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Hauke Burmann, geboren 1976, studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Hamburg. Nachdem er bereits als Jugendlicher seine Vorliebe für das Schreiben entdeckte, übernahm er im Laufe einer rund zwanzigjährigen journalistischen Laufbahn verschiedene Funktionen als Redakteur bei einem Zeitungsverlag und in einer Agentur für Unternehmenskommunikation. Heute verantwortet er als Referent für Medienentwicklung eine Reihe von Publikationen für die Kunden einer großen Berufsgenossenschaft.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/andrey polivanov

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-511-4

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Für meine Familie

1

Wankend schleppte sich die Frau über die Straße. Außer ihr war an diesem stürmischen Abend keine Menschenseele in der Altstadt von Heide unterwegs. Der mächtige Orkan, der bereits am Nachmittag grollend von der Nordsee aufgezogen war, fegte nun mit voller Stärke über die Westküste hinweg. Die Bewohner der Stadt hatten sich schon am Nachmittag in die Häuser zurückgezogen und waren inzwischen längst unter ihre warmen Decken gekrochen.

Niemand sah die aschfahle Gestalt, die in ihrer blutverschmierten Kleidung – barfuß und ohne Jacke – durch die engen Gassen stolperte. Verzweifelt versuchte die Frau, den Orkanböen standzuhalten, die sie bei jedem Schritt umzuwerfen drohten.

Als sie schließlich an der Ecke zur Süderstraße angekommen war, kauerte sie sich in eine Häusernische und hielt für einen Moment inne. Da ihr schwindelig geworden war, lehnte sie sich gegen eine Wand und schloss die Augen. Kurz dachte sie darüber nach, ob sie nicht einfach beim nächsten Hauseingang klingeln und um Hilfe bitten sollte. Aber so schwer, wie ihre Verletzungen waren, hätten die Bewohner sie wahrscheinlich direkt ins Krankenhaus gebracht. Und das wäre vermutlich kein sicherer Ort für sie gewesen.

Als der maskierte Einbrecher sie in ihrer Wohnung heimgesucht hatte, hatte er nur eines im Sinn gehabt: Er war gekommen, um sie zu töten. Und dieses Ziel hatte er auch beinahe erreicht. Sie hatte im Wohnzimmer gesessen und ein Geräusch im Flur gehört. Als sie aufstehen wollte, um nachzusehen, stürzte sich auch schon dieser schwarze Schatten auf sie. Wortlos und ohne Vorwarnung stach er auf sie ein. Immer wieder durchfuhr sie der unvorstellbare Schmerz, als das große Messer in ihren Oberkörper eindrang.

Als der Angreifer sie schließlich in ihrem eigenen Blut liegend zurückgelassen hatte, war er wohl sicher gewesen, dass sie den Überfall nicht überleben würde. Tatsächlich glich es einem Wunder, dass sie es trotz der zahlreichen Verletzungen bis hierher geschafft hatte.

Es waren nur noch wenige hundert Meter bis zum Polizeirevier auf der anderen Seite des Marktplatzes. Aber allmählich wurde ihr klar, dass sie ihr Ziel nicht mehr erreichen würde. Ihre Kräfte schwanden rapide, und erneut wurde ihr schwarz vor Augen.

Als ihr Blick wieder etwas klarer wurde, sah sie in einiger Entfernung den St.-Georg-Brunnen am Südermarkt. Wenigstens den musste sie erreichen, wenn sie der Nachwelt einen kleinen Hinweis auf den Täter geben wollte.

Mit letzter Kraft schleppte sie sich vorwärts und ließ sich schließlich auf den runden Steinsockel sinken, der den Brunnen umgab. Sie blickte nach oben und sah über sich die Bronzefigur des heiligen Georg. Der Schutzpatron von Heide thronte hoch über ihr auf der Spitze des fünf Meter hohen Brunnens. Der tapfere Ritter kämpfte mit einem Drachen und stieß seine Lanze in dessen weit aufgerissenes Maul. Unzählige Male war sie schon an der bekannten Skulptur im Herzen der Stadt vorbeigekommen. Sie wusste, dass der Drache in dieser Darstellung symbolisch für das Böse in der Welt stand. Dennoch fühlte sie jetzt so etwas wie Mitleid mit dem sterbenden Fabelwesen. Der Wind, der inzwischen weiter aufgefrischt hatte und ohrenbetäubend heulte, klang für sie wie der Schmerzensschrei der gequälten Höllenkreatur. Sie wusste nun, wie es sich anfühlte, von einer scharfen Klinge durchbohrt zu werden. Es war eine grausame Art, ein Leben auszulöschen.

Allmählich wurde das Bild des Drachentöters über ihr unscharf. Auch ihr eigener Todeskampf ging nun langsam zu Ende. Erneut schloss sie die Augen. Diesmal war es für immer.

2

»Hey, Sie haben Ihr Wechselgeld vergessen!«, rief die junge Frau an der Kasse ihm aufgeregt nach.

»Schon in Ordnung. Behalten Sie’s einfach«, murmelte Kriminalhauptkommissar Andreas Nolde gedankenverloren, ohne sich noch einmal umzudrehen, und verließ mit einer abwinkenden Handbewegung das Tankstellengebäude.

Draußen vor der Tür blies ihm der mächtige Sturm entgegen. Schnell lief er zu seinem alten Opel Rekord. Das Kölner Kennzeichen verriet, dass das 1962er-Coupé nicht hier aus der Gegend stammte. Das Nummernschild drückte nicht nur Noldes Verbundenheit zu seiner rheinländischen Heimat aus, sondern erinnerte ihn auch an seinen Vater. Dieser war vor einem Jahr gestorben und hatte ihm den bildhübschen weißen Oldtimer mit dem blauen Dach vererbt. Der gut erhaltene Wagen, den sein Vater stets penibel gepflegt hatte, war vermutlich der einzige Ort auf der Welt, an dem er sich niemals eine Zigarette angezündet hätte.

Hätte er mehr von seiner Lebenszeit in dem Wagen verbracht, würde er jetzt unter Umständen noch leben, dachte Nolde.

Genau wie zuvor schon sein Großvater und ein Onkel, war sein alter Herr an Krebs gestorben.

Nachdenklich betrachtete Nolde die Zigarettenpackung, die er eben an der Tankstelle gekauft hatte. Im Grunde hatte er sich fest vorgenommen, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, um nicht der Nächste in der Familie zu sein, dem seine Sucht zum Verhängnis wurde. Schon in seiner frühen Teenagerzeit war er diesem Laster verfallen. Das war nun fast dreißig Jahre her. Die hartnäckige Bronchitis, von der er sich nur langsam erholte, zeigte ihm, dass er nicht ewig weiterhin dieses giftige Zeug inhalieren sollte. Sicher würde er dann auch etwas vitaler aussehen. Beim Klassentreffen vor zwei Wochen in Köln hatte ihn ein ehemaliger Mitschüler auf seine tiefen Augenringe angesprochen und mit ironischem Unterton gefragt, ob der Polizeijob in der norddeutschen Provinz so anstrengend sei.

