Cover

 

 

 

 

Roland Zingerle

Deserteure

Ein Kneipen-Krimi

 

 

 

 

 

 

Ich widme dieses Buch allen meinen Leserinnen und Lesern.

Danke für eure Treue!

Gesetz und Verbrechen unterliegen dem Henne-Ei-Prinzip. Zwar scheint das Verbrechen älter zu sein, da Gesetze ansonsten nicht nötig geworden wären, doch hätte man schwerlich je ein Verbrechen erkannt, wäre damit nicht irgendein Gesetz gebrochen worden.

Gesetze regeln das menschliche Zusammenleben und über ihre Einhaltung wacht die Polizei. Aber nicht nur: In Klagenfurt haben sich der Bierführer Hubert Pogatschnig und sein Assistent Ludwig Melischnig die Aufklärung von Kapitalverbrechen zur Aufgabe gemacht. Dabei besteht der besondere Reiz für die beiden darin, schneller zu ermitteln als die Polizei. Von den Medien als „Zwei für die Gerechtigkeit“ gefeiert und von der Polizei unter dem Kommando von Chefinspektor Leopold Ogris als „Deppen-Duo“ verachtet, machen sich die beiden Hobby-Detektive die Vorteile des Tratsches zunutze: Sie suchen dort nach Hinweisen, wo Informationen ausgetauscht werden, nämlich in den Gaststätten in und um Klagenfurt …

Prolog

 

Keuchender Atem. Schnee am Boden, dazwischen Laub. Wurzeln, Bäume. Kalte Luft in den Lungen. Besser, wenn er durch die Nase atmete – die Nase war aber verstopft. Er hatte kein Taschentuch, schnäuzte in seine Finger. Kopfschmerz, Blut zwischen den Fingern.

 

Irgendwann später lehnte er an einem Baum, verschnaufte. Langsam, langsam kehrte sein Bewusstsein zurück. Er befand sich in einem Wald, es war dunkel. Blut zwischen den Fingern; stimmt, ja, aus der Nase. Ein Kontrollgriff mit der anderen Hand zeigte, dass sie nun nicht mehr blutete. Er tastete seinen Kopf ab. Eine schmerzende Stelle direkt über seinem Haaransatz ließ ihn zurückzucken, eine Kruste führte aus dem Haar auf die Stirn herab. Alle Blutungen schienen gestoppt zu haben, beruhigend.

Wo war er?

Sein Kopf schmerzte. Sein linkes Hüftgelenk schmerzte. Er stieß sich vom Stamm ab und wankte weiter. Er musste in Bewegung bleiben, die Nacht überleben, Hilfe holen.

Was war passiert?

Als er hochschreckte, lehnte er wieder an einem Baum. Panik fuhr in ihm hoch. Er war eingeschlafen, aber er durfte nicht einschlafen, er würde erfrieren. Er musste in Bewegung bleiben, Hilfe holen, irgendwo.

Wieder stieß er sich ab, hinkte weiter, fühlte sich schwer. Lange würde er nicht mehr durchhalten; kein Wunder, immerhin war er schon die ganze Nacht unterwegs. Glaubte er.

Es hat einen Autounfall gegeben, schoss es ihm durch den Kopf. Ein brutaler Knall, dann war er losgelaufen, um Hilfe zu holen. In den Wald, warum, wusste er nicht. Doch er wusste, dass alle Erinnerungen da waren, er konnte nur nicht auf sie zugreifen. Der Schock möglicherweise oder eine Gehirnerschütterung. Wahrscheinlich beides. Er spürte, dass unter diesen Erinnerungen etwas ganz, ganz Wichtiges war, etwas Empörendes, das sein Leben verändert hatte.

 

Als er das nächste Mal zu Bewusstsein kam, war das Umgebungslicht um einiges heller geworden. Ein Blick auf seine Armbanduhr misslang, er sah alles nur verschwommen. Doch das machte nichts, denn vor ihm lichtete der Wald sich, gab den Blick frei auf einen Fluss, der wenig Wasser führte und dessen gegenüberliegendes Ufer eine Straße flankierte. Hinter dieser stieg ein steiler, bewaldeter Hang nach oben, ein Hang wie jener, auf dem er selbst stand.

