der Bewusstlose hatte abscheuliche Gesichtsverletzungen, und Alexandra musste ihrem leeren Magen gut zureden, damit er durchhielt.

Sie kam den ganzen Vormittag nicht zum Frühstücken. Ein Notfall jagte den anderen, meistens Verkehrsunfälle. Um die Mittagszeit wurde es ruhiger. Vollkommen erschöpft sank die Notärztin auf einen Stuhl im Ärztekasino.

"Sie scheinen heute ja einen Bärenhunger zu haben, Frau Kollegin!", begrüßte sie Tobias Borgheim, ein Chirurg, der seit knapp drei Monaten im Marien-Krankenhaus arbeitete. Grinsend spähte er auf Alexandras vollgeladenen Teller.

"Das kann man wohl sagen", seufzte Alexandra. Der Duft des Cordon Bleus auf ihrem Teller stieg verlockend in ihre Nase.

"Die Küche steigert sich", lächelte der große, breitschultrige Arzt und ließ sich ihr gegenüber nieder. "Guten Appetit, Frau Heinze!" Er war braungebrannt, und trotz seiner mindestens vierzig Jahre hatte er noch pechschwarzes, dichtes Haar. Seine Gesichtszüge ähnelten dem Männerideal, mit dem man in den fünfziger Jahren die Hauptrolle der Hollywoodwestern besetzt hatte.

Mit ihrem sich füllenden Magen stieg auch Alexandras Laune. Aber nur vorübergehend. Nämlich genau so lange, bis sie eine fremde Frau am Tresen bei der Essenausgabe entdeckte. Eine fremde Frau mit langen, blonden Haaren!

Ihr Profil hatte Alexandra in der verregneten Morgendämmerung nicht sehen können, aber an den Haaren und an der hastigen Art sich zu bewegen, erkannte sie die Frau wieder - es war das unverschämte Weibsstück, das ihr heute Morgen den Parkplatz weggeschnappt hatte.

Alexandra registrierte nur beiläufig, dass Borgheims Blick wohlgefällig auf der schlanken Gestalt der blonden Frau im Arztmantel ruhte. Von ihm war sie nichts anderes gewöhnt. Er hatte schon wenige Wochen nach Dienstantritt in der Klinik den Ruf gehabt, ein Charmeur mit großem Appetit auf blonde Frauen zu sein. Alexandra hatte ihm irgendwann einmal sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er bei ihr nicht landen konnte, und seitdem kamen sie einigermaßen miteinander aus.

"Wer ist das denn?", fragte sie.

"Unsere neue Kollegin - hat heute erst angefangen."

Die Frau steuerte ihren Tisch an und stellte ihr Tablett neben Borgheims.

"Und? Wie hat Ihnen Ihr erstes OP-Programm in unserem Haus geschmeckt?", grinste der Arzt.

"Ganz gut", sagte die Frau und streckt Alexandra die Hand hin. "Wir kennen uns noch nicht. Ina Breckmann - heute war mein erster Arbeitstag."

"Heinze", sagte Alexandra knapp. Die Wut von heute Morgen stieg wieder in ihr hoch. "Wir hatten schon das Vergnügen miteinander", sagte sie sarkastisch.

Die Frau sah sie mit ihren grünen, schmalen Augen verwundert an.

"Sie haben mir den Parkplatz weggeschnappt heute Morgen. Laut Straßenverkehrsordnung ist das eine Ordnungswidrigkeit. Und ich war ziemlich sauer."

"Oh", die neue Ärztin errötete und hielt erschrocken die Hand vor den Mund. "Das tut mir leid. Aber bitte verstehen Sie ..."

Alexandra erfuhr nicht mehr, was sie verstehen sollte. Der Oberarzt Helmut Höper stand unvermittelt am Tisch und setzte sich neben Alexandra. Mit seinem unnachahmlichen Feingefühl unterbrach er das Gespräch.

"So, Frau Breckmann", tönte er, "Sie haben die ersten Stunden also überlebt, wie ich sehe!"

