Catch me, if I fall

Catch me, if I fall

Sommer in Colins Creek

Juli Larsson

OBO e-Books

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Bücher von Juli Larsson

Über den Autor

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1

Laufen lernen

Ich war ungefähr sieben Jahre, als ich das erste Mal die große alte Turnhalle betrat, um zum Ballettunterricht zu gehen.

Wenn ich sagen würde, dass ich mich an dieses erste Mal erinnere, wäre es gelogen, denn diesem einen Mal folgten unzählige weitere und in meiner Erinnerung verschwimmen sie alle ineinander. Aber ich weiß, dass dieses Gefühl, das ich beim ersten Betreten der Halle hatte, blieb. Diese Ehrfurcht, diese Aufregung, diese Sehnsucht, obwohl ich nicht einmal wusste, wonach.

Auch Jahre, Jahrzehnte später blieb es, und ich wusste, es würde mich bis an mein Lebensende begleiten. Diese alte Turnhalle veränderte mein Leben. In ihr lernte ich laufen. Nein, natürlich nicht wirklich laufen, so wie man es als Kleinkind lernt. Aber in ihr lernte ich, was für mich zum Laufen wurde.

Ich lernte, zu tanzen.

In dieser alten Turnhalle fing es an.

Noch immer nahm ich diesen besonderen Duft nach Holz, Schweiß, Farbe und dem Staub wahr, der im Gemäuer und unter den offenen Dachbalken hing.

Ein ganz eigenes Gefühl durchströmte mich, wenn ich die schwere hölzerne Flügeltür aufschob. Ich sah die Schnitzereien längst vergangener Zeiten, übergestrichen in verschiedenen Grautönen. Lack, der durch die Jahre bröckelig geworden war, winzig kleine Wurmlöcher, Risse im trockenen Holz.

Wenn ich die Tür öffnete, atmete ich tief ein. Jedes Mal. Ich spürte, wie ich ankam. Es war ein „nach Hause kommen“.

Mein Blick fiel auf die Ballettstangen, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren, und eine merkwürdige Aufregung durchzog mich. Ich schaute hoch zu der schier unendlich weit entfernten Hallendecke, sah die dicken Balken des Fachwerks.

Später, als ich größer war, lernte ich, dass diese alte Turnhalle unter Denkmalschutz stand. Damals schon war sie über hundert Jahre alt. Ein Jahrhundert. Ein Jahrhundert, das seine Spuren hinterlassen und dem Gebäude einen ganz besonderen Charme verliehen hatte.

Ich erinnerte mich, wie stickig es in den Sommermonaten war. Wie kalt, wenn der Winterwind durch die Ritzen im Gemäuer zog.

Viele Stunden habe ich dort verbracht und getanzt. Schweiß lief in Strömen, während wir unsere Übungen an der Stange machten. Plié, Relevé, Grand battement jeté …

Ich war sieben Jahre alt, als ich meine erste Ballettstunde besuchte. Die ganzen französischen Begriffe klangen fremd in meinen Ohren – allerdings musste ich zu meiner Schande gestehen, dass ich auch nach Jahrzehnten des Balletts noch immer meine Probleme damit hatte. Es war wohl einfach nicht meine Sprache. Aber die Sprache war mir immer unwichtig. Wichtig war nur der Tanz. Das Gefühl, mich komplett mit Leib und Seele der Musik hinzugeben.

Später kamen diverse andere Arten des Tanzes hinzu. Von Hip-Hop bis Stepptanz, von Rock’n’Roll bis Walzer – ich habe alles ausprobiert. Und ich habe es geliebt! Ich wusste schnell, ohne das Tanzen konnte ich nicht leben. Und mein Tanz lebte durch mich. Es klang vielleicht etwas melodramatisch, aber das ist es, was ein Tänzer empfindet.

Tanzen ist kein Sport – Tanzen ist ein Gefühl.


Die ersten Ballettstunden verbrachte ich an einem Platz in der Mitte der Stange. Vor jeder Stunde stellte unser Ballettlehrer uns auf. Ein, aus meinen kindlichen Augen betrachtet, alter Mann mit schlohweißen Haaren, der sich kerzengerade hielt. Schweigend schob er uns an der langen Ballettstange hin und her. Schaute immer wieder nachdenklich die Reihe der Kinder entlang, ließ uns tauschen, bis wir alle zu seiner Zufriedenheit standen. Ich blieb an meinem Platz in der Mitte. Schnell begriff ich, warum das so war. Während der Übungen wechselte die Blickrichtung. Vorn wurde zu hinten und hinten zu vorn. Er hatte durch sein Verteilen der Plätze dafür gesorgt, Anfänger und Fortgeschrittene zu mischen, damit man im Notfall immer jemanden hatte, an dem man sich orientieren konnte. Schlau! Dennoch wollte auch ich einmal ganz vorn oder ganz hinten stehen dürfen, dort, wo die besten Ballettschüler ihren Platz hatten.

Es dauerte nicht lange und ich wanderte an dieser Stange. Weg von der Mitte. Aus der Anfängerin, die ich einmal gewesen war, wurde eine Fortgeschrittene. Es war nicht so, dass ich besonders hart dafür trainierte, nein, wie der Zufall – oder meine Genetik – es so wollte, war ich überdurchschnittlich beweglich. Ein nicht zu verachtender Vorteil im Ballett, obwohl es natürlich längst nicht alles bedeutete. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur Talent.

Schnell wurde mir klar, was man als Allererstes lernt. Es war kein Plié, keine Pirouette. Nein, es war etwas ganz anderes.

Disziplin.

Alles stand und fiel mit der Disziplin.

Es war egal, ob die Muskeln schmerzten, ob die Luft vor Anstrengung knapp wurde. Es war egal, ob ich mir Blasen an den Füßen getanzt hatte – ich lernte, den Schmerz zu ignorieren. Ihn zu kontrollieren und diese Kontrolle niemals aufzugeben.

Bis heute hallten die Worte meines Ballettlehrers in mein Ohr:

„Wenn du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, dann kannst du noch!“

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Worte hörte, aber sie haben sich eingebrannt und ich konnte sie nie vergessen.

Nach ungefähr zwei oder drei Jahren ging mein Ballettlehrer in Rente und die Gruppe löste sich auf. Dennoch ist dieser Satz bis heute ganz tief in mir verankert.

