Cressida Cowell

Wilderwald

Im Auge des Inselmonsters

 

 

 

 

 

Cressida Cowell

verbrachte ihre Kindheit in London sowie auf einer Insel an der schottischen Westküste. Ihre Kinderbuchreihe »Drachenzähmen leicht gemacht« wurde schnell zu einem internationalen Bestseller und erzielte als Kinofilm und Fernsehserie von DreamWorks Animation große Erfolge. Sie lebt mit ihrem Mann, drei Kindern und einem Hund im englischen Hammersmith.

Clara Vath

liebte es schon als Kind, bunten und verrückten Fantasiewesen eine Gestalt zu geben. Dass ihr dabei auch das ein oder andere magische Wesen begegnet ist, kam ihr bei der Arbeit an »Wilderwald« sehr gelegen. Seit 2012 arbeitet sie als freie Illustratorin für verschiedene Unternehmen.

Cressida Cowell

Im Auge des Inselmonsters

Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr

Mit Illustrationen von Clara Vath

 

 

PROLOG

Einst gab es wilde, düstere Wälder …

Die Zauberer hatten schon länger in diesem Wilderwald gelebt, als irgendjemand zurückdenken konnte, und hatten vor, hier für alle Zeiten weiter wohnen zu bleiben, gemeinsam mit allen anderen magischen Geschöpfen. Bis die Krieger kamen. Sie kamen übers Meer und fielen in das Land ein. Sie besaßen zwar nicht einen einzigen Funken Zauberkraft, aber sie brachten eine neue Waffe mit, die sie EISEN nannten … und Eisen war das einzige Element, gegen das selbst die stärkste Magie nichts ausrichten konnte.

Von diesem Zeitpunkt an herrschte im Wilderwald Krieg. Zauberer und Krieger bekämpften sich auf Leben und Tod.

Aber eines Tages …

Eines Tages verliebte sich eine junge Kriegerprinzessin namens SYCHORAX in den jungen Zaubererkönig ENCANZO. Allerdings galt es als ungeschriebenes Gesetz oder Tradition, dass sich Krieger und Zauberer NIEMALS ineinander verlieben durften. Deshalb trank Sychorax vom Zaubertrank der Entsagten Liebe, damit ihre Liebe erstarb. Ihre Liebe erkaltete in der Tat vollständig … und Sychorax heiratete einen Krieger, wie man das von einer Krieger-prinzessin erwartete.

Und Encanzo? Nun, Encanzo heiratete eine Zauberin, wie man das von einem großen Zauberer erwartete.

Damit war die verbotene Liebe versiegt und die Gefahr, dass ein Fluch die beiden treffen würde, hätte nicht mehr bestehen sollen.

Aber …

Vor dreizehn Jahren gebar Sychorax eine Tochter, die sie auf den Namen WILLA taufte.

Doch Willa hatte ein furchtbares Geheimnis. Denn ein Kuss der Wahren Liebe vergeht nie mehr völlig und deshalb war die Zauberkraft des Zauberers durch den Kuss auf Königin Sychorax’ Tochter Willa übergegangen. Und so besaß Willa als erster Mensch in der Weltgeschichte die Magie-die-mit-Eisen-wirkt.

Aber auch Encanzo und seine Frau bekamen vor dreizehn Jahren einen Sohn, den sie XAR nannten.

Auch Xar hatte ein furchtbares Geheimnis. Er stahl einer Hexe ein wenig Magie. Dadurch entstand ein Hexenfleck auf seiner Hand, der nun immer mehr und immer stärker von Xar Besitz ergriff.

Dies ist die Geschichte, wie sich Xar und Willa begegneten und zu Freunden wurden, obwohl beide dazu erzogen worden waren, einander zu hassen wie tödliches Gift.

Willa und Xar waren ihren Eltern entflohen, um nach den Zutaten für einen Zauberspruch zu suchen, mit dem man die Hexen für alle Zeiten loswerden konnte. Jetzt sind sie Verstoßene, werden von Zauberern und Kriegern gejagt – und von etwas noch viel, viel Schlimmerem.

HEXEN.

HEXEN DURFTEN NIEMALS IN DEN BESITZ DER MAGIE-DIE-MIT-EISEN-WIRKT KOMMEN.

Aber …

Zweimal waren Willa und Xar den Klauen der Hexen bereits entkommen. ZWEIMAL waren sie dem sicheren Tod entwischt.

 

 

Ich bin eine Figur dieser Geschichte,

die alles sieht und alles weiß.

Ich verrate dir nicht, wer ich bin.

