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INHALT

Vom Sinn unseres Lebens

Vorwort

Wir hätten mehr miteinander reden sollen

Über Missverständnisse zwischen Ost und West

Ein erzählenswertes Leben?

Von der vermeintlichen Individualität des Konsumenten

An alle Fans und Freunde in der DDR

Wie mich Farin Urlaub und Bela B durch mein Leben begleiten

»Hab ick druff«

Vom Zwang, unser Leben dokumentieren zu wollen

Allein unter Nachbarn

Über anonymes Wohnen in der Großstadt

Wir sind informiert – und nicht mehr gebildet

Von dem Missverständnis, Informiertheit mit Bildung gleichzusetzen

Born in the GDR

Über das ideale Alter zum Kinderkriegen in zwei Gesellschaftsordnungen

Der perfekte Ostler

Wie Legenden die ostdeutsche Vergangenheit ersetzen

Discounter-Mentalität

Über die ewige Suche nach dem billigsten Angebot und die Verantwortung in einer Wohlstandsgesellschaft

Einmal alles bitte

Über den Wert von Dingen, die Zeit brauchen

Eine ungesunde Beziehung

Von den Versuchen, die Ostdeutschen zurechtzubiegen und zu vereinnahmen

Heil Hitlerchen

Von der Gefahr, rechte Haltungen wieder salonfähig zu machen

Eher Pauschaltourist als Weltbürger

Über das Verhältnis vieler Ostdeutscher zu Ausländern

Die Macht der Bilder

Von der fatalen Sehnsucht nach einem idealen Leben

»Karrierebewusst sein, heißt rücksichtslos sein.«

Was die Eigenschaften, die als Stärken im Beruf gelten, über unsere Gesellschaft aussagen

Kein guter Konsument

Über den Alltag in unserer Wegwerfgesellschaft

Berlin – die Hauptstadt des Sozialismus

Wie in den Städten mit Straßen, Häusern und Menschen Monopoly gespielt wird

Uns vereint gleicher Sinn, gleicher Mut

Von der Bedeutung, seine Haltungen auf Demonstrationen zu zeigen

Das Feuer von Stuttgart

Wie in Schwaben ein vermeintlich ostdeutsches Gefühl wiederbelebt wurde

VOM SINN UNSERES LEBENS

Vorwort

Am 12. März 2019, dem Tag, an dem das Internet 30 Jahre alt wurde, saß ich an meinem Schreibtisch und blätterte in Vom Sinn unseres Lebens, einem Buch, das mir am 16. April 1989 – also nur einen guten Monat nach der Geburt des Internets und ein halbes Jahr vor dem Mauerfall und dem Ende der DDR – im Kino International vom »Zentralen Ausschuss für Jugendweihe in der Deutschen Demokratischen Republik« überreicht wurde. Es war ein Propagandaband voller unfreiwilliger Komik.

Wer mit dem Begriff Jugendweihe nichts anfangen kann: Sie ist gewissermaßen eine Konfirmation ohne Gott. Das lag daran, dass die DDR mit Gott nicht viel anfangen konnte. Also wurde er durch »die große und edle Sache des Sozialismus« ersetzt. Die Staatsführung hat versucht, eine Gesellschaftsordnung religiös aufzuladen, indem sie ein ähnliches Ritual wie die Kirchen benutzte. Es hat nicht wirklich geklappt. Obwohl die führenden Köpfe der SED es sich sicher gewünscht hätten, haben – soweit ich weiß – die Leute auf dem Sterbebett im Angesicht ihres nahenden Todes dann doch eher nach Gott gerufen und nicht nach ihrem Parteisekretär.

Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass das Ende der DDR mit der Geburt des Internets zusammenfällt. Diese Ereignisse stehen schließlich für die beiden wichtigsten Umbrüche in meinem Leben. Es gibt einschneidende Erlebnisse, die ein Leben teilen – in die Zeit davor und die Zeit danach. Zum ersten Mal wurde mein Leben durch den Mauerfall vor 30 Jahren förmlich umgewälzt. Der zweite Umbruch findet gerade statt, sukzessiv, Stein für Stein – es ist die Zeit, in der wir leben. Damals musste ich mich als Ostdeutscher in ein bestehendes System einfügen. Heute betrifft es uns alle – wir erleben, wie durch die digitale Revolution etwas vollkommen Neues entsteht, das nur schwer einzuschätzen ist. Es ist kein harter Schnitt wie die Wiedervereinigung, es ist ein Prozess, an dessen Anfang wir gerade stehen, der das Leben vieler bereits geändert hat und an dessen Ende sich unser aller Leben grundlegend geändert haben wird.