»Dithmarschen ist halt nichts für Weicheier«, hatte er geantwortet und sich dabei so etwas wie ein Lächeln abgerungen.

Er hatte sich fremd gefühlt auf der Veranstaltung, bei der sich alle gegenseitig Handybilder von ihren perfekten Familien unter die Nase gehalten hatten. Bei ihm selbst lief es in dieser Hinsicht derzeit alles andere als gut. Entsprechenden Fragen wich er an jenem Abend aus, so gut er konnte. Er erzählte nicht, dass viele seiner Augenränder daher kamen, dass er seit Wochen kaum noch eine Nacht durchgeschlafen hatte. Der Grund dafür war, dass es zwischen ihm und seiner Freundin Daniela derzeit mächtig kriselte.

Bis vor eineinhalb Jahren hatten sie noch eine Fernbeziehung geführt. Dann hatte er den Job bei der Kripo Heide angenommen und war von Köln zu ihr an die Westküste gezogen. Inzwischen bereute er diesen Schritt, denn er musste sich eingestehen, dass ihre Liebe, die so innig und leidenschaftlich begonnen hatte, unter den Banalitäten des Alltags erschreckend schnell an Glanz verloren hatte.

Nach all den gegenseitigen Vorwürfen und unnötigen Streitereien der vergangenen Monate wusste Nolde, dass ein klärendes Gespräch zwischen ihnen unausweichlich war. Allerdings fürchtete er sich vor dem, was danach kam. Würde es ihnen gelingen, das Ruder noch einmal herumzureißen, oder würde ihnen anschließend alles mit einem riesigen Knall um die Ohren fliegen?

Bevor er weiter über die Konsequenzen einer solchen Aussprache nachdenken konnte, klingelte das Telefon in seiner Jackentasche. Er zog es heraus, tippte auf das Display und wusste augenblicklich, dass ein Anruf von dieser Nummer zu so später Stunde nichts Gutes bedeutete. Er wollte etwas sagen, wurde jedoch von einem hartnäckigen Hustenanfall übermannt. Es dauerte eine Weile, bis er einigermaßen normal sprechen konnte.

»Das hört sich aber gar nicht gut an. Bist du wirklich wieder fit?«, hörte er seinen Chef, Kriminalrat Norbert Bornhövel, fragen.

»Ja, kein Problem. Das klang vorige Woche noch viel schlimmer«, antwortete Nolde kurzatmig und mit heiserer Stimme. »Der Arzt hat jedenfalls gesagt, dass ich wieder arbeiten kann.«

»Na, du musst es ja wissen. Bist du zu Hause?«

»Ich komme von der Bandprobe. Was gibt’s denn?«

»Wenn ihr bei dem Wetter im Proberaum rumhängt, müsst ihr’s ja wirklich nötig haben. Also, da du anscheinend arbeitsfähig und sowieso unterwegs bist, kannst du gleich weiter zum Südermarkt fahren. Im Geschichtsbrunnen liegt eine tote Frau. Die Spurensicherung und Christians Vertretung sind schon da.«

»Vertretung, warum das denn? Ist der etwa auch krank?«

»Nein, aber seine Tochter Clarissa ist drei Wochen zu früh auf die Welt gekommen. Deshalb hat er seine Elternzeit bereits jetzt angetreten. Direkt nach der Geburt hat er sich mit Kind und Kegel ins Ferienhaus auf die Hallig Hooge zurückgezogen.«

»Kann ich verstehen. Unser letzter großer Fall war für die gesamte Familie Ehlers eine ziemliche Belastung. Aber das Timing für seine Auszeit ist echt ungünstig. Bei uns liegt doch momentan die halbe Truppe mit Grippe im Bett.«

»Ja, hier geht echt die Seuche um. Deswegen habe ich ja auch bei den Kollegen in Itzehoe um Unterstützung gebeten«, sagte Bornhövel. »Und wir haben Glück. Solange wir hier so stark unterbesetzt sind, wird dir eine fähige Ermittlerin zur Seite stehen. Sie hat in Itzehoe eine ziemlich beeindruckende Laufbahn hingelegt, und ihre Vorgesetzten sind voll des Lobes. Ich habe sie letzte Woche kennengelernt. Sie macht einen sehr engagierten Eindruck.«

»Klingt ja nach einer echten Powerfrau.« Nolde gab sich wenig Mühe, seinen abwertenden Unterton zu unterdrücken.

»Was ist denn bloß mit dir los?«, fragte Bornhövel gereizt. »Nörgelst hier rum, anstatt dich über die Unterstützung zu freuen. Hast du ein Problem mit Karrieretypen? Oder jagen dir alle starken Frauen Angst ein?«

Nolde wollte etwas zu seiner Verteidigung erwidern, doch Bornhövel ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

»Egal, was es ist. Solche Sperenzchen können wir uns hier momentan echt nicht leisten. Ich erwarte also, dass du vernünftig mit der neuen Kollegin zusammenarbeitest. Das ist sicher auch in Christians Sinn.«

Nolde merkte, dass sich das Gespräch mit seinem Vorgesetzten in keine gute Richtung entwickelte. Deshalb antwortete er in versöhnlichem Ton: »Ja, schon gut. Mach dir keine Sorgen. Wir werden schon miteinander klarkommen.«

»Das will ich auch hoffen. Und jetzt sieh zu, dass du zum Südermarkt kommst. Du willst doch nicht, dass unsere neue Vertretungskraft den Fall im Alleingang löst, während wir hier quatschen.«

***

Keine zehn Minuten später traf Nolde in der Altstadt von Heide ein. Die Spurensicherung hatte um den Fundort der Leiche bereits großräumig ein Absperrband gespannt, das nun wild im Sturm umherflatterte. Außerdem parkten einige große Polizeifahrzeuge direkt neben dem Brunnen, um den Tatort gegen neugierige Blicke der Anwohner abzuschirmen.

Nolde setzte sich eine Wollmütze auf und zog sie über die Ohren. Während er aus dem Wagen stieg, fischte er die Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche. Er zog einen Glimmstängel heraus und versuchte, ihn anzünden. Doch jedes Mal, wenn er sein Feuerzeug benutzen wollte, blies eine Orkanbö die Flamme wieder aus.

Da es in dem alten Opel Rekord keinen Zigarettenanzünder gab, steckte er die Packung fluchend wieder ein und ging hinüber zum St.-Georg-Brunnen, der von zwei hellen Scheinwerfern erleuchtet wurde, die von der Spurensicherung aufgestellt worden waren.

Das bekannte Denkmal mitten im Herzen der Stadt wurde auch »Geschichtsbrunnen« genannt, denn unterhalb der markanten Drachentöter-Figur waren acht große Relieftafeln angebracht. Auf diesen hatte der Bildhauer die erfolgreiche Schlacht der Dithmarscher Bauern im Jahr 1550 und weitere bedeutende historische Ereignisse der Region dargestellt.

Als Nolde näher kam, konnte er sehen, dass die Beine der Toten über den steinernen Rand des Brunnenbeckens hinausragten. Der leblose Oberkörper war nach hinten gekippt und lag nun rücklings im Wasserbecken des Brunnens. Nolde nickte kurz den Kollegen von der Spurensicherung zu und sah sich dann den Fundort der Leiche genauer an.