Er hangelte sich an den Bäumen zum Fluss hinab und durchwatete ihn. Eisiges Wasser ließ ihn bis auf die Knochen erschauern, weckte aber etwas seine Sinne. Dann erklomm er auf Händen und Knien die steile Uferböschung und folgte der Straße nach rechts. Er würde das nächste Auto anhalten, das vorbeikam.

Hinter der nächsten Kurve lag eine Tankstelle, warm beleuchtet, samt Kaffeehaus. Eine Tasse heißer Kaffee, das war alles, was er momentan wollte. Eine Tasse Kaffee, dann würde er weitersehen. Ein Griff an seine Gesäßtasche machte klar, dass er seine Brieftasche noch bei sich hatte – gut. An der Tankstelle angekommen, warf er einen Blick durch die verglaste Außenwand in den anheimelnd beleuchteten Verkaufsraum, wurde aber von seiner eigenen Reflexion abgelenkt. Er erschrak. Sein Gesicht war verschmutzt und seine Haare wirr, eine breite Blutkruste zog sich über seine Stirn herab. Das Schlimmste aber war das Fremde in seinen Augen – wer zum Teufel war er?

Mit pochendem Herzen betrat er den Verkaufsraum, drückte sich zwischen den Regalen durch, damit niemand ihn lange genug zu Gesicht bekam, um auf ihn aufmerksam zu werden. Auf der Toilette angekommen, offenbarte ein Blick in den Spiegel das gesamte Ausmaß seines Zustands. Er war nass und verdreckt, bis auf eine verkrustete Platzwunde am Kopf aber äußerlich unverletzt. Nachdem er sich an sein fremdes Gesicht gewöhnt hatte, erfasste ihn Zuversicht, eine Gewissheit, dass der Gedächtnisverlust nicht von Dauer sein würde. Er wusch sich die Blutkruste ab, richtete seine Haare, reinigte, so gut es ging, sein Gesicht und seine Hände und das Gewand. Als er einigermaßen passabel aussah, wagte er sich in den Café-Bereich der Tankstelle, wo er einen Cappuccino orderte. Die junge Serviererin kam seinem Wunsch nach, nahm aber ansonsten keinerlei Notiz von ihm, wie er zufrieden feststellte. Er zitterte am ganzen Leib, hatte Mühe, die Kaffeetasse zu halten, ohne ihren Inhalt zu verschütten.

Wenn er den Cappuccino getrunken, sein Körper sich ein bisschen erwärmt hatte, dann würde er die Kellnerin bitten, einen Rettungswagen zu rufen. Bis dahin genoss er die morgendliche Stille hier. Nur das Gespräch einiger Gäste und die Radionachrichten drangen durch das Sirren seines Tinnitus.

Plötzlich horchte er auf. Ein Radiosprecher berichtete von einem Autounfall im Twimberger Graben am Vorabend. Der Wagen war in den Lavant-Fluss gestürzt und in Flammen aufgegangen.

Mit einem Mal, als hätte jemand einen Schalter in seinem Kopf umgelegt, war alles wieder da, jedes Detail. Als er sich der Dinge erinnerte, die er gestern erfahren hatte und die sein Leben von Grund auf verändert hatten, schüttelte ein kräftiger und lang andauernder Schauer seinen gesamten Körper.

Er würde nicht um die Rettung bitten und würde niemandem erzählen, was geschehen war. Sein Leben würde fortan einem anderen Stern folgen als bisher, und wenn er diesen erreicht hätte, würde er sterben.

Nur halb drang der Nachsatz des Radiosprechers in sein Bewusstsein: »Der Fahrer konnte nur noch tot geborgen werden.«

Kapitel 1

 

Montag, 9 Uhr

Redaktion des »Kärntner Tagesspiegels«, Klagenfurt

 

Als Journalistin musste man unvoreingenommen sein. Der äußere Schein konnte trügen, deshalb war eine vorgefasste Meinung nie gut, wenn man an den Kern der Wahrheit kommen wollte. Barbara Stromberger wusste das, doch sie hielt sich nicht daran. Der Typ, der im Besprechungszimmer auf sie wartete, wirkte arm auf sie. Das khakifarbene Flanellhemd und die sandbraune Stoffhose waren ausgewaschen und abgewetzt, und die besten Zeiten seiner Hush Puppies aus hellbraunem Rauleder lagen wohl schon Jahre zurück. Er wäre als Künstler durchgegangen, doch für einen Künstler war sein Blick zu hart. Er war um die vierzig, mittelgroß, schlank, trug einen blonden Mittelscheitel und einen ebenso blonden, kurz geschnittenen Bart, der seinen Mund umrahmte und sich dem Kieferknochen entlang zu den Koteletten hinaufzog. Alles in allem war er durchaus gepflegt, wirkte aber – eben – arm.