Beim ersten Umbruch meines Lebens war ich 14 Jahre alt. Ich war in Ost-Berlin aufgewachsen und in der DDR sozialisiert, aber noch jung genug, um mich wie selbstverständlich im Kapitalismus zurechtzufinden, als die Mauer fiel. Ich bilde mir jedoch ein, durch meine ostdeutsche Vergangenheit einen sensibleren Blick für viele Details zu haben, den Menschen, die im Kapitalismus geboren und aufgewachsen sind, nicht besitzen, weil sie nie einen anderen Entwurf kennengelernt haben.

Inzwischen habe ich mehr Zeit im Kapitalismus verbracht als im real existierenden Sozialismus. Das hat natürlich etwas mit mir gemacht. Auch mir geht es darum, das perfekte Leben aus dem Angebotskatalog der freien Marktwirtschaft zusammenzustellen. Ein Leben, das zu dem Menschen passt, für den ich mich halte und für den ich gehalten werden möchte. Die passende Wohnung, die passenden Möbel, die passende Ernährung, die dazu passenden Freunde und den passenden Partner. Alles soll passen. Ich modelliere einen angemessenen Rahmen für ein Leben, das einem in Kinofilmen, Werbespots und den perfekt gefilterten Fotos auf unzähligen Instagram-Profilen versprochen wird. Auch ich kann mich, trotz meiner sozialistischen Vorprägung, dem verführerischen Sog des vorgefertigten Individualismus nicht entziehen. Ich will anders sein, individuell, mich unterscheiden, aber genau genommen mache ich genau das, was alle machen. Mein Leben kreist um Geldanlagen und den richtigen Urlaubsort, um Eigentumswohnungen und darum, welcher meiner Posts die meisten Likes erhält. Welche Überschrift ein Text haben muss, damit ihn in den sozialen Medien möglichst viele anklicken, es geht um Bestsellerlisten und darum, dass die Frisur richtig sitzt. Es geht um Zahlen, Erfolg und Äußerlichkeiten. Ich frage mich viel zu selten, ob dieses uniformierte Glück etwas mit mir zu tun hat. Und dann frage ich mich, was mein Leben verbessert. Was es wirklich verbessert …

Vor einigen Jahren wurde mein ehemaliger Lehrer Herr Meyhöfer eine Woche vor seiner Pensionierung von einer Straßenbahn erfasst und starb. Ich erfuhr es durch einen Zufall und es traf mich mehr, als ich erwartet hatte. Meyhöfer war einer der coolen Lehrer, aber wir hatten die vergangenen 20 Jahre keinen Kontakt. Nun gut, wir waren auf Facebook befreundet, aber mir wurde gerade, als ich von seinem Tod erfuhr, klar, wie wenig das heißt. Ich hatte ihn gemocht, wie die meisten meiner damaligen Mitschüler. Ich beschloss, zu seiner Beerdigung zu gehen. Erst dort begriff ich, wie beliebt mein ehemaliger Lehrer wirklich gewesen war. So viele Menschen hatte ich bisher noch nie auf einer Beerdigung gesehen. Ich kannte niemanden dort. Das hatte ich auch nicht erwartet. Aber es gab einige junge Frauen, die mich kannten – als Leserinnen meiner Kolumnen und Bücher. Mit ihnen kam ich ins Gespräch. Die Essenz oder Erkenntnis, die ich aus diesen Unterhaltungen zog, war: Wenn ein Mensch stirbt, wird er selten danach bewertet, wie viel Erfolg er gehabt, wie viel Geld er angehäuft oder was er gesellschaftlich erreicht hat. Er wird danach bewertet, ob er für andere da war, ob er Menschen berührt oder was er ihnen gegeben hat. Wenn es das ist, worum es offenkundig am Ende geht, stellt sich ja schon die Frage, warum man sein Leben nicht gleich danach ausrichtet.

Merkwürdigerweise funktioniert der Mensch aus irgendeinem Grund so, dass ihm meistens erst der Boden unter den Füßen weggezogen werden muss, damit er sich selbst hinterfragt. In Zeiten persönlicher oder gesellschaftlicher Krisen, in denen man auf andere Menschen angewiesen ist, zeigt sich dann oft, worauf es im Leben wirklich ankommt.