Zunächst fiel ihm auf, dass im Brunnen deutlich weniger Wasser war, als er erwartet hätte. Er wandte sich an einen Mann im weißen Overall. »Habt ihr hier eben das Wasser abgestellt und den Brunnen geleert?«

Der Kollege, der sich als Thorsten Borchard vorstellte, schüttelte den Kopf. »Nein, das wird doch immer im Herbst gemacht, damit der Frost die Leitungen nicht sprengt. Dass die Leiche trotzdem total durchnässt ist, liegt an dem ganzen Regenwasser, das sich im Brunnen gesammelt hat.«

»Aber das Wasser steht nicht so hoch, dass man darin ertrinken würde. Also ist die Frau vermutlich an ihren zahlreichen Stichverletzungen gestorben«, stellte Nolde fest. Der Oberkörper der Leiche war von Einstichen geradezu übersät. Große Mengen von Blut hatten den dünnen Stoff des T-Shirts vollkommen durchtränkt. Auch an den Armen und Händen befanden sich einige tiefe Schnitte. Nolde vermutete, dass es sich dabei um Abwehrspuren handelte. Die Frau hatte sich wohl gegen den Angriff gewehrt. Die genauen Einzelheiten des Tathergangs würden sie später gemeinsam mit der Rechtsmedizin versuchen zu rekonstruieren.

Nolde schätzte das Alter der Frau auf Anfang vierzig. Sie war relativ groß, schlank und hatte lange dunkelbraune Haare, die nass und strähnig in einer Wasserpfütze auf dem Boden des Springbrunnens lagen.

»Könnt ihr schon sagen, ob wir es hier auch gleichzeitig mit dem Tatort zu tun haben?«, fragte er.

»Nein, die Frau ist mit Sicherheit woanders getötet worden. Sonst hätten wir viel mehr Blut auf dem Boden gefunden.«

»Verstehe. Wissen wir denn schon, mit wem wir es zu tun haben?«

»Da fragst du am besten die neue Kollegin. Tamara Jürgens kann dir dazu sicherlich schon was sagen«, antwortete Borchard.

»Ach nee! Die ›Honigfalle‹ unterstützt uns? Na, dann kann der Täter ja gleich einpacken.«

»Ich ziehe es vor, wenn man mich einfach Tamara nennt«, hörte Nolde eine weibliche Stimme hinter sich sagen. Vor Schreck zuckte er zusammen und fuhr herum.

Er blickte in das attraktive Gesicht einer Frau, die etwa Ende dreißig war. Mit wachsamen Augen sah sie ihn durch ihre Brille im Retro-Design der sechziger Jahre hindurch an. Sie trug keinen Schmuck und war nur sehr dezent geschminkt. Ihre dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten und perfekt gestylt.

Nolde fragte sich unwillkürlich, wie die Frisur dem starken Westwind so gut standhalten konnte.

Tamara Jürgens’ burschikoser Look wirkte zwar etwas streng, aber keinesfalls bieder. Obwohl sie einen langen Wollmantel trug, konnte Nolde erahnen, dass sich darunter ein sportlich durchtrainierter Körper verbarg.

Diese Frau überlässt nichts dem Zufall, und schon gar nicht ihr Äußeres, dachte er. Neben dieser eleganten Erscheinung kam er sich mit seinem Drei-Tage-Bart, der abgewetzten Lederjacke, den ausgeblichenen Jeans und den verschlissenen Turnschuhen ein wenig schäbig vor.

»Ist was?«, fragte Tamara Jürgens und zog dabei die linke Augenbraue hoch. Vermutlich hatte er sie etwas zu lange wortlos angestarrt.

»Ich, äh … nein, nein. Alles in Ordnung«, stammelte Nolde und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Die ganze Situation war ihm ziemlich unangenehm.

Er kannte die Geschichte, die der Kollegin ihren Spitznamen eingebracht hatte, nur vom Hörensagen, und wusste auch nicht, wie viel davon der Wahrheit entsprach. Ihm war zu Ohren gekommen, dass Tamara Jürgens vor etwa zwei Jahren als verdeckte Ermittlerin maßgeblichen Anteil daran gehabt hatte, dass die Kripo Itzehoe einen Geldfälscherring hatte hochgehen lassen können. Dabei hatte sie sich – wie einst die legendäre Spionin Mata Hari – die riskante, aber in diesem Fall überaus erfolgreiche Agententaktik der »Honigfalle« zunutze gemacht. In Polizeikreisen erzählte man sich, dass es ihr mit weiblichem Charme und vorgespielter Zuneigung gelungen sei, den Kopf der Bande gekonnt um den Finger zu wickeln. Im Laufe der Zeit habe sie schließlich so viele Informationen über die Täter und die Hintermänner gesammelt, dass die ganze Organisation überführt werden konnte.

Der Ermittlungserfolg war damals groß durch die Presse gegangen, hatte Tamara Jürgens bei der Polizei aber nicht nur viel Anerkennung, sondern auch eine Menge Neid eingebracht. Vermutlich stammten daher die leicht abschätzigen Spitznamen wie »Honigfalle« oder »Mata Hari«.

Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es Nolde schließlich doch noch, seine Unsicherheit zu überwinden. Er streckte Tamara Jürgens die Hand entgegen. »Andreas Nolde von der Kripo Heide. Ich freue mich, dass Sie uns unterstützen. Sagen Sie, kennen wir uns nicht von einem früheren Fall?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber warum denn so förmlich, Herr Kommissar? Sollten wir nicht einfach Du sagen?«

Natürlich wusste sie, dass sie Nolde in Verlegenheit gebracht hatte. Aber ihr schien nichts daran zu liegen, die peinliche Situation für sich auszunutzen. Stattdessen begegnete sie ihm mit einer entwaffnenden Freundlichkeit, die augenblicklich die unangenehme Spannung zwischen ihnen löste.

Nolde nahm das Angebot nur allzu gern an. Er hatte Bornhövels Ermahnung noch gut im Ohr und kein Interesse daran, erneut von ihm gemaßregelt zu werden.

»Wenn du willst, kann die ›Honigfalle aus Itzehoe‹ dir jetzt deine Frage beantworten«, sagte Tamara mit einem verschmitzten Lächeln.

»Was für eine Frage?«, entgegnete Nolde, der sich entschied, die kleine Anspielung einfach zu übergehen.

»Du wolltest doch wissen, warum der Mörder die Frau ausgerechnet hier abgelegt hat.«

»Ja, natürlich. Die Frage drängt sich ja geradezu auf.«

»Sicher. Aber ich denke nicht, dass jemand die Frau hierher gebracht hat.«

»Du meinst, sie hat sich aus eigener Kraft zum Brunnen geschleppt?«, fragte Nolde verwundert.