Er und Borgheim nahmen die Frau in Beschlag, befragten sie über ihre berufliche Vergangenheit und gaben sich alle Mühe, sich selbst von ihrer besten Seite zu zeigen. Es war klar, dass Höper vor Charme sprühte. Alexandra hätte sich gewundert, wenn er Ina Breckmann mit seinen Flirtversuchen verschont hätte. Sie war viel zu hübsch, um nicht die Aufmerksamkeit dieses Weiberhelden von Oberarzt zu erregen. Er flirtete mit Borgheim um die Wette.

Immerhin erfuhr sie auf diese Weise, dass die Ärztin den chirurgischen Facharzt hatte und zuletzt in einem Kreiskrankenhaus in der Freiburger Gegend gearbeitet hatte.

Die neue Kollegin verhielt sich freundlich aber distanziert. Je länger Alexandra sie beobachtete, desto besser gefiel ihr die Frau. Als die beiden Männer fast synchron und mit wichtigen Mienen auf ihre Armbanduhren schauten und aufstanden, war sie schon fast bereit, ihr den frechen Parkplatzraub zu verzeihen.

Borgheim und Höper verabschiedeten sich.

"Es tut mir wirklich leid, Frau Heinze", sagte die Breckmann und flehte mit den Augen um Vergebung. "Sie waren richtig böse auf mich, stimmt's?"

"Kann man wohl sagen."

"Das wäre ich an Ihrer Stelle auch gewesen. Aber es war mein erster Arbeitstag, müssen Sie wissen - und was passiert? Der Wecker bleibt mitten in der Nacht stehen und ich verschlafe!"



2

Die uralte romanische Kirche wirkte selbst zwischen den mittelalterlichen Fachwerkhäusern wie ein Dinosaurier auf einer Pferdekoppel. Während die Leute links und rechts an ihm vorbeigingen und in den engen Gassen verschwanden, die sich von allen Seiten der Kirche in die Altstadt hineinbohrten, stand der Mann in der braunen, langen Lederjacke vor dem Portal und ließ seine Augen an dem grauen Gemäuer bis zur Turmspitze hinaufgleiten. Die dunklen Wolken begannen an manchen Stellen aufzureißen und den Blick auf den blauen Himmel freizugeben.

Den Mann fröstelte. Er warf die filterlose Zigarette auf den verwitterten Pflasterstein, der die Kirche umgab.

Steht wahrscheinlich unter Denkmalschutz, dachte er. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. "Unter Denkmalschutz", murmelte er und lachte trocken. "Wie meine Vergangenheit."

Er sah auf die Uhr: Halb zehn. Noch eine halbe Stunde Zeit. Er gab sich einen Ruck und betrat die Kirche. Die stille Kälte des Kirchenschiffs umfing ihn. Rechts flackerten Opferkerzen vor einem Marienbild. Im Chorraum hinter dem Altar brannte gedämpftes Licht. Links, in der vorletzten Reihe des schlichten Eichengestühls, saß eine alte Dame mit einer Pelzmütze.

Er hatte sich damit abgefunden, dass ihn nach all den Jahren immer noch das Gefühl überfiel, nach Hause zu kommen, wenn er eine Kirche betrat. Zwanzig Jahre lang war er fast täglich in solchen Gemäuern aus und ein gegangen. Man müsste gelernt haben, seinen Namen zu vergessen, um eine derart tief eingebrannte Erinnerung abschütteln zu können. Man kann aber nicht lernen, seinen Namen zu vergessen. Das lernt man erst im Tod.

Er schritt an den Kerzen vor dem Marienbild vorbei und dann an der Außenseite des Gestühls bis zum Beichtstuhl. Trotz des Gewölbes, in dem normalerweise jedes Geräusch widerhallte, waren seine Schritt nicht zu hören. Er hatte gelernt, leise zu gehen. Schon in seiner Kindheit hatte er sich das antrainiert. Seine Mutter hatte unter Migräne gelitten, solange er zurückdenken konnte. Lärm hatte sie als persönliche Kränkung aufgefasst.