Als ich 2004 von Köln, wo ich einige Jahre gelebt hatte, wieder zurück nach Berlin zog, halbierte sich mein Gehalt. Es klingt vielleicht seltsam, aber es ist schwieriger, mit wenig Geld auszukommen, wenn man vorher viel verdient hat, als wenn man durchweg wenig zur Verfügung hatte. Das war eine Erfahrung, die ich damals machte. Ich musste meinen Lebensstil eigentlich ändern, an den ich mich gewöhnt hatte, aber aus irgendeinem Grund änderte ich ihn nicht.

Es war ein schleichender Prozess. Von meinem Kontostand haben nur die Bank und ich etwas mitbekommen, aber vier Jahre später erhielt ich in regelmäßigen Abständen Briefe von der Berliner Sparkasse, in denen ich darauf hingewiesen wurde, dass ich meinen Dispokreditrahmen von 6000 Euro um dreistellige Beträge überzogen hatte. Ich hob praktisch schneller ab, als die Technik reagieren konnte. Meine Eltern haben mir damals ausgeholfen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihnen die Summe jemals zurückzahlen sollte. Ich schränkte meine Ausgaben auf 10 Euro pro Tag ein. Das war eine Zeit, in der ich vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben Demut lernte. Eine Zeit voller Einschränkungen, die rückblickend wertvoll war. Sie zeigte mir, wer wirklich für mich da war, und erinnerte mich an Werte, die ich beinahe vergessen hatte. Glücklicherweise erschien ein Jahr darauf mein erstes Buch. Mit dem Vorschuss konnte ich meine Schulden innerhalb von drei Monaten begleichen. Es war ein schöner Moment, die erstaunten Blicke meiner Eltern zu sehen, die wohl nicht erwartet hatten, dass ich das Geld überhaupt zurückzahlen würde.

Wir leben in unruhigen Zeiten, die früher oder später für den Großteil unserer Gesellschaft mit Einschränkungen verbunden sein werden. Der Wohlstand, den wir als selbstverständlich ansehen, wird sich nicht halten lassen, die Arbeitslosigkeit wird sich erhöhen, die Schere zwischen Armen und Reichen wird sich immer weiter öffnen. Im Leben von immer mehr Menschen wird es zu Umbrüchen und vielleicht sogar Brüchen kommen, weil der Boden, auf dem wir stehen, rumort und schwankt. Viele werden Abstriche machen müssen. Doch wenn es stimmt, dass man in Zeiten der Einschränkungen erst begreift, worauf es im Leben tatsächlich ankommt, welche Werte man eigentlich pflegen und kultivieren müsste und worauf man angewiesen ist, dann kann die Zeit, in der wir uns gerade bewegen, eine große Chance sein. Die Chance, Wertmaßstäbe wiederzuentdecken, die unter einem Berg von ewigem Wirtschaftswachstum vergraben sind. Es sind Werte der Menschlichkeit, die in der DDR mehr kultiviert wurden als heute – nicht durch das System, sondern bedingt durch das System. Durch die Allgegenwart des Staates, der man sich entziehen wollte, zog man sich ins Private zurück. In seine Nische. Dort pflegte man Freundschaften und Beziehungen. Es ging darum, füreinander da zu sein, es ging um ein Miteinander, nicht um ein Gegeneinander. Wenn man menschliche Werte lebte, verstand man sich als erfolgreich im Leben. Sie zu kultivieren, war ein Statussymbol, denn Reichtum und Besitz hatte das System nicht zu bieten.

An meinem Schreibtisch schließe ich das Buch Vom Sinn unseres Lebens und betrachte die fetten, roten Buchstaben auf dem Cover. Ich begreife, was die Klammer ist, die die Texte meines Buches zusammenhält. Sie verbinden die beiden wichtigsten Brüche meines Lebens. Zeiten, die Umstände schufen und schaffen, die mich zwingen, mir Fragen darüber zu stellen, worauf es mir wirklich ankommt.