Als Barbara den Raum betrat, erhob er sich und hielt ihr höflich lächelnd die Hand entgegen.

»Mein Name ist Ernst Vogt, ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Stromberger.«

Barbara war es mittlerweile gewohnt, dass die Menschen ihren Namen kannten, dennoch fühlte sie sich immer noch geschmeichelt. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich mit Vogt an den Besprechungstisch.

»Was kann ich für Sie tun?«

Vogt blätterte den vor ihm liegenden »Kärntner Tagesspiegel« auf, die Ausgabe von gestern, wie Barbara sofort erkannte. Als er bei einem ganzseitigen Artikel mit dem Titel »Monteur (43) starb in Flammen-Inferno« angekommen war, drehte er die Zeitung zu Barbara hin. Sie kannte den Artikel besser als jeder andere, immerhin hatte sie ihn ausrecherchiert und geschrieben. Der Monteur, ein alleinstehender Mann aus Wien, war am Freitagabend von einer Baustelle in Bad Sankt Leonhard in Richtung Wolfsberg gefahren, wo er in einer Pension wohnte. Im Twimberger Graben hatte er die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren, vermutlich wegen vereister Fahrbahn. Das Auto durchschlug die Leitplanke und stürzte ins Bett der Lavant, wo es Feuer fing. Der Fahrer verlor beim Aufprall entweder das Bewusstsein oder war im Wagen eingeklemmt, jedenfalls verbrannte er bis zur Unkenntlichkeit. Seine Identität und sein Bewegungsprofil konnten nur anhand einer der Nummerntafeln rekonstruiert werden, die im Zuge des Unfallgeschehens aus ihrer Halterung gesprungen und etwas abseits gefunden worden war. Die Arbeitskollegen des Wageninhabers hatten der Polizei bestätigt, dass dieser selbst am Steuer gesessen war, als er die Baustelle verließ.

»Schauen Sie sich das Bild an«, sagte Vogt, bevor Barbara fragen konnte, was er ihr zeigen wollte. Eines der Fotos zeigte das ausgebrannte Wrack in dem wenig Wasser führenden Flussbett, ein anderes Foto, das Vogt wohl meinte, zeigte das Porträt eines jungen Mannes, das mit »Unfallopfer Frank Poltl †« untertitelt war. Da Barbara nicht wusste, was ihr Besucher ihr zeigen wollte, riet sie:

»Sie meinen, der Mann sieht für dreiundvierzig Jahre zu jung aus? Wissen Sie, oft haben die Verwandten von Unfallopfern kein aktuelles Foto. In so einem Fall nehmen wir auch ein älteres.«

»Das meine ich nicht«, entgegnete Vogt mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Worauf ich hinauswill, ist, dass dieser Mann auf gar keinen Fall Frank Poltl geheißen hat.«

»Wieso?« Barbara Stromberger war verwirrt.

»Weil ich den Mann gekannt habe. Als er noch so alt war wie auf dem Foto.«

»Anfang zwanzig? Das müssen Sie mir erklären.«

»Deshalb bin ich hier. Vor zwanzig Jahren habe ich an einem Auslandseinsatz des Bundesheeres teilgenommen.«

»Für die UNO?«

»Genau, auf den Golanhöhen. Damals hat auch der junge Mann auf dem Foto seinen Dienst am Golan versehen. Nur war sein Name nicht Frank Poltl, sondern Heinz Fössl.«

»Vielleicht irren Sie sich?«

»Ausgeschlossen. Fössl war während der Vorbereitungszeit in Wien mein Zimmerkamerad. Er sah damals so aus wie auf diesem Foto.«

»Vielleicht hat er seinen Namen geändert. Warum finden Sie das wichtig?«

»Weil Heinz Fössl nie vom Golan zurückgekommen ist.«

Barbara fühlte eine Art Hitze in ihren Kopf steigen, die immer kam, wenn sie eine große Geschichte witterte. Eine Freundin hatte diese Witterung einmal als »Sensationsgeilheit« bezeichnet, was Barbara nicht gefiel, auch wenn es der Sache am nächsten kam.

