Das letzte Mal Fauser? Ich feierte meinen Geburtstag, und A. drückte mir ein Geschenk in die Hand. Es war die Erstausgabe von Fausers Essay-Sammlung Blues für Blondinen. Er sagte: »Ich hatte kein Geschenk. Ich hab’s aus meinem Bücherregal gezogen, ich dachte, es gefällt dir.« Treffer.

 

Das erste Mal Fauser? Es war 1995 in Hamburg. Ich hatte angefangen, Gedichte zu schreiben und Gedichte zu lesen. In einem Antiquariat kauf‌te ich mir einige Anthologien, um einen besseren Überblick zu bekommen. … OVERSEAS … CALL … war dabei, eine Anthologie, in der Gedichte deutschsprachiger Lyriker versammelt waren, die sich mit den USA auseinandersetzten. Darin fand ich einige Gedichte von Jörg Fauser, darunter 604 Riverside Drive. Ich lasse mich von Gedichten aufhalten, sie gehören zu meinem Leben, ich kann Zeilen auswendig, und aus diesem Gedicht sind es einige, und sie begleiten mich seit 1995. Ich denke manchmal, wenn ich noch spät unterwegs bin und durch fast leere Straßen laufe: »Es ist lange nach Mitternacht / und die Musik ist verstummt.« Nein, es sind keine großen Zeilen, warum müssen Zeilen auch groß sein? Sie haben sich eingeprägt, und das genügt. Und am Ende dieses Gedichtes wird es dann doch noch groß: »Neon Radar in

 

In einem Berliner Antiquariat in einer kleinen Straße in Kreuzberg, auf dem Sprung in die nuller Jahre, fanden regelmäßig Lyriklesungen statt. Es war meist voll, und manchmal fand ich einen Platz auf der Wendeltreppe. In dem Lyrikregal stand Goethe, Trotzki und das Glück, und Max, der Antiquar, ein netter Typ, der, egal wie warm es war, eine Wintermütze trug, wollte nicht mit mir handeln. »Das ist Fauser, Erstausgabe, tut mir leid, geht nicht!« Also bezahlte ich die 30 Mark, obwohl ich das Geld nicht überhatte.

 

In den nuller Jahren schrieb ich hin und wieder Buchbesprechungen für das Berliner Stadtmagazin tip. Ich achtete darauf, keine Lyrik zu besprechen. Ich wollte nicht über Gedichte schreiben, ich schrieb selbst Gedichte, und zwischen Gedichten und mir gab es zu wenig Abstand. Als 2005, im Rahmen der Werkausgabe, die der Alexander Verlag herausgab, Fausers Gedichte erschienen, dachte ich, es ist egal. Ich rief Ingo Schütte, den damaligen Textchef an – Fauser und Schütte sind Redaktionskollegen gewesen –, und schlug ihm einen Text über die Gedichte Fausers vor. Wir diskutieren nur kurz und dann sagte er: »Eine Seite für den guten Fauser!«

 

»Einen Schriftsteller, der nicht gelesen wird, halte ich für eine pathetische und sinnlose Figur.« Seitdem ich diesen Satz von Fauser das erste Mal hörte, lässt er mich nicht mehr

 

Vor zwei Jahren brannte der Goethe-Turm in Frankfurt-Sachsenhausen ab. Jedes Mal, wenn ich die Verwandtschaft

 

1973 erschien Fausers erster Gedichtband Die Harry Gelb Story im Maro Verlag, 1979 sein zweiter Gedichtband Goethe, Trotzki und das Glück bei Rogner & Bernhard. Drei Jahre nach seinem Tod editierte sein Freund Carl Weissner bei Rogner und Bernhard eine Gesamtausgabe, 2005 nahm sich der Alexander Verlag Fausers Werk an und gab es erneut heraus. Nun halten Sie diese Ausgabe mit den gesammelten Gedichten Fausers in den Händen, die aus den beiden erwähnten Bänden sowie verstreut publizierten Gedichten besteht. Sie werden, sollten Sie mit der Lyrik Fausers vertraut sein, auf einige Gedichte stoßen, die Ihnen unbekannt sein werden, da sie in keiner der bisherigen Gesamtausgaben vertreten sind. Dies ist nun – so hoffen wir – das Buch, in dem die Gedichte Jörg Fausers komplettiert sein dürf‌ten, und es heißt: Ich habe große Städte gesehen.

»Ich habe große Städte gesehen

und habe die großen Städte immer geliebt,

ihre Frauen, ihre Bars, ihre

Dämmerungen vor dem Gebrüll

der Maschinen und dem Sturm

auf die Bastille,

eine Straßenecke in Schöneberg

erregt mich tiefer

als der Schnee

auf dem Mont Blanc

oder die Wälder

im Untertaunus«

In diesen ersten beiden Strophen lassen sich die Themen, die Fausers Gedichte prägen, mühelos ablesen. Sie werden in diesem Buch kein einziges Naturgedicht finden, warum auch? Die Natur hat Fauser in der Literatur nicht interessiert, und sie gehörte vielleicht nicht zu den Orten, an denen sich Fauser bewegte. Die Dinge, die Fauser beschrieb, waren nah an seinem eigenen Erleben.