Tamara nickte. »Sieht ganz so aus. Komm mit, und schau es dir selbst an.«

3

Nolde folgte Tamara, die mit schnellen Schritten quer über den Platz in Richtung Dreetörnhus ging. Das schicke Barockgebäude, dem die drei kleinen Türmchen über dem Giebel seinen Namen verliehen hatten, stammte aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Es war das älteste Wohnhaus in Heide und befand sich in unmittelbarer Nähe des Geschichtsbrunnens.

Vor dem historischen Gebäude kniete ein weiterer Mitarbeiter der Spurensicherung. Neben ihm stand noch ein Kollege, der mit einer Digitalkamera herumhantierte. Der Mann am Boden tupfte eine rote Substanz mit einem Wattestäbchen von den Pflastersteinen auf.

»Das da sind frische Bluttropfen«, sagte Tamara. »Wir haben noch weitere Blutspuren gefunden. Sie führen zu einem Haus hier ganz in der Nähe.« Sie nickte den beiden Männern kurz zu, ging dann aber zügig weiter.

Nolde, dem seine Erkältung noch immer in den Knochen steckte, hatte große Mühe, mit ihrem schnellen Tempo Schritt zu halten. Er schwitzte und spürte seinen hämmernden Pulsschlag bis zu den Schläfen. Um etwas Zeit zu gewinnen, fragte er schnaufend: »Wer hat die Leiche denn entdeckt?«

Tatsächlich verlangsamte Tamara ihre Schritte nun etwas. »Über die Notrufnummer ist vor etwa einer Stunde ein Anruf bei uns eingegangen. Ein Mann, der seinen Namen nicht genannt hat, sagte, er habe die Frau tot im Brunnen gefunden. Danach hat er direkt wieder aufgelegt.«

»War an der Stimme etwas auffällig?«

»Der Mann hat mit einem Handy telefoniert. Und während er sprach, blies um ihn herum dieser verdammte Sturm. Deshalb konnten die Kollegen leider kaum etwas verstehen. Mal sehen, ob unsere Techniker die Störgeräusche noch irgendwie rausfiltern können.«

»Kennen wir die Nummer des Handys?«, fragte Nolde.

»Ja, die haben wir. Aber die verrät uns leider nichts über den Anrufer.«

»Hat er ein Prepaidtelefon benutzt?«

»Nein, das nicht. Aber es war wohl das Handy der Toten.«

»Der Typ hat sich das Telefon dieser Frau geschnappt und uns dann damit angerufen?«

»Ja, so sieht’s aus. Es passt jedenfalls alles zusammen. Die Kollegen waren ziemlich schnell und haben herausgefunden, dass das Handy einer Frau namens Anna Reimann gehört. Sie wohnt hier gleich um die Ecke in einer Dachgeschosswohnung. Genau zu diesem Haus führen auch die Blutspuren, die wir gefunden haben.«

Sie waren von der Fußgängerzone in eine Seitengasse abgebogen. Über die enge Kopfsteinpflasterstraße gelangten sie zu einem verwinkelten Hinterhof, von dem aus man mehrere Hauseingänge erreichen konnte.

Tamara deutete auf ein kleines graues Gebäude mit windschiefem Spitzgiebel. Es sah aus wie ein Hexenhäuschen und passte nicht so recht zu den umliegenden Häusern, die allesamt deutlich größer waren. Das Haus hatte zwei separate Eingänge, einen im Erdgeschoss und einen im oberen Stockwerk. Dorthin führte eine stählerne Freitreppe, die vermutlich vor nicht allzu langer Zeit nachträglich eingebaut worden war.

Tamara steuerte auf die Treppe zu und ging voran, wobei sie jeweils zwei Stufen gleichzeitig erklomm. Am oberen Ende befand sich eine schmale Galerie, von der aus man zur Haustür gelangte.

Tamara blieb stehen und drehte sich zu Nolde um. Durch ein Sprossenfenster neben dem Eingang fiel fahles Licht aus dem Hausflur auf ihr Gesicht. Auf erstaunliche Weise schaffte sie es, auch zu dieser späten Stunde noch frisch und ausgeruht zu wirken.

»Die Leute von der Spusi müssten gleich fertig sein. Ich denke, dass wir uns die Wohnung jetzt mal anschauen können«, sagte sie. Bevor sie die Klinke der Eingangstür runterdrückte, wies sie noch auf das Namensschild.

»Außer ›A. Reimann‹ steht kein weiterer Name auf dem Schild. Unser Mordopfer scheint also allein gewohnt zu haben«, stellte Nolde fest, während er Tamara in die Wohnung folgte.

Als er sich in dem engen Flur umsah, fiel sein Blick auf ein Bild, das direkt gegenüber dem Eingang an der dunkel vertäfelten Wand hing. Es war ein Nachdruck des bekannten Gemäldes »Das letzte Abendmahl«, das Jesus am Vorabend seiner Kreuzigung im Kreise der zwölf Apostel zeigte.

Kaum dass sie die Wohnung betreten hatten, kam ihnen auch schon eine stämmige Frau im weißen Overall entgegen, die sich als Stefanie Hinrichs vorstellte. Sie war gerade dabei, ihre Gerätschaften einzupacken. Auch die übrigen Mitarbeiter der Spurensicherung hatten ihre Arbeit am Tatort bereits beendet und die Wohnung wieder verlassen. Da Stefanie Hinrichs’ Stimme für die einer Frau bemerkenswert rau und tief war, vermutete Nolde, dass auch sie sich gern mal eine Zigarette genehmigte.

»Jetzt schaut euch bloß mal diese Sauerei an! Den Teppich kann man komplett in die Tonne treten. Das kriegst du auch mit Shampoonieren nicht wieder hin«, sagte sie und deutete auf den blutüberströmten Fußboden.

Nolde nickte, ohne weiter auf die zynische Bemerkung einzugehen. Er wandte sich ab und warf einen Blick in das angrenzende Badezimmer. Im nächsten Moment bedauerte er diese Entscheidung.

Als er die Türschwelle übertreten hatte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Beim Anblick der dunkelroten Blutflecken auf den Fliesen überkam ihn ein Flashback, auf den er gänzlich unvorbereitet gewesen war. Eine Woge der Übelkeit stieg in ihm auf, und er spürte, dass er Schweißausbrüche bekam.

Die martialische Szenerie löste bei ihm unwillkürlich die Erinnerung an den letzten großen Mordfall der Kripo Heide aus. Die Ermittlung hatte ihm und seinen Kollegen im Frühjahr alles abverlangt. Damals hatte er die Wohnung eines Mannes betreten, der mit aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Badewanne gelegen hatte. Der Raum hatte ausgesehen wie ein Schlachthaus, sodass sich Noldes Magen bei dem Anblick umdrehte. Der Raum, in dem er jetzt stand, war in einem ähnlichen Zustand.

Er schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Allmählich gelang es ihm, die Übelkeit in den Griff zu bekommen.

»Sieht es in allen Räumen so schlimm aus?«, fragte er.