Ich begreife, wie verzerrt und fragwürdig die Werte sind, nach denen ich lebe, weil unsere Gesellschaft sie mir vorgibt. Und ich begreife auch, dass diese Gesellschaft – inklusive mir – dringend eine Therapie nötig hat. In meinem Alltag fällt mir selten auf, wie verschoben meine Maßstäbe inzwischen sind, das passiert meistens erst, wenn ich mich in einem Text damit befasse. »Schreiben ist anstrengend«, sagt Robert De Niro in dem Film Malavita. »Es ist, als hätte man sich den ganzen Tag im Spiegel angesehen.« Mit diesem Satz fasst er den eigentlichen Sinn, den meine Texte für mich haben, zusammen. Schreiben war schon immer meine Art, mich selbst und die Welt besser zu begreifen. Es ist meine Therapie, eine Möglichkeit, neben mich zu treten und mein Leben aus einer Perspektive zu betrachten, die einen unvoreingenommeneren Blick zulässt. Es ist aufschlussreich, wie viel man sehen kann, wenn man den Blickwinkel nur ein wenig verschiebt. Und welche Person da sichtbar wird, hat leider häufig nicht allzu viel mit dem Menschen zu tun, der ich eigentlich sein wollte.

Darum geht es in diesem Buch. Zu verinnerlichen, dass ich mir bestimmte Wahrheiten, die ich eigentlich kenne, immer wieder aufs Neue bewusst machen muss. Einen Blick darauf zu werfen, wie verzerrt meine Wahrnehmungen sind, wie ich meine Luxusprobleme pflege und in meinem überladenen Alltag so oft übersehe, worauf es eigentlich ankommt. Darum ist dieses Buch vielleicht auch meine ganz persönliche selbsttherapeutische Anleitung dafür, ein besseres, wahrhaftigeres Leben zu führen.

Das ist der Grund, warum es so gut passt, auch meinem Buch den Titel zu geben, der in großen Buchstaben auf diesem Buch voller Skurrilitäten steht, das mir 1989 festlich zur Jugendweihe überreicht wurde, um mich zu einer sozialistischen Persönlichkeit zu erziehen: Vom Sinn unseres Lebens.

WIR HÄTTEN MEHR MITEINANDER REDEN SOLLEN

Über Missverständnisse zwischen Ost und West

Es gibt Missverständnisse, die Menschen klar machen können, wie wenig sie voneinander wissen. Zumindest könnten sie das, wenn man sie auflösen würde. Wenn das nicht geschieht, können sie sich jahrelang halten. Manchmal halten sie sich ein Leben lang. Das Missverständnis, um das es hier geht, ist im April 30 Jahre alt geworden, ohne aufgelöst worden zu sein – bis jetzt. Wahrscheinlich hätte ich es vergessen, aber als mich eine Freundin zum ersten Mal zu Hause besuchte, zog sie einen großformatigen Band aus meinem Bücherregal und fragte interessiert: »Was ist denn das für ein Buch?«

Es war das Buch, das auch diesem hier seinen Namen gibt: Vom Sinn unseres Lebens. Bevor sie es aufschlagen konnte, stürzte ich zu ihr und riss es ihr schnell aus der Hand. Ich wollte sie auf den Inhalt vorbereiten, der sich mit Sicherheit von ihren Vorstellungen unterschied, und das nicht nur, weil sie in Baden-Württemberg aufgewachsen ist. Während ich ihr ein paar Passagen vorlas, die sie mit ungläubigem Lachen quittierte, fiel mir ein, dass dieses Buch der Grund für ein Missverständnis war, an das ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.

Es gibt ein Foto von mir, das am 16. April 1989 aufgenommen wurde und auf dem ich am Tag meiner Jugendweihe zu sehen bin. Nicht einmal sieben Monate später fiel die Mauer, aber das ahnte ich damals natürlich noch nicht. Ich war einen guten Monat zuvor 14 geworden und genau so sehe ich auf dem Bild auch aus. Ich trage ein schwarzes Cordjackett zu einer weißen Hose, die aus einem Westpaket stammten, das Freunde meiner Eltern aus Mannheim geschickt hatten, dazu einen schmalen Lederschlips meines Bruders. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Krawatte anhatte und ich hatte sie mir in die Hose gesteckt, was man auf dem Foto glücklicherweise nicht sieht, weil ich mit stolzem Lächeln das Buch in die Kamera halte, das meine Freundin fast 30 Jahre darauf aus meinem Bücherregal zog.

Vom Sinn unseres Lebens ist ein Buch, das seit 1983 jeder Schüler der DDR zur Jugendweihe geschenkt bekam. Ein Propagandaband, der uns zu Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft erziehen sollte, aber nicht wirklich ernst zu nehmen war. Auf dem ersten Foto des Buches ist vor dem Hintergrund einer endlosen Plattenbaufassade Erich Honecker zu sehen, der in die lachenden Gesichter von jungen FDJlern blickt. Die befinden sich vor Glück, ihm gegenüberzustehen, offenbar kurz vor einem ernst zu nehmenden Kontrollverlust, obwohl sie der Aura eines blassen alten Mannes ausgesetzt sind, den wir schon mit 14 Jahren eher bemitleideten. Für mehr reichte es nicht. Die Hassobjekte Ende der 80er waren in der DDR eher seine Frau Margot, die Bildungsministerin war, oder Karl-Eduard von Schnitzler, der die verhasste Propagandasendung Der schwarze Kanal moderierte.

