Krimi für Jugendliche und Erwachsene

 

Angelika Hensgen, in Krefeld geboren und dort aufgewachsen, lebt und arbeitet seit 1986 in Köln. Hier studierte sie Literatur und Sprachwissenschaft. Die Autorin schätzt alle literarischen Gattungen als Möglichkeit für ihre Wortkunst und veröffentlichte Kriminalromane, Erfahrungsberichte und Lyrik.

Angelika Hensgen

UNDERGROUND

Zur Erinnerung an Jürgen,
den besten aller Brüder

Prolog

Natürlich wird einem im Krankenhaus geholfen. Aber dafür liegt immer ein Grund vor. Indra starrte auf das Schild, das in den Gang hineinragte: INTENSIV. Menschen in weißen Kitteln rannten geschäftig hin und her. So als wüssten sie, was zu tun war. Indra sah Jan an, dann drückte sie zaghaft auf die Klingel neben der Glastür. Kurz darauf näherte sich jemand. Eine Krankenschwester öffnete die Tür.

„Ja, bitte?“

„Wir möchten zu Snuffy.“

„Snuffy?“ Die Schwester runzelte die Stirn. „Einen Patienten mit diesem Namen haben wir hier nicht.“

Indra wollte sich umdrehen. In ihrem Kopf wirbelte es. Die Auskunft der Feuerwehr lautete doch so. St. Marien-Hospital. Intensivstation.

Jan hinderte sie daran, einfach wegzulaufen. Er hielt sie am Arm fest. „Der Junge, der im Rhein abgesoffen ist“, erklärte er der Schwester.

Man sah förmlich, wie ihr ein Licht aufging. Die blauen Augen schienen plötzlich eine Spur heller. „Ach, ihr meint den Nils.“

Indra und Jan sahen sich an. Dass Snuffy so einen stinknormalen Namen hatte.

„Seid ihr mit ihm verwandt?“

Indra schüttelte den Kopf. „Er ist unser Freund.“

Die Schwester sah sie zweifelnd an. „Da weiß ich nicht, ob ich euch zu ihm lassen kann. Er ist auch gar nicht ansprechbar.“

„Bitte!“ Indra schien nichts schrecklicher, als gehen zu müssen, ohne Snuffy gesehen zu haben. Plötzlich sah sie ihn wieder rennen. Einfach in Panik wegrennen. In den ziegelroten Gang hinein. Das ausgeleuchtete Stück bis zu den Hochwasserschiebern. Weiter gingen die Führungen nicht. Sie waren schon wieder auf dem Rückweg gewesen. Wollten die Treppen hinauf zum Theodor-Heuss-Ring, als Rüdiger und Kermit aufgetaucht waren. Snuffy hatte Indra noch einmal angeschaut, die grünbraunen Augen schwarz vor Entsetzen. Dann hatte er sich umgedreht und war in den Regenauslasskanal hineingerannt. In den Kanal, der einem in den Wintermonaten die Scheiße vor die Füße spült, wenn man auf der Stufe im Kronleuchtersaal steht. Aber jetzt war er trocken. Und Indra hörte Snuffys Schritte hallen und Herrn Claasen brüllen.

„Wo willst du hin, komm zurück!“

Dann rannte sie los. An den Schiebern blieb sie stehen, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, der Gang vor ihr war schwarz vor Dunkelheit. Da erfasste sie ein Lichtkegel. Der Mann, der die Gasmessungen vorgenommen hatte, holte sie ein.

„Halt!“, befahl er. Zur Bekräftigung riss er ihr fast das T-Shirt vom Leib.

Aber Indra ließ sich nicht aufhalten. Sie lief weiter, und der Mann wohl oder übel hinter ihr her. Sie rannte, bis Tageslicht den tanzenden Lichtkegel des Handscheinwerfers schluckte. In dem hellen Rund, das plötzlich vor ihr auftauchte, erkannte sie den Schattenriss eines Menschen.

„Snuuuuuuffffy!“ schrie sie.