Sie werden in diesem Buch auf Gedichte stoßen, die in der Realität verankert sind, auf Gedichte, die autobiographische Züge haben, die in Marokko, New York, Paris und München angesiedelt sind. Auf Gedichte, die in einfacher, zugänglicher Sprache gehalten sind. Es gibt in diesen Gedichten keinen hohen, keinen abgeklärten Ton. Fauser hätte es gekonnt, keine Frage, lesen Sie seine klugen, wortgewandt formulierten Essays über Literatur. Sie werden auf Gedichte stoßen, die Sie vielleicht an US-amerikanische Gedichte aus den 70er Jahren erinnern, an Charles Bukowski, Jack Kerouac oder William S. Burroughs. Gedichte, geschrieben von einem, wie es in seinem Roman Rohstoff heißt, »Außenseiter, der bei den Außenseitern auf der Außenseite sitzt«. Diese Gedichte erzählen, sie bleiben selten stehen, sie treiben voran. Fausers Gedichte sind auf

»Morgens stellte sie mir Eistee ans Bett

und ging raus um die Hunde zu füttern.

Ich trank den Tee, zog mich an

und tappte durch den Wohnwagen

in die Sonne:

meilenweit nichts als Sandwüste

und Staub und drüben die violetten Berge

und 40 Grad im Schatten, wenn es Schatten

gegeben hätte.«

Sie werden auf Gedichte stoßen, die deutlich machen, dass Fauser genau und neugierig hinsah und denen, die er porträtierte, zugewandt war.

»Ein grauhaariger Herr nimmt am Nebentisch Platz,

sagt zum Kellner »Das Gleiche wie immer«

und bekommt: einen Kaffee,

ein Eisbein, einen Underberg.

Sorgfältig raucht er eine Juno,

zahlt, geht. Kein Wort zu viel.

Die Musikbox spielt Wenn ich denk dass ich denk«

Sie werden Gedichte über die Sehnsucht nach Liebe lesen, Gedichte über die Einsamkeit, Gedichte aus dem Trichter der Depression, und gerade die Gedichte, die einen auf dicke Hose machen, hinterlassen eine Traurigkeit, weil sie schlichtweg lächerlich sind, geschrieben von einem Macker,

 

Fast in jedem Gedicht gibt es mindestens ein alkoholisches Getränk. Fauser ging an gegen sich selbst, sei es als Süchtiger von Heroin und später Alkohol, sei es als Irrender, der sich schreibend suchte, »der auf dem Grund der Gläser angelangt ist / und immer noch nichts gefunden hat / außer der alten Hure Hoffnung«. Sei es als Wütender, der, die bundesdeutsche Gegenwart vor der Nase, Gedichte schrieb, die Vernichtungsphantasien nahekommen und am Ende des Gedichts, aus dem sogleich ein zitierter Ausschnitt folgt, der Regen »die Paradiese blank wäscht und ertränkt«.

»… die Sozialscheißer

hab ich über und die Klugscheißer,

die Dröhner und die Drohnen,

ihre Antiquitäten und Badewannen

und ihre ausgepowerte Phantasie, ihre

Harmlosigkeit, die sie so furchtbar macht,

ihre Ferienreisen und ihre Bürgerinitiativen,

ihre verchromte Seele und ihr

drittes Programm,

die Kinos hab ich über

und die Biergläser,

die Geographie und die Bettlaken«

Das Gedicht schraubt sich so tief in die Wut hinein, dass selbst die Geographie und die Bettlaken zu Zielen werden. Immer wieder finden sich in seinen Gedichten die Adjektive irre und kirre, das Wort Flackern, das Beschreiben der oberflächlichen Psyche, wenn der Körper mit dem Abbau von Substanzen zu viel zu tun hat und der Kopf nicht mehr nachkommt und zu flackern beginnt. Die Fokussierung auf Jörg Fausers Süchte, das Kaputte und das Heruntergelebte überdecken die politische Komponente, die seine Gedichte haben (»CSU in jedem Briefkasten«), sein Anschreiben gegen die Soldatengeneration, die Täter, die Kriegsversehrten, die in den 70er und 80er Jahren die deutsche Gesellschaft prägten. »Hier hatten sie ihre Lieder / gesungen, hier ihren / Hölderlin gelesen, hier / waren sie geschlachtet worden / und hatten geschlachtet, / hier kommen wir her.«

In der Fernsehsendung Autor-Scooter sagte Fauser: »Ich möchte mich ungern als Schriftsteller bezeichnen. Ich bin Geschäftsmann. Ich vertreibe Produkte, die ich herstelle.« Was für eine auf das Ökonomische heruntergebrochene, unterkühlte Betrachtung dessen, was es bedeutet,

 

1986, ein Jahr vor seinem frühen Tod – er wurde nachts bei München auf der A94 betrunken als Fußgänger von einem Lastwagen überfahren –, formulierte er die verbitterte Selbstauskunft: »Keine Stipendien, keine Preise, keine Gelder der öffentlichen Hand, keine Jurys, keine Gremien, kein Mitglied eines Berufsverbands, keine Akademie, keine Clique; verheiratet, aber sonst unabhängig.«

