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Bernd Ernst

Die Jukebox des Teufels

 

Rock 'n' Roll - Geschichten


2019

 

© Mystic Verlag

 

Text: Bernd Ernst

Umschlagskonzept und Gestaltung: Helga Sadowski

unter Verwendung von Fotos

Pixabay

 

 

Satz: Helga Sadowski

 

Lektorat/Korrektur: Sara Zimmemann /Helga Sadowski

 

 

ISBN: 978-3-947721-35-1

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere Informationen auf unserer Website.

 

www.mysticverlag.de

 

Geschäftsführer: Timo Arnold

Adolf-Ludwig-Ring 69

66955 Pirmasens


Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Jukebox des Teufels
Nosy's Blues - ein Weihnachtsmärchen
Granville’s Song
Der Headbanger
Ein Album für Bob
Rock 'n' Roll Butcher
Diamond Jim & The Afterlife
Eine Nacht im Club
Mr. Beethoven & Mr. Powerage
Riffmaster
It Was A Long Way To The Top
Polyphem's Records Store
Danksagung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Stephanie Ernst

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anmerkung

 

Die Protagonisten aller Storys sind frei erfunden, außer hierin anders bezeichnet.


Vorwort

 

Für mich ist Rockmusik nicht nur etwas, das ich sehr gerne mag, sie brachte mich auch zum Schreiben. Das war Mitte der 1980er Jahre. Meine Haare waren damals lang, meine Jacke mit Buttons & Patches bestückt und ich hatte wie jeder Pubertierende einen gewissen Hang zur Rebellion, aber da war noch etwas Anderes: Meine in mir schlummernde Kreativität suchte ein Ventil und eine adäquate Ausdrucksmöglichkeit! Dies alles fand sie in englischen Songtexten, durch musikalische Vorbilder dazu inspiriert. Das waren meine ersten literarischen Werke.

 

Mit AC/DC, Black Sabbath und diversen Bands der New Wave of British Heavy Metal bin ich aufgewachsen. Dann kamen irgendwann die Doors hinzu. Jim Morrison hat mir eine ganz neue Welt zur Poesie eröffnet. Auf dieser Strecke wurden das Lesen und das Schreiben neben dem Musik hören zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens und sind es immer noch. Mein belletristisches Schreiben hat sich natürlich seitdem weiterentwickelt. Zu den englischen Songtexten kamen deutsche Gedichte, Kurzgeschichten und Theaterstücke hinzu. Irgendwann wird ein Roman folgen.

 

Vor über einem Jahr hatte ich die Idee meine beiden großen Leidenschaften – Literatur und Musik – in einem eigenen Werk zusammenzubringen. Das Ergebnis sind die vorliegenden Rock 'n' Roll-Geschichten, die jetzt unter dem Titel »Die Jukebox des Teufels« erschienen sind. Natürlich kommen die Bands von damals – die mich heute immer noch begleiten – auch darin vor.

 

Ich freue mich, mit meinen Erzählungen meinen musikalischen Idolen somit eine literarische Reverenz zu erweisen und hoffe ein Buch geschrieben zu haben, dass nicht nur Musikfans anspricht, sondern auch Leser, die gut unterhalten werden wollen und Kurzgeschichten mögen, bei denen das Kopf-Kino angeht.

 

Film ab!

 

Bevor Sie sich aber Popcorn holen und genüsslich in Ihrem bequemen Sessel zurücklehnen, möchte ich Ihnen noch folgende Fragen stellen:

 

Welche Songs spielt der Teufel in seiner Jukebox?

Wie gefährlich ist der Tatatata-Effekt?

Wie erlöst man ein Rock 'n' Roll - Gespenst von seinem Fluch?

 

Na, neugierig geworden?

Antworten darauf finden Sie auf den nachfolgenden Seiten.

 

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

 

Keep on rocking and reading!

 

Die Jukebox des Teufels

 

Menschen haben zu mir gesagt: »Du kannst keine Songs schreiben. Du kannst kein Instrument spielen. Aber ich habe zehn goldene Schallplatten.«

Sonny Bono (1935 – 1998), US-amerikanischer Sänger, Schauspieler und Politiker

 

***

 

Es gibt Songs, die uns sehr viel bedeuten und eine besondere Wirkung auf uns entfalten, weil uns ihre Melodie verzaubert oder die Bedeutung des Textes tief bewegt hat.

Manche von ihnen begleiten uns ein kurzes Stück auf unserem Weg durch das Dasein. Sie sind wie gute Bekannte, die kommen und gehen, weil unsere Tür gerade offen ist. Einige wenige bleiben bei uns ein ganzes Leben. Oft verknüpfen wir Erinnerungen mit diesen Musikstücken, schöne, aber auch unschöne Erlebnisse, setzen sie in Beziehung zu Menschen, die wir mögen, lieben oder hassen.

Das Spektrum der Möglichkeiten ist groß.

Gibt es aber Songs, die regelrecht Macht über uns besitzen? Ich meine eine böse, schreckliche, manipulierende.

Die meisten von uns werden diese Frage sicher verneinen, ich aber sage: Es gibt sie, diese Songs! Sie werden eigens für uns komponiert und an ausgewählten Orten nur für uns gespielt und das bis in alle Ewigkeit.

Sollte ich mit meiner These recht haben, dann stellt sich eine weitere Frage: Wer ist der Schöpfer dieser Musik und warum tut er das? Es ist an der Zeit, dies herauszufinden!

***

Auf dem Highway ist wenig Verkehr. Cortland sitzt am Steuer des Firmenwagens von Miller & Brown.

Seit er losgefahren ist, regnet es. Die Sicht ist schlecht und der Wagen braucht dringend neue Wischblätter.

Seine beiden Bosse haben ihn mit einem Spezialauftrag quer durchs Land geschickt. Auf dem Beifahrersitz liegt ein Päckchen. Wie immer machten sie ein großes Geheimnis darum, was drin ist.