Vom Sinn unseres Lebens richtete sich an die Jugend. Doch in dem Buch waren ausschließlich Fotos von jungen Menschen zu sehen, mit denen man nicht wirklich etwas zu tun haben wollte. Uncoole Menschen mit austauschbaren Gesichtern, denen man ansah, dass ihre einzige Chance im Leben eine SED-Funktionärslaufbahn war. Menschen, die in meinem Umfeld nicht vorkamen. Außer mein Staatsbürgerkundelehrer Herr Sigusch, dessen Ausstrahlung einem schon klar machte, dass er keine andere Wahl hatte, als Staatsbürgerkunde zu unterrichten.

Es war ein Buch, in dem es Überschriften gab wie »Der Marxismus-Leninismus – unser Kompass« oder »Du und der Sozialismus«. Oder in dem existenzielle Fragen behandelt wurden wie »Hat das Kollektiv immer recht?«. Das zieht einen sofort rein. Da möchte man natürlich sofort weiterlesen.

Den größten Raum des Inhaltsverzeichnisses nimmt die Überschrift des zweiseitigen Vorwortes ein, weil Erich Honecker Wert darauf legte, dass seine offiziellen Titel immer vollständig ausgeschrieben wurden. »Geleitwort des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik« steht da. In Großbuchstaben. Gott. Unlesbar. Eine Überschrift, die in ihrer Wirkung allerdings die bleiernen 80er-Jahre der DDR sehr treffend zusammenfasst. Sie ist in ihrer Art gewissermaßen die richtige Metapher.

In dem Kapitel mit der verheißungsvollen Überschrift »Ein sinnvolles und erfülltes Leben – was gehört dazu?« war der Fahneneid der Nationalen Volksarmee abgedruckt. Vollständig. Besser kann man das Konzept des Buches wohl nicht zusammenfassen.

Es war alles ein großes Missverständnis. Das Buch war ernst gemeint, aber man konnte es einfach nicht ernst nehmen. Sie hatten alles falsch gemacht.

Es mit stolzem Lächeln in die Kamera zu halten, war natürlich eine ironische Geste. Genauso gut hätte ich auch das Parteiprogramm der SED hinhalten können oder eine Verpflichtungserklärung als informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Daraus entstand ein weiteres großes Missverständnis.

Bei Wikipedia gibt es eine hinreißende Beschreibung, warum Ironie nicht verstanden wird: »Um Ironie erkennen zu können …, müssen verschiedene Teile des Gehirns zusammenarbeiten. Wenn eine Person die soziale Situation nicht versteht (beispielsweise wegen … fehlender Übung oder Intelligenz), kann sie Ironie – und damit auch ironischen Sarkasmus – nicht als solche identifizieren.«

So ging es meiner westdeutschen Verwandtschaft mit diesem Bild. Weil das Foto von einem professionellen Fotografen aufgenommen wurde, war es das verwertbarste Bild des Tages, um es an die Verwandtschaft zu schicken. Meine Eltern ließen viele Abzüge machen und verschickten sie, unter anderem auch nach Westdeutschland. Es stand lange Zeit in Schrankwänden in konservativen Gegenden in Bayern. In sehr konservativen Gegenden in Bayern, die ein Bekannter, der dort aufgewachsen ist, mit den Worten »Man ist braun, aber man redet nicht drüber«, beschrieben hat. Nun stand da in diesen bayrischen Eichenschrankwänden ein junger Mensch, der stolz ein Buch in die Kamera hielt, dessen Inhalt so ziemlich allen Haltungen und Überzeugungen widersprach, die den Besitzern dieser Schrankwände bedeutend erschienen. Und sie hatten keine Ahnung ...