Aber da war der Umriss schon verschwunden. Entsetzt lief sie die letzten Meter bis zu der Öffnung, die gleich auf den Rhein führte. Das Sonnenlicht machte Indra für einen kurzen Moment blind, und sie wischte sich verzweifelt über die Augen, bis sie Snuffy endlich entdeckte. Ein Stück stromabwärts hielt er mühsam den Kopf über Wasser. Wie im Spiel schlugen die glitzernden Wellen des großen Flusses immer wieder über ihm zusammen.

1

Indra griff sich in die Rasterlocken und zog, bis sie vor Schmerz aufschrie. Erstaunt sah sie in den Spiegel. Das war sie. Sie selbst, die sie da mit verzerrtem Gesicht anstarrte. Sie konnte sich kaum noch erkennen. Sie fuhr sich mit dem Unterarm über Nasenrücken und Wangen, um die Tränen fortzuwischen. Jetzt waren auch noch Wimperntusche und Eyeliner verwischt, die sie vor einer halben Stunde mit geduldiger Sorgfalt aufgetragen hatte. Vor einer halben Stunde, da war alles noch in Ordnung gewesen. Jetzt gab es nichts mehr. Keinen Oli, keine Reggaeparty, nichts.

Wie betäubt war sie nach dem Telefonanruf in ihr Zimmer gestakst.

„Ich geh‘ da mit Susa hin. Du bist nicht böse, oder?“ Böse? Das war ja voll die Verarsche. Ein Eisfilm hatte sich auf ihre Haut gelegt. So, als wäre sie ganz kurz in einem Tiefkühlschrank eingesperrt gewesen. Drei Monate hatte sie mit Oli jede freie Minute verbracht. Partys, Freunde, sogar Spaziergänge, was sie jahrelang als Eltern-Spießer-Ätz-Angelegenheit betrachtet hatte. Mit Oli hatte ihr der Park wieder Spaß gemacht. Die gemeinsame Leidenschaft für Bob Marley. Wegen ihm und vor allem für Oli hatte sie ihr glattes Haar aufgerollt und verfilzen lassen, gegen den Willen der Eltern. War das der Schluss? „Ich geh‘ da mit Susa hin.“ Susas blondiertes Haar war kurzgeschnitten, und kleine Metallklammern hielten den Pony aus dem hübschen Gesicht. Nicht einmal ein Abschiedstreffen. Nur so ein billiger Telefonanruf. Indra schmiss sich aufs Bett und vergrub den Kopf in den Armen. Angenehm dunkel war es so. Dunkel, so wollte sie es vorläufig haben.

„Indra!“ Svens Stimme drang in ihre Gehörgänge, obwohl sie die Oberarme fest an die Ohrmuscheln gepresst hielt. Sven und Indra. Ihre Eltern waren einfach lächerlich. Wenn schon exotische Vornamen für Geschwister, dann doch wenigstens aus dem gleichen Kulturkreis. Sven Küsters, das ging ja noch, aber Indra Küsters. Ihr Name war einfach peinlich, genau wie ihre mausbraunen Rasterlocken, ihre blöden grauen Augen…

„Mensch Indra, was ist?“

Widerwillig wälzte sie sich auf den Rücken. Sie hatte Mühe die Augenlider auseinanderzubekommen und das Gesicht ihres Bruders anzupeilen, der sie ungläubig musterte.

„Wie siehst du denn aus?“

Indra setzte sich auf. „Na wie schon? Hässlich natürlich, hässlich, hässlich, hässlich.“

Sven verdrehte die Augen. Nicht schon wieder. Diese Anfälle hatte sie schon mal gehabt. In der Zeit bevor sie sich mit Oli traf. Danach nicht mehr.

„Wieso bist du nicht zur Party?“

„Wieso bist du nicht zur Party?“, äffte sie ihn mit hoher Stimme nach, „weil Oli eine Prinzessin gefunden hat“, fuhr sie in dem gleichen idiotischen Tonfall fort.

„Mensch sei doch nicht so doof.“ Sven sehnte sich nach den alten Zeiten zurück, als er noch vernünftig mit Indra reden konnte. Egal, was ihn bedrückte, sie hatte ihn immer aufgemuntert. Aber dann hatte sie diesen Wahn bekommen. Sie wäre hässlich. So ein Quatsch. Es gab nichts an ihr auszusetzen.