»Cortland, setz deinen Arsch in den Ford und bring das hier zu Wurlitzer nach Taylor's Needle

»Taylor's was?«

»Taylor's Needle

»Wo liegt denn das?«

»Ich habe dir die Route rausgesucht. Wurlitzer hat dort eine Niederlassung. Du kannst das Päckchen egal zu welcher Tageszeit abliefern. Wenn niemand da sein sollte, wirf es einfach durch die Klappe neben der Eingangstür und lass bloß die Flossen von der Verpackung!«, hatte Miller gesagt und ihm das Päckchen zusammen mit einer Straßenkarte in die Hand gedrückt. Miller ist ein Fettsack mit Glatze, der ständig nach Knoblauch stinkt. Brown ist etwa im gleichen Alter, aber optisch das genaue Gegenteil von Miller, ein dürrer Hering mit einem Hals wie eine Giraffe.

Nachdem Cortland das Päckchen in Empfang genommen hatte, wollte er sich wortlos aus dem Büro stehlen, da rief ihm Brown hinterher.

»Hey, du könntest deinen beiden Gönnern gegenüber etwas höflicher sein und dich anständig verabschieden!«

Cortland hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wenn er könnte, würde er den Job auf der Stelle hinschmeißen, aber die beiden Arschlöcher besitzen mehrere brisante Fotos von ihm. Eines zeigt ihn nackt auf allen vieren, den Allerwertesten in die Höhe gereckt und hinter ihm kniet ein Typ. Also drehte er sich artig um und sagte etwas gekünstelt: »Auf Wiedersehen, ich melde mich dann, wenn ich angekommen bin!«

»Geht doch!«, antwortete Brown.

»Pass gut auf deine Fracht auf! Und mach mir keine Dellen in den Ford!«, ergänzte Miller.

Cortland ging hinaus zum Wagen.

Als er den Zündschlüssel im Schloss drehte, schlug irgendwo ein Blitz ein und die ersten Tropfen fielen. Cortland war erschrocken zusammengezuckt, hatte dann den Ford auf die Straße zurückgesetzt und war losgefahren. Das war kurz nach neun gewesen.

 

***

 

Zehn Stunden und viele Meilen später schleicht er über diesen Highway und hätte am liebsten ins Lenkrad gebissen. »Verdammter Regen!« Nicht nur das Wetter geht Cortland auf die Nerven, auch die Musik im Radio ist für'n Arsch!

Er betätigt den Suchlauf bis er eine Bluesband hört. Da singt ein Typ etwas über Swamp Gas. Im Text geht es um zwei Bluesmusiker, die in einer Bar auf der Bühne sitzen. Es kommt die Freundin des einen herein. Muss eine absolute Granate gewesen sein, jedenfalls ist der andere Typ voll geil auf sie. Um sie zu bekommen, muss er erst seinen Nebenbuhler beseitigen. Er tut es und versenkt die Leiche in einem Sumpf.

Cortland wünscht sich, er könne Miller & Brown auf die gleiche Art verschwinden lassen, aber er brächte es wohl nicht fertig und hätte noch schlimmere Gewissensbisse als der Typ, von dem im Liedtext die Rede ist.

Der Song ist gerade zu Ende, als Cortland blinkende Lichter sieht. Eine Straßensperre. Er fährt langsam heran. Ein Erdrutsch blockiert die Straße. Er muss eine Umleitung nehmen, runter vom Highway. Sie führt über eine Straße quer durch den Wald. Der Regen hört schlagartig auf. Endlich freie Sicht. Trotzdem fährt er vorsichtig, Cortland hat keine Lust, in diesem Nirgendwo ein Waldtier umzunieten, den Wagen zu demolieren und liegen zu bleiben. Das Autoradio empfängt jetzt nichts mehr, nur noch Rauschen.

 

Nach wenigen Meilen passiert Cortland ein Straßenschild – Pollock’s Refuge. Knapp dahinter sieht er ein weiteres Schild Maitland’s Diner. Ein alleinstehendes Gebäude mit einem Parkplatz davor. Auf dem Flachdach blinkt eine Leuchtreklame Burger & Fries. Einige der Birnen sind defekt. Cortland könnte einen Burger vertragen und beschließt anzuhalten. Er biegt ein. Alle Kundenparkplätze sind frei. Er parkt und steigt aus.

Der Boden unter seinen Füßen ist fest – Asphalt, trotzdem hat Cortland das Gefühl zu schwanken. Außerdem scheinen die Buchstaben auf dem Schaufenster neben der Eingangstür – Enjoy your stay at Maitland’s Diner – für einen Moment zu verschwimmen.

Cortland setzt sich mit weichen Knien in Bewegung, erreicht die Tür und tritt ein. Kaum hat er die Schwelle überschritten, fühlt er sich wie ein Zeitreisender, den es in die 1950er verschlagen hat. Er bleibt kurz stehen, lässt das alles auf sich wirken. Die Einrichtung hat schon bessere Tage gesehen. Einige Lederpolster der Sitzbänke sind aufgeplatzt und das Glas in einem der Spiegel ist gesprungen. An dem Garderobenständer fehlen mehrere Haken und an den Wänden lösen sich Tapeten. Cortland tritt einen Schritt vor, blickt sich intensiver um und entdeckt noch weitere Beschädigungen an der Einrichtung. Dem Besitzer des Diners scheint es egal zu sein, sonst hätte er wohl etwas dagegen unternommen.

In einer Ecke steht eine Jukebox und blinkt in der Sonne, die durch das Fenster scheint. Sie wirkt intakt, auch wenn sie gerade keinen Laut von sich gibt. Cortland ist der einzige Gast, so wie es aussieht. Vor dem unbesetzten Tresen steht eine Kellnerin, mit dem Rücken zu ihm.

Er sagt »Hallo!«, aber sie antwortet nicht, dreht sich nicht mal um.

Cortland geht zu einem Tisch am Fenster neben der Tür, mit Blick zum Parkplatz. Das Päckchen hat er im Wagen gelassen.

Er studiert die Speisekarte.

Die Kellnerin kommt an seinen Tisch, sie hat eine Zigarette im Mundwinkel. Mit einem schmutzigen Lappen wischt sie schlampig über den Tisch. Cortland atmet ihren Körpergeruch ein, eine Mischung aus Schweiß und Moder. Er schätzt sie auf um die sechzig. Ihr graues, fettiges Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Arbeitskleidung – Rock und Bluse – wirken abgetragen, etliche Flecken, vermutlich Majonaise und Ketchup, zieren sie.