Vor dem Beichtstuhl blieb er stehen. Lange betrachtete er das dunkle Holz der von zwei Seiten mit schweren, tiefblauen Stoffen verhängten Kabine. Unzählige Stimmen fielen ihm ein, Stimmen die er in den fast zehn Jahren, die er Priester war, gehört hatte. Leise, weinerliche Stimmen, die ihm irgendwelche Alltäglichkeiten wie kleinere Diebstähle, Steuerhinterziehungen oder sexuelle Banalitäten erzählten. Verkrampfte Flüsterstimmen, die ihre kleinlichen Neid- und Hassgefühle ausbreiteten oder irgendwelche menschlichen Streitereien oder Wutgefühle an den Haaren herbeizogen und zu sogenannten Sünden hochstilisierten, um überhaupt etwas beichten zu können. Und die Stimmen derer, die wirklich schuldig geworden waren. Stockende, murmelnde Stimmen von Frauen, die abgetrieben hatten oder fremdgegangen waren, und von Männern, die Fahrerflucht begangen, gestohlen oder getötet hatten.

Er überlegte sich, was er beichten würde, wenn er noch wirklich zu Hause wäre an so einem Ort. Der Vorhang auf der einen Seite des Beichtstuhls bewegte sich. Ein Priester kam heraus. Überrascht sah er ihn an und machte Anstalten in seinen engen Arbeitsplatz zurückzukehren.

"Sie wollen beichten?"

Der Mann schüttelte lächelnd den Kopf. Die Mischung aus der dieses Lächeln bestand - Spott und Wehmut - irritierte den Priester. Schnell wandte er sich ab.

Merkwürdig, dachte der Mann, ich habe wirklich nichts zu beichten. Absolut nichts, was ich bereuen würde.

Vor etwas mehr als sieben Jahren hätte ihn ein solcher Gedanke mehr als beunruhigt. Damals, als er noch Priester war, und unter seinem Doppelleben gelitten hatte.

Er sah auf die Uhr und ging zurück zum Kirchenportal. Es war Viertel vor zehn, und er schätzte es, mindestens zehn Minuten vor einer verabredeten Zeit an einem Treffpunkt zu sein. Dann war man schon vertraut mit den Örtlichkeiten, wenn man den Kunden gegenübersaß.

Das Café, in dem die Frau ihn treffen wollte, war kaum zwei Minuten entfernt. Er ging hinein, setzte sich an einen Tisch in der dem Eingang gegenüberliegenden Ecke und bestellte einen Milchkaffee. Danach zog er die gelbe Zigarettenschachtel aus seiner Lederjacke, schnippte eine Filterlose heraus und schob die Schachtel in die Tischmitte. An ihr würde die Frau ihn erkennen.

Die Zeit verging, und es wurde zehn nach zehn, ohne das die Frau kam. Doch er wurde nicht ungeduldig. Er wusste, dass die Frau einen weiten Anfahrtsweg hatte. Sie wohnte in Köln, und die Autobahn war um diese Zeit häufig vollgestopft. Der Regen würde seinen Teil dazu beitragen.

Er rief sich die Telefonstimme der Frau ins Gedächtnis zurück und versuchte sich vorzustellen, wie ein Frau aussah, die eine solch tiefe, raue Stimme hatte. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer fülligen Blondine Ende vierzig.

Gegen halb elf betrat eine elegant gekleidete, rothaarige Frau das Café. Sie sah sich suchend um und kam zielstrebig auf seinen Tisch zu, nachdem sie die gelbe Zigarettenschachtel entdeckt hatte. Die Frau streckte ihm die Hand entgegen.

"Herr Vandaalen?"

Er stand auf und reichte ihr ebenfalls die Hand.

"Ja - Johannes Vandaalen."

Sie war höchstens Ende dreißig und alles andere als füllig. Mit einem Blick erfasste er die Hüftknochen, die sich unter der offenen Jacke des seidenen Hosenanzugs abzeichneten, die hervortretenden Schlüsselbeine unter der freizügig aufgeknöpften Bluse, und er fühlte ihre knochige Hand.