Stefanie Hinrichs schüttelte den Kopf. »Nein, das meiste Blut hat das Opfer in diesem Teil der Wohnung verloren. Wir können davon ausgehen, dass hier der eigentliche Angriff stattgefunden hat. Nebenan im Wohnzimmer sind allerdings auch einige Blutspuren. Seht es euch selbst an.«

Nacheinander gingen sie in den Nebenraum, der für ein Wohnzimmer nicht übermäßig groß war, aber im Giebel direkt unter den Dachschrägen noch eine zweite Ebene hatte.

Nolde erklomm die hölzerne Wendeltreppe und erreichte in etwa drei Metern Höhe einen gemütlichen kleinen Schlafbereich. Da dieser nicht für Menschen mit seiner Statur gebaut worden war, musste er den Kopf einziehen, um sich nicht an einem der wuchtigen Dachbalken zu stoßen.

Ihm fiel auf, dass das Bett ordentlich gemacht war. Das Opfer war also sicher nicht im Schlaf von dem Täter überrascht worden. Das niedrige Futonbett war mit farbenfroher Bettwäsche für eine einzelne Person bezogen.

Am Lesesessel, der direkt unter dem Dachfenster stand, konnte Nolde auch nichts Besonderes entdecken. Auffällig war allerdings, dass Anna Reimann sehr viele Bücher verschlungen haben musste. Das wurde vor allem im unteren Bereich des Wohnzimmers deutlich. Sämtliche Wände waren komplett mit Bücherregalen vollgestellt, die wenig Platz für Accessoires oder sonstige Möbel ließen.

Die Einrichtung bestand im Wesentlichen aus einem schwarzen Ledersofa, einem kleinen Glastisch, einem Fernseher und einer Musikanlage. Bis auf einige Blutflecken auf dem Fußboden deutete im Wohnzimmer nichts auf den Überfall hin.

»Das Ganze sieht auf den ersten Blick nicht nach einem Raubmord aus«, sagte Nolde, während er an den Regalen entlangging und die Buchrücken betrachtete.

Da er außer der Tageszeitung und verschiedenen Musikzeitschriften nicht besonders viel las und sich nur selten für ein Buch begeistern konnte, kamen ihm nur sehr wenige Titel bekannt vor. Hinzu kam, dass Anna Reimann sehr spezielle Lesevorlieben gehabt haben musste. Große Teile der Regale waren ausschließlich mit unterschiedlicher Fachliteratur gefüllt. Neben einigen kunsthistorischen Werken fand Nolde vor allem naturwissenschaftliche Bücher aus den Bereichen Chemie und Biologie.

»Das ist der ganze Jammer. Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel«, murmelte Tamara beim Anblick der Büchersammlung.

»Hat Mark Twain das gesagt?« fragte Nolde.

»Nein, Bertrand Russell. Ich glaube, je mehr jemand liest, desto mehr fängt er oder sie auch an, ›unumstößliche Wahrheiten‹ in Frage zu stellen.«

»Und um Antworten darauf zu finden, muss man anschließend noch mehr Lesen.«

»Genau, und dann ist früher oder später die ganze Wohnung vollgestopft mit Büchern.« Tamara wandte sich an Stefanie Hinrichs. »Gibt es in den anderen Zimmern noch besondere Spuren?«

»Nein, das nicht, aber wir haben im Bad etwas Interessantes entdeckt.« Aus ihrer Tasche zog sie einen durchsichtigen Plastikbeutel hervor, in dem ein kleines Fläschchen mit einer dunkelroten Flüssigkeit steckte. »Das stand auf dem Waschbecken.«

»Ist das Blut?«, fragte Nolde.

»Das können wir im Moment noch nicht sagen. Die Flasche ist nicht beschriftet. Wir müssen sie ins Labor schicken und sehen, was die Analyse ergibt.«

»Hast du eine Vermutung?«, fragte Tamara.

Wieder schüttelte Stefanie Hinrichs den Kopf. »Nein, keine Ahnung. Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich aus wie Blut. Aber um wirklich sicher zu sein, müssen wir erst die Laborergebnisse abwarten.«

»Hoffentlich haben wir es hier nicht mit einem Ritualmord oder so was zu tun«, sagte Nolde mit finsterer Miene.

»Du meinst, mit einem Täter, der das Blut seines Opfers in kleine Ampullen abfüllt, um es für okkulte Zwecke zu nutzen?«, fragte Stefanie Hinrichs.

»Möglich ist alles. Es gibt genügend durchgeknallte Typen da draußen, die zu so etwas in der Lage wären. Habt ihr sonst noch irgendetwas Auffälliges gefunden?«

»In der Tat«, sagte Stefanie Hinrichs und deutete auf die hinterste Ecke des Raumes.

Blutspuren auf dem Fußboden führten zu der Stelle. Nolde und Tamara folgten den Spuren, die direkt vor einem der Bücherregale endeten. Während sich überall sonst ein Buchrücken an den anderen reihte, befand sich hier direkt auf Augenhöhe eine auffällige Lücke. Dort stand eine etwa vierzig Zentimeter große Porzellanfigur.

»Eine schwarze Madonna!«, entfuhr es Tamara. »Und seht euch das an: Jemand hat ihr ein kleines Schwert in die Brust gesteckt und ihr außerdem noch blutrote Tränen ins Gesicht gemalt.«

Nolde räusperte sich. »Du bist wohl nicht katholisch, was?«

»Ich bin schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten. Und mit dem Papst haben die meisten Leute hier an der Westküste sowieso nicht viel am Hut. Aber bei dir als Rheinländer hat das Wort des Vatikans vermutlich noch Gewicht, oder?«

»Zumindest in jungen Jahren. Ich war erst Messdiener in meinem Heimatdorf im Bergischen Land, später bin ich dann in Köln auf ein katholisches Gymnasium gegangen. Mehr muss ich nicht sagen.«

»Das volle Programm also. Da kann ich nicht mithalten. Dann erzähl mal. Was sagt dir diese Figur?«

»Also, ich sehe zumindest auf den ersten Blick, dass dies hier keine schwarze Madonna ist.« Nolde ging noch etwas näher an das Regal heran und zeigte auf den Kopf der Skulptur. »Dann wäre nämlich nicht nur ihre Kleidung schwarz, sondern vor allem auch das Gesicht. Und das ist – ebenso wie ihre verschränkten Hände vor der Brust – schneeweiß. Das Schwert in ihrer Brust gehört tatsächlich dort hin, denn wir haben es hier mit einer ›Mater dolorosa‹ zu tun.«

»Was ist das denn?«, fragte Stefanie Hinrichs.

»Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt ›schmerzensreiche Mutter‹. Die Heilige wird hier als trauernde Mutter dargestellt. Das Schwert in ihrer Brust symbolisiert den Schmerz, den sie wegen der Leiden ihres Sohnes, Jesus Christus, empfindet. Normalerweise –«

Nolde kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Er wurde von einem gellenden Schrei unterbrochen.

4

»Was wollen Sie von mir? Verschwinden Sie aus meinem Zimmer!« Die Augen der alten Frau waren angsterfüllt. Argwöhnisch lugte sie über die Bettdecke hinweg, die sie sich bis unter die Nase hochgezogen hatte. Ihre langen schneeweißen Haare standen wirr vom Kopf ab. Sie hatte winzige Schweißperlen auf der Stirn, und man konnte sehen, dass sie sich unruhig im Schlaf umhergewälzt hatte.