Cortland spürt Ekel in sich aufsteigen. Sie raunzt ihn an: »Was wollen sie?« Cortland bestellt einen Hamburger und French Fries. Dazu eine Cola. Die Kellnerin dreht sich um, dabei fällt etwas von der Asche auf den Tisch. Im Laufen ruft sie die Bestellung in die Küche. Wer dort drin arbeitet, kann Cortland nicht sehen. Er wischt die Asche mit der Hand vom Tisch. Die Kellnerin entnimmt die Cola einem Eisschrank, der neben der Durchreiche zur Küche steht, bringt sie und stellt sie ohne Glas geöffnet vor ihn hin.

Ihr Blick fällt verächtlich auf ihren einzigen Gast. Sie zieht die Nase hoch, streicht eine ergraute Locke aus der Stirn und geht zurück zum Tresen, wo sie sich hinsetzt, um in einem Modemagazin zu blättern.

Er nimmt einen Schluck aus der Flasche, die Cola ist eiskalt, stellt sie zurück auf den Tisch.

In seinen Gedanken taucht ein Bild auf.

Er sieht sich wieder im Wohnzimmer seiner Eltern. Sein Vater hatte ihn abgepasst. Cortland kam vom Einkaufen und merkte sofort, dass der Alte kurz vorm Explodieren war. Ihm war klar, was gleich passieren würde. Sein Vater würde die Beherrschung verlieren und auf ihn einprügeln. Seit dem Tod seiner Mutter geschah das ständig. Schon ging der Alte auf ihn los. Cortland fielen die Einkaufstüten und der Zündschlüssel des Wagens herunter, als ihn die Fäuste seines Vaters an der Schulter trafen und er zurücktaumelte.

»Wo hast du dich herumgetrieben?«

»Ich war einkaufen, Dad, aber das siehst du doch! Was ist los mit dir?«

»Und vorher?« Cortland rieb sich die Schulter, aber ihm blieb nicht viel Zeit, denn der Alte ging erneut auf ihn los und er musste ihm ausweichen.

»Ich bin im Supermarkt gewesen. Sonst nirgends!«

Der Alte ließ nicht locker.

»Hast du wieder das Mädchen gespielt?«

»Nein, ich habe nicht das Mädchen gespielt, ich habe unser Abendessen eingekauft!«

»Lüg nicht!« Cortland blickte seinen Vater an, er wusste genau worauf dieser hinauswollte und wartete einige Sekunden bevor er antwortete.

»Ich lüge nicht, Dad!« Dann ging es rasend schnell.

Die Faust seines Vaters brach seine Nase und riss ihn von den Beinen. Er schmeckte sein eigenes Blut. Der Alte gab ihm keine Zeit sich aufzurappeln, sondern packte ihn am Kragen und schleifte ihn zur Haustür. Er öffnete diese und stieß Cortland hinaus, so dass er auf dem Boden landete.

»Mach, dass du fortkommst und lass dich hier nie wieder blicken, du Schwein!« Das Bild in Cortlands Gedanken verblasst. Seine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf die Gegenwart.

Etwas Musik wäre jetzt gut!, denkt er.

Sein Blick wandert hinüber zur Jukebox. Das altmodische Teil fasziniert ihn. Er steht auf und geht hinüber. Seine Finger gleiten über das Gehäuse, berühren das Firmenlogo Wurlitzer. So lautet auch der Name des Empfängers des Päckchens.

Dann berühren seine Fingerspitzen die Buchstaben- und Zahlentasten, mit denen man die Titel wählen kann. Cortland blickt durch die Glasscheibe, liest die Namen der Künstler und der Songs. Lauter alte Schinken von Elvis, Bill Haley & His Comets, Jerry Lee Lewis, Little Richard, etc. Die Songs kommen ihm alle bekannt vor, obwohl Rock 'n' Roll nicht unbedingt seine Lieblingsmusik ist. Sein Blick gleitet weiter. Fast ganz am Ende der Liste fällt ihm etwas auf. Ein Song mit dem Zahlencode »X1« heißt I give you my heart, gesungen von einem Rufus Miller. Ein anderer mit dem Code »X2« Dangerous thoughts, gesungen von einem Chester Brown.

Das ist ja witzig, denkt Cortland. Die heißen ja wie meine beiden Bosse! Er wirft eine Münze in den Schlitz und drückt erst X1 dann X2. Aber es erklingt keine Musik.

»Das Scheißding ist kaputt!«, ruft die Kellnerin.

»Das hätten Sie mir doch gleich sagen können! Was ist jetzt mit meinem Geld?«

»Ziehen Sie es mir einfach vom Trinkgeld ab, Mister!«

Cortland setzt sich wieder hin.

Kurze Zeit später kommt das Essen.

Es schmeckt erstaunlicherweise gut.

Nachdem er gegessen hat, lässt er sich die Rechnung geben und rundet entgegen seiner ursprünglichen Absicht den Betrag auf. Wieder fällt Asche auf den Tisch, trotz seiner Großzügigkeit.

Cortland verlässt das Diner ohne ein weiteres Wort und geht zum Auto. Der Wagen springt sofort an. Das Radio spielt den Song von vorhin Swamp Gas. Es fällt ihm nicht auf.

Er fährt los, verlässt den Parkplatz und biegt auf die Straße ein.

 

Nach einer guten Meile erreicht er den Highway. Er will auf dem schnellsten Weg zur angegebenen Adresse und seine Fracht abliefern.

 

***

 

Eine halbe Stunde vor Mitternacht muss er einen Tankstopp einlegen. Beim Bezahlen verwickelt ihn der Tankwart in ein Gespräch »Na, wo soll's denn hingehen?«

»Nach Taylor's Needle.« Bei diesen Worten wird der Tankwart hellhörig.

»Was wollen Sie denn dort?« Cortland hat große Lust, dem Typen an der Kasse zu sagen, dass ihn das nichts anginge, stattdessen sagt er: »Einen Job erledigen. Ich soll bei Wurlitzer was abgeben.«

»Tun Sie das nicht, das bringt bloß Unglück.«

»Ich bin nicht abergläubisch. Wie gesagt, nur was abgeben und schon bin ich wieder weg.«

Cortland legt einen Geldschein hin, als ihn der Tankwart am Arm festhält und direkt in die Augen blickt.