„Ist doch wahr“, Indra hatte den Fiepston immer noch nicht abgelegt, „die schöne Susa ist seine Begleiterin.“

„Aber wieso? Ich dachte du gehst mit Oli?“

„Wieso?“ schrie Indra. „Guck‘ mich doch an, dann weißt du’s!“ Damit drehte sie sich wieder auf den Bauch und zog das Kissen über den Kopf.

Seufzend verließ Sven das Zimmer. Die fünf Mark, die er sich von Indra hatte pumpen wollen, konnte er wohl abschreiben. Wenn seine Schwester doch nur endlich wieder normal würde.

***

Das Gemurmel und Getuschel erstarb für einen kurzen Moment, als Indra das Klassenzimmer betrat. Sie war extra knapp gekommen, so dass sie kaum mit jemandem reden musste, bevor der Lehrer das Kommando übernehmen würde. Den Blick starr auf ihre Bank gerichtet, beachtete sie keinen der Mitschüler und war froh, als das Gesumme wieder anhob. Auch wenn garantiert über sie gelästert wurde, Hauptsache sie saß erst mal auf ihrem Stuhl.

„Mann, du hast aber Mut.“ Nadine, ihre Banknachbarin aus Not, starrte sie unverhohlen an. „Du wolltest doch nie kurze Haare.“

Indra schluckte jede Bemerkung hinunter. Nadine hatte Recht, sie war immer gegen kurze Haare gewesen Aber da hatte sie auch noch nicht gewusst, dass sie ihre alte Haut mal ganz abstreifen würde. Und das wollte sie nicht gerade Nadine auf die Nase binden.

Ja, wenn Esther noch in ihrer Klasse wäre. Esther ihre beste Freundin, vom Kindergarten an. Dann wäre sie vielleicht nicht mal auf Oli reingefallen. Sie legte die Hände vor die Stirn wie ein kleines Dach und schielte nach vorne links. Da lehnte der Typ an seiner Bank, die braunen Rasters zu einem Zopf zusammengefasst. Sah aus, als würde er zu ihr herüberschauen. Nein. Wohl nicht. Indra legte die Hände vor die Augen und sah das Porzellanbecken vor sich, in dem sich ihre verfilzten Haare häuften. Locke um Locke, wie in Zeitlupe. Früher wollte sie ihre Haare immer nur wachsen lassen, es war ihr unvorstellbar gewesen, sie abzuschneiden, und jetzt? Diese Frisur musste weg, irgendwie verband sie Indra mit Oli, und wenn sie daran dachte, hätte sie am liebsten noch oben auf die Haare drauf gekotzt.

Plötzlich zupfte sie jemand an den Haarspitzen. Sie riss die Augen auf. Oli. Das durfte ja wohl nicht war sein.

„Sieht cool aus. Aber mit Bob Marley war’s dir wohl nicht so ernst.“

Indra schluckte schwer an den Tränen, die unbedingt nach oben wollten. „Und dir war’s wohl nicht so ernst mit mir“, brachte sie mühsam heraus.

Oli tat erstaunt. „Wieso ernst? War doch immer lustig, oder? Und ein Paar waren wir ja noch nicht.“ Er schaute treuselig aus seinen grünbraun gesprenkelten Augen. „Weißt du, du bist irgendwie noch Baby. Die Susa ist ganz anders gepolt.“

„Wie meinst du das?“ Indra erkannte ihre eigene Stimme

nicht.

„Kommst du schon selber drauf.“ Oli schien sich darüber nicht auslassen zu wollen.

„Und wieso so plötzlich?“, mehr würde sie nicht mehr sagen können. Krächzen, das war Krächzen.

„Tut mir leid, das lag wirklich an Susa. Ehrlich, ging tierisch schnell.“

Die Tür klappte, und der Englischlehrer trat ein. Oli verschwand auf seinen Platz.

***

Indra stand vor dem Schulgebäude. Die Sonne fiel schräg gegen die Glasscheiben des Eingangsbereiches. Wehmütig dachte sie an ihren Anfang im Gymnasium vor vier Jahren. Die Kleinen, die da rausdrängelten, genauso waren sie und Esther herumgehüpft. Seit Esther umgezogen war, hatte sie keine Freundin mehr. Und wenn sie es genau überlegte, ihre Mutter auch nicht. Frau Biesen war die Einzige mit der sich Mama regelmäßig getroffen hatte. Wütend spuckte Indra in die Büsche. Weil Papa ihrer Mutter alle Freunde madig gemacht hatte. Immer hatte er über jeden Besuch hergezogen, bis sie schließlich niemanden mehr eingeladen hatte. Außer Esthers Mutter, die sich nicht abwimmeln ließ.