In meinem Herzen.

In meiner Seele.

„Wenn du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, dann kannst du noch!“

Und nun?

Nun stand ich hier. Auf dem Fußweg gegenüber dieser alten Turnhalle. Mittlerweile existierte sie nicht mehr. Ein Feuer hatte sie vor anderthalb Jahren dem Erdboden gleichgemacht. Nur der leere, vom Unkraut überwucherte Platz mit dem Bauzaun drumherum erinnerte daran, dass hier, mitten in der Stadt, einmal eine uralte Turnhalle gestanden hatte. Doch das Gefühl war dasselbe. Als wäre diese Halle noch dort, auf der anderen Straßenseite.

Die Halle, in der ich gelernt hatte, zu laufen.

Und ich?


Ich dachte an die Worte meines Ballettlehrers, die mich so geprägt hatten und nach denen ich bis heute lebte. Diese Worte waren es, die mich antrieben und die mich dorthin gebracht hatten, wo ich heute war.


Ich wusste nicht mehr, wie lange ich dort stand. Ich bekam auch nicht mit, ob mich vorbeikommende Fußgänger merkwürdig anschauten. Mit Sicherheit war es so. Ich musste ein komisches Bild abgeben, wie ich dort stand und bewegungslos auf das leere Grundstück starrte. Erst ein leises Wimmern schaffte es, mich in die Wirklichkeit zurückzuholen. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich senkte meinen Blick zu dem warmen Bündel vor meiner Brust. Mein Baby rekelte sich im Halbschlaf in ihrem Tragetuch vor meinem Bauch. Zärtlich streichelte ich Paulas Rücken und sofort beruhigte sie sich. Dennoch wurde es Zeit zu gehen. Nicht mehr lang, dann würde sie erwachen und Hunger bekommen.

Erschöpft ließ ich mich einige Stunden später auf mein Sofa fallen, legte den Kopf gegen die Rückenlehne und schloss die Augen. Mit angehaltenem Atem lauschte ich, ob das Babyfon auf dem Couchtisch einen Laut von sich gab. Erst nach ein paar Minuten atmete ich erleichtert auf. Meine Kleine schien tatsächlich zu schlafen. Endlich!

Ich spürte, wie ich mich mehr und mehr entspannte, wie ich schläfrig wurde, und riss schnell die Augen auf. Ich durfte jetzt nicht einschlafen. Auch wenn ich so müde war, dass ich gerade nichts lieber täte. Doch ich hatte noch mehr als genug zu tun. Mein Blick wanderte auf die Leuchtziffern an meinem Blu-Ray-Player. 21:23. Seufzend schaute ich mich in meinem Wohnzimmer um. Der Wäschekorb mit der gewaschenen Wäsche wartete seit drei Tagen auf mich, mein Spüler in der Küche mit dem sauberen Geschirr war mittlerweile halb leer, weil ich mich direkt daraus bediente, dafür stand die Ablage voll mit schmutzigem. Wann meine Fenster das letzte Mal geputzt worden waren, konnte ich nicht mal mehr dem Monat nach benennen. Ja, meine Wohnung versank im Chaos, während ich versuchte, mein Baby und meinen Vollzeitjob unter einen Hut zu bringen.

Apropos Job …

Ich sprang auf, als mir siedend heiß einfiel, dass morgen eine wichtige Besprechung anstand. Ich sollte eine Präsentation neuer Marketingstrategien für unser Kaufhaus halten, für die ich noch nichts vorbereitet hatte. Schnell fuhr ich meinen Laptop hoch und suchte meine Notizen heraus. Um das alles ins Reine zu bringen und eine vorzeigbare PowerPoint-Präsentation zu erschaffen, würde ich vermutlich mindestens zwei Stunden benötigen. Adios, Schlaf! Du musst noch ein wenig warten.

Gerade als ich mich in meinen Laptop einloggte, klingelte mein Telefon.

„Du hast auch echt einen siebten Sinn“, murmelte ich vor mich hin, als ich den Namen auf dem Display erkannte.

„Hallo, Mutter. Was gibt’s?“, fragte ich, nachdem ich den Anruf entgegengenommen hatte, obwohl ich genau wusste, was sie wollte. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie mich um diese späte Uhrzeit anrief, und es ging immer um die Arbeit. Aber damit musste man wohl leben, wenn die eigene Mutter gleichzeitig auch die Chefin war.

„Guten Abend, Nele. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du morgen früh pünktlich bist. Um 8:30 Uhr trifft sich der Vorstand mit den Abteilungsleitern. Nicht, dass du mal wieder zu spät kommst, weil irgendwas mit dem Kind ist.“

Argh! Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien. „Das Kind“ war immerhin ihre Enkelin. Abgesehen davon klang es so, als würde ich fast täglich zu spät bei der Arbeit erscheinen, was definitiv nicht stimmte. Bloß ein einziges Mal in den letzten Monaten war es vorgekommen, und da hatte es nicht an meiner Tochter, sondern an einem platten Autoreifen gelegen.

„Das Kind heißt Paula, Mutter. Und keine Sorge, ich werde pünktlich sein!“

„Gut! Ich wollte nur sichergehen. Vergiss deine Präsentation nicht.“

Ohne ein weiteres Wort legte meine Mutter auf. Enttäuscht seufzte ich und schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht mal gefragt, wie es der Kleinen ging. So war es immer und eigentlich sollte ich mich nach über vier Monaten daran gewöhnt haben. Trotzdem tat es mir jedes Mal weh.

Ich bemühte mich, den Schmerz beiseitezuschieben und mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, ich würde meine Mutter wohl nicht ändern können, egal, wie sehr ich es mir wünschte. Und die Präsentation war jetzt wichtiger, immerhin wollte ich irgendwann in mein Bett. Mein Haushalt musste einen weiteren Tag warten. Morgen Abend war auch noch Zeit und vielleicht würde Paula dann ja nicht zwei Stunden zum Einschlafen brauchen wie heute. Die Hoffnung starb schließlich zuletzt.

2

Marketing

Völlig übermüdet saß ich im Besprechungsraum im Bürotrakt des Kaufhauses und starrte stumpf in meine Kaffeetasse. Immer wieder musste ich ein herzhaftes Gähnen unterdrücken, während die anderen Mitglieder der Führungsetage nach und nach eintrudelten und sich einen Platz am großen Tisch suchten.