»Ich rate Ihnen dringend, diesen Ort zu meiden. Vor zwei Jahren kam ein Fremder namens Levid in diese Gegend, elegant, feine Manieren, ein richtiger Gentleman könnte man meinen, aber nur auf den ersten Blick. Wenn man genauer hinsah, konnte man ganz klar erkennen, dass mit dem feinen Herrn etwas nicht stimmte.«

Cortland will sich losmachen, aber er kann sich dem Griff des Tankwarts nicht entwinden. »Es waren die Augen, etwas Böses ging von ihnen aus. Er hat die alte Farm der Smiths gekauft, eine baufällige Bruchbude, die seit Jahren leer stand. Dachziegel fehlten, einige Fensterscheiben waren kaputt. Das Grundstück erinnerte eher an einen Schrottplatz denn an eine Farm. Trotzdem hat Levid nichts weiter verändert, außer dass an der Fassade jetzt ein Schild hängt, Wurlitzer steht drauf. Damit wollte er wohl den Eindruck erwecken, dass er dort Jukeboxen bauen oder reparieren wollte, aber das nahm ihm natürlich keiner ab. Alle hielten es für eine Art Tarnung, um seine wahren Absichten dahinter zu verbergen. Er soll immer noch manchmal dort aufkreuzen. Niemand weiß was dort vor sich geht und wenn Sie mich fragen, das ist auch besser so. Ich will nicht wissen, was er dort treibt, weil ich ehrlich gesagt einen Riesenschiss davor habe.« Cortland bekommt auch langsam Schiss. Was, wenn der Typ vor ihm ein Psychopath ist?

»Ich habe als erster verkauft. Vermutlich habe ich den Braten gerochen, geahnt was über uns hereinbrechen würde. Kurz nachdem der Fremde auf der Bildfläche erschienen war, geschahen seltsame Dinge. Viele von uns wurden krank oder hatten merkwürdige Unfälle, die sich keiner erklären konnte. Überall wimmelte es plötzlich von Ratten. Eine saß eines Nachts in unserem Bett. Meine Frau hat sich so erschrocken, dass sie einen hysterischen Schreikrampf bekommen hat. Bring mich sofort von hier weg, keinen Fuß setze ich mehr in dieses Haus! Wie gesagt, ich habe verkauft, aber nicht zu einem Spottpreis, sondern ich bekam das Doppelte des Marktpreises. Merkwürdig, nicht? Levid hat sich erst unser Haus unter den Nagel gerissen und dann das ganze Land und die Häuser der Anderen. Nach uns gingen alle anderen weg bis auf den sturen Wilson – der arme Narr!«

»Würden Sie mich bitte endlich loslassen?«, blafft Cortland, aber der Spinner ignoriert ihn einfach und erzählt seine Schauergeschichte stupide weiter.

»Taylor's Needle ist ein richtiges Kaff, müssen Sie wissen. Sechs Familien lebten hier. Wilson gehörte die alte Sägemühle. Die war aber nicht der Grund, der ihn am Weggehen hinderte. Er sagte allen, seine Religion verbiete es ihm wegzuziehen. Die Wilsons gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an. Keiner von uns wusste genau welcher. Jedenfalls hat sie niemand je im Gottesdienst gesehen. Vermutlich waren sie Mitglieder irgendeiner Sekte. Einige von uns behaupteten später, dass Wilson den Fremden gerufen hätte. Ob da was dran ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat ihm seine Entscheidung kein Glück gebracht, im Gegenteil. Seine beiden Söhne starben als seine Scheune niederbrannte. Kurz darauf hat seine Frau Selbstmord begangen. Das hat ihn fast um den Verstand gebracht.«

Dich vermutlich auch, du Depp!, denkt Cortland. Er zerrt, um seine Hand freizubekommen, aber der stählerne Griff bleibt unerbittlich.

»Ihm war nur noch seine kleine Tochter – die dreijährige Ivy – geblieben. Trotzdem zog er nicht weg, ignorierte weiterhin die Angebote des Fremden und arbeitete in der Sägemühle bis zu jener Nacht. Von dem Geld, das mir Levid gegeben hatte, habe ich mir diese Tankstelle gekauft. Vor einem Jahr, es war schon sehr spät, erschien Wilsons Kleine hier, barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet. Sie war total verstört und hielt ihre Puppe an sich gepresst. Ich fragte sie, was geschehen sei. Sie gab mir keine vernünftige Antwort. Immer wieder stammelte sie »Daddy, Säge. Daddy, Säge.«

Vermutlich hat der Idiot zu viele Horrorfilme gesehen oder ist auf Drogen! Cortland kann nicht glauben, was gerade geschieht. Warum lässt mich der Typ nicht los?

»Das klang so als ob etwas Furchtbares geschehen war, also brachte ich die Kleine zu meiner Frau und fuhr zur Mühle. Das Licht brannte, als ich dort ankam lief die Säge. Ich rief Wilsons Namen, er antwortete nicht. Ich näherte mich der Säge und da sah ich ihn. Es war schrecklich, die Säge hatte ihn der Länge nach in zwei Hälften geteilt, so wie Wilson die Baumstämme, wenn er Bretter schnitt. Ich ging ins Haus und rief den Sheriff an. Dann rannte ich wieder raus, mir war schlecht geworden, nicht nur wegen dem was an der Säge passiert war, auch wegen des Geruchs im Haus. Es roch wie im Schlachthaus. Die arme Kleine, was musste sie durchgemacht haben. Warum hat niemand früher nach ihr geschaut? Nur, weil die Wilsons zu einer Sekte gehört haben? Nach einer halben Stunde erschien der Sheriff. Er hielt das Ganze für einen schrecklichen Unfall – der arme Wilson hätte sich mit dem Ärmel seines Hemdes an einem Stamm verfangen und wäre dann in sein Verderben gezogen worden –, aber ich glaube das noch immer nicht. Ich glaube, dass Levid etwas damit zu tun hat.«

Der Tankwart hält abrupt in seinem Monolog inne und scheint zu überlegen.

»Kann ich jetzt gehen?«

Endlich lässt er Cortland los.

»Sie glauben mir nicht?«

»Ehrlich gesagt – nein.«

Der Tankwart nimmt den Geldschein und legt ihn in die Kasse. Das Wechselgeld legt er vor Cortland.