»Es ist alles gut, Frau Holmkvist. Sie haben nur schlecht geträumt.«

»Nehmen Sie Ihre Hände von mir! Ich kenne Sie nicht. Wer zur Hölle sind Sie, und was wollen Sie von mir?« Mit einer ruckartigen Bewegung schüttelte sie den Arm ab, den die junge Frau ihr beruhigend auf die Schulter gelegt hatte.

»Ich bin Lisa Eckström, die neue Pflegerin. Dies ist meine erste Nachtschicht in diesem Haus, deshalb kennen wir uns noch nicht. Wie wäre es, wenn Sie erst mal einen Schluck Wasser trinken?«

Die alte Frau zögerte eine Weile. Dann griff sie schließlich doch nach dem Glas. Während sie trank, sah sie sich irritiert im Raum um, der lediglich von einer kleinen Nachttischlampe erleuchtet wurde.

»Wo sind wir hier? Bin ich wieder in Deutschland?«

»Nein«, sagte Lisa Eckström. »Wir sind in Schweden, ein paar Kilometer nördlich von Helsingborg. Das hier ist die Seniorenresidenz ›Solsken‹. Soweit ich weiß, leben Sie schon seit einigen Jahren bei uns.«

Die alte Frau nickte gedankenverloren. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich so durcheinander bin. Ich hatte einen furchtbaren Traum.«

»Das habe ich gehört. Sie haben im Schlaf geschrien. Deswegen bin ich schnell zu Ihnen gekommen.«

»Sie sprechen aber sehr gut Deutsch«, sagte die alte Frau, wobei ein zaghaftes Lächeln über ihr Gesicht huschte.

Lisa erwiderte das Lächeln. »Ich habe ein paar Jahre in Deutschland gelebt, und wie es aussieht, klappt das mit der Aussprache noch immer ganz gut. Ich hörte, wie aufgebracht Sie waren und dass Sie im Schlaf Deutsch sprachen. Deshalb hielt ich es für besser, Sie ebenfalls in Ihrer Muttersprache anzusprechen.«

Nun zeigte die alte Frau zum ersten Mal ein richtiges Lächeln. »Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen. Ich habe den größten Teil meines Lebens hier in der Gegend verbracht, und ich liebe die schwedische Sprache. Aber in jüngster Zeit träume ich wieder sehr häufig auf Deutsch.«

»Das alte Problem«, antwortete Lisa Eckström. »›Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.‹«

Als die Seniorin das bekannte Zitat vernahm, begannen ihre Augen zu leuchten. »Wie schön, dass jemand in Ihrem zarten Alter heute noch Heinrich Heine kennt.«

»Ach, sagen Sie doch einfach Lisa zu mir.«

»Gern, dann nenn du mich bitte Johanna.« Sie streckte ihre linke Hand aus und fügte entschuldigend hinzu: »Die andere kann ich seit dem verdammten Schlaganfall leider nicht mehr bewegen.«

»Kein Problem«, antwortete Lisa lächelnd und ergriff die Hand ebenfalls mit ihrer Linken. »Ich habe in der Schulzeit sehr viele von Heines Werken gelesen, darunter natürlich auch die berühmten ›Nachtgedanken‹. Die Zeile kam mir eben in den Sinn, da der Gedanke an Deutschland bei dir einen Alptraum ausgelöst hat.«

»Ja, das stimmt«, sagte Johanna nachdenklich. »Ich erlebe diesen Traum schon seit einiger Zeit. Es ist immer der gleiche, und ich träume ihn fast jede Nacht. Oft wache ich dann davon auf. Ich wusste nie so recht, was mir mein Unterbewusstsein damit sagen wollte. Aber jetzt, wo du das Gedicht erwähnst …«

»Ich hatte das nur so dahergesagt.«

»Ich weiß, aber du scheinst da ein ziemlich gutes Gespür zu haben. Denn die ›Nachtgedanken‹ passen tatsächlich ganz gut zu meiner Situation. Denn weißt du, worum sich Heine damals am meisten Sorgen gemacht hat, als er die Zeilen im Pariser Exil schrieb?«

Lisa schien eine Weile nachzudenken. Dann platzte es aus ihr heraus: »Er dachte an seine alte Mutter im fernen Norddeutschland, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.«

Johanna nickte. »So geht es mir auch. Ich hatte ebenfalls schon sehr lange keinen Kontakt mehr zu meinem Sohn. Und wie jede Mutter, die ihr Kind nicht in ihrer Nähe hat, denke ich sehr viel an ihn und mache mir seinetwegen Sorgen.«

»Ihm geht es bestimmt genauso«, sagte Lisa, die nun auch die entsprechende Gedichtpassage im Wortlaut wiedergeben konnte: »›Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr, wenn nicht die Mutter dorten wär. Das Vaterland wird nie verderben, jedoch die alte Frau kann sterben.‹«

Johannas Miene trübte sich. »An dieser Stelle muss ich Heine leider widersprechen.«

»Wegen der Passage über das Vaterland?«

Johanna nickte. »Du bist genau wie mein Sohn zu jung, um das alles miterlebt zu haben. Und Heinrich Heine ist das ganze Unheil auch erspart geblieben, der ist ja früh genug gestorben. Aber ich habe in jungen Jahren hautnah erfahren, wie schrecklich verdorben mein Vaterland damals war. Da hat sich der große Dichter leider vollkommen geirrt.«

»Haben dir die Erinnerungen an den Krieg den Schlaf geraubt?«, wollte Lisa wissen.

»Ach ja, ohne den verdammten Krieg wäre sicher auch in meinem Leben so manches anders gekommen. Dann würde ich jetzt nicht hier sitzen und so viel über all die seltsamen Ereignisse nachdenken. Und sicher hätte ich auch nicht diesen schrecklichen Alptraum, der mich immer wieder heimsucht.«

»Wovon genau handelt denn der Traum?« Lisa rückte ihren Stuhl näher an Johannas Bett heran. Es war klar erkennbar, dass ihre Neugierde geweckt war.

Johanna blickte zum Wecker auf ihrem Nachtschrank. Es war kurz vor fünf Uhr morgens. »Wenn ich dir davon erzähle, wird das eine ziemlich lange Geschichte. Du hast bestimmt Besseres zu tun, als dir um diese Uhrzeit Schilderungen über menschliche Abgründe der allerschlimmsten Sorte anzuhören.«

Lisa machte eine abwinkende Handbewegung. »Meine Schicht endet erst in einer Stunde, und zu Hause wartet derzeit sowieso keiner auf mich. Ich bleibe gern noch ein bisschen und höre dir zu, wenn ich darf.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich dich damit belasten soll. Manche Dinge sollte man doch lieber für sich behalten.«

Erneut ergriff Lisa Johannas Hand. »Also, ich habe das Gefühl, dass dich etwas ziemlich beschäftigt. Und wenn du davon Nacht für Nacht Alpträume bekommst, ist es sicher besser, du redest dir die Dinge mal von der Seele.«

Johanna nickte nachdenklich. Dann gab sie sich einen Ruck. »Womöglich hast du recht. Ich habe die Sache schon viel zu lange mit mir selbst ausgemacht. Und das ist nicht gut, denn mein Traum sagt mir, dass früher oder später etwas Grauenhaftes geschehen wird.«

5

»Oh mein Gott, was ist denn hier passiert?«

Die schrille Frauenstimme ging Nolde, Tamara Jürgens und Stefanie Hinrichs durch Mark und Bein. Alle drei fuhren vor Schreck zusammen und drehten sich um. Im Flur stand eine ältere Dame, die mit weit aufgerissenen Augen auf den blutbefleckten Boden starrte.