Hast du es schon erraten?

VERRATEN!

Vor dreitausend Jahren, in einem Zeitalter, das man heute das »Bronzezeitalter« nennt, waren die Britischen Inseln völlig von wilden Wäldern bedeckt.

Die wilden Wälder wurden von vielen guten Geschöpfen bewohnt, von Tieren und magischen Lebewesen und Menschen, die sich gegenseitig in Ruhe ließen, aber damals lebten auch bösartige Kreaturen darin und manche waren wirklich sehr böse.

Jetzt gerade flogen zwei dieser sehr bösen Kreaturen über den Wilderwald. Die bösen Kreaturen waren in diesem Moment unsichtbar, aber wenn menschliche Augen sie hätten sehen können, wäre ihnen aufgefallen, dass sie weiche schwarze Flügel hatten, so ähnlich wie Krähenflügel, dass ihre Finger wie die Klauen von Raubvögeln in langen Krallen endeten und dass ihre Nasen wie scharfe Schnäbel aussahen. Aber diese Kreaturen waren keine Raubvögel, sondern HEXEN, und zwar keine guten Hexen, sondern sehr, sehr böse Hexen. Sie flogen extrem hoch, knapp unter den Wolken, und beobachteten mit scharfen Augen etwas, das sich weiter unten befand.

Dieses Etwas war eine Tür, aber im Moment tat sie nicht das, was eine Tür normalerweise tun sollte, nämlich den Durchgang zwischen zwei Kammern zu öffnen oder zu schließen, zwischen Räumen, die sich sicher, fest und ordentlich auf der Erde befanden. Nein – diese besondere Tür flog durch die Luft, ungefähr wie ein fliegender Teppich, aber mit der Vorderseite nach unten, und sie flog knapp über den Baumwipfeln.

Die Hexen hatten sich auf dem Rückflug zu ihren Horsten in den Heulenden Bergen befunden, wobei sie sich mit gemächlichen Flügelschlägen von den starken Aufwinden hoch über die Baumwipfel des Wilderwalds tragen ließen. Zuerst hatten sie die Tür nur als kleinen fliegenden Punkt bemerkt. Aber es war nicht die Tür selbst, die sie neugierig gemacht und veranlasst hatte, sich die Sache genauer anzusehen.

Drei Kinder lagen bäuchlings auf der fliegenden Tür.

Die unsichtbaren Hexen starrten auf die Kinder hinab.

Und die Kinder starrten über den Rand der Tür nach unten. Offenbar suchten sie nach etwas, das sich im Wald befinden musste.

Die Hexen waren hungrig, so hungrig, dass ihnen schwarzer Speichel in langen Fäden aus den Schnäbeln troff. Seit Wochen hatten sie etwas so Köstliches wie diese Kinder nicht mehr zu sehen bekommen, nein, vielleicht sogar seit Jahren nicht mehr (und das sollte dir eigentlich klarmachen, warum Hexen bei den Menschen so unbeliebt sind, nicht nur damals im Bronzezeitalter, sondern in jedem anderen Zeitalter, in dem die Hexen auf der Bildfläche erschienen).

Aber irgendetwas war mit diesen Kindern, etwas, das die Hexen davon abhielt, sich sofort wie gierige Geier auf diese saftigen kleinen Leckerbissen hinabzustürzen und ihre scharfen Krallen in das frische Fleisch zu schlagen.

»Saw nebah eis reih neßuard uz nehcus?«, heulte Würgklaue und wedelte schnüffelnd die lange Nase hin und her. »Muraw tztühcseb eis dnamein? Tsbualg ud, sad tsi enie ellaf?«*

Auch Knochenknacker zögerte, obwohl ihm der Blutgeruch der Menschenkinder (der für eine hungrige Hexe noch köstlicher riecht als frisch gebackener Kuchen für uns Menschen) in die Nase stieg, sodass er wie ein Hund sabberte. Er war gierig darauf, Würgklaue diese köstlichen Brocken unter der schnüffelnden Nase wegzuschnappen und sie geradewegs in seinen Horst zu schaffen, um die kleinen zarten Leckerbissen in aller Ruhe ganz allein zu verspeisen.