»Es ist die Wahrheit!«

»Für mich klingt das nach einer Schauergeschichte, die sie Fremden auftischen.«

Cortland steckt das Wechselgeld ein und geht, ohne sich zu verabschieden zur Tür.

Der Tankwart ruft ihm hinterher: »Pass auf dich auf, Junge!«

Cortland steigt in den Ford und fährt los.

 

***

 

Kurz nach Mitternacht erreicht er Taylor's Needle. Was ihm seine Scheinwerfer zeigen, wirkt auf ihn wie eine Geisterstadt. Surreal und so Welt vergessen, dass sogar das Radio hier keinen Empfang hat.

Ob der Tankwart doch die Wahrheit gesagt hat? Ach was, das war doch bloß ein alter Spinner, denkt sich Cortland. Dennoch ist ihm mulmig zumute.

Er blickt angestrengt durch die Windschutzscheibe. Gerade einmal sechs Häuser säumen die Straße links und rechts. Nirgends brennt Licht. Trotzdem erkennt Cortland die Zeichen des Verfalls. Ob der Ort irgendwelches Leben in sich birgt, weiß er nicht zu sagen. Er fährt Schritttempo, sucht das Firmenschild von Wurlitzer – erfolglos. Die Niederlassung muss sich außerhalb befinden.

Er gibt Gas, fährt weiter.

Nach zwei Meilen findet Cortland die Adresse. Es ist eine alte Farm, so wie der Tankwart gesagt hat. Er stoppt, lässt den Motor laufen, um sich erst einen Eindruck zu verschaffen, bevor er auf das Grundstück fährt. Es brennt kein Licht, was ihm ganz recht ist. Was er im Scheinwerferlicht erkennen kann, entspricht dem was der Tankwart erzählt hat. Auf dem Hof steht das Wrack eines Traktors. Die Reifen sind platt. Überall liegt Schrott herum. Cortland entdeckt das Wurlitzer-Schild. Er schüttelt den Kopf, kann nicht glauben was er da sieht, sagt dann aber laut zu sich selbst: »Scheiß drauf, nicht kneifen, du musst nur einen Job erledigen!«

Er fährt durch das offene Tor, parkt den Wagen, nimmt das Päckchen und will aussteigen, hat die Tür schon leicht geöffnet. Da springt ein Hund aus dem Dunkeln gegen die Wagentür – ein Rottweiler, der die Zähne fletscht. Cortland erschrickt fast zu Tode.

»Verdammte Scheiße!« Cortland sieht, dass die Bestie angekettet ist. Er hat eine panische Angst vor Hunden. Am liebsten würde er das Päckchen einfach aus dem Fenster werfen und abhauen, aber das geht nicht. Miller und Brown würden es erfahren und dann seinem Vater die Bilder zukommen lassen, dass weiß er. Er muss es also abliefern, auch wenn niemand hier ist.

»Miller und Brown, diese verdammten Schweine, das sieht ihnen mal wieder ähnlich. Wahrscheinlich sitzen sie jetzt zuhause und lachen sich kaputt!«

Cortland setzt den Wagen zurück, um außer Reichweite des wie wahnsinnig an seiner Kette zerrenden, kläffenden Rottweilers zu kommen. Dann stoppt er und blickt durch die Windschutzscheibe zum Haus hinüber, sein Puls rast, sein Hemd ist schweißnass. Neben der Eingangstür entdeckt er die Klappe von der Miller gesprochen hatte.

Da kommt ihm eine Idee. Er will versuchen den Wagen so abzustellen, sodass er die Klappe durch das Fenster der Wagentür erreichen kann. Er fährt los, betätigt mehrmals die Hupe, um den Hund zu verscheuchen. Sein Plan scheint aufzugehen, er erreicht die Klappe und öffnet das Fenster. Da hört er, wie das Tier auf das Dach des Wagens springt. »Verdammtes Scheißviech!« Er langt hastig nach dem Päckchen. Jetzt muss es schnell gehen, denn der Hund hängt mit der Schnauze bereits über dem Fenster und versucht nach ihm zu schnappen.

»Verschwinde, du Bestie!«

Cortland muss höllisch aufpassen, dass er nicht gebissen wird. Er schafft es irgendwie das Päckchen durch die Klappe zu bugsieren und gibt Gas. Der Rottweiler fällt jaulend vom Dach. Cortland verschwindet schleunigst von diesem unheimlichen Ort.

Unterwegs beruhigt sich sein Puls wieder. Cortland mag gar nicht daran denken was passierte wäre, wenn ihn der Köter erwischt hätte. Noch einmal davongekommen, fährt er weiter.

In der Nähe findet er ein Motel, um sich aufs Ohr zu hauen, aber er ist innerlich zu aufgewühlt, um schlafen zu können.

Natürlich ruft er Miller & Brown nicht an.

Er nimmt sich die Fernbedienung und zappt durch die TV-Kanäle. Bei einem Football-Match bleibt er hängen. Schließlich fallen ihm doch die Augen zu.

Gegen Mittag verlässt er das Motel und macht sich auf den Rückweg.

 

***

 

Es ist kurz nach sieben, als Cortland den Ford vor dem Gebäude seiner Arbeitgeber parkt.

Bevor er aussteigt, blickt er durch die Windschutzscheibe hinüber zu den Fenstern. Sie sind dunkel. Das ist ungewöhnlich, normalerweise müssten die beiden Fieslinge längst da sein, sie legen doch sonst so viel Wert auf Pünktlichkeit. Er steigt aus. Die Luft ist kalt. Es fröstelt ihn, als er zur Haustür hinübergeht, um aufzuschließen. Den Schlüssel hatte er in einem unbeobachteten Moment, kurz bevor er nach Taylor's Needle fuhr, aus einer Schublade geklaut. Drinnen tastet er nach dem Lichtschalter. Er findet ihn, das Licht flammt auf. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, ruft er: »Hallo, ist jemand da?« Obwohl er weiß, dass das völlig idiotisch ist. Er ist allein. Cortland geht ins Büro. Wieder muss er den Lichtschalter betätigen. Drinnen sieht er sich um, wie immer ist das Büro der reinste Saustall. Wie können die beiden Drecksäcke es hier drinnen nur aushalten?