„Darf ich?“ Ich schreckte zusammen, als mich eine unbekannte Stimme ansprach. Verwirrt sah ich zu dem Mann auf, der mich fragend musterte und auf den leeren Stuhl neben mir deutete. Erst jetzt begriff ich, was er meinte.

„Ähm, ja, klar!“

„Zeller ist mein Name. Ich bin der neue Leiter der Personalabteilung“, stellte der Mann sich freundlich lächelnd vor, nachdem er sich gesetzt hatte.

„Freut mich, Flindt. Dann haben Sie sich ja quasi selbst eingestellt.“

Verwirrt musterte Herr Zeller mich, dann verstand er und schüttelte lachend den Kopf.

„Entschuldigung, das war wohl nicht einer der besten Scherze. Schieben Sie es auf meinen Koffeinmangel.“ Erneut unterdrückte ich ein Gähnen und nahm stattdessen einen großen Schluck aus meiner Tasse.

„Oje, das klingt nach einer harten Nacht! Mehr Kaffee?“ Mitfühlend musterte er mich und ich schob nickend meine mittlerweile leere Kaffeetasse zu ihm hinüber, als er die auf dem Tisch stehende Thermoskanne ergriff.

Dankbar lächelte ich Herrn Zeller an, als die Stimme meiner Mutter durch den Raum klang.

„Schön, dass Sie alle pünktlich sind. Fangen wir an.“ Innerlich rollte ich mit den Augen, denn mir war klar, dass sie mich mit dem Kommentar über die Pünktlichkeit meinte.


Während meine Mutter ihre übliche Ansprache hielt, ließ ich meinen Blick auf ihr ruhen, als würde ich gebannt zuhören, doch meine Gedanken schweiften ab zur letzten Nacht. Nachdem ich gegen halb eins endlich die Präsentation fertig gehabt hatte und glücklich in meinem Bett lag, dauerte es keine drei Minuten und ich war tief und fest eingeschlafen. Leider nur kurz, denn dann beschloss Paula, dass es Zeit für ihre Milch war.

Normalerweise bereitete ich die Flasche abends vor dem Zubettgehen vor, sodass ich nachts nur das abgekochte Wasser aus der Thermoskanne hinzufügen musste, doch ich hatte es vergessen. Dementsprechend lange dauerte es, bis ich meine hungrige Tochter versorgen konnte. Als sie endlich wieder schlief, blieben mir noch ganze dreieinhalb Stunden, bis mein Wecker mich nötigte, mein warmes Bett zu verlassen, um erst mein Baby zur Tagesmutter zu bringen und danach selbst ins Büro zur Sitzung zu eilen.

„Frau Flindt, wenn Sie so freundlich wären, auch gedanklich wieder zu uns zu stoßen? Dann könnten wir mit Ihrer Präsentation für neue Werbemaßnahmen weitermachen. Oder spricht etwas dagegen?“

Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss, als meine Mutter mich mit hochgezogenen Augenbrauen vorwurfsvoll anschaute und vor der versammelten Führungsriege maßregelte. Natürlich hatte ich diesen Anschiss verdient, dennoch war es mir peinlich, und es wurde auch nicht besser, als ich Herrn Zeller neben mir glucksen hörte, als müsste er ein Lachen unterdrücken. Kurz funkelte ich ihn böse an, was er nur mit einem frechen Grinsen quittierte, dann griff ich meine Unterlagen und ging nach vorn.


Kaum war die Besprechung beendet, sah ich zu, dass ich aus dem Raum kam. Ich mochte es nicht sonderlich, vor Leuten sprechen zu müssen, erst recht nicht nach einer schlaflosen Nacht, wenn ich Augenringe hatte, wie ein Waschbär auf Drogen, und mit Müh und Not einen geraden Satz herausbrachte. Dies war einer der Momente, in denen ich bereute, dass ich mit dem Rauchen aufgehört hatte. Wie gern würde ich mir jetzt ein paar Minuten Auszeit nehmen und den beruhigenden Rauch inhalieren. Einfach die Augen schließen, den Vögeln auf dem Hof hinter dem Kaufhaus lauschen, mein Gesicht in die warme Frühlingssonne halten und einen Moment lang nichts tun. Warum hatte ich eigentlich aufgehört zu rauchen? Ich schob meine merkwürdigen Gedanken auf die Übermüdung und machte mich auf den Weg zu meinem Büro. Normalerweise war ich sehr froh darüber, dass ich es vor mittlerweile über zwei Jahren geschafft hatte, von den Glimmstängeln loszukommen.

„Frau Flindt?“

Die Hand schon auf der Türklinke drehte ich mich um, als jemand meinen Namen rief. Herr Zeller war es, der lächelnd auf mich zueilte.

„Ich wollte mich nur bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich vorhin so lachen musste, als Sie zusammengestaucht wurden. Ich wollte Sie damit nicht verletzen, aber Ihre Mutter …“ Er brach ab, als wäre er unsicher, was er mir gegenüber über meine Mutter sagen durfte. So war es bei den meisten Kollegen. Ich wusste, dass sie keine einfache Chefin war, dass sie extrem hohe Ansprüche stellte, und wer nicht funktionierte, wurde eiskalt abgemahnt. Niemand wagte es jedoch, in meinem Beisein ein schlechtes Wort über sie zu verlieren. Als wäre ich ihr Spion und würde alles sofort brühwarm an sie weitergeben. Keiner bemerkte, dass die Anforderungen, die meine Mutter an mich stellte, deutlich höher waren als die an den Rest der Belegschaft. Sie forderte einhundert Prozent Leistung vom Personal – von mir allerdings mindestens zweihundert. Da ich wusste, dass Herr Zeller nicht weiterreden würde, drehte ich mich wieder zur Tür.