Aber er war auch vorsichtig. Bevor die Hexen in den Wilderwald zurückgekehrt waren, hätte es um diese Zeit in der Luft über den Baumkronen von geflügelten Wesen nur so gewimmelt – Vögel und Elfen und Greife, Drachen, Nachtrappen und jede Menge anderer wunderbarer magischer Kreaturen. Aber so früh am Morgen lag die nächtliche Hexenstunde noch nicht lange genug zurück; der Wald war deshalb stumm und still wie ein Grab, die Krieger hatten sich und ihre kleinen Kinder sicher in ihren Burgen eingeschlossen und das Gleiche hatten auch die Zauberer mit ihren Kindern in ihren Baumfestungen getan. Was also hatten diese Menschenkindlein hier zu suchen, wieso flogen sie mutterseelenallein auf einer fliegenden Zaubertür frech durch die Gegend, meilenweit von jeder menschlichen Behausung entfernt? Vielleicht hatte Würgklaue ja recht: Vielleicht war das Ganze eine Falle und die Kinder waren der Köder.

Die Kinder redeten miteinander und eines sang sogar trotzig vor sich hin, wenn auch mit ziemlich zittriger Stimme: »FURCHT-LOS durch den Tag! Das ist der Marschgesang der Krieger. FURCHT-LOS singen wir ihn immer wieder!«

Würgklaues gigantische Ohren kräuselten sich an den Rändern, drehten sich suchend hin und her, um den leisen Gesang besser einfangen zu können. Ein weiteres Auge mitten auf der Stirn der Hexe öffnete sich schläfrig. Unsichtbar und unbemerkt gingen die beiden Hexen in den Sinkflug über, um das Gespräch der Kinder zu belauschen.

Eines der Kinder war ein junger Zauberer namens Xar (sein Name wird »Zar« ausgesprochen – frag nicht, warum, Ausspracheregeln sind manchmal sehr merkwürdig). Die Hexen konnten es nicht ahnen, aber dieser Junge war nicht nur der Sohn des Königs der Zauberer, Encanzo, sondern er hatte auch ein sehr gefährliches Geheimnis: Xar hatte einer Hexe ein wenig Zauberkraft gestohlen und hatte nun enorme Schwierigkeiten, diese unheimliche Magie unter seine Kontrolle zu bringen. Die Hexenmagie war durch eine kleine Schnittwunde auf seiner rechten Hand in den Jungen eingedrungen, und obwohl er den »Hexenfleck« unter einem Handschuh versteckte, konnten ihn die Hexen sofort riechen. Dass ein Menschenjunge nach Hexenmagie roch, verwirrte sie.

Das zweite Menschenkind war eine Kriegerprinzessin namens Willa, siebte Tochter der Kriegerkönigin Sychorax. Auch Willa hatte ein sehr gefährliches Geheimnis: ein Magisches Auge, verborgen unter einer Augenklappe – obwohl Krieger doch eigentlich überhaupt keine Zauberkräfte besitzen sollten!

Das dritte Kind war ein Kriegerjunge namens Griffel. Er war Hilfsleibwächter der Prinzessin, eine Aufgabe, die er ausgesprochen anstrengend fand. Griffel kämpfte nämlich nicht gern und neigte dazu, in gefährlichen Situationen einfach einzuschlafen. Außerdem war es seiner Meinung praktisch unmöglich, eine widerspenstige kleine Prinzessin zu beschützen, denn Willa schien absolut nicht zu verstehen, wozu es Regeln, Gesetze und Vorschriften gab. Im Moment sang Griffel, aber wie schon erwähnt mit unsicherer, zittriger Stimme.

Die drei Kinder sahen viel heruntergekommener und trauriger aus als noch vor zwei Wochen, als sie Willas Mutter und Xars Vater entwischt waren. Am Anfang ihrer Flucht waren sie noch recht fröhlich gewesen, wie so oft, wenn Kinder den Eltern entwischen. Wegzulaufen war ihnen wie ein aufregendes Abenteuer erschienen – aber jetzt waren sie einfach nur hungrig und müde. Und sie hatten Angst, denn sie wussten, dass sie von den Kriegern und den Zauberern und den Hexen gejagt wurden und sich auf gar keinen Fall fangen lassen durften. Wenn die Krieger sie fingen, würde Königin Sychorax ihre Tochter Willa in ihrem Eisernen Kriegerfort einsperren, in das die Hexen nicht eindringen konnten. Wenn die Zauberer sie fingen, würde König Encanzo seinen Sohn Xar wieder nach Gurmenkrag zurückbringen, eine sogenannte Besserungsanstalt für Dunkle Magier und Böse Zauberer, die aber praktisch ein Gefängnis war. Und wenn die Hexen die drei Kinder fingen … nun, was dann mit ihnen geschehen würde, war eine so grausige, entsetzliche Vorstellung, dass unsere drei Helden nicht einmal daran zu denken wagten.