Cortland beginnt aufzuräumen, was er sonst nie getan hätte.

Es ist ihm egal, ob sie ihn dafür lynchen werden, er kann diesen ganzen Dreck einfach nicht mehr ertragen. Vielleicht findet er ja auf diese Weise die verfluchten Bilder. Wieder setzt seine Erinnerung an sein Zuhause ein.

 

Er sieht sich durch die Straßen gehen, hört die Stimme seines Vaters, die ihm hinterherrief »Hau ab, du Schwuchtel und komm ja nicht wieder!«

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sein Vater ihn verdächtigt hatte, homosexuell zu sein. Seit dem Krebstod seiner Frau war der Alte dem Suff verfallen und hatte sich völlig gehen lassen. Er kam einfach mit der ganzen Situation nicht zurecht und ließ es an seinem Sohn aus. Cortland verstand, dass der Verlust seinen Vater verändert hatte. Früher war ihr Familienleben intakt gewesen und sie hatten ein inniges Verhältnis gepflegt. Aber mit dem Alkohol begann der unaufhaltsame Absturz seines Vaters. Er verlor seinen Job, all seine Freunde, hing nur noch in Kneipen oder zu Hause rum, siffte sich zu und soff. In kurzer Zeit war aus dem höflichen, zuvorkommenden Bankfilialleiter und fürsorglichen Familienvater ein wandelndes Wrack geworden. Die Nachbarn mieden ihn, wünschten sich inständig, der brüllende, ständig besoffene Nichtsnutz würde endlich wegziehen, aber er blieb. Immer wieder wurde er handgreiflich gegenüber seinem Sohn, aber niemand schritt ein. Cortland hatte oft mit dem Gedanken gespielt wegzulaufen, aber er hatte seiner Mutter am Sterbebett versprochen, dass er und sein Vater für immer zusammenhalten würden, was auch immer geschehen würde und er gedachte sein Versprechen zu halten, egal wie schwer es ihm sein Erzeuger auch machte. Weil er die Hausarbeit übernahm, sofern sein Vater das überhaupt zuließ und nicht wieder alles zusaute, machte dieser sich über ihn lustig, zog ihn damit auf, eine verdammte Putze zu sein. Irgendwann nannte er ihn dann Das Mädchen. Cortland versuchte es zu ignorieren, aber dann setzte sein Alter bei seinen ständigen Demütigungen noch einen drauf.

Er hatte in einer seiner Stammkneipen randaliert. Sie hieß bezeichnenderweise The Knockout – ein dreckiges Loch, in dem nur die schlimmsten Säufer verkehrten. Der Besitzer hatte Cortland mitten in der Nacht angerufen, er solle seinen Alten abholen. Also fuhr er hin.

Der Schuppen war echt das Letzte. Die miesesten Gestalten hingen dort ab und sein Vater mittendrin. Sein Hemd war zerrissen. Auf der Stirn hatte er eine Schramme. Er schien sich abreagiert zu haben, saß ganz brav an einem Tisch. Kaum war Cortland eingetreten, begann sein Vater mit den Beschimpfungen.

»Sieh an, da kommt mein Sohn, die kleine Schwuchtel, und bewegt wackelnd seinen willigen Arsch herein. Na, wo ist denn dein Wischmopp geblieben? Hast du ihn dir in den Arsch geschoben?«

»Komm, lass gut sein, Dad, lass uns einfach gehen!«

»Jetzt, tu nicht so, wir sind doch unter uns! Meine guten Freunde hier sind schon ganz erpicht darauf von deinen Vorlieben zu erfahren. Nicht wahr, Jungs?« Einige der Gestalten murrten.

Cortland schaffte seinen Vater ins Auto und brachte ihn nach Hause. Dort legte er ihn in sein Bett und ließ ihn seinen Rausch ausschlafen. Er ging in die Küche ein Glas Milch trinken. Als er sich an die Spüle lehnte, fragte er sich wieder einmal, warum er nicht einfach wegging. Er konnte es nicht. Es hatte nichts damit zu tun, dass er es seiner Mutter versprochen hatte, nein, er liebte seinen Alten trotz allem, was er ihm antat. Immer noch.

Als sein Vater den Job verloren hatte, schmiss Cortland die Schule, nahm allerlei Gelegenheitsjobs an, um sie über die Runden zu bringen.

Von staatlicher Unterstützung wollte der Alte nichts wissen. Cortland verdingte sich als Pizzafahrer, Zeitungszusteller, mähte Rasen, führte Hunde aus, etc. alles was irgendwie Kohle einbrachte. Davon musste er dem Alten was abgeben, sonst hätte dieser die Wohnung kurz und klein geschlagen.

Nicht nur wegen der vielen Jobs, denen er nachgehen musste, auch wegen seinem Vater wurde er zum Einzelgänger. Cortland erinnert sich, wie Andy, ein ehemaliger Klassenkamerad, ihn zu einem Baseballspiel abholen wollte.

Er war etwas früher da als ausgemacht, trat durch die offene Haustür, ohne vorher zu klingeln und rief Cortlands Namen, aber niemand antwortete. Andy ging weiter ins Wohnzimmer. Dort sah er den Alten, schnarchend in seiner eigenen Kotze liegen. Diese Geschichte verbreitete sich in der Kleinstadt, in der Cortland aufgewachsen ist, wie ein Lauffeuer. Dazu die Saufeskapaden des Alten. Nach und nach wandten sich alle Freunde von Cortland ab, wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben und ließen ihn im Stich.

 

Sein Vater hatte ihn also rausgeworfen, Cortland irrte durch die Straßen, planlos, lief einfach weiter, hoffte, er könnte so allem entkommen.

Seine Nase tat höllisch weh, sein Shirt war blutig, aber schlimmer empfand er das andere – die Stelle in seinem Inneren, an der ihn sein Vater nun endgültig und so, dass es nie wieder heilen würde, verletzt hatte.

 

In den folgenden Tagen ernährte er sich von Diebesgut. Auch ein frisches T-Shirt klaute er von einer Wäscheleine. Er schlief hinter einem Getränkecenter, unter einer Brücke, im Park, hielt sich weitestgehend von den Blicken der Anderen fern.