Wie wenig die Westler von den Ostlern wussten, hätte sich sicherlich gut an dem Grad der Missverständnisse über misslungene Ironie messen lassen, die zwischen ihnen entstanden. Die Geschichte als ich mit meinen Eltern Anfang der 90er-Jahre zum ersten Mal meinen Bruder in Freiburg besuchte, der dort inzwischen lebte, ist dafür ein wunderbares Beispiel. Wir machten gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar meines Bruders einen Spaziergang auf dem Schlossberg. Vor unserer Ankunft hatte es einige Tage geregnet, aber nun war einer dieser perfekten Spätsommernachmittage. Von dem Berg hatte man einen wundervollen Blick über die Stadt. Am Rand des Pfades entdeckten wir immer mal wieder Pilze, die meine Eltern bestimmen konnten. Das beeindruckte die Freiburger Freundin meines Bruders sehr.

»Warum kennt ihr euch eigentlich so gut mit Pilzen aus?«, fragte sie, und als sie einen Moment lang nachdachte, war sie auf einmal peinlich berührt, weil sie meinte, eine Taktlosigkeit begangen und ein viel zu sensibles Thema berührt zu haben. Sie befürchtete, dass ihre Frage in eine noch frische offene Wunde zielte. Sie suchte verlegen nach den richtigen Worten und entschloss sich, sie selbst zu beantworten.

»Aber natürlich«, sagte sie sanft. »Ihr musstet euch ja auskennen. Ihr habt da natürlich einen ganz anderen Blick als wir. Bei euch gab’s doch kaum was zu Essen, da war man darauf angewiesen, im Wald Nahrung zu sammeln.«

Ihre Stimme war voller Anteilnahme. Meine Eltern sahen sie entgeistert an. Sie wussten gar nicht, wie sie angemessen auf diese Äußerung reagieren sollten. Dann sagte meine Mutter allerdings etwas Überraschendes.

»Stimmt«, erwiderte sie mit einem traurigen Lächeln. »Darum kennen wir uns auch mit Beeren so gut aus. Es war die einzige Chance, um überhaupt überleben zu können.«

»Ja«, stimmte mein Bruder mit belegter Stimme zu. »Wir wären sonst verhungert. Damals …«

Sie haben die Situation etwas später aufgelöst – natürlich – und es war der Freiburger Freundin noch unangenehmer als zuvor – natürlich.

Allerdings hat mich die Ironie ihrer Antwort geprägt. Zum ersten Mal fiel mir das auf, als ich sieben Jahre darauf nach Köln zog, um dort in einer Werbeagentur zu arbeiten. In Köln hörte ich zum ersten Mal den Begriff »Zone« für die DDR, ein Begriff, der mich damals ziemlich erschütterte. Die Wende war mittlerweile zehn Jahre her, aber von den 150 Mitarbeitern gab es nur einen, der aus Ostdeutschland kam. Mich. Ich war gewissermaßen der Quotenossi. Der Exot. Ich kenne nicht wenige Ostdeutsche, denen es damals peinlich war, als Ostdeutsche erkannt zu werden. Es waren Ostler, die für einen Westler gehalten werden wollten. In Köln griff bei mir allerdings ein umgekehrter Mechanismus. Erst die Umstände in dieser Stadt haben mich zu einem sehr selbstbewussten Ost-Berliner gemacht.

Mir hört man ja an, dass ich aus Berlin komme und ich wurde oft auf meinen Dialekt angesprochen.

»Kommst du aus Berlin?«, fragten sie.

»Nein«, erwiderte ich selbstbewusst. »Aus Ost-Berlin.«

Ich bin in einem geburtenstarken Jahrgang geboren, in dem das Land mit Michaels geradezu überschwemmt wurde. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Eltern ihre Söhne aus demselben Grund Michael genannt haben, wie meine Eltern es taten. Der Name wurde von einem Song inspiriert. Im Jahr vor meiner Geburt hatte Nina Hagen einen Hit mit Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael. Meine Mutter hat mir erzählt, dass der Text des Liedes etwas vollkommen Neues war. »So etwas gab es vorher nicht«, sagte sie und erklärte, dass in dem Text auf intelligente Art Missstände der Mangelwirtschaft angesprochen wurden. Es war ein Lied, in dem sich viele wiederfanden.

So gesehen wurde ich nach einen popkulturellem Phänomen benannt, aber als einige meiner Kölner Kollegen erfuhren, dass ungewöhnlich viele Michaels zu meinem Berliner Freundeskreis gehörten, erzählte ich nicht die Wahrheit, sondern entschied mich für Ironie. Ich erzählte, dass zu DDR-Zeiten pro Jahr drei Mädchen- und drei Jungennamen gewissermaßen gesetzlich festgelegt wurden. Anders durfte man die Kinder, die in dem entsprechenden Jahr geboren wurden, nicht nennen. Darum gäbe es in unserem Jahrgang so viele Michaels. Das wurde geglaubt, ein Umstand, der mich selbst überraschte. Und der mir auch zeigte, wie viel es noch zu besprechen gab.