Deshalb suchten sie jetzt schon seit zwei Tagen nach der Behausung von Kaliburns Schwester. Kaliburn war Xars sprechender Rabe. Die Kinder hofften, dass sie sich bei seiner Schwester eine Weile verstecken konnten.

»Ich WEISS, dass meine Schwester irgendwo hier in dieser Gegend wohnt«, sagte Kaliburn jetzt schon zum x-ten Mal. »Es ist schon eine ganze Weile her, seit sie hierhergezogen ist. Damals war ich noch ein Mensch …«

Kaliburn war eigentlich ein Zauberer, der schon viele Leben hinter sich hatte, und in seinem letzten Leben war er tatsächlich ein Mensch gewesen. Und zwar nicht irgendein normaler alter Mensch, sondern kein anderer als der große Zauberer Pentaglion. Leider war dann in seinem Menschenleben nicht alles so glattgelaufen, wie es hätte laufen sollen, deshalb war er in seinem jetzigen Leben als Vogel in den Wilderwald zurückgekehrt. (Als ziemlich ungepflegter Vogel, denn Kaliburn hatte die Aufgabe zu verhindern, dass Xar in Schwierigkeiten geriet, was praktisch unmöglich war, weshalb der arme Rabe vor lauter Sorge ständig Federn verlor.)

»Und ich weiß auch, dass meine Schwester eine der Zutaten besitzt, die wir für den Zauberspruch brauchen, mit dem wir die Hexen für alle Zeiten verbannen können – nämlich Druidentränen. Vielleicht können wir sie überreden, uns die Tränen zu geben«, sagte Kaliburn. »Außerdem könnten wir bei ihr übernachten und eine gute Mahlzeit bekommen. Sicherlich würde sie uns für eine Weile beschützen …«

Alle Reisenden auf der Fliegenden Tür waren schwach und erschöpft. Der Gedanke, ein bequemes Bett für die Nacht und ein gutes Essen zu bekommen, war ihnen im Moment sogar wichtiger als die Hoffnung, dass ihnen Kaliburns Schwester eine der Zutaten schenken würde, die sie für ihre Suche nach dem Zauberspruch dringend brauchten. Ein Bett und gutes Essen … schon der bloße Gedanke daran trieb Griffel Tränen in die Augen.

»Wie sieht denn das Haus deiner Schwester aus?«, fragte er.

Kaliburn trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Na ja, weißt du, wie eine alte Menschenbehausung eben aussieht. Ich war schon viele Jahre lang nicht mehr dort, aber wenn ich es sehe, erkenne ich es bestimmt wieder.«

»Deine Schwester müsste aber schon ein sehr großes Haus haben«, sagte Willa zweifelnd. »Schau doch nur, wie viele wir sind! Vielleicht möchte sie gar nicht, dass wir alle bei ihr übernachten!«

Kaliburn wedelte lässig mit einem Flügel. »Ach, meine Schwester hat genug Platz für alle! Sie wird bestimmt sogar darauf bestehen, dass wir bei ihr übernachten und uns ausruhen!«

»Obwohl wir ein bisschen … SELTSAM sind?«, fragte Willa zweifelnd. »Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass es deiner Schwester nichts ausmacht, dass bei uns Zauberer und Krieger zusammenarbeiten, Kaliburn – das würde bestimmt niemandem gefallen. Und manche Leute würden vielleicht glauben, dass wir irgendwie … verflucht sind.«

Tatsächlich war Willa ein recht seltsam aussehendes Mädchen – ein kleines, schmächtiges Ding mit einem wilden Haarschopf so voller Zauberkraft, dass er jedes Mal zitterte und zuckte, wenn sie sich bewegte, als sei jedes einzelne Haar elektrisch geladen. Ihr Gesicht war klein und blass, gerade so, als sei es von unsichtbaren Händen geglättet worden, bis nichts Scharfes und Kantiges zurückgeblieben war. Doch trotzdem trug es immer einen mutigen, entschlossenen Ausdruck.

Im Moment allerdings wurde ihr Mut auf eine harte Probe gestellt. Ihre Rüstung war völlig verbeult, sie hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen und Gesicht und Hände waren völlig mit Kratzern und Wunden übersät. Die Verletzungen hatte sie aus dem furchtbaren Kampf davongetragen, als sie vor einer Woche von einer Meute Tatzelwürmer (einer im Bronzezeitalter weit verbreiteten, zweifüßigen, geflügelten Drachenart mit schlangenartigem Hinterleib) aus dem Hinterhalt überfallen worden waren.