Nolde reagierte als Erster und eilte zu der Frau, die vor Aufregung zitterte. Er war gerade noch rechtzeitig bei ihr, ehe ihr zierlicher Körper in sich zusammensackte. Nolde bekam ihre Schultern zu fassen, und es gelang ihm, die Frau aufzufangen.

Einen Augenblick später war auch Stefanie Hinrichs da, um Nolde zu unterstützen. »Was ist mit ihr?«, fragte sie.

»Ich glaube, sie hat einen Schwächeanfall. Können wir sie dort drüben auf die Couch legen?«

Stefanie Hinrichs nickte. »Kein Problem, wir sind hier mit der Spurensuche durch.«

Gemeinsam trugen sie die Frau ins Wohnzimmer. Nolde schätzte ihr Alter auf Ende sechzig. Das verrieten ihm vor allem ihre Hände, die bereits zahlreiche Falten und Altersflecken aufwiesen. Ansonsten hatte sie es bemerkenswert gut geschafft, die Spuren des Älterwerdens zu verbergen. Mit Unterstützung der Kosmetikindustrie war es ihr gelungen, etliche Lebensjahre erfolgreich zu kaschieren. Auffällig war außerdem ihre überaus gepflegte Gesamterscheinung. Sie trug goldene Ohrringe und eine große Perlenkette. Ihre langen hochgesteckten Haare, die von Natur aus sicherlich schon vollständig ergraut waren, hatte sie mit einem rötlichen Braunton gefärbt. Auch ihre Kleidung zeugte von sicherem modischem Geschmack und war – passend zur Jahreszeit – in herbstlichen Beige- und Brauntönen gehalten.

Während Nolde ihren Oberkörper hielt, drang ihm außerdem ein angenehm dezenter Parfümduft in die Nase. Gemeinsam mit Stefanie Hinrichs legte er die Frau behutsam auf das Sofa. Unterdessen hatte sich Tamara bereits einen der durchsichtigen Plastikbeutel geschnappt und presste ihn der Bewusstlosen vorsichtig auf Mund und Nase. Es dauerte nicht lange, bis diese die Augen wieder öffnete und benommen von einem zum anderen blickte. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, aber Stefanie Hinrichs schob sie mit sanftem Druck wieder nach unten.

»Es ist besser, wenn Sie erst einmal liegen bleiben. Sie sind eben ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich haben Sie hyperventiliert. Wir wollen nicht, dass Sie uns gleich wieder zusammenklappen«, sagte Tamara in beruhigendem Tonfall.

Tatsächlich wirkte die Frau nun nicht mehr ganz so panisch wie eben, aber in ihrem Gesichtsausdruck spiegelten sich nach wie vor großes Entsetzen und Angst wider. Erneut flogen ihre Augen unruhig von einem zum anderen. Als sie Anstalten machte, etwas zu sagen, nahm Tamara ihr die Tüte vom Gesicht.

»Wer … wer sind Sie, und … was machen Sie hier?«, stieß die Frau in einem undeutlichen Stakkato hervor. »Und … wo kommt all das Blut … auf dem Fußboden her? Ist Frau Reimann … etwas passiert?«

»Wir sind von der Kripo Heide. Wir werden Ihnen alles erklären, aber sagen Sie uns doch bitte erst einmal, wer Sie sind«, antwortete Nolde, der sich ebenfalls bemühte, in möglichst ruhigem Ton zu reden.

Tatsächlich ließ sich die Frau allmählich beschwichtigen. Ihre Atmung verlangsamte sich deutlich, sodass sie nun auch flüssiger sprechen konnte. »Ich heiße Elisabeth Falkner. Mir gehört dieses Haus. Ich habe die obere Etage vor drei Jahren an Frau Reimann vermietet. Sie ist so eine nette Frau. Würden Sie mir jetzt bitte sagen, was mit ihr passiert ist?«

Tamara griff in ihre Manteltasche und zog ihr Handy hervor. Sie überlegte kurz, ob sie Elisabeth Falkner den Anblick einer Leiche zumuten sollte. Doch dann rief sie das Fotoverzeichnis auf und hielt ihr das Smartphone vors Gesicht. Auf dem Display war ein Bild vom Fundort der Toten zu sehen. »Kennen Sie diese Frau?«

Elisabeth Falkner richtete sich auf der Couch auf und kramte eine Lesebrille hervor. Als sie das Foto sah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. »Oh, mein Gott, die arme Frau Reimann … Ist sie etwa tot?«

Tamara nickte.

»Das ist ja furchtbar. Wer macht denn nur so etwas Schreckliches?«

»Das wüssten wir auch gern«, sagte Nolde. »Und möglicherweise können Sie uns dabei helfen. Wissen Sie, ob Ihre Mieterin Feinde hatte?«

Elisabeth Falkner sah ihn ungläubig an. »Feinde? Nein, nicht dass ich wüsste. Anna Reimann war ein herzensguter Mensch und eine überaus sympathische Frau. Womit um alles in der Welt hat sie das bloß verdient, dass jemand ihr so etwas antut?«

»Wir werden alles unternehmen, um das herauszufinden«, versicherte Nolde. »Auffällig ist natürlich nicht nur das äußerst brutale Vorgehen des Täters, sondern auch die Tatsache, dass sie im St.-Georg-Brunnen gefunden wurde. Haben Sie eine Vermutung, warum ihr letzter Weg sie ausgerechnet dorthin führte?«

Elisabeth Falkner überlegte eine Weile, und es sah schon aus, als fiele ihr dazu nichts ein. Doch kurz bevor Nolde die nächste Frage stellen wollte, antwortete sie: »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie stammt aus einer ziemlich religiösen Familie. Es ist natürlich reine Vermutung, aber möglicherweise hat sie in den letzten Momenten ihres Lebens den Beistand des heiligen Georg gesucht.«

»Das ist interessant«, sagte Tamara und deutete auf die Ecke des Raums. »Wir haben nämlich dort hinten im Regal eine Marienfigur gefunden, an der sich ebenfalls Blutspuren befinden. Wissen Sie eventuell, was es damit auf sich hat?«

Elisabeth Falkner sah zum Regal hinüber. »Diese Skulptur hatte sie schon, als sie vor drei Jahren einzog. Marienfiguren sind ja hier bei uns ziemlich selten. Deshalb habe ich sie damals direkt darauf angesprochen. Sie sagte, es sei ein Geschenk ihrer Eltern gewesen. Die waren schon ziemlich alt und lebten in Bayern. Deshalb konnten sie ihr in der schweren Zeit, die sie zu jener Zeit erlebt hat, nicht persönlich beistehen. Aus diesem Grund haben sie ihr die Figur geschenkt. Sie sollte ihr Trost spenden. Die trauernde Maria scheint im katholischen Raum ein weitverbreitetes Motiv zu sein.«

»Ja, das ist richtig. Aber warum hatte Anna Reimann eine schwere Zeit?«, hakte Nolde nach.