„Warten Sie!“ Erneut hielt der neue Personalchef mich auf und legte mir die Hand auf den Unterarm, damit ich ihn anschaute. „Ich wollte Ihnen noch sagen, dass ich Ihre Ideen, das Marketingkonzept und die Umstellung der Kollektionen großartig finde. Ich meine, ich habe keine wirkliche Ahnung von Mode, ich kenne mich nur mit dem Personal aus, aber ein wenig altbacken ist die Kaufhauskette ja schon. Jedenfalls habe ich vor meiner Anstellung nie einen Fuß in einen der Läden gesetzt, weil ich immer das Gefühl hatte, die Klamotten wären eher für die Generation meiner Eltern. Oder Großeltern …“ Ein verschämtes Grinsen legte sich auf seine Lippen, als wäre ihm dieses Geständnis unangenehm. Doch ich wusste genau, was er meinte.

„Ja, so ist es leider. Und dafür bin ich da – um das zu ändern. Damit wir zukünftig mehr die jüngere Kundschaft ansprechen. Mode für betuchte, ältere Damen und Herren, die sich entsprechend gediegen kleiden möchten, gibt es in Hamburg reichlich. Was mir fehlt, ist etwas für die jüngere Generation, die ausgesuchte, qualitativ hochwertige Kleidung wünscht. Für Leute, die nicht in einer der ganz großen Ketten Ware von der Stange kaufen möchten, sondern ein wenig exklusiver“, erklärte ich Herrn Zeller und er nickte.

„Das kann ich verstehen. Die Zeit wandelt sich und damit auch die Kundschaft. Wir müssen am Ball bleiben, bevor die Konkurrenz es macht.“

„Nicht Konkurrenz. Mitbewerber!“, korrigierte ich lachend und Herr Zeller stieg mit ein.

„Oh, stimmt! Das klingt gleich viel freundlicher“, bestätigte er grinsend. Wieder fiel mir dieses schalkhafte Funkeln in seinen Augen auf. Ich kannte ihn zwar erst seit heute Morgen, doch er schien sehr nett zu sein. Vielleicht ergab sich ja nun häufiger die Gelegenheit für ein kurzes Gespräch. Ich hatte nicht sonderlich oft die Möglichkeit, mich mit Erwachsenen zu unterhalten. Entweder war ich hier in der Firma, wo die Kollegen auf Abstand zu mir, der Tochter der Chefin, gingen, oder ich hatte mit meinem Baby mehr als genug zu tun. Einzig das wöchentliche Gespräch mit den Großeltern der väterlichen Seite meines Babys war die Möglichkeit, mich einmal vernünftig auszutauschen.

„Vielleicht sehen wir uns die Tage ja mal in der Teeküche oder gehen in der Mittagspause einen Kaffee trinken. Dann könnten Sie mir noch ein bisschen mehr über das Modegeschäft erzählen“, schlug Herr Zeller vor, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Ja, sehr gern. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“ Ich deutete hinter mich auf das Schild neben der Tür zu meinem Büro, auf dem in schwarzen Lettern „Nele Flindt, Marketing“ stand. „Meine Bürotür steht Ihnen jederzeit offen. Ich würde mich freuen.“

„Dann bis bald. Ich freu mich auch!“, erwiderte Herr Zeller. Gerade als er sich abwandte, schallte ein Ruf quer über den Flur.

„Toby? Hör auf zu flirten und komm. Zeit für die Mittagspause.“

Die Antwort, die Herr Zeller dem Kollegen gab, bekam ich nicht mehr mit. Wie hinter einem Schleier versank die Welt um mich herum. Ein eisernes Band legte sich um meinen Brustkorb und nahm mir die Luft zum Atmen.


Ich weiß nicht mehr, wie ich in mein Büro gekommen bin, aber ich fand mich auf meinem Stuhl wieder, den Blick aus dem Fenster in den Hinterhof gerichtet. Toby … Dieser Name war es, der diese heftige Reaktion in mir ausgelöst hatte. Toby … Noch immer tat es weh, seinen Namen auch nur zu denken. Doch das konnte ich kontrollieren. Ich wusste, worauf ich mich einließ, wenn ich an ihn dachte. Das war etwas, was ich in den letzten Monaten gelernt hatte. Etwas, was ich hatte lernen müssen, um meine Tochter versorgen und für sie da sein zu können. Ich hatte gelernt, den Schmerz zu unterdrücken, und es funktionierte mit jedem Tag besser.

Doch als ich eben unverhofft seinen Namen gehört hatte, als dieser Ruf durch den Flur schallte, war ich nicht darauf vorbereitet gewesen. Deshalb hatte es mich so derart getroffen. Ich hoffte nur, dass niemandem meine fast panische Reaktion aufgefallen war. Oder hatte es sich nur angefühlt wie eine panische Reaktion und ich war in Wirklichkeit nach außen völlig cool geblieben? Ich wusste es nicht, aber ich vermutete, ich würde es in den nächsten Tagen am Verhalten meiner Kollegen merken.

Ich fuhr meinen PC hoch und versuchte, mich in meine Arbeit zu vertiefen und das peinliche Erlebnis von eben zu verdrängen. Vielleicht hatte es ja wirklich niemand gemerkt.

Ein Klopfen an der Tür brachte mich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Bevor ich „Herein“ sagen konnte, ging die Tür bereits auf und meine Mutter betrat mein Büro. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, die Augenbrauen ganz undamenhaft zusammengezogen, kam sie auf meinen Schreibtisch zu. Wie immer, wenn mir eine Standpauke drohte, setzte sie sich nicht. Als würde sie ihre höhere Stellung damit betonen, dass sie aus dem Stehen auf mich hinabblickte.

„Was hast du dir dabei gedacht? Wolltest du mich vor dem gesamten Personal lächerlich machen? Solch absurde Ideen wie dein angebliches Konzept sind mir schon lange nicht mehr untergekommen. Als ich dir diesen wichtigen Posten übertragen habe, hatte ich gehofft, du arbeitest im Sinne des Kaufhauses. Wir sind ein Hamburger Traditionsunternehmen. Bereits dein Urgroßvater hat das Kaufhaus Flindt gegründet und es lief – und läuft noch immer – bestens. Wie um alles in der Welt kommst du auf die Idee, alles umzuwerfen? Wenn wir deine Pläne umsetzen, vergraulen wir damit unsere gesamte Stammkundschaft!“

Ich konnte meiner Mutter ansehen, dass sie noch lange nicht fertig war mit mir. Ob es am Schlafmangel, der gerade durchgestandenen Panik oder einfach daran lag, dass die Zeit reif war, wusste ich nicht. Doch in diesem Moment platzte mir der Kragen, und ich tat etwas, was ich noch nie zuvor gewagt hatte. Ich unterbrach sie.