Deshalb wollte Willa aus tiefstem Herzen glauben, dass Kaliburn wirklich eine Schwester hatte, die sie willkommen heißen würde, obwohl sie eigentlich Verbrecher waren, die sich über die Gesetze des Wilderwalds hinweggesetzt hatten … aber tief in ihrem Innern verspürte sie nagende Zweifel, die ihr einflüsterten, dass die Sache mit Kaliburns Schwester vielleicht ganz anders war, als der Rabe behauptete.

»Machen wir uns nichts vor, Kaliburn«, sagte Willa und versuchte, so praktisch und sachlich wie möglich zu klingen, als würde ihr das alles nichts ausmachen, »wir passen eigentlich nirgendwo dazu. Niemand wird uns aufnehmen wollen.«

»Meine Schwester hat keine Vorurteile wie alle anderen«, sagte Kaliburn stur. »Es gibt auch noch nette Leute auf der Welt. Man muss sie nur finden.«

»Bist du überhaupt sicher, dass deine Schwester nicht schon längst gestorben und als Rabe wieder zurückgekommen ist, genau wie du? Und dass wir ihr Haus nur deshalb nicht finden können, weil sie jetzt in irgendeinem NEST wohnt?«, fragte Griffel misstrauisch.

»Äh, nein, nein«, sagte Kaliburn schnell. Doch dann fügte er ein wenig unsicher hinzu: »Das glaube ich nicht …«

Griffel wusste nicht, wie er es sagen konnte, ohne den Raben zu beleidigen, aber sie hatten nun schon so lange nach dem Haus von Kaliburns Schwester gesucht, ohne auch nur die geringsten Anzeichen zu entdecken, dass Griffel größte Zweifel hegte, dass es das Haus überhaupt gab. »Bist du ganz sicher, dass du dich wirklich daran erinnerst, Kaliburn? Denn eigentlich hast du dich erst jetzt daran erinnert, dass du ÜBERHAUPT eine Schwester hast.«

»Viele Leben gelebt zu haben, kann ganz schön schwierig sein«, murmelte Kaliburn ziemlich verlegen. »Es dauert immer eine Weile, bis einem wieder einfällt, was man in einem bestimmten früheren Leben erlebt und gesehen hat. Aber irgendetwas in dieser Gegend hat meiner Erinnerung auf die Sprünge geholfen, deshalb weiß ich jetzt, dass ich eine Schwester habe und dass sie irgendwo da unten in diesem Wald lebt.«

»Also, ich meine, wir sollten aufhören, nach deiner Schwester zu suchen. Stattdessen sollten wir geradewegs in diese Druidenfestung am Verlorenen See marschieren und ihnen ein paar Tränen abknöpfen«, sagte Xar, der nicht zu den geduldigsten Menschen zählte.

»Wann begreifst du das endlich!«, zischte Kaliburn und fügte flüsternd hinzu: »Die Druiden sind unerbittlich und unbarmherzig und überhaupt die größten Zauberer im ganzen Wilderwald und sie mögen es gar nicht, wenn man ihnen die Tränen klaut! Sie werden uns töten, sobald sie uns erwischen … Ist doch viel leichter, uns die Tränen von meiner Schwester SCHENKEN zu lassen!«

In diesem Moment entdeckte Willa etwas, aber es waren nicht die Rauchschwaden eines wohligen Kaminfeuers im Haus von Kali-burns Schwester, sondern etwas, das viel düsterer war.

»Da unten im Wald verfolgt uns jemand«, flüsterte Willa, wobei sie ihre Augenklappe ein winziges Stückchen hochschob, weil sie mit ihrem Magischen Auge besser sehen konnte. Und tatsächlich: Dort unten, fast verborgen unter dem dichten grünen Laubdach, waren viele kleine flackernde Lichter zu sehen, wie von unzähligen Fackeln, die zwischen den Bäumen hindurch näher kamen.

»Glaubst du, das könnte deine Schwester sein, Kaliburn?«, flüsterte Xar hoffnungsvoll, wobei sein Magen unglaublich laut knurrte. Nur einer wie Xar konnte womöglich böswillige Verfolger für einen freundlichen Begrüßungstrupp halten, den ihnen Kaliburns Schwester entgegenschickte. Aber Xar war nun mal eine besonders optimistische Person und hoffte immer das Beste.