14 Jahre später habe ich in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg aus einem meiner Bücher gelesen. Auch wenn das Hotelzimmer, in dem ich untergebracht war, sehr sauber war, wirkte es irgendwie staubig und altbacken mit seinen schweren Möbeln im Eiche-Rustikal-Stil. In Deutschland gilt ja offenbar die Regel: Je mehr Möbel in einem Raum stehen, desto gemütlicher ist er. So auch hier. Im hinteren Teil des Zimmers stand ein runder Tisch, mit einem geklöppelten Deckchen. In der Mitte des Tisches befand sich ein Aschenbecher, auf dem ein gefaltetes Kärtchen mit dem Hinweis »Bitte rauchen Sie hier nicht« stand. Es war grotesk. Ein mit schweren Eiche-Rustikal-Möbeln vollgestelltes Nichtraucherzimmer, mit einem Aschenbecher samt Hinweisschild, nicht zu rauchen. Ich blickte zu den Gardinen, hinter denen sich eine Landschaft ausbreitete, die normalerweise Heimatfilm-Assoziationen auslöst, aber ich kam mir wie die Nebenfigur in einem David-Lynch-Film vor. So gesehen befand ich mich praktisch in einem Heimatfilm für Leute, die keine Heimat hatten. Obwohl es natürlich Unsinn war, einen Zusammenhang herzustellen, ahnte ich dunkel, wie der Abend verlaufen würde. Was soll ich sagen, es war eine Ahnung, die sich bestätigen sollte.

Ich muss dazu sagen, dass das Publikum nicht ganz meiner Zielgruppe entsprach. Der jüngste Mensch im Raum war ich. Ich las eine Stunde. Das Schweigen meiner Zuhörer war irgendwann so unerträglich, dass es praktisch eine physische Präsenz bekam. Man konnte es beinahe berühren. Mit anderen Worten: Ich war nicht unbedingt ihr Genre. Es gab keine Reaktionen, die Dinge, die mich in meinen Texten beschäftigten, betrafen hier niemanden.

Während ich gegen die bedrückende Stille anlas, überlegte ich, ob es in meinem Hotelzimmer eine Minibar gab. Ich hoffte nicht. Wenn ich von dem dumpfen Druck auf meinem Magen ausging, würde ich, wenn sich die Rezeptionistin am nächsten Morgen danach erkundigen würde, ob ich etwas aus der Minibar genommen hätte, wahrscheinlich mit belegter Stimme erwidern: »Ja, alles.«

Doch dann fiel mir etwas ein. Ich griff nach dem letzten Strohhalm und las einen Text, in dem sich unter anderem einige Anekdoten aus meiner Kindheit in Ost-Berlin befanden. Als ich aufsah, hatten sich die Gesichter verändert, in ihnen leuchtete zum ersten Mal aufrichtiges Interesse. Sie wollten mehr. Ich spürte es. Also legte ich die Texte zur Seite, ließ sie Fragen stellen und begann, zu erzählen. Die Fragerunde dauerte zwei Stunden. Es war die längste Fragerunde meiner Schriftsteller-Karriere. Das Interesse war da, aber ich konnte kaum glauben, wie wenig sie vom Osten wussten.

Schon zehn Jahre nach der Wende hätte ich gedacht, dass das alles weitere zehn Jahre später kein Thema mehr sein würde. Aber als die Wiedervereinigung 2018 genauso lange her war, wie die Mauer gestanden hatte, und die Pegida durch Dresden zog, erschien die ostdeutsche Seele immer noch als ein großes Geheimnis, das jetzt zu einem dunklen Geheimnis geworden war.

Wenn ich in letzter Zeit Freunde oder Bekannte traf, die im Westen aufgewachsen sind, und von den Inhalten aus diesem Buch hier erzählte, das ich gerade schrieb, stellten wir häufig überrascht fest, dass wir uns nie darüber ausgetauscht hatten. Es gab also einiges nachzuholen.