„Hey, Indra, wartest du auf jemanden?“

Indra schrak zusammen. Sie hatte Jan gar nicht kommen sehen. „Mm“, sie schüttelte den Kopf, „habe nur nachgedacht.“

„Deine Haare sind echt heftig.“

Indra zuckte mit den Achseln. Was ging Jan das an.

„Ich meine nicht, dass ich das übel finde“, er wurde etwas rot, „ eher …äh…ungewöhnlich“, brachte er den Satz schließlich zu Ende.

Indra schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. „Ungewöhnlich find‘ ich gut“, meinte sie.

Jan studierte Indras Gesicht. Entweder war sie heute extrem blass oder sie hatte besonders helles Make up aufgelegt. Die kurz geschnittenen Haare und die weiten Hosen taten das Übrige, um sie wie einen schmalgebauten Jungen aussehen zu lassen. Na ja, wenn man den Busen mal ausnahm. Jan seufzte leicht. Er hatte Indra immer gemocht. Als sie klein waren, hatten sie viel zusammen gespielt. Das war leider vorbei, und verknallt hatte Indra sich in andere, in Oli zum Beispiel. Deshalb hatte Jan ihr gegenüber nie erwähnt, dass er sich für sie mehr interessierte als für jedes andere Mädchen.

„Gehst du gleich nach Hause?“

Indra schüttelte wieder den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. „Hab‘ noch was vor.“

„Na dann, bis morgen“, schloss Jan schlapp. Indra antwortete nicht, und Jan tat, als gäbe es nichts Wichtigeres, als Marco einzuholen, obwohl der ihm im Moment völlig schnuppe war.

2

Snuffy lungerte schon einige Zeit vor dem Eingang des Gymnasiums herum. Blöder Einfall von Zeck. ‚Wenn du keine Kohle hast, such‘ dir ‘nen Kumpel oder ‘ ne Braut, die dich einladen. Mir bist du jedenfalls noch was schuldig.“ Wahrscheinlich hatte Zeck gerade selbst was eingeworfen, und das Ganze sollte ein Witz sein. Nervös drehte Snuffy das Tütchen in seiner Jackentasche um und um. Ein Pillchen noch, am liebsten würde er es sofort nehmen, dann wär er auf jeden Fall wieder besser drauf. Er wollte schon gehen, als ihm das blasse, zottelige Mädchen auffiel. Alleine, nicht in einer Traube von zwei, drei und mehr Schülern wie die meisten anderen. Die wollte allein sein, das merkte man deutlich. Die Frisur hatte bestimmte kein Fachmann kreiert, aber ihre Klamotten stammten nicht von armen Eltern. Hey, Snuffy, altes Wiesel, dein Instinkt funktioniert noch. Sie stand einfach so rum und beguckte sich von innen. Bis dieser Milchbubi aufgetaucht war. Snuffi quetschte das Tütchen, bis Daumen und Zeigefinger schmerzten. Was wollte der bloß von so einer Freakin? Aha, sie ließ ihn abblitzen. War vorauszusehen. Snuffy atmete einmal tief durch. Langsam überquerte er die schmale Straße. Strubbelkopf hängte das Gesicht immer noch in die Sonne.

Hallo.“

Indra öffnete die Augen. Vor ihr stand der unbekannte Junge, den sie schon auf der anderen Straßenseite bemerkt hatte.

„Kennst du Sandra aus der 10?“

„Nee. Ich kenn‘ nicht alle mit Namen. Ich bin in der 9.“

Snuffy tat zerknirscht. „Komisch. Die hat gesagt, nach der sechsten Stunde am Ausgang.“ Suchend ließ er die Augen über den kleinen Vorplatz schweifen.