„Es reicht!“, widersprach ich und stand auf. Ich wollte nicht mehr zu ihr aufsehen und mich von ihr kleinmachen lassen. Mein Konzept war gut! Ich wusste es, immerhin hatte ich Marketing studiert – im Gegensatz zu meiner Mutter. „Du hast mich auf diesen Posten gesetzt, weil du genau weißt, dass ich es kann. Weil du wolltest, dass ich im Familienunternehmen anfange und es irgendwann auch übernehme. Ich wurde nicht gefragt, ob ich später mal eine Kaufhauskette leiten möchte. Ich habe Marketing studiert, nicht BWL! Und ich weiß genau, was ich mache! Du wolltest, dass das Kaufhaus moderner wird – und eben das habe ich ausgearbeitet. Schau ins Handout, das ich verteilt habe. Ich bringe die Kette mit meinen Änderungen ins 21. Jahrhundert – welches immerhin schon volljährig ist. Heutzutage hat jeder kleine Coffeeshop eine Homepage und eine Facebook-Seite, auf der die Kunden sich informieren können. Der geplante Onlineshop ist einzigartig in Hamburg. Morgens bestellt, nachmittags geliefert. Was meinst du, wie viele Neukunden wir damit gewinnen können? All diejenigen, die gern die Händler vor Ort unterstützen möchten, aber nicht die Zeit für ausgiebige Shopping-Touren haben.“

Meine Mutter stützte die Hände auf meinen Schreibtisch und beugte sich ein wenig zu mir herüber. Fast wirkte sie drohend und ihre Stimme war eiskalt und schneidend, als sie antwortete.

„Unsere Kundschaft hat keine Ahnung vom Internet und Onlineshopping. Die Damen und Herren, die bei uns einkaufen, haben Besseres zu tun, als im Netz zu surfen – oder wie auch immer man das nennt. Das sind noch Menschen einer anderen Generation, die nichts mit diesem ganzen Kram zu tun haben wollen.“

„Siehst du, Mutter“, gab ich ebenso eiskalt zurück „Genau das ist unser Problem. Diese Leute werden in den nächsten Jahren aussterben. Und wenn wir nicht bereits jetzt anfangen, etwas dafür zu tun, neue und jüngere Kundschaft zu generieren, dann wird das Kaufhaus den Bach runtergehen. Möchtest du das?“

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte meine Mutter tatsächlich ein wenig nachdenklich, doch sie antwortete nicht auf meine Frage, daher sprach ich weiter. „Schau dir mal die Fünfzigjährigen von heute an. Die laufen nicht mehr mit Hemd, Pullunder und Stoffhose herum. Selbst in vielen Firmen ist die Anzugpflicht mittlerweile abgeschafft. Fünfzig ist das neue vierzig, die Menschen in dem Alter wollen cool sein. Sie machen Sport, ernähren sich gesund und pflegen sich. Zerschlissene Jeans, körperbetonte Shirts, Sneakers oder Boots, dazu ein Tuch um den Hals – so laufen Männer um die fünfzig heutzutage herum. Und bei den Frauen sieht es nicht viel anders aus. Sie sind jung geblieben, sie sind hip und wollen nicht in altbackenen Klamotten herumlaufen. Wenn das Kaufhaus auch in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren noch überleben und weiterhin schwarze Zahlen schreiben soll, dann müssen wir etwas ändern und mit der Zeit gehen.“ Meine Stimme wurde immer eindringlicher, und ich hoffte, dass meine Worte bei meiner Mutter ankamen, dass sie zumindest darüber nachdachte. Ja, ich hoffte, dass ich sie umstimmen konnte.

Natürlich waren meine Änderungen und Vorschläge erst einmal viel. Das musste sie verdauen. Aber man könnte ja auch in Ruhe darüber reden und vielleicht den einen oder anderen Punkt für den Anfang streichen oder um ein paar Monate verschieben. Eine Light-Version zum Angewöhnen quasi.

„Überlege es dir noch mal, Mutter. Schau ins Handout, notier dir deine Fragen, wenn du welche hast, und dann sprechen wir in den nächsten Tagen. Jetzt mache ich Feierabend und verbringe den Nachmittag mit Paula.“

Eigentlich hätte ich noch zwei Stunden arbeiten müssen, doch ich hatte genug vom Tag, daher fuhr ich meinen PC herunter, verschloss meine Schränke und den Schreibtisch und verließ das Büro. Als ich mich an der Tür noch einmal umdrehte, hatte meine Mutter sich nicht gerührt. Sie schien so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie anscheinend nichts um sich herum mitbekam. Waren meine Worte zu ihr durchgedrungen? Oder schockierte sie womöglich die Tatsache, dass ihr einziges Kind ihr zum ersten Mal widersprochen hatte?

3

Zitrone mit Sahne

Zehn Tage waren seit meiner Präsentation vergangen und noch immer herrschte Eiszeit zwischen meiner Mutter und mir. Ich war ein paar Tage später noch mal zu ihr gegangen, um meine Vorschläge durchzusprechen, doch sie hatte mich unter dem Vorwand, einen Termin zu haben, aus ihrem Büro verwiesen. Seitdem hatte ich es mehrfach versucht, aber ich hatte keine Chance, an sie heranzukommen.

Doch nicht nur meine Mutter wehrte sich gegen die Neuerungen, auch der Rest der Führungsetage war geteilter Meinung. Während die Jüngeren durchaus offen für meine Vorschläge waren, sie teilweise sogar begrüßten, sprachen sich die Älteren vehement dagegen aus. Sie wollten sich nicht mal die Handouts dazu näher ansehen, sondern hielten das alles für unnötigen Mumpitz.