»Nachdem ich gestern Ihren Artikel gelesen habe«, fuhr Vogt fort, »habe ich meine Unterlagen von damals herausgesucht – Fotos, Tagebuchaufzeichnungen und natürlich auch Zeitungsartikel über die Vorkommnisse damals und die darauffolgende Gerichtsverhandlung – und ich schwöre Ihnen, wenn auch die anderen Golanis zurückgekehrt sind, dann bin ich einer verdammt großen und heißen Sache auf der Spur!«

»Von welcher Gerichtsverhandlung reden Sie?«

Vogt sah Barbara unverwandt in die Augen, wenige Augenblicke, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit.

»Von meiner«, sagte er schließlich, »ich wurde damals wegen zweifachen Mordes verurteilt.«

Barbaras Herzfrequenz schoss sprunghaft nach oben. Sie war noch nie einem Mörder so nahe gewesen; einem zweifachen schon gar nicht. Ihr Versuch, sich ihre Gefühlsregung nicht anmerken zu lassen, misslang:

»Wie? Was ... wieso?«

»Das wissen Sie nicht? Der Prozess wurde damals monatelang durch alle Medien geprügelt. Aber wahrscheinlich ...«, er musterte sie eindringlich, »... das war vor zwanzig Jahren, wahrscheinlich waren Sie damals noch zu jung, um sich dafür zu interessieren.«

Vogt hatte recht, Barbara hatte mit ihren vierzehn Jahren damals tatsächlich andere Interessen gehabt als aufsehenerregende Gerichtsverhandlungen. Dennoch glaubte sie, sich schwach daran zu erinnern.

»Erzählen Sie«, sagte sie tonlos.

»Man hat mir zur Last gelegt, zwei Kameraden erschossen zu haben. Kameraden, die man verdächtigt hat, unter anderem vier österreichische UN-Soldaten an die Schmuggler verkauft zu haben.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

Vogt schien Barbaras Angst wahrzunehmen, denn er erklärte: »Bevor Sie ein falsches Bild von mir bekommen: Ich bin vollkommen unschuldig. Das habe ich meinen Vorgesetzten am Golan gesagt, meinem Pflichtverteidiger, dem Richter, den Medien – allen, die es hören wollten. Besser gesagt, allen, die es nicht hören wollten, denn mir hat niemand geglaubt, niemand. Sie haben einen Schuldigen gebraucht, weil sie sich nicht haben erklären können, was wirklich passiert ist, und ich war ihr Sündenbock. Achtzehn Jahre habe ich gekriegt, nach dreizehn haben sie mich entlassen, wegen guter Führung.«

Die Hitze in Barbaras Kopf verwandelte sich in ein Pochen, das Sirren in ihren Ohren übertönte fast Vogts Worte. Dieser erzählte weiter.

»Fössl war einer der vier Verschwundenen. Dass er jetzt wieder auftaucht, noch dazu unter anderem Namen, kann nur bedeuten, dass damals etwas vertuscht worden ist, für das ich dann die Rechnung bezahlt habe. Wenn ich einen der anderen drei finde, erfahre ich möglicherweise die wahre Geschichte und kann von Vater Staat Entschädigung einklagen.«

»Okay, okay, aber warum kommen Sie damit zu mir? Warum gehen Sie nicht zur Polizei?«

»Haben Sie mir nicht zugehört? So, wie das für mich aussieht, hat damals entweder das Bundesheer oder ein militärischer Geheimdienst seine Finger im Spiel gehabt. Sie haben mich unschuldig verurteilt, ich vertraue dem Staat nicht mehr.«

Barbara fühlte sich, als stünde sie inmitten eines Orkans, der ihre Gedanken so schnell um sie herumwirbelte, dass sie keinen davon zu fassen bekam.

»Das ist ein ganz schöner Brocken, den Sie mir da servieren«, bekannte sie. »Am besten, Sie erzählen mir alles von Anfang an, damit ich ein Bild von der gesamten Angelegenheit bekomme.«

Vogts Gesicht entspannte sich. Er lehnte sich zurück und begann zu berichten.