Indra betrachtete ihn eingehend. Seine braunen Haare waren zwar kurz geschnitten, aber eine Ähnlichkeit mit Oli ließ sich nicht leugnen. Groß und schlank, na ja, beinahe mager, grüne Augen mit braunen Sprenkeln, genau umgedreht wie bei Oli. Blass. Eine Welle des Mitgefühls überschwemmte Indra. Sie hatte sich heute Morgen eingehend im Spiegel angeschaut, blass war sie auch, und zwar, weil sie sich ganz beschissen fühlte.

„Welcher Ausgang?“, meinte sie hilfsbereit, „hintenrum ist auch noch einer, der zum Lehrerparkplatz führt.“

„Was, noch ein Ausgang?“, Snuffy war hingerissen von seiner schauspielerischen Leistung. Er konnte die Bestürzung in seiner eigenen Stimme hören.

„Ich kann dich ja hinbringen.“ Indra schulterte ihren Rucksack und lief los.

„Ist doch nicht nötig“, der schnelle Erfolg überraschte ihn.

„Hab‘ sowieso nichts Besonderes vor.“ Indra lief die schmale Straße runter und bog links ab. Snuffy folgte ihr begeistert. Das fluppte ja, als hätte er seinen Muntermacher schon intus.

Nach etwa fünfzig Metern an einigen Parkbuchten vorbei blieb das Mädchen stehen. Sie breitete die Arme aus „Also hier ist der andere Ausgang oder Eingang“, sie überlegte kurz, „also Hinterausgang oder Hintereingang oder Seitenausgang oder Seiteneingang -“ Sie brach ab und lachte. „Tut mir leid, ich weiß nicht, ob das der richtige Ausgang ist.“

Snuffy lachte ebenfalls. Die war ja sogar witzig. „Ich würde sagen, das ist egal. Wir haben Viertel vor zwei, da müsste die Tusse längst aufgetaucht sein.“

„Tusse?“ Indras graue Augen verdunkelten sich. „Ist sie deine Freundin? Dann solltest du nicht so über sie reden.“

Hui, ein Sensibelchen. Snuffy nahm sich vor, die nächsten Worte auf die Goldwaage zu legen.

„Nicht meine Freundin. Ich sollte ihr nur den Fahrradschlüssel bringen, den sie bei meiner Schwester vergessen hat.“ Wahnsinn. Schwesterchen. Fahrradfahren. Da sah man doch direkt eine Werbung für Pfefferminzkaugummis vor sich. „Wie heißt du eigentlich?“, nutzte er die Gelegenheit.

Indra antwortete nicht sofort. Sie starrte auf ihre Turnschuhe, als würde dort jeden Moment ihr Namen erscheinen.

„Indra. Indra Küsters. Ist das nicht dämlich?“

Die großen, grauen Augen, die sich fragend auf ihn richteten, brachten Snuffy beinahe aus dem Gleichgewicht.

„Indra? Indra ist doch supergeil. Ich heiße Snuffy.“

„Snuffy? Kommt mir vor wie ein Hundename.“

„Sehr charmant“, gab Snuffy zurück, „also ich geh‘ jetzt, Sandra kommt bestimmt nicht mehr. Wohin musst du denn?“

„Ich?“ Indra überlegte krampfhaft. Nach Hause wollte sie heute nicht gleich. Da würde nur wieder Sven warten. Früher war sie stolz darauf gewesen, dass er ihr alles anvertraute, aber in letzter Zeit ödete sie es an, Ersatzmami zu spielen. Sie schüttelte sich.

„Muss noch in einen Schreibwarenladen auf der Zülpicher“, fiel ihr ein. Da gab es hippe Karten, und zum Geburtstag wollte sie Esther unbedingt schreiben.

Snuffy tat als überlegte er. „Da am Weyertal runter?“

Indra nickte. “Genau.“

„Dann geh‘ ich mit“, Snuffy blinzelte Indra zu, „oder hast du was dagegen?“

Indra schüttelte den Kopf. Selbst wenn er fremd war, quer durch die belebten Straßen, da wäre es albern, Schiss zu haben. Außerdem, Oli kannte sie schon, seit er in der Sieben dazu gekommen war, und benommen hatte er sich wie ein Arschloch.

Sie liefen zurück zur Leybergstraße und schlenderten schweigend bis zur Luxemburger.