"Ich bin Carolin Borgheim", sagte sie und setzte sich. Er fragte sich, ob diese Frau sich mit Hungerkuren quälte oder krank war. Die scharfen, langen Falten, die sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln herabzogen, sprachen eher für eine Magenerkrankung.

Als sie eine Schachtel schwarzer, französischer Zigaretten herausholte, sah er die gelben Fingerspitzen ihrer rechten Hand und wusste warum die Frau so dünn war.

"Ich habe Sie mir anders vorgestellt, Herr Vandaalen", ohne ihn aus den Augen zu lassen, zündete sie sich eine Zigarette an. "Älter und ...", sie machte eine kreisende Bewegung mit der Hand. "… und irgendwie seriöser."

Vandaalen war es gewöhnt, dass seine Kunden nach dem ersten Telefonkontakt überrascht waren von seinem Äußeren. Mit seinem durchtrainierten, wenn auch nicht besonders kräftig gebauten Körper und seinem jungenhaften Gesicht, wurde er im Allgemeinen fünf bis zehn Jahre jünger geschätzt, als er tatsächlich war. Seine saloppe Kleidung unterstrich noch den Eindruck, einen Mittdreißiger vor sich zu haben. Unter dem alten graublauen Jackett, von dem er sich nicht trennen konnte, trug er rote oder schwarze T-Shirts, dazu Jeans oder schwarze Cordhosen und irgendwelche abgetragenen Wildlederschuhe.

Zwar war er in der Regel glattrasiert, aber der dunkelblonde Zopf trug noch seinen Teil dazu bei, dass Johannes Vandaalen ein wenig wie ein ewiger Student wirkte. Seine Stimme dagegen klang sanft und summend, fast väterlich. Sie öffnete ihm in der Regel die Herzen der Menschen.

Er verschwieg ihr, dass er sich von ihr ebenfalls ein anderes Bild gemacht hatte.

"Ich fasse das als Kompliment auf." Sein charmantes Lächeln, in dem immer eine Spur von Spott mitschwang, veranlasste die Frau, sich entspannt zurückzulehnen und ebenfalls zu lächeln.

"Aber ich kann Ihnen versichern", fügte er hinzu, "dass ich mich, was meine Garderobe betrifft, dem Milieu anpasse, in das meine Aufträge mich führen." Er nahm eine Filterlose aus der Schachtel und zündete sie mit einem Streichholz an. Vandaalen verabscheute Feuerzeuge. "Was kann ich für sie tun, Frau Borgheim?"



3

Ihren zweiten Arbeitstag trat Ina schon wesentlich gelassener an, als den ersten. Zwar hatte sie kaum ein Auge zugemacht und die halbe Nacht chirurgische Fachbücher über Gallenblasenresektionen gelesen, aber das beeinträchtigte sie nicht besonders. Schon seit zehn Jahren, seit sie Mitte zwanzig war, brauchte sie nicht mehr als höchstens sechs Stunden Schlaf. Und wenn einmal eine Nacht ohne Schlaf vorüberging, verkraftete sie das auch ganz gut.

Die Frau mit dem Gallenstein operierte sie zusammen mit Höper. Nachdem die Gallenblase entfernt war, nähte Ina die Operationswunde zu. Höpers bewundernde Augen wanderten zwischen ihrem Gesicht und ihren flinken, geschickten Fingern hin und her.

"Hände, die so sicher sind, wie Ihre, sieht man selten", sagte er hinterher im Waschraum.

Ina spürte, dass er ihr schmeicheln wollte, aber sie bemerkte auch die Anerkennung hinter seinen Worten. Und sie wusste selbst, dass sie gut war.

"Wo haben Sie Ihren Facharzt gemacht?", wollte der Oberarzt wissen.

"In der Uniklinik Zürich", antwortete sie.

"Oha!", staunte Höper. "Die chirurgische Abteilung der medizinischen Fakultät in Zürich hat einen besonders guten Ruf. Warum haben Sie nicht in Deutschland gelernt?"