Ein Tatzelwurm hatte versucht, Xar ein Auge auszukratzen, weshalb Xar jetzt eine klaffende Wunde über der rechten Schläfe hatte. Außerdem hatte er einen alten Hemdfetzen um eine Beinwunde gebunden – ein Irrwicht hatte ihn gebissen und die Bisswunde hatte sich entzündet, aber von solchen Kleinigkeiten ließ sich einer wie Xar nicht aufhalten. Er war immer gut gelaunt, mit einem hellwachen Blick in den Augen, der jedem klarmachte, dass dieser Junge das Leben in vollen Zügen genießen wollte. Für ihn waren entzündete Irrwichtbisse oder Tatzelwurmkratzer nur Nebensächlichkeiten.

Und weil Xar auch viel Charme und Charakter besaß, hatte er eine Menge Gefährten, weshalb sechs Elfen und drei Haar-Feen die Fliegende Tür begleiteten. Diese kleinen Kreaturen glichen Insekten und waren so papierdünn und durchsichtig, dass man ihre Herzen schlagen sehen konnte. Im Moment schwirrten sie derart aufgeregt und entsetzt um die Tür, dass blaue elektrische Funken aus ihren Ohren sprühten.

»Vorsssicht«, zischten sie. »Vorsssicht, Vorsssicht, Vorsssicht …«

»Nein, das ist definitiv nicht meine Schwester«, erklärte Kaliburn, während er mit dem Flügel die Augen beschattete und sie zukniff, um schärfer sehen zu können. »Sie schlagen die Kriegstrommeln. Meine Schwester würde bestimmt nicht die Kriegstrommeln schlagen lassen, es sei denn, sie hätte sich in den letzten zwanzig Jahren völlig verändert.«

»Keine Angst, Elfen«, sagte Xar beruhigend, denn obwohl er seine Gefährten immer wieder in Schwierigkeiten brachte, nahm er seine Pflichten als ihr Anführer sehr ernst. »Ich kümmere mich um euch …«

»Natürlich kümmerst du dich um uns, Meister!«, krähte Flatterkopf, einer der kleinen Haar-Feen, der Xars eifrigster Anhänger war. »Du bist der beste und genialste Anführer auf der ganzen Welt und würdest uns niemals in Schwierigkeiten bringen!«

»Also das verstehe nicht«, sagte Willa verwirrt. »Niemand weiß, welchen Weg wir nehmen. Unsere Elfen haben ihr Licht gedämpft und wir fliegen so dicht über den Wipfeln, dass uns niemand vom

Boden aus sehen kann. Wie kann es da sein, dass sie uns verfolgen?«

»Vielleicht haben sie die Witterung von Quetscher und den Schneekatzen aufgenommen«, vermutete Griffel.

Xar hatte noch weitere Gefährten, die ihm unten auf der Erde folgten: einen Riesen namens Quetscher, drei wunderschöne Schneekatzen, ein paar Wölfe, einen Bären und einen Werwolf, der Oinsaam hieß. Sie alle rannten unten im Wald hinter der fliegenden Tür her.

»Unmöglich!«, flüsterte Xar zurück. »Im Weglaufen bin ich unschlagbar und meine Gefährten ebenfalls! Uns kann niemand aufspüren.«

Xar war ein klein wenig eingebildet, aber im Weglaufen war er wirklich sehr gut. Er war der unfolgsamste Junge im ganzen Königreich der Zauberer und geriet ständig in irgendwelche Schwierigkeiten, weil er immer wieder schlimmen Unfug anstellte, zum Beispiel hatte Xar …

seinen Elfen befohlen, den Zauberstab seines Bruders Robb so zu verhexen, dass der Stab Robb verhaute, wann immer Robb damit zaubern wollte … kleine rote Flecken auf den Magischen Spiegel in der Großen Halle gemalt, sodass alle, die hineinschauten, glaubten, an Masern oder Scharlach erkrankt zu sein … einem unbeliebten Lehrer namens Zeterio Zappel Zaubertrank in die Hose geschüttet, sodass die Hose immer weghüpfte, wenn Zeterio sie anziehen wollte.

Wegen all seiner Missetaten hatte Xar sein ganzes kurzes Leben lang ständig vor dem Zorn seines Vaters, seiner Lehrer und der anderen Zauberer fliehen müssen, weshalb er wirklich zu einer Art Flucht-Künstler geworden war.

»Bessstimmt hat uns jemand verraten«, zischte Zippelsturm, eine von Xars größeren Elfen, und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Bessstimmt war das der Werwolf. Traue nie einem Werwolf, den man im Gefängnisss kennengelernt hat. Dasss ist der beste Ratschlag fürs Leben, Leute.«

»Wage es nicht, Oinsaam zu verdächtigen, bloß weil er ein Werwolf ist!«, blaffte Xar die Elfe an.