»Als UN-Soldaten am Golan war es unsere Aufgabe, die Truppenentflechtungszone zu überwachen, auf die sich die Israelis und die Syrer in den frühen Neunzehnhundertsiebzigern geeinigt haben, um den Frieden zu sichern. Dazu hat die UNO entlang der Zone Stützpunkte errichtet, von denen aus Patrouillen durchgeführt worden sind ...«

 

Kapitel 2

 

Montag, 12.15 Uhr

Gasthaus Pumpe, Klagenfurt

 

Ludwig Melischnig legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund so weit, dass jeder, der im richtigen Blickwinkel saß, die halb gekauten Gulaschstücke darin sehen konnte. Dann lachte er aus vollem Hals. Hubert Pogatschnig sah in die teils empörten, teils belustigten Gesichter der Gäste an den anderen Tischen. Sein schelmisches Lächeln war nur an kleinen Fältchen rund um Augen und Mund erkennbar.

»... mit Bier gefüllt«, wieherte Melischnig. »Das ist gut!« Er schien sich nicht mehr einkriegen zu können, und als es doch gelang und er einen Schluck Bier in den Mund nahm, zwang der nächste Anfall ihn, seine Mundfüllung krampfhaft zu schlucken, um sie nicht auf dem Wirtshaustisch zu verteilen. Danach kicherte er weiter.

Hubert kaute derweil stillvergnügt an seinen Käsnudeln. Er gab es nicht gerne zu, doch er hatte es vermisst, mit Melischnig beim Pumpe zu Mittag zu essen.

»Was ist denn mit dem los?«

Hubert sprang auf und tupfte sich hastig den Mund ab, bevor er ihn Heike Ogris entgegenhielt, die soeben mit Wastl an den Tisch der beiden getreten war. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste flüchtig seine Lippen.

»Servus, Schatzi«, sagte sie und deutete dann fragend auf Melischnig.

»Der amüsiert sich nur über eine altägyptische Volksweisheit«, winkte Hubert ab und drückte Wastl die Hand zur Begrüßung. Während die beiden Ankömmlinge Platz nahmen, fragte Heike: »Was für eine altägyptische Volksweisheit?«

»Habe ich gestern im Internet gelesen«, erklärte Hubert, »ein Spruch, der lautet: ›Der Mund eines glücklichen Mannes ist mit Bier gefüllt.‹«

Melischnig wieherte erneut auf. Auch Heike kicherte, aber eher wegen Melischnigs Verhalten.

»Originell«, gestand sie, »aber so witzig ist der auch wieder nicht.«

»Doch, denn Ludwig hat ihn erst nach der dritten Erklärung verstanden.«

»Was verstanden?«, fragte Wastl. Seine hängenden Backen gaben seinem verständnislosen Blick etwas Hündisches. Daran änderte sich auch nichts, als Heike den Spruch für ihn wiederholte.

»Was, mit Bier gefüllt?«

»Wenn du den Mund voller Bier hast«, schaltete Hubert sich ein, »dann bist du glücklich, oder?«

Wastl zuckte die Achseln. »Nicht immer.«

Heike begann zu lachen.

»Siehst du«, meinte Hubert zu ihr. »Genauso war es bei Ludwig auch. Wastl: Der Spruch meint, dass ein Mann immer dann glücklich ist, wenn er Bier trinken kann.«

»Aber ich kann doch auch ...« Eine Erkenntnis erhellte Wastls Gesicht. »Ach so, du meinst umgekehrt ...«

Sein linker Zeigefinger zeigte nach rechts und sein rechter nach links. Dann begann auch er zu lachen, und dieses Lachen steigerte sich so weit, bis sein dröhnender Bass seinen unförmigen Körper zum Wabbeln brachte.

»... mit Bier gefüllt«, kam es zwischendurch hervor. »Nicht schlecht.«

Er und Melischnig nickten einander zu, und Melischnig zeigte mit dem Daumen nach oben.

Hubert sah Heike derweil ebenso vergnügt in die Augen wie sie ihm.

»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte sie.

»Eine Viertelstunde, ungefähr, heute ist viel zu tun.«

»Bei uns nicht, aber am Wörthersee haben sie die Süduferstraße gesperrt, das hat uns einige Zeit gekostet. Wastl wollte die Mittagspause schon in Reifnitz verbringen.«

Hubert zog die Augenbrauen hoch. Wastls Sturheit war in der ganzen Brauerei legendär.