Letztlich wäre es sowieso egal, was sie wollten, meine Mutter hatte als Inhaberin das letzte Wort. Und da konnte ich an zwei Fingern abzählen, wie ihr Urteil ausfallen würde. Es wurmte mich, dass ich mir so viel Mühe, so viele Gedanken gemacht hatte und diese dann einfach abgeschmettert wurden. Genau dafür hatte meine Mutter mich im Unternehmen haben wollen. Ich war engagiert worden, um frischen Wind hereinzubringen. Angeblich … Stattdessen kam ich mir vor, als sollte ich nur den alten Muff ein bisschen hin und her schieben. Alles musste bleiben, wie es war, aber trotzdem neu und anders aussehen. Wie sollte so etwas gehen? Ich hatte zwar in meinem Studium viel gelernt zum Thema Marketing und war ein Profi darin, dennoch konnte ich nicht zaubern. Und wenn hier niemand mit anfasste, mich und meine Ideen unterstützte, dann konnte ich leider nicht helfen. Dann würde das Familienunternehmen immer im vergangenen Jahrhundert bleiben, und spätestens in ein paar Jahren konnten wir dichtmachen.

Frustriert schaute ich aus dem Fenster in den Innenhof. Das Wetter passte perfekt zu meiner Stimmung. Die Wolken hingen heute tief über der Hansestadt und der Regen prasselte unaufhörlich an die Scheibe. Laut Wetterbericht sollte die Sonne scheinen, doch die Wetterfrösche schienen sich mal wieder geirrt zu haben.

„Na, gibt es da was Interessantes zu sehen? Oder was fesselt dich so?“

Ein erschreckter Aufschrei entkam mir, während ich herumfuhr und Tobias Zeller anstarrte, der vor meinem Schreibtisch stand und mich belustigt musterte.

„Wo kommst du denn her?“, fragte ich perplex.

Lachend deutete Tobias mit dem Daumen hinter sich. „Von da. Durch die Tür. Oder glaubst du, ich habe mich hergebeamt? Nee, dann hätte ich mich direkt zwischen dir und diesem Fenster wieder materialisiert, damit ich dich so richtig erschrecken kann.“

„Das hast du auch so schon!“ Gespielt genervt rollte ich gut sichtbar mit den Augen, musste aber gleichzeitig grinsen. In den letzten anderthalb Wochen war Tobias einer meiner engsten Vertrauten geworden. Das angedrohte Kaffeetrinken hatte bereits am Tag nach der Präsentation stattgefunden und wir waren recht schnell zum Du übergegangen. Er hatte meine Reaktion auf seinen Spitznamen zum Glück nicht mitbekommen. Allerdings brachte ich es nicht über mich, ihn mit Toby anzusprechen. Für mich war und blieb er Tobias. Es gab für mich nur einen Toby, und der würde immer der Einzige bleiben, dessen war ich mir absolut sicher. Aber ich mochte Tobias sehr. Mit ihm konnte ich über ernste Themen reden, mich auch mal über meine Mutter auskotzen, und er schaffte es jederzeit, mich zum Lachen zu bringen.

Das hatte schon seit Monaten niemand mehr geschafft. Seit … Damals. Seit kurz vor Weihnachten des letzten Jahres.

Schnell wischte ich diese trüben Gedanken beiseite und richtete meine Aufmerksamkeit auf Tobias.

„Was machst du eigentlich hier? Suchst du Gesellschaft für die Mittagspause?“, fragte ich ihn und schaute auf die Uhr in der Ecke meines Bildschirms.

„Mittagspause? Es ist Zeit für Feierabend, schau mal auf die Uhr. Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Süße? Erst bist du so vertieft in … Ja, in was eigentlich? Du hast nicht mal mein Klopfen gehört. Und jetzt hast du anscheinend vergessen, dass wir verabredet sind. Ehrlich, das geht doch so nicht weiter! Du bist völlig am Ende. Diese Doppelbelastung mit Säugling und Vollzeitjob wird dich noch zum Kollaps führen. Und bei meinem Glück darf ich dich dann aufsammeln. Dabei bin ich total schlecht in Erster Hilfe – du solltest also besser ein wenig kürzertreten.“

Lachend schüttelte ich den Kopf. „Na, wenn das kein schlagendes Argument ist! Weil du schlecht in Erster Hilfe bist, muss ich kürzertreten. Wie wäre es denn mal mit einem Auffrischungskurs? Außerdem geht es mir gut. Ich komme klar!“, bekräftigte ich. Tobias sah mich zweifelnd an, sagte aber nichts weiter dazu.

„Los, komm, lass uns gehen.“ Als ich nach meiner Handtasche griff, unterdrückte ich ein Gähnen. Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal auch nur fünf Stunden am Stück geschlafen hatte. Auf jeden Fall nicht, seitdem Paula eine Woche vor Weihnachten auf die Welt gekommen ist. Und selbst davor hatten mich der dicke Bauch und das Baby darin, das abwechselnd auf meine Blase drückte und in mir Samba tanzte, vom Schlafen abgehalten. Gefühlt war es mindestens ein Jahr her, dass ich nicht das Bedürfnis gehabt hatte, im Stehen einzuschlafen.


Gemeinsam mit Tobias holte ich mein Baby von der Tagesmutter ab.

„Uuuh, was ist das denn für ein Schnuckel?“, fragte Mel mich flüsternd, während sie mir meine Tochter auf den Arm gab. Tobias war sofort von einem ungefähr dreijährigen Jungen mit Beschlag belegt worden und hockte in der Diele auf dem Fußboden.

„Wer jetzt?“, fragte ich verwirrt und kapierte erst Sekunden später, dass sie von Tobias sprach. „Ach so, du meinst ihn. Hm … Findest du?“ Auch wenn ich seit anderthalb Wochen fast jeden Tag zumindest meine Mittagspause mit Tobias verbrachte, hatte ich nun das Gefühl, ihn das erste Mal richtig zu sehen. Mel hatte recht. Er sah wirklich gut aus in seinem dunkelgrauen Anzug, der perfekt mit seinen blauen Augen und den honigblonden Haaren harmonierte. Nicht gerade unauffällig musterte ich seine sportliche Figur, sodass er es bemerkte und irritiert zu uns herübersah.

„Ist was?“, fragte er.

Synchron schüttelten Mel und ich den Kopf. „Nö, alles gut!“

Dem Blick nach war Tobias nicht wirklich überzeugt, doch er nahm dem kleinen Jungen das Buch ab, das dieser ihm hinhielt, und blätterte darin herum.

„Sag bloß, du hast das bisher noch nicht bemerkt! Hast du keine Augen im Kopf?“, flüsterte Mel diesmal so, dass Tobias es nicht mitbekam.