Willa war derselben Meinung.

»Niemand hat uns verraten«, sagte sie beschwichtigend. »Wir stehen alle auf derselben Seite, Zippelsturm – wir alle sind Geächtete, vergiss das nicht. Überlegt euch lieber, wer da unten im Wald hinter uns her ist.«

Kaliburn zählte ihre Feinde auf. »Nun, es könnten natürlich die Druiden sein … oder Xars Vater … oder Willas Mutter … Und was ist mit dem Hexenschnüffler? Der hasst euch nämlich richtig! Oder der Kaiser aller Krieger? Er will die Magie-die-mit-Eisen-wirkt unter allen Umständen vollkommen ausrotten …«

Flatterkopf fletschte sein kleines Gebiss und quiekte: »Ich erledige sie für dich, Meister! Ich beiße große Fetzen aus ihrem Hintern! Ich mache, dass ihre Nasen wochenlang laufen, und lege Pfefferkörner in ihr Käsesandwich! Ich reiße Löcher in ihre Socken, damit sie immer ihre großen Zehen durchstrecken müssen, was ganz eklig ist! Ich streue Juckpulver in ihre Unterhosen und klebe kleine Fusseln in ihren Bauchnabel und dann haben sie keine Ahnung, woher die Fusseln kommen!«

Da Flatterkopf nicht viel größer als eine Kirchenmaus war und die Sache mit den Bauchnabelfusseln nicht lebensgefährlich schien, würde keine seiner Drohungen einen Druiden oder einen schwer bewaffneten Krieger in Angst und Schrecken versetzen, aber Xar dankte ihm trotzdem mit tiefernstem Gesicht. »Ja, natürlich kannst du das alles machen, Flatterkopf, aber erst, wenn ich dir den Befehl dazu gebe.«

Einen Feind hatte Kaliburn allerdings nicht erwähnt – die Hexen. Was ein bisschen seltsam war, wenn man bedachte, dass zwei sehr große Hexen in diesem Augenblick unsichtbar über ihren Köpfen schwebten. Und es gab sogar einen noch deutlicheren Hinweis, dass ihnen die Hexen dichter auf die Pelle gerückt waren, als sie ahnten. Denn an Xars Gürtel hingen zwei Hexenfedern; sie begannen, in einem fremdartigen, unnatürlichen grünen Licht zu glühen, wann immer Hexen in ihre Nähe kamen. Und in diesem Moment glühten sie grün, du meine Güte, wie grün sie glühten, grüner als Smaragde, heller als die Sterne … aber Xar und Willa und Griffel bemerkten es nicht, weil sie mit voller Konzentration in den Wald hinunterstarrten, um herauszufinden, was dort unten vor sich ging.

Nur einer der Gefährten hatte das grüne Glühen tatsächlich bemerkt: Baby. Baby war der allerkleinste Haar-Fee und im Moment geriet er vor Aufregung fast außer sich.

Aber Baby war noch nicht völlig aus seinem Ei geschlüpft und konnte nur ein einziges Wort sprechen: »Guuu!«

Niemand achtet auf das Gebrabbel von Babys, selbst dann nicht, wenn sie etwas sehr Wichtiges zu sagen haben.

Obwohl Baby aufgeregt in seinem Eischalenrest durch die Luft kullerte und immer wieder gegen die anderen Gefährten prallte und ständig »Guuu! Guuu! Guuu!« krähte, so laut er nur konnte, wedelte ihn Xar einfach nur mit der Hand weg wie eine lästige Fliege und sagte: »Lass das, Baby, wir haben jetzt keine Zeit zum Spielen.«

Inzwischen schwebten die Hexen nur noch drei oder vier Meter über der Fliegenden Tür, wetzten ihre Krallen und grinsten sich voller Vorfreude an – und es war ein hässliches, böses Grinsen, denn Hexen haben nun einmal einen sehr bösartigen Humor. Ha, ha, wie lustig! Diese Kinder machten sich größte Sorgen, welche Gefahr ihnen von unten drohte, aber achteten überhaupt nicht darauf, dass ihnen von oben eine viel ernstere Gefahr drohte.

Und sie waren vor ihren Eltern ausgerissen!

Das würde erklären, warum sie mitten in der Nacht hier draußen herumflogen, weit entfernt von ihren Stämmen und ihren Fami-

lien … also war es doch keine Falle!