»Wie hast du ihn dazu gebracht, doch noch hierherzufahren?«

»Ich habe ihm gesagt, ich trete ihm in seinen dicken Hintern, wenn er es nicht tut.«

Hubert sah ihr forschend in die Augen, dann meinte er mit einem kurzen Kopfschütteln:

»Glaube ich dir nicht.«

»Na gut, Herr Detektiv«, sie schlug die Augen nieder, »wir müssen dann in der Stadt noch ein paar Cafés beliefern, da war es egal, ob wir gleich zurückkommen oder erst nach dem Essen. Und nachdem ich gewusst habe, dass mein Liebling hier auf mich wartet, habe ich Wastl gebeten hierherzufahren.«

Hubert blinzelte öfter und verliebter, als er wollte. Seit mehr als zwei Jahren war Heike nun schon Bierführerin, doch Huberts Befürchtung, dass die Arbeit sich wie bei ihren männlichen Kollegen auf ihre Statur auswirken würde, hatte sich bis jetzt nicht bewahrheitet. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren war Heike noch gleich schlank wie damals, und die Muskeln, die sie durch die Arbeit bekommen hatte, machten ihre Figur eher sportlich als klobig. Hubert hätte sich eine solche Entwicklung auch für sich gewünscht, doch aus Erfahrung wusste er, dass ihm eher das Gegenteil bevorstand.

»Wie geht’s meiner Schwester?«, fragte sie Melischnig, der sich jetzt anscheinend wieder im Griff hatte. Heikes Frage ließ ihn schlagartig ernst werden.

»Gut«, antwortete er, »sehr gut, danke. Unter diesen Umständen halt.«

Heike nickte, und Hubert sah, wie sie ihre Lippen aufeinanderpresste. Offenbar bereute sie, gefragt zu haben.

 

Melischnig hatte jahrelang einen Lkw-Verleih aufgezogen, der anfangs recht erfolgreich gewesen war, im vergangenen Jahr jedoch ins Trudeln geriet. Schuld daran war ein Transportunternehmen namens Trans-Carinthian, das seit zwei Jahren ein Konkurrenzunternehmen nach dem anderen mit Schleuderpreisen in den Ruin trieb. Haupteigentümer und Geschäftsführer war ein Manager namens Friedrich Grilc, der aus Kärnten stammte, sein Geld davor aber mit einer Import-Export-Firma in Wien verdient hatte. Man munkelte, Grilc kenne aus dieser Zeit auch seine finanzkräftigen Partner, die ihm nun in der Phase des Kahlschlags unter die Arme griffen, damit er den Preiskampf finanziell überlebte. Seine Strategie und die dahinterstehende Absicht waren allgemein bekannt, dennoch grinste der dicke bärtige und glatzköpfige Anfangvierziger von allen Titelblättern und wurde von den selbst ernannten Szeneblättern des Landes wie auch von der Wirtschaftskammer hofiert, weil der Aufstieg seines Unternehmens als Erfolg angesehen wurde.

Mitte des vergangenen Jahres zeichnete sich ab, dass Melischnigs Firma dem Konkurrenzdruck von Trans-Carinthian nicht standhalten würde, mit Jahreswechsel sperrte er zu. Da hatte er aber schon die Zusage von seinem ehemaligen Dienstgeber, dass er mit Jänner wieder als Bierführer würde arbeiten können; besser gesagt, als Bierführer-Assistent, denn den Lkw-Führerschein hatte Melischnig noch immer nicht.

Seither tat er wieder das, was ihm am liebsten war, nämlich Bier ausführen, und obwohl Hubert auch jetzt wieder sein Chef war, war Ludwig dennoch ein glücklicher Mensch. Die Sache hatte für ihn nur einen Makel: Er konnte seiner Frau Bettina – Heike Ogris‘ Schwester – und seinen beiden Kindern Huberta und Hubert nicht mehr den Lebensstandard bieten, den er ihnen gerne geboten hätte. Alle wussten das, und obwohl Bettina selbst ihm immer wieder versicherte, sie sei glücklich, wenn er glücklich wäre, hatte er deswegen Gewissensbisse. Deshalb bereute Heike nun wohl, ihn nach Bettina gefragt zu haben, denn offensichtlich hatte ihn das an sein vermeintliches Versagen erinnert.