Ich zuckte mit den Schultern. „Oder einfach keinen Blick dafür. Immerhin …“ Ich brach ab und schluckte. Dann wandte ich mich meiner Tochter zu und zog ihr die Mütze und die Jacke an.

„Entschuldige, das war unsensibel von mir!“ Mel legte ihre Hand auf meinen Arm und strich sanft darüber.

Ich atmete tief durch und schluckte. „Nein, alles gut! Du kannst ja nichts dafür und ich … ich sollte mich wohl langsam damit abfinden. So, fertig, kleine Maus!“ Die letzten Worte richtete ich lächelnd an meine Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Nase. Sofort quiekte Paula auf. Sie liebte es, wenn ich ihre Nase küsste, und ihr Quieken brachte mich immer zum Lachen. „Na dann, wollen wir los? Der Regen hat endlich aufgehört, wir könnten also noch eine Runde durch den Park drehen. Vielleicht hat die Eisdiele ja offen. Und Onkel Tobias kommt mit!“

„Argh! Bring ihr doch nicht so was bei!“, protestierte Tobias entsetzt. „Zu fremden Erwachsenen Onkel sagen zu müssen, fand ich schon als Kind furchtbar. Tschüss, Mel, und viel Spaß noch mit deiner Rasselbande!“ Tobias winkte dem kleinen Jungen noch einmal zu, als wir das Haus der Tagesmutter verließen.

„Viel Spaß werden wir nicht mehr haben. Die Letzten werden gleich abgeholt und dann ist Wochenende. Endlich ausschlafen!“, erklärte sie lachend.

„Ausschlafen!“, wiederholte ich sehnsüchtig, während ich Paula in den Kinderwagen setzte. „Ich weiß gar nicht mehr, wie sich das anfühlt.“

„Du brauchst wirklich mehr Schlaf und Ruhe, Nele. Ernsthaft, du bist so blass und hast pechschwarze Augenringe. Meinst du nicht, dass deine Mutter die Kleine mal eine Nacht nehmen kann? Oder zumindest einen Nachmittag? Damit du ein paar Stunden für dich hast“, meinte Tobias, als wir uns auf den Weg in den Park machten.

Ein wenig bitter lachte ich auf. „Meine Mutter? Im Leben nicht!“

„Warum nicht? Ich meine, sie ist doch Paulas Oma! Meine Ma würde es sich nicht nehmen lassen. Die würde vermutlich halbwegs bei mir einziehen, wenn ich ein Baby hätte, und ich müsste darum kämpfen, auch was von meinem Kind zu haben.“ Bei der Vorstellung, wie Tobias mit seiner Mutter um ein Baby kämpft, musste ich lachen.

„Das klingt ja fast ein wenig wie in der Geschichte in der Bibel mit dem geteilten Kind!“

„Das stimmt. Allerdings würde weder meine Ma noch ich es so weit kommen lassen, dass jemand darüber richten müsste. Also solche gruseligen Vorschläge wie ein Kind zu zerteilen – vergiss es!“ Tobias schüttelte sich. „Aber dazu wird es eh nicht kommen.“

„Ich vermute mal, meine Mutter hätte weniger Stress damit, Paula zerteilen zu lassen, als einen Nachmittag auf sie aufzupassen“, murmelte ich gehässig und erntete einen entsetzten Blick von Tobias.

„War nur Spaß!“, stellte ich klar und schubste ihn leicht mit der Schulter an. „Los, komm, da ist die Eisdiele. Ich möchte eine Kugel Zitrone und eine Kugel Cookies. Mit Sahne!“

„Was für eine Kombination! Ist das ein Überbleibsel aus der Schwangerschaft?“, fragte Tobias grinsend.

„Quatsch! Das schmeckt tatsächlich und außerdem hatte ich keine komischen Gelüste“, stellte ich klar. Nein, die hatte ich wirklich nicht gehabt. Ich hatte Besseres zu tun gehabt, als meine Schwangerschaft zu zelebrieren und mich über dicke Füße, Sodbrennen und Haarausfall zu beschweren – oder mich um meine Geschmacksnerven zu sorgen.

„Setzen wir uns in die Sonne? Da wird gerade ein Tisch frei.“ Ich deutete nach rechts, wo ein Pärchen in diesem Moment bezahlte. Anscheinend musste halb Hamburg nach dem Regen des Tages den Feierabend hier im Park verbringen. Jetzt, wo die Sonne doch noch herausgekommen war. Zumindest war es rappelvoll – so voll, wie man es eigentlich eher von warmen Sommertagen kennt.

„Willst du hier Eis essen? Ich dachte, wir nehmen uns eine Waffel mit und gehen mit Paula auf den Spielplatz.“

Einen Moment lang überlegte ich, ob Tobias mich verarschen wollte. Doch in seinem Gesicht zuckte kein Muskel, der verraten würde, dass er es als Scherz meinte.

„Dein Ernst?“ Ich prustete los. „Komm, bevor der Tisch wieder besetzt ist.“ Schnell schob ich den Kinderwagen zwischen den anderen Plätzen hindurch. Tobias folgte mir langsam.

„Was war an meinem Vorschlag denn so lustig?“, fragte er, als er den Stuhl heranzog und sich setzte. Bevor ich antwortete, winkte ich einer vorbeieilenden Bedienung und wir bestellten unsere Eisbecher.

„Tobias, schau sie dir doch mal an. Paula ist knapp fünf Monate alt. Was soll sie denn auf dem Spielplatz? Sie kann noch nicht mal sitzen!“ Ich kicherte bei der Vorstellung, meine Tochter auf die Rutsche zu legen.

„Oh … stimmt.“ Nachdenklich musterte Tobias meine Tochter, die leise brabbelnd dalag, den Schnuller im Mund, und mit den Händen nach einem kleinen Spielzeug patschte, das am Kinderwagen befestigt war. Als sie es endlich zu fassen bekam, spuckte sie den Schnuller aus und steckte das Spielzeug in den Mund, um es zu erforschen.

„Was macht so ein Baby eigentlich den ganzen Tag?“, fragte Tobias, als wir unser Eis vor uns stehen hatten. Er nahm den ersten Löffel, fast ohne den Blick von Paula zu wenden.

Wieder musste ich einen Moment überlegen, ob er es ernst meinte. Tobias schien keinerlei Erfahrung mit Babys zu haben, daher beschloss ich, mich nicht über ihn lustig zu machen, sondern seine Fragen zu beantworten.