Die Hexen machten sich bereit, sich auf ihre Beute zu stürzen.

Aber dann stutzten sie. Etwas streckte sich plötzlich hinten aus Willas Kragen heraus, schwenkte hin und her, als würde es in der Luft schnüffeln, und dann hüpfte es mitten auf Willas Kopf und beugte sich vor, um wie die Kinder über den Rand der Tür zu blicken.

Dieses Etwas war ein Löffel, aber zufällig war es ein lebendiger Löffel.

Dem Verzauberten Löffel folgten ein Schlüssel, eine Gabel und eine Anzahl kleiner Verzauberter Nadeln.

Für die Hexen war der Anblick nichts Ungewöhnliches. Verzauberte Gegenstände waren damals im Wilderwald völlig normal.

Aber diese verzauberten Gegenstände waren keineswegs normal, sie waren sogar ausgesprochen seltsam.

Denn diese verzauberten Gegenstände waren … aus Eisen.

»Dasss issst sssiiie!«, zischten die Hexen, natürlich in ihrer Rückwärts-Sprache. »Issst SSSIIIE …«

Und dann knurrten sie wie Hunde. »Das Mädchen mit der Magiedie-mit-Eisen-wirkt …«

Aber dann geschah ein höchst ungewöhnlicher Zufall: Willa, die über den Türrand nach unten starrte, flüsterte genau gleichzeitig dieselben Worte vor sich hin: »Das ist SIE … ist SIE …!«

»Das ist meine Mutter«, stöhnte sie dann laut auf. »Sie ist es also, die uns verfolgt! Oh … also gut, Leute, nur keine Panik … immer mit der Ruhe … Schlüssel! Tu mir den Gefallen und spring doch mal bitte ins Schlüsselloch!«

»Aber gern!«, prahlte der kleine Schlüssel mit seinem kleinen, quietschenden Stimmchen, der sich plötzlich sehr wichtig fühlte. »Siehst du, Löffel? Die Gabel ist nur so ein Essenschaufler, ein armseliger kleiner Kartoffelaufspießer … aber ich! Ich habe eine sehr wichtige Aufgabe!«

Denn der Schlüssel und die Gabel hatten sich beide unsterblich in den Verzauberten Löffel verliebt, weshalb der Schlüssel keine Gelegenheit ausließ, vor dem Löffel zu prahlen.

Die Gabel wedelte dem Schlüssel wütend mit ihren Zinken zu, während der Schlüssel seine kleine eiserne Brust reckte und wichtigtuerisch ins Schlüsselloch hüpfte.

»Wir schleichen uns einfach still und leise davon«, flüsterte Willa. »Seid alle ganz still … wir dürfen keinen Lärm machen …«

Aber bevor Willa den Schlüssel drehen konnte, um die Fliegende Tür leise über die Baumwipfel davonschweben zu lassen, bemerkte sie plötzlich, dass sich Flatterkopf höchst seltsam aufführte.

Flatterkopf verhielt sich noch aufgeregter als sonst – er schlug Purzelbäume in der Luft und quiekte unablässig düstere Drohungen, dass er den Leuten Löcher in die Socken beißen würde und dass er Xar beschützen müsse, wobei er sich sogar versehentlich in den eigenen Schwanz biss. Doch als er nun auch noch Willas Mutter erblickte, drehte er völlig durch. Der kleine, wild herumschwirrende Haar-Elf versprühte plötzlich Funken in alle Richtungen, seine winzigen Augen glühten grellgrün auf und er kreischte, so laut er nur konnte: »FLATTERKOPF DER RETTER IST DA! AAANGRIIIFFF!!!«

Und der kleine grüne Elf raste in einem wahnwitzigen Sturzflug wie ein durchgeknallter Kamikaze-Haar-Fee auf Königin Sychorax’ gesamte Kriegerarmee hinunter.

»Was … macht … er???«, keuchte Xar in heillosem Entsetzen.

Und während den Kindern auf der Fliegenden Tür fast die Augen aus den Höhlen fielen, als sie auf diese unbegreifliche Katastrophe hinabstarrten, folgte schon die zweite Katastrophe, als überall unter ihnen blendend grelle Flammen in die Höhe schlugen.

»Meine Mutter!«, kreischte Willa. »Sie steckt den Wald in Brand!«

Hexen sprechen in unseren menschlichen Sprachen, allerdings von hinten nach vorn. Das hier heißt also: »Was haben sie hier draußen zu suchen? Warum beschützt sie niemand? Glaubst du, das ist eine Falle?«