 

Hubert wollte ihn auf andere Gedanken bringen. Er sah mit einer übertriebenen Geste auf seine Armbanduhr, stieß ihm in die Seite und meinte:

»Ludwig, tummel dich, wir müssen weiter.«

Ein Zucken ging durch den Angesprochenen, und er beeilte sich dienstbeflissen mit dem Essen. Heike schenkte Hubert einen dankbaren Blick.

 

Auf dem Weg zum Bierwagen läutete Huberts Handy. Als er auf das Display blickte, hellte sich sein Gesicht auf.

»Barbara Stromberger«, rief er erfreut ins Telefon, »das ist aber eine Überraschung.«

»Hubert Michael Pogatschnig«, kam die Antwort, »wie lange ist das jetzt her? Fünf Jahre, oder?«

»Du hast die Tage gezählt?« Beide lachten. »Was heckst du diesmal aus?«

»Muss ich etwas aushecken, um einen alten Freund anzurufen? « Sie klang vorwurfsvoll. Hubert ließ ein paar Sekunden verstreichen, um seiner Antwort mehr Gewicht zu verleihen:

»Bisher hast du mich immer nur kontaktiert, wenn du meine Hilfe gebraucht hast, und die hast du dann schamlos ansgenützt und mich im Regen stehen gelassen. Also, was soll ich denken?«

»Du enttäuschst mich«, kam die Antwort. »Ich habe nicht gedacht, dass du so nachtragend bist.«

»Bin ich gar nicht. Vorsichtig bin ich.«

»Vorsichtig genug, um dich nicht mit mir zu treffen?«

Hubert wurde hellhörig. »Worum geht es?«

Barbara kicherte, wohl um Zeit zu gewinnen, doch Hubert hatte ihr keinen Raum für Ausreden gelassen.

»Um eine Story«, gestand sie, »um eine hammermäßige Story, wenn ich nicht ganz falschliege.«

»Du arbeitest also immer noch als freie Journalistin?«

»Nein, mittlerweile bin ich angestellt. Das heißt, ich bin nicht mehr darauf angewiesen, Knüller zu verkaufen, du kannst dich also entspannen.«

»In deiner Gegenwart?« Wieder lachten beide, diesmal gehässig.

»Aber im Ernst, wann können wir uns sehen?«

Pogatschnig überlegte. »Heute nach Dienst? Um halb sechs?«

»Wie, nach Dienst? Ich habe gedacht, du bist Privatdetektiv?«

»Privatdetektive gibt es in Österreich nicht, bei uns heißt es ›Berufsdetektiv‹.«

»Wurscht, wie es heißt; bist du es, oder bist du es nicht?«

Hubert wollte antworten, wusste aber nicht, wie. Deshalb redete er sich heraus:

»Das ist eine lange Geschichte. Treffen wir uns um halb sechs in meinem Büro? Die Adresse ist Alter Platz 1.«

In dem nun folgenden kurzen Schweigen hörte er Unverständnis, Ver- und auch Bewunderung, doch nichts davon fand Einzug in Barbaras knappe Antwort: »Ich werde dort sein.«

Kapitel 3

 

Montag, 17.30 Uhr

Pogatschnigs Detektivbüro, Alter Platz, Klagenfurt

 

»Alter Platz 1«, das alte Rathaus der Stadt, war eine denkbar noble Adresse für eine Detektei. Entsprechend beeindruckt wirkte auch Barbara, die vor dem Haus auf und ab ging und die Fassade betrachtete. Als sie auf Hubert aufmerksam wurde, verwandelte ein Lächeln ihr Gesicht, und sie kam mit federnden Laufschritten auf ihn zu. Er fand, dass sie sich über die Jahre hinweg überhaupt nicht verändert hatte. Die Bewegungen ihres nach wie vor athletisch gebauten Körpers strahlten noch immer jugendliche Leichtigkeit aus, und auch ihr von einem schwarzen Pagenkopf umrahmtes, fein geschnittenes Gesicht mit der spitzen Nase ließ nicht erkennen, dass sie inzwischen Mitte dreißig sein musste.

Sie sprang ihn an, umarmte und schlang ihre Beine um ihn; er erwiderte den innigen Druck ihrer Arme. Als sie wieder von ihm herabgesprungen war, sah sie ihn von unten her an, da sie beinahe einen Kopf kleiner war als er. Dieses Kecke in ihren Augen; jedes Mal, wenn er mit ihr zu tun gehabt hatte, hatte sie versucht, ihn aufs Kreuz zu legen – doch es war immer beim Versuch geblieben.