„Sie schläft noch viel. Eigentlich immer nach dem Essen. Alle vier bis fünf Stunden bekommt sie eine Mahlzeit, seit zwei Wochen gibt es mittags Brei, ansonsten Milch. Danach geht sie schlafen. Wenn sie irgendwann aufwacht, spielt sie ein Weilchen, so wie jetzt gerade. Bis sie wieder Hunger kriegt und dann geht es von vorn los. Dazwischen kommt natürlich noch so was wie wickeln, aber die Details erspare ich dir“, erklärte ich.

„Okay, also eigentlich sollte es kein so schwieriger Job sein, ein paar Stunden auf sie aufzupassen.“ Ein leichtes Lächeln umspielte Tobias’ Mundwinkel, als er sich zum Kinderwagen hinüberbeugte und zart über Paulas kleine Hand strich.

„Nein, eigentlich nicht. Wenn gar nichts geht – auf dem Arm ist sie meistens zufrieden. Es sei denn, sie bekommt Zähne, so wie momentan, dann sind die Nächte sehr unruhig und sie ist ständig wach.“ Allein beim Gedanken an die letzten Nächte musste ich schon wieder gähnen. Mich gab es nur noch in einem Betriebsmodus und der hieß „Müde“.

„Was hältst du davon, wenn ich mal auf sie aufpasse?“

Sprachlos schaute ich Tobias an, der seine Hand noch immer im Kinderwagen hatte. Das Spielzeug war mittlerweile uninteressant und Paula hatte Tobias’ Finger fest im Griff. Sabbernd versuchte sie, seine Hand in ihren Mund zu stecken. Verzückt grinste Tobias, dann sah er auf.

Als er meinen überraschten Blick sah, lachte er. „Ich meinte nicht jetzt sofort. Aber wenn die kleine Maus mich ein bisschen besser kennt. So hast du mal ein paar Stunden Ruhe und kannst dich richtig ausschlafen, ohne immer mit einem Ohr beim Babyfon zu sein – denn wie ich dich kenne, bist du das.“

„Du willst auf mein Baby aufpassen?“, fragte ich völlig geplättet. Ich konnte es nicht glauben, dass er diesen Vorschlag ernst meinte. Welcher Mann Ende zwanzig bot sich freiwillig zum Babysitten an? Erst recht, wenn er selbst noch keine Kinder hatte.

Es sei denn … Auf einmal schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.

Nein. Das konnte nicht sein.

Oder doch?


„Nele? Ist alles gut? Du musst nicht zustimmen. Wenn du es nicht möchtest, ist es okay! Es war nur ein Vorschlag und …“

„Warum?“, unterbrach ich Tobias.

Nun war er es, der mich überrascht anschaute. „Wie, warum? Damit du mal zur Ruhe kommst!“

Ich atmete tief ein, dann sprach ich genau das aus, was mir eben durch den Kopf geschossen war. „Sag mal … Du willst aber nicht über meine Tochter an mich herankommen, oder? Ich meine, vielleicht ist dieser Gedanke auch völlig absurd, doch …“

„Ja, der Gedanke ist absurd! Den kannst du gleich wieder vergessen!“ Tobias wirkte fast ein wenig beleidigt, als er mich unterbrach. „Ich dachte, wir sind Freunde, Nele. Und Freunde tun so etwas für den anderen. Ganz ohne Hintergedanken helfen sie sich gegenseitig. Besonders, wenn es einem von beiden nicht gut geht!“ Nachsichtig schaute er mich an. „Ich weiß nicht, was in deiner Vergangenheit vorgefallen ist. Ich weiß nicht, was mit Paulas Vater ist. Du sprichst nicht über ihn und das ist in Ordnung. Musst du auch nicht. Aber ich habe Augen im Kopf und sehe, dass du ganz weit davon entfernt bist, für eine neue Beziehung bereit zu sein. Ich möchte dir helfen! Und wenn ein paar Stunden babysitten reichen, damit es dir besser geht und du mal ein wenig Schlaf nachholst, dann ist doch nichts einfacher, als dass ich auf Paula aufpasse. Denk darüber nach, was du möchtest. Ob du eine Freundschaft möchtest oder mir irgendwelche misstrauischen Unterstellungen machen willst.“ Bei den letzten Sätzen änderte sich Tobias’ Gesichtsausdruck, wurde weich, mitfühlend. Ja, irgendwie verstehend – obwohl er nicht verstand. Nicht verstehen konnte.

„Ich denke, ich lasse dich jetzt lieber allein. Hab einen schönen Abend!“ Tobias stand auf, dann beugte er sich zu mir herunter und nahm mich in den Arm. „Ich mag dich, Nele! Als Freund!“, flüsterte er in mein Ohr. Danach richtete er sich auf und ging, ohne auf meine Antwort zu warten.

„Was hab ich da nur gesagt? Er hat recht, ich war wirklich misstrauisch. Dabei hat er das nicht verdient. Er hat ja gar nichts getan“, murmelte ich leise, an Paula gewandt.

Ich hatte es mir angewöhnt, ständig mit Paula zu sprechen. Nicht nur, um ihr Sprachvermögen zu fördern, sondern auch in Ermangelung eines Gesprächspartners. Im Laufe der letzten Monate waren meine Freundschaften eingeschlafen. Bereits während der Schwangerschaft war ich den meisten zu langweilig geworden, weil ich nicht mehr jedes Wochenende mit ihnen um die Häuser ziehen und feiern konnte. Sie zogen sich mehr und mehr zurück, bis der Kontakt nach Paulas Geburt komplett abbrach.

Ich hatte lange keinen wirklichen Freund mehr an meiner Seite gehabt, daher machte es mich umso trauriger, und ich schämte mich, dass ich Tobias gegenüber so misstrauisch gewesen war.

Nachdem ich mein Zitroneneis mit Sahne aufgegessen hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Bald war es Zeit für Paulas Flasche, und danach ging es ab ins Bett in der Hoffnung, ein wenig Schlaf zu bekommen. Gleich morgen würde ich Tobias anrufen und mich bei ihm entschuldigen. Ich wollte ihn und seine Freundschaft nicht verlieren, dafür war er mir bereits zu sehr ans Herz gewachsen.