„Was machst du eigentlich?“, fragte Indra schließlich, „gehst du auch noch zur Schule?“

„Nee“, Snuffy schüttelte den Kopf und überlegte krampfhaft, welche Geschichte er ihr auftischen sollte. Langsam wurde ihm schlecht, er spürte genau die Schweißperlchen auf dem Hautstück zwischen Oberlippe und Nase. Und die Quatscherei ging ihm allmählich auf den Senkel.

„He, was ist?“, Indra war stehen geblieben, „zieh‘ besser das Sweatshirt aus, ist doch tierisch warm.“

„Nee, lass‘ mal“, Snuffy zwang sich zu höchster Konzentration, „mir ist nicht warm.“

Indra zuckte die Achseln und drückte die Fußgängerampel.

Snuffy lief einfach weiter, obwohl Rot war. Indra folgte ihm, es war kein Auto in Sicht. Als er aber auch die Bahnampel missachtete, blieb sie unsicher stehen, und wurde im gleichen Moment von zwei Männern zur Seite geschoben.

Die nächsten Sekunden fühlte sich Indra wie im Kino, so, als hätte sie nichts mit dem zu tun, was vor ihren Augen ablief. Sie sah, wie die Männer Snuffy einholten, einer von ihnen hob die Arme über den Kopf und ließ die geschlossenen Fäuste auf Snuffy niedersausen, der wie ein gefällter Baum auf die Schienen stürzte. Der zweite Mann trat ihm noch in den Bauch, dann rannten sie auf die andere Straßenseite. Zeitgleich mit diesem Bild drängte sich das Gehupe und Gebimmel der einfahrenden 18 in Indras Ohren. Wie in Trance bewegte sie sich um das Sicherheitsgitter, zerrte Snuffy an der Jacke hoch und landete mit ihm schweratmend auf dem Mittelstück des Übergangs. Noch einmal schrillten die Warnsignale der KVB und als sie hochschauten, traf sie der wütenderschrockene Blick des Bahnfahrers.

„Arschloch“, murmelte Snuffy.

„Mensch, der hat doch Recht“, schrie Indra Snuffy an, „was rennst du bei Rot über die Schienen, und dann die Typen, das war doch Absicht!“ Sie holte tief Luft. „Kanntest du die?“

Mühsam hatte Snuffy sich auf die Beine gebracht. „Quatsch, woher denn?“

Indra schüttelte den Kopf. „Das sind doch Verbrecher, die müsste man anzeigen.“

Aber Snuffy hörte sie nicht. Er war schon weitergegangen und Indra war heilfroh, dass die Ampel auf der anderen Seite sowieso Grün war.

„Wollen wir im 43 was trinken?“, rief sie Snuffy nach.

„Hab‘ kein Geld“, knurrte er.

„Ich geb dir was aus.“ Indra sehnte sich danach ins Cafè zu gehen. Erstens konnte sie nach dem Schock eine Erfrischung brauchen, und zweitens wäre sie nicht allein.

***

Jan traute seinen Augen nicht. Der Typ in den schwarzen Designerklamotten, das konnte doch nicht Indras Verabredung sein. Er hatte sich mit Marco auf der Arnulfstraße verquatscht, als auf der gegenüberliegenden Seite Indra mit diesem Dressman für Leichenhemden vorbeischlurfte. Beide sahen noch um einige Grade blasser aus als Indra an der Schule. Oder lag das an der grellen Sonne, dass ihm die Gesichter so weiß vorkamen? Langsam ging er ihnen nach. Wahrscheinlich war der Kerl ein Vampir und hatte Indra bereits angesaugt. Jan lachte bei dem Gedanken. Aber dann müsste er halb Mensch, halb Vampir sein, sonst wär‘ er ja längst ein Häuflein Asche. Mann, er musste sich wirklich selbst Witze erzählen, um bei Laune zu bleiben. Wieso zog Indra mit jedem Idioten los, nur nicht mit ihm. Was hatte sie bloß an ihm auszusetzen? Da, jetzt gingen sie sogar ins Café. Wie gerne wäre er an der Stelle von dem Klappergestell. Unentschlossen passierte er das „43“. Schließlich ging er wieder zurück und ließ sich an einem der Tische draußen nieder. Er hasste dieses Cafégetue, eine Wiese im Grüngürtel war ihm entschieden lieber, aber er konnte der Gelegenheit nicht wiederstehen. Er wollte einfach wissen, was Indra mit dem krassen Typ zu tun hatte. Von Bob Marley zu Armani, Indra schreckte wirklich vor nichts zurück. Zu seiner Überraschung kamen die beiden wieder aus dem Laden raus und schauten sich suchend um. Schnell beugte er sich über seinen Rucksack und zog ein Buch heraus. Als er sich wieder aufrichtete, winkte Indra ihm zu.