»Na, weil doch ihr Mann gestorben war. Deshalb ist sie ja hier eingezogen. Ihr Haus war für sie allein viel zu groß, und alles erinnerte sie dort an ihn. Ich hatte einige Jahre zuvor selbst meinen Mann verloren und konnte daher gut nachvollziehen, wie sie sich fühlte.«

»Woran ist ihr Mann denn gestorben?«, fragte Tamara.

»Sie hat mir erzählt, dass er mit seinem Segelboot draußen auf dem Meer verunglückt ist, nachdem er von einem Sturm überrascht worden war. Die Saison ging zu Ende, und er wollte noch einen letzten Törn machen, bevor das Boot an Land geholt und winterfest gemacht werden sollte. Als es passierte, war das Wetter vermutlich genauso furchtbar wie heute Abend. Dabei muss er dann über Bord gegangen und ertrunken sein.«

»Wo genau ist das passiert?«, fragte Nolde.

»Das Schiff hatte seinen Liegeplatz im Meldorfer Hafen. Gefunden wurde es ganz in der Nähe, nicht weit vom Speicherkoog entfernt. Es war führerlos an der Küste von Helmsand angetrieben worden. Ein Wattführer hatte es dort auf der Halbinsel entdeckt. Von Matthias Böhm selbst fehlte jede Spur. Ihre Kollegen von der Wasserschutzpolizei gingen davon aus, dass er im Sturm über Bord gegangen und ertrunken ist.«

»Der Mann hieß Böhm?«, fragte Nolde verwundert. »Wissen Sie, warum Anna Reimann und ihr Ehemann nicht denselben Familiennamen trugen?«

»Soweit ich weiß, hieß sie ursprünglich auch Böhm. Erst als ihr Mann einige Monate nach dem Bootsunglück für tot erklärt worden war, hat sie sich entschieden, ihren Mädchennamen wieder anzunehmen. Vermutlich hoffte sie, dass ihr das als Witwe dabei helfen würde, mit der schrecklichen Sache abzuschließen und einen Neuanfang hinzubekommen.«

»Ich kann mich an den Vorfall in der Meldorfer Bucht erinnern«, sagte Tamara. »Nachdem das gekenterte Boot an Land gespült worden war, wurde eine große Suchaktion eingeleitet. Aber für den Mann kam wohl jede Hilfe zu spät. Allerdings ist die Leiche des Skippers nie gefunden worden.«

Elisabeth Falkner nickte. »Das war damals das Schlimmste für die arme Witwe. Sie hatte nie die Möglichkeit, ihren Mann vernünftig zu beerdigen und mit der Sache abzuschließen. Aus diesem Grund hat sie es vermutlich auch nicht wirklich geschafft, über seinen Tod hinwegzukommen. Das Ganze hat sie so fertig gemacht, dass sie am Ende dann auch ihrem Job in der Schule nicht mehr nachgehen konnte. Deshalb hat sie schließlich das gemeinsame Haus verkauft und ist hier bei mir in die kleine Dachgeschosswohnung gezogen.«

»Sie war Lehrerin?«, hakte Nolde nach.

»Ja, hier am Gymnasium. Ich glaube, sie hat Naturwissenschaften unterrichtet. Chemie und Biologie, wenn ich mich recht erinnere.«

»Daher also die vielen Fachbücher.« Nolde deutete auf die vollen Regale. »Sie muss sich aber auch sehr für Kunst interessiert haben.«

»Ja, das stimmt. Das war schon immer eine Leidenschaft von ihr. Sie hat damals auch eine Maltherapie gemacht, um ein Ventil für ihren Kummer zu haben. Ich glaube, damit hat sie sich tatsächlich immer mehr aus ihrer Depression befreit. Da sie sich so sehr für das Malen begeisterte, hatte sie sogar ein Kunststudium begonnen. So wie es aussah, hat die Malerei ihr dabei geholfen, mit ihren privaten Problemen fertigzuwerden. Außerdem hatte sie zum Glück ja noch ihren Schwager. Der hat ihr in dieser schweren Zeit sehr beigestanden. Sie teilten ja das gleiche Schicksal, denn sie hatten beide einen geliebten Menschen verloren.«

»Der Bruder des vermissten Seglers hat also einen engen Kontakt zu seiner Schwägerin gepflegt?«, fragte Tamara.

»Ja, soweit ich das beurteilen kann, hat er sich nach dem tragischen Unfall ihres Mannes sehr fürsorglich um sie gekümmert. Er war oft bei ihr, und ich glaube, das hat ihr sehr gutgetan.«

»Wissen Sie, wie der Mann heißt und wo wir ihn finden können?«, fragte Nolde.

»Ihr Schwager heißt Stefan Böhm. Er arbeitet hier in Heide in einem Ingenieurbüro. Seine Privatadresse kenne ich leider nicht.«

»Die lässt sich herausfinden«, sagte Tamara. »Können Sie uns noch etwas über andere Bekannte von Anna Reimann sagen?«

Elisabeth Falkner nickte. »Außer von ihrem Schwager hatte sie noch häufig Besuch von einer guten Freundin. Die beiden waren früher Arbeitskolleginnen am Gymnasium. Sie hat sich mir einmal als Maren Kaiser vorgestellt. Ich glaube, sie wohnt ebenfalls hier in Heide. Soweit ich weiß.«

6

Lisa saß an Johannas Bett und blickte sie interessiert an. »Warum bist du dir so sicher, dass etwas Schlimmes passieren wird?«

Johanna deutete ein dezentes Lächeln an. »Ich habe im Laufe meines langen Lebens gelernt, sorgsam auf meine innere Stimme zu hören. Und wenn man Nacht für Nacht ein und denselben Traum immer wieder erlebt, dann passiert das mit Sicherheit nicht ohne Grund. Ich spüre genau, dass mein Unterbewusstsein mir auf diese Weise etwas mitteilen will. Möglicherweise gibt es da eine Sache, die ich vor meinem Tod noch dringend erledigen sollte.«

»Du sagtest, du träumst jede Nacht vom Tod.«

Johanna senkte den Blick und nickte. »Kannst du mit dem Namen ›Charon‹ etwas anfangen?«

Lisa warf ihr einen fragenden Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Das ist eine Figur aus der griechischen Mythologie. Charon ist ein greiser Fährmann, der die Verstorbenen mit seinem Boot über den Totenfluss Acheron bringt. Am anderen Ufer befindet sich der Eingang zum Hades, der Unterwelt.«

»Und in deinem Traum bist du auf dieser Fähre?«