Mein Freund Christoph, der in den 80er-Jahren in Bayern aufgewachsen ist, erzählte mir gleich, dass in den Geschichtsbüchern die DDR kaum erwähnt wurde. »Für uns war das besetztes Gebiet, ein Teil der Sowjetunion sozusagen«, sagte er. »Ich hab damals wirklich gedacht, in der DDR wird nur russisch gesprochen.«

Mein Freund Jan, der 1989 acht Jahre alt war und in West-Berlin unmittelbar an der Grenze wohnte, erzählte mir: »Ich kannte als Kind natürlich die Zusammenhänge nicht, aber von unserer Schule konnten wir diese martialischen Grenzanlagen sehen und da hab ich mich als Kind tatsächlich gefragt, was für Menschen im Osten leben, dass man so einen Aufwand betreibt, um uns vor ihnen zu beschützen.«

Beide Geschichten werden von einem Erlebnis aus meiner Schulzeit untermauert. Als die Mauer fiel, ging alles sehr schnell. Ein Staat ging unter und weil mit ihm auch seine Weltsicht unterging, wurden zugleich viele unserer damaligen Schulbücher unbrauchbar, die sich mit Geschichte oder dem Weltgeschehen beschäftigten. Sie passten nicht mehr in die Zeit. Ich war damals in der 9. Klasse, erlebte also praktisch als Betatester mit, wie das Schulsystem neu geordnet wurde. Neue Schulbücher waren noch nicht geschrieben. Also schickten uns Schulen aus den alten Bundesländern ihre Bücher. Es war eine schöne Geste der Solidarität. Einige dieser Bücher waren nützlich, andere nicht so. Einmal erhielt unserer Schule zum Beispiel kistenweise Geschichtsbücher aus Bayern. Als die Bücher verteilt wurden, griffen wir gierig nach ihnen. Sie waren schließlich aus dem Westen. Während ich jedoch in meinem Exemplar zu blättern begann, überkam mich ein unangenehmes Gefühl, das sich immer drückender in mir ausbreitete. Ich las die Teile, die die DDR betrafen, ich las von Bolschewisten und roter Gefahr. Die Texte klangen, als hätte Franz Josef Strauß die Endfreigabe gemacht, nachdem er alles noch mal auf CSU-Linie redigiert hatte. Nach und nach verstand ich den Grund für mein unangenehmes Gefühl: Sie schrieben über mich. Ich war der Feind, der dort beschrieben wurde. Das Buch war ein Produkt des Kalten Krieges, genauso wie die Geschichtsbücher, mit denen wir bisher gelernt hatten. Es passte ebenso wenig in die Zeit. Jede zweite Zeile war gewissermaßen vom Kalten Krieg durchtränkt. Damit war das Buch bereits selbst zu einem historischen Objekt geworden – obwohl die Mauer erst vor einigen Monaten gefallen war. Unsere Lehrer sammelten die bayrischen Lehrbücher mit einer gewissen Verlegenheit wieder ein. Wir haben sie nie benutzt, wir haben sie nicht einmal wiedergesehen.

Ich muss gestehen, dass ich oft mit der arroganten Haltung durchs Leben ging, dass die Ostdeutschen die interessanteren Deutschen seien, weil wir einfach die interessanteren Geschichten zu erzählen hätten. Dass der letzte deutsche Film, der einen Oscar gewonnen hat Das Leben der Anderen war, bestätigte mir, dass auch Hollywood diese Auffassung teilt. Aber in den Gesprächen, die sich aufgrund dieses Buches hier mit meinen Freunden aus dem Westen ergaben, entdeckte ich die weißen Flecken auf meiner eigenen Karte. Sie erzählten mir Dinge, von denen ich gar nichts wusste und die neu und interessant für mich waren. Es waren Gespräche, aus denen wir mit dem Gefühl gingen, uns besser kennengelernt zu haben, auf einer anderen Ebene sozusagen. Wir verabschiedeten uns mit einem festen, herzlichen Händedruck. Vielleicht war er so herzlich und fest, weil wir begriffen, wie wenig wir bisher voneinander gewusst hatten. Und dass wir gerade den Anfang gemacht hatten, das zu ändern.

Um die vielen Missverständnisse zwischen Ost und West aufzulösen, hätte man mehr miteinander reden müssen. Um einander besser zu verstehen und unser Bild voneinander nicht mit Vorurteilen zu zementieren. Das haben wir in den vergangenen 30 Jahren verpasst. Es gibt Redebedarf, mehr denn je – und nicht im negativen Sinn. Die Umstände der heutigen Zeit sind ein guter Anlass, um miteinander zu reden, um einander kennenzulernen. Und zwar wirklich kennenzulernen. Das ist für alle Beteiligten ein Gewinn.