„Hey, Jan!“, rief sie sogar.

Der Typ musterte ihn misstrauisch. Aber dann folgte er Indra an einen der Tische, die am weitesten von Jan wegstanden. Jan kam sich voll bescheuert vor. Was sollte der Quatsch? Als die Bedienung kam, schüttelte er den Kopf. „Ach danke, ich hab’s mir anders überlegt.“

Unzufrieden mit sich selbst warf er das Buch zurück in den Rucksack und machte sich davon, ohne Indra und ihren Begleiter noch eines Blickes zu würdigen.

„Will der was von dir?“ Snuffy sah Jan hinterher, der sich eilig in Richtung Zülpicher entfernte.

Indra schüttelte den Kopf und tat gleichgültig. Die Bedienung näherte sich ihrem Tisch.

„Kann ich eine Limo nehmen?“ fragte Snuffy.

„Klar, was du willst.“

Sie schwiegen, bis sie eine Limo und eine Cola vor sich stehen hatten. Sie hob ihr Glas, verharrte aber in der Bewegung, als sie sah, wie Snuffy sein Getränk runterschüttete.

„Gulp, du hattest aber einen Mordsdurst.“

„Wirklich“, Snuffy versuchte einen schalkhaften Blick, der aber irgendwie verrutscht aussah, „hab‘ ich bis gerade selbst nicht gewusst.“

Er starrte in sein leeres Glas und zermarterte sich das Hirn, wie es weiter gehen sollte. Das auf den Schienen war eine klare Warnung. Womit hatte er Zeck bloß so sauer gemacht? Der war bisher immer großzügig gewesen. Und wie sollte er Indra abzocken, wenn er sie gerade erst kennen gelernt hatte? Was er sonst in zehn bis vierzehn Tagen anleierte, musste praktisch in ein paar Stunden abgehen. Er seufzte tief.

„Was ist?“ Indra sah ihn prüfend an, „hast du dich eben verletzt?“

„Nee, ist schon in Ordnung“, Snuffy versuchte es mit einem treuherzigen Blick, „ich habe ganz andere Probleme.“

Indra schlüpfte in ihre vertraute Rolle. „Dann sag‘ doch, vielleicht kann ich dir helfen.“

Snuffy winkte ab. „Ganz sicher nicht.“

„Bitte.“ Das ehrliche Interesse, das er in ihren Augen lesen konnte, erinnerte ihn beinahe an sein Gewissen, das er im Laufe der Zeit wie ein verlaustes Polster zum Sperrmüll gestellt hatte. Ab und zu tauchte es aus dem Müllberg auf, aber er konnte es nicht gut brauchen. „Man bekommt ein Herz aus Stein… “ Quatsch, das würde ihm nie passieren.

„Huhu“, machte Indra und brachte ihn damit wieder zurück in das Café. Um ihn herum lauter muntere Schüler, die gerade die Sommerferien hinter sich hatten. Eine Welt, die Snuffy soweit entfernt schien wie eine andere Galaxie. Er räusperte sich.

„Heute Abend startet ein Röhren-Rave. Jeder bringt seine Freundin mit.“

Indra war irritiert, „Röhren-Rave“ - , nie gehört. Raves waren die Partys der Technoleute, das wusste sie wohl, aber „Röhren-Rave“?

„Und?“ fragte sie nur, sie wollte nicht gleich ganz dumm dastehen.