 

Noch 40 Jahre nach ihrer ersten Publikation scheinen Fausers Gedichte eine zeitlose Anziehungskraft zu haben. Die Orte sind andere geworden, das Personal verhält sich ähnlich. Morgens komme ich oft an einer Kneipe vorbei, die rund um die Uhr geöffnet hat und deren Inneres mit ihren an der Decke befestigten Instrumenten ein bisschen aussieht wie das Oberstübchen eines Alkoholikers nach dem dritten Bier des Tages. Sie beherbergt die Profis aus der

 

Wenn die Tanzbären der Postmoderne ihre nächsten effektiven Sachen geschrieben haben, die Nähe und Auseinandersetzung vermeiden und die so schnell verhallen wie Jean Baudrillards These vom Ende der Geschichte nach dem Einsturz des World Trade Centers, und wenn dann auch der übernächste heiße literarische Scheiß vorbeigezogen ist, werden Fausers Gedichte immer noch Leser*innen haben. Wie gut, dass er weder eine pathetische noch eine sinnlose Figur ist. Es braucht keine Vehikel als seine Texte, um das, was er schrieb, am Leben zu halten. Aber warum gibt es keinen Literaturpreis, der seinen Namen trägt? Einen Preis, mit dem Literatur ausgezeichnet wird, die bei denen ist, die unten sind? Für eine Literatur, die sich nicht scheut, die merkwürdige Unterscheidung zwischen ernsthafter und unterhaltsamer Literatur in die deutsche Biotonne zu treten? Es ist Zeit dafür.

 

Björn Kuhligk

London, lass ihn nicht im Stich, den schwächsten deiner Verehrer.

London, verlass mich nicht,

denn wie soll ich weiden mein Bedürfnis in der Sozialen Marktwirtschaft,

wohin ich gehör laut Personalpapier, wenn ich

es nicht gelernt hab’ wie die ordentlichen Leute?

London, ich bin nicht ordentlich,

ich hab’ meinen Schlafsack verschlampt in deinem Norden

und dreimal an den Buckingham Palace gespuckt und um meinen

Schlips gewürfelt in Soho und ihn verloren.

London, du bist nicht verloren,

du wirst in Whitehall verschachert, gewiss,

aber in Fulham getröstet, nie aufgegeben –

und wie schmiegt sich Hampstead zärtlich an dich!

London, du weißt, ich muss noch eine Weile sein in der Specköde,

wohinein mich mein Unglück geboren hat,

aber bald werde ich zurückkommen zu dir,

meiner Geliebten,

und wir werden die Feste feiern mit unseren Brüdern

und werden in der Nacht deine Lieder hören

in Finsbury Park,

wenn der Nebel steigt.

Und ruhelos sind wir, unterm scheinheiligen Himmel,

belad’nem Gewölk, leider etwas verseucht,

und wir fragen nicht, wovon das Geld kommt,

das wir nicht haben, und brüten nicht über den Umsturz,

der nie kommt,

London, da verschachern wir unser Gesangbuch;

da verladen wir unser Geheimnis.

London: da bin ich zu Haus.

Da bin ich zu Haus,

wo das Jahrhundert sich selbst frisst

für drei Penny im East End,

da bin ich zu Haus, wo ich unter angeschimmelten

Hüten spaziere auf Oxford Street um drei Uhr nach Mittag,

da bin ich zu Haus und allein,

ruhelos, fraglos.

London, wenn dein Gesicht sich öffnet am Abend

auf weinenden Straßen.

London!, wo der kalte Wind die Saiten streicht,

da freu’ ich mich des Lebens:

schon geht der Rauch mir voraus

zu den Wolken.

ein Weltrekord! Jeden Tag eine neue Erfindung!

Jeden Tag eine neue Bombe! Und jeden Tag

wählen die Lämmer den Metzger zum König!

Aber das schert mich nicht, nein.

Ich stelle keinen Weltrekord auf, ich erfinde nichts,

ich bin selbst die Bombe, ich bin Lamm

und Metzger und König.

Ich bin mein eigner Bruder und töte mich täglich

im Krieg – da ist immer irgendwo Krieg – und überlebe doch alle.

London, du wirst nichts mehr überleben,

du bist längst verschachert, verramscht und verkauft,

und darum liebe ich dich,

liebe ich dich unter strontiumbeladenen Wolken,

liebe ich dich unter deiner Haut von Ziegeln und Blech,

liebe ich dich, wo die Leute mit Fingern auf dich zeigen,

liebe ich dich unter deinem Rock von Nebel und Rauch,

liebe ich dich

und werde kommen zu dir bald und mein Gesicht betten

auf deinem Stein, wo dein Herz ist.

Da magst du mich lassen,

da werd’ ich zufrieden sein,

da bin ich zu Haus.

Frankfurter Hefte 1, 1964

Für Papi

24.12.64

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