Bellmann, Anna K. Under water

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Widmung

 

 

Für meine Familie

und das Meer