Snuffy guckte in den Himmel. „Meine Freundin ist gestern abgesprungen.“

In Indras Kopf wirbelten die Gedanken. Wenn das nicht Schicksal war. Genau an dem Tag als Oli sie hatte sitzen lassen war auch Snuffy solo geworden. „Dann geh‘ doch alleine hin.“

Snuffy schüttelte den Kopf. „Absolut boring.“ Er beugte sich zu Indra hinüber. „Ist einfach cooler, wenn man zusammen abtanzt.“

„Aber du kennst mich doch gar nicht“, Indra sah Snuffy verschmitzt an, „vielleicht bin ich ja überhaupt nicht cool.“

„Also, du bist freundlich, witzig und hilfsbereit“, Snuffy drehte sein Limoglas; Schleimen lag ihm sonst gar nicht. „Das reicht doch fürs Erste, oder? Außerdem mag ich, wie du aussiehst.“

Das Letzte war nicht mal gelogen. Die anderen Eigenschaften kamen ihm eher wie aus dem Wunschkatalog seiner Eltern vor. Aber Indra sprang auf die altmodische Lobeshymne an. Sie wurde etwas rot, sagte aber nichts. Na gut, wenn die ganze Süßholzraspelei nicht wirkte, musste er aufgeben. Er war am Ende. Er fühlte sich total schlapp.

„Ich muss mal kurz wohin.“

Indra nickte. Snuffy sah mies aus. Bleich, die Augen in dunkelumränderten Höhlen. War bestimmt der Schock. Sie folgte ihm mit dem Blick, bis er im Inneren des Cafés verschwand. Seine Lobhuddelei hatte ihrem mickrigen Selbstbewusstsein gut getan. Aber glauben konnte sie nicht so richtig, was er da erzählte, hörte sich einfach zu schön an, wie aus einem Ratgeber für Anmache. Ihr Blick wanderte von einem Tisch zum anderen. Überall munteres Geplauder. Sprachen die alle über Ferien oder Leistungspunkte? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass da irgendeiner an den Worten seines Gegenübers zweifelte. Und sie, warum unterhielt sie sich mit einem völlig Fremden, dessen Worten sie nicht ganz traute?

Mit Jan hätte sie auch über die Ferien labern können, das wusste sie. Der war lieb und unkompliziert. Auf einmal sah sie den Spielplatz vor sich, auf dem sie immer zusammen herumgetollt waren. Esther und Indra, Jan und Marco. Esthers Umzug war wie der Sturz in ein schwarzes Loch gewesen und sie hatte das Gefühl immer noch zu fallen. Ihr Blick glitt zum Eingang des Cafés, als Snuffy gerade auftauchte.

„Da bin ich wieder“, er ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen. „Was ist? Hast du dich entschieden?“

Indra zögerte. „Ich weiß noch nicht genau.“

„Okay, was soll’s. War nur ein Angebot.“ Snuffy tat gleichgültig. Er würde schon noch jemanden finden. Sollte die ängstliche Indra doch hingehen, wo der Pfeffer wächst. Und vielleicht hatte Zeck sich längst wieder beruhigt.

„Wann ist die Party denn?“

„Heute Nacht. Steigt so um 11.“

Indra biss sich auf die Lippen. Was gab es für sie im Moment schon groß? Oli war bei Susa. Blieben für das ganze, lange Wochenende nur noch Sven und ihre Mutter, und die wurde sie langsam satt.

„Würdest du mich anrufen? Damit ich noch mal überlegen

kann?“

Snuffy schaute überrascht auf. Eigentlich hatte er das Mädchen schon abgeschrieben. „Wenn du willst.“

Indra wühlte einen Edding aus ihrem Rucksack und riss ein Stück Papier aus einem Schulheft. Snuffy winkte ab. „Zettel verleg ich. Komm, schreib mir die Nummer auf den Arm.“

Er schob den Ärmel des Sweatshirts etwas hoch und hielt Indra seinen Unterarm unter die Nase. Indra lachte verlegen, notierte aber gehorsam die sechs Ziffern auf Snuffys Haut.

Er stand auf. „Dann vielleicht bis später. Um acht melde ich mich bei dir.“

Indra nickte.

„Und danke für die Einladung.“ Snuffy schob den Stuhl unter den Tisch, dann machte er sich davon.

Indra wunderte sich über soviel Förmlichkeit. Sie sah Snuffy nach, bis er schließlich auf der Zülpicher Richtung Innenstadt entschwand.