Seine Nase war auch nach mehreren Tagen immer noch geschwollen und blau. Aber er dachte nicht daran ins Krankenhaus zu gehen, sie richten zu lassen.

Stattdessen steuerte er auf eine Tankstelle zu und dann unterlief ihm der größte Fehler seines Lebens: Er stibitzte eine Wodkaflasche vom Beifahrersitz eines Wagens, während der Fahrer gerade bezahlte.

Cortland rannte davon bis er in einen Park kam, setzte sich dort auf eine Bank. Er trank so gierig, dass er sich verschluckte und husten musste. Er setzte die Flasche erneut an, schluckte den Rest auf Ex.

Er war nicht mehr er selbst. Irgendetwas hatte von ihm Besitz ergriffen.

Cortland hatte vorher noch nie Alkohol getrunken. Die Wirkung traf ihn wie ein Hammerschlag. Er torkelte durch den Park, lallte vor sich hin und schrie Passanten an.

»Wie der Vater, so der Sohn!«, sagte eine ältere Frau, die ihn erkannte. Daraufhin pöbelte er sie an, aber ein Jogger hatte den Vorfall mitbekommen und riss ihn von der Frau weg. Von der Wucht zu Boden gerissen, rappelte er sich mühsam auf und rannte ziellos davon.

Als er erneut anhielt, stand er vor dem Knockout. Irgendetwas in seinem Kopf befahl ihm hineinzugehen. Also tat er es.

Cortland torkelte durch den Schankraum an die Theke. Der Barmann beäugte ihn argwöhnisch.

»Was willst du hier, Junge?«

Er lallte: »Einen Scotch!«

Ihn traf ein abfälliger Blick.

„Haben wir nicht!“

Cortland hieb mit der Faust auf den Tresen.

»Gib mir einen Scotch, du Drecksack!« Der Barmann stellte sich vor ihn und packte ihn am Kragen.

»Pass auf, was du sagst! Ich sagte, so etwas haben wir hier nicht! Jedenfalls nicht für dich!«

Da meldete sich eine Stimme aus dem hinteren Teil des Schankraums. Sie gehörte einem Fettsack, der neben einem dünnen Hering saß. Es waren Miller und Brown.

»Ach, tu ihm doch den Gefallen, Charlie! Der Scotch geht auf uns!« Der Barmann schenkte Cortland den Whisky ein. Es blieb nicht bei dem einen.

 

Als Cortland wieder zu sich kam, tat ihm alles weh, jede einzelne Faser seines Körpers. Besonders sein After.

Er lag auf dem Bauch in einem Bett und wusste nicht wie er da hingekommen war. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren.

»Er kommt zu sich!«, sagte eine männliche Stimme. »Zeig ihm das Bild!«

Ein anderer Mann trat an das Bett heran und hielt Cortland ein Bild hin. Er glaubte nicht, was er da sah. Auf dem Bild sah er sich nackt auf allen Vieren, den Arsch in die Höhe gereckt und hinter ihm kniete ein Typ.

»Ein tolles Bild, findest du nicht auch? Du bist wirklich gut getroffen!«, sagte Miller.

Cortland wäre in diesem Moment gerne aufgesprungen und dem Mann an die Gurgel gegangen. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Arme und Beine an das Bett gefesselt waren. Ein Knebel in seinem Mund hinderte ihn daran los zu fluchen.

»Ich habe den Eindruck, du brauchst einen Job! Wir hätten da was Passendes für dich, du könntest künftig ein paar Botengänge für uns erledigen.

Cortland gab einen knurrenden Laut von sich.

Miller blickte erstaunt zu Brown.

»Ist ihm wohl nicht gut genug?« Brown trat zu Cortland, fasste ihm an die Gurgel und drückte zu.

»Du lehnst unser großzügiges Angebot ab? Dann sehen wir uns leider gezwungen, diese herrlichen Aufnahmen von dir – ja, es befinden sich weitere in unserem Besitz –deinem geschätzten Herrn Vater zu zeigen. Ich bin der festen Überzeugung, er würde sich wahnsinnig darüber freuen, wenn er das hier zu sehen bekäme!«

Um Atem ringend, gab der Gefangene jeden Widerstand auf, sein Alter hätte nur einen Beweis für seine Behauptungen darin gesehen – sein Sohn sei wirklich eine Schwuchtel.

Die Umstände, wie es zu den Bildern gekommen war, hätten ihn nicht interessiert. Und dann wäre er vermutlich wieder auf ihn losgegangen und hätte ihn zu Tode geprügelt. Das wollte er sich, aber vor allem seiner toten Mutter ersparen. So war Cortland zu seinem Job als Kurier bei Miller & Brown gekommen. Seinen Vater hat er seitdem nicht wiedergesehen.

***

Seit er begonnen hat das Büro aufzuräumen, sind mehrere Stunden vergangen.

Von Miller und Brown ist immer noch nichts zu sehen. Cortland macht eine Pause, holt sich einen weiteren Kaffee.

Er setzt sich an Millers Arbeitsplatz, legt die Füße auf den Tisch und nippt an der Tasse, als es läutet. Das können die beiden nicht sein, denn sie haben Schlüssel.

Er geht zur Tür und öffnet.

Vor ihm steht ein Polizist.

»Sind Sie Cortland?«

»Ja, der bin ich! Was gibt’s, Officer?«

»Ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Ihre beiden Chefs sind tot!«

»Tot?«

»Miller und Brown wurden unweit von hier per Kopfschuss ermordet. In ihrem Wagen. Der Täter hatte sich auf der Rückbank versteckt und dann während der Fahrt abgedrückt. Eine regelrechte Hinrichtung! Kein schöner Anblick kann ich Ihnen sagen, jede Menge Blut!«

»Oh!«

Cortland erbleicht und sieht den Polizisten an, in Erwartung gleich festgenommen zu werden.