»Alt bist du geworden«, sagte Barbara.

»Gleichfalls«, erwiderte Hubert.

»Charmeur.«

»Lügnerin.« Beide lächelten.

»Glaub es, oder glaub es nicht, aber ich habe dich vermisst, Hubert Michael Pogatschnig.«

»Ich glaube es nicht.«

Barbara wandte sich dem Haus zu. »Schicke Adresse! Deine Geschäfte müssen gut gehen. Was mich nicht wundert, als Ermittler warst du schon immer ein Ass.«

Hubert seufzte und ging voraus auf die Tür des alten Rathauses zu. Wie stolz war er damals gewesen, hier leistbare Räumlichkeiten zu bekommen – bis er das Haus zum ersten Mal betreten und den Grund für den günstigen Mietpreis erkannt hatte. Mit säuerlichem Gesicht hielt er Barbara die Tür auf und erkannte an ihrer Miene, dass es ihr nun gleich ging wie ihm damals. Das Gebäude verwahrloste innen wohl schon seit Jahrzehnten, im Stiegenhaus blätterte der Schimmel den Putz von den Wänden, und die Holzauflagen der Stufen wackelten. So wie jedes Mal, wenn er diese Treppe hinaufging, erwartete er auch diesmal bei jedem Schritt, dass er durchbrechen oder sich eine der Auflagen lösen und er auf ihr über die anderen Stufen nach unten surfen würde.

Während sie in den zweiten Stock hinaufgingen, war Barbara still. An seiner Bürotür angekommen, kramte Hubert den Schlüssel hervor und schloss auf, wobei sein Blick auf das teure Messingschild an der Tür fiel, das er für sein Detektivbüro hatte anfertigen lassen. Die Wut schnürte ihm die Kehle zu, so wie jedes Mal, wenn er es betrachtete.

»Hubert Pogatschnig – Primate Ermittlungen«

Niemandem war der Schreibfehler aufgefallen, nicht einmal ihm selbst, der sonst Dinge sah, die allen anderen verborgen blieben. Es war sein erster Kunde gewesen, der ihn darauf angesprochen hatte; an die Scham, die Pogatschnig dabei empfunden hatte, würde er sich bis an sein Lebensende erinnern.

»Primate Ermittlungen?«, fragte Barbara vorsichtig.

»Ja«, sagte Hubert in einem Tonfall, der keine Erwiderung duldete, »Primate Ermittlungen.« Er betrat das Büro, machte eine einladende Geste und versuchte, munter zu klingen, als er verkündete: »Bitte komm herein, in meine ...« Er wollte Bruchbude sagen, schaffte es aber gerade noch rechtzeitig davor, den Mund zuzumachen. Im Gegensatz zu Barbara, die seiner Aufforderung folgte und sich mit offenem Mund umsah.

Huberts Detektei war nichts anderes als eine enge Zimmerflucht, deren vorderer Bereich als Vorzimmer diente. Die Garderobe stammte Huberts Schätzung zufolge aus den 1950er-Jahren. Links führte eine Tür zu einem winzigen Toilettenraum, dessen Inventar mindestens ebenso alt war. Der hölzerne Toilettensitz war speckig, und vom Spülkasten, der direkt unter der Decke angebracht war, hing eine Kette mit Griff herab. Die Tatsache, dass die Kloschüssel an der rechten Wand angebracht war, legte für Hubert den Schluss nahe, dass die Toilette ursprünglich vom Gang her betreten worden war. Man hatte diese Tür wohl zugemauert und eine neue aufgestemmt, um eine Wohneinheit mit eigener Toilette zu schaffen.

Der hintere Teil der Zimmerflucht war Huberts Arbeitsbereich. Das einzige Fenster führte in einen Innenhof, dessen Schäbigkeit er als fürchterlich empfand. Das war auch der Grund, warum er den Schreibtisch in Raummitte platziert hatte, denn so konnte er seinen Sessel zwischen Tisch und Fenster stellen, wodurch er beim Sitzen zur Tür blickte und nicht zum Fenster hinaussehen musste. Außer Tisch und Sessel fanden hier nur noch ein Aktenschrank Platz sowie ein zweiter Sessel für Besucher. Diesen bot er nun Barbara an, während er selbst sich zwischen Tisch und Schrank durchquetschte und sich auf seinem Stuhl niederließ.