Dieser errät was sein Gegenüber denkt und entgegnet stattdessen: »Keine Angst, wir wissen, dass Sie es nicht gewesen sein können. Sie waren mit dem Firmenwagen unterwegs. Wir haben die Abbuchungen der Tankstelle und des Motels auf der Firmenkreditkarte gesehen.« Cortland entspannt sich. »Ich möchte Sie trotzdem bitten, die Stadt nicht zu verlassen, wir haben noch einige Fragen!«

»In Ordnung, Officer, ich werde da sein, wenn Sie mich brauchen. Auf Wiedersehen!«

»Ich habe da noch was für Sie.« Der Polizist übergibt Cortland einen Umschlag. »Ich glaube, das gehört Ihnen. Wir haben es im Handschuhfach gefunden.«

Cortland öffnet das Kuvert. Es sind die Fotos, nach denen er die ganze Zeit gesucht hat. Er sieht den Polizisten fragend an, aber dieser verabschiedet sich ohne ein weiteres Wort.

Cortland schließt die Tür. Ihm wird schlecht, er rennt zur Toilette und verschafft sich Erleichterung.

Nachdem er sich wieder gefasst hat, spült er am Waschbecken den Mund aus, trocknet sich ab und blickt in den Spiegel. Er fragt sich, Wer außer der Polizei hat die Bilder sonst noch gesehen? In diesem Moment läutet eines der Telefone. Er geht ran. Ein Mann meldet sich. Er hat eine rauchige Stimme, so wie ein Bluessänger. Sie kommt Cortland bekannt vor, weiß aber nicht woher.

»Haben Sie die Bilder bekommen?« Cortland erschrickt.

»Ja. Woher wissen Sie…?«

»Wollen Sie die Negative auch haben?«

»Natürlich!«

»Dann kommen Sie in Maitland's Diner

»Wer sind Sie? Wollen Sie mich fertigmachen?« Cortland erhält keine Antwort.

»Warum haben Sie mich für Ihr perverses Spiel ausgesucht?«

»Das war nicht ich.«

»Sie nicht, wer denn sonst?«, schreit Cortland in den Hörer.

»Eine ziemlich mächtige Person, deren Name nicht genannt werden darf.«

»Sie sind also bloß ein Handlanger?«

»Ich lerne noch.«

»Was lernen Sie? Menschen zu demütigen, ihr Leben zu zerstören? Sind Sie ein Lehrling des Bösen?«

Cortland wäre jetzt am liebsten durch den Hörer geschlüpft und hätte den anderen erwürgt.

»Vielleicht.«

»Wie kommt die Person, die sie nicht nennen dürfen, ausgerechnet auf mich?«

»Zufall.«

»Zufall?« Cortland kann es nicht glauben, der Typ will ihn wohl verarschen.

»Die Person, von der ich rede, hat so etwas wie ein großes Adressbuch. Jedermanns Name steht darin. Ein Fingerzeig auf eine Seite, per Zufall aufgeschlagen, genügt und man ist ausgewählt.«

»Sind sie total durchgeknallt?«

Cortland imitiert mit der einen Hand einen Scheibenwischer vor seinen Augen.

»Ich mache nur meine Arbeit.«

»Aber warum? Was soll das alles?«

»Lassen Sie sich überraschen. Mögen Sie Blues?«

»Was? Wie kommen Sie jetzt darauf?«

»Der wahre Blues dauert ewig! Ha ha ha ha!« Der Mann am anderen Ende der Leitung beendet das Gespräch.

»Hallo, Sie können jetzt nicht einfach so auflegen. Hallo, …?«

Cortland legt den Hörer auf.

»Was geht hier vor sich?«

Er hat keine Ahnung.

Cortland verlässt die Räume von Miller & Brown. Er steigt in den Ford, dreht den Zündschlüssel, aber der Wagen springt nicht an. Er steigt aus, versetzt der Karre einen Tritt und läuft los. Der Regen setzt wieder ein, aber er spürt ihn nicht, obwohl seine Kleidung bis auf die Haut durchnässte.

 

Cortland steht an der Auffahrt zum Highway, den Daumen im Wind. Der Regen hat aufgehört. Ein Wagen hält, lässt ihn einsteigen. Kaum ist er losgefahren, beginnt der Fahrer des Wagens auf ihn einzureden, aber Cortland hat keine Lust auf ein Gespräch, gibt meist nur brummende Laute von sich. Der Fahrer gibt es schließlich auf.

 

Nach etwa fünfzig Meilen lässt er ihn an einer Raststätte aussteigen. Cortland findet weitere Mitfahrgelegenheiten. Als er schließlich den Highway erreicht, der wegen des Erdrutsches gesperrt war, setzt der Regen wieder ein. Er sitzt jetzt neben einem Trucker, der die ganze Zeit lautstark mit grauenhafter Intonation Countrysongs grölt. Cortland empfindet die Gesangsstimme des Truckers als grässlich, wenigstens verwickelt er ihn nicht in ein Gespräch oder stellt lästige Fragen. Der Truck nähert sich der Stelle, an der sich die Umleitung befunden haben muss. Cortland blickt angestrengt durch die Windschutzscheibe, sucht nach der Straßensperre – sie ist weg. Schlamm ist ebenfalls nicht mehr zu sehen. Sie erreichen die Ausfahrt.

»Stopp!«, ruft Cortland plötzlich.

Der Trucker steigt in die Eisen.

»Was suchst du denn hier, Junge, mitten im Nirgendwo?«

»Eine Antwort!«, erwidert Cortland und steigt aus.

Der Trucker schaut ihm hinterher, sein Blick verrät, dass er ihn für durchgeknallt hält. Er schüttelt den Kopf und legt den ersten Gang ein.

»Pass gut auch dich auf und viel Glück!

Cortland schlägt die Beifahrertür des Trucks zu. Der Fahrer tritt aufs Gaspedal, der Wagen rollt los. Cortland schaut ihm hinterher. Auf der Seite des Anhängers befindet sich ein Logo: Morning Star.

Cortland verlässt den Highway zu Fuß und läuft durch den Wald. Zehn Meter vor dem Ortsschild von Pollock’s Refuge bleibt er kurz stehen. Ein Rabe sitzt darauf. Cortland blickt zu ihm hin. Er hat den Eindruck, der Vogel erwartete ihn und würde ihn mustern, um abzuschätzen, ob er auch den richtigen vor sich habe. Der Vogel nickt kurz mit dem Kopf, als wolle er die Gedanken des Ankömmlings bestätigen.

Er geht auf das Tier zu, schon fliegt es weg. Das sich entfernende Krächzen jagt ihm ein Schaudern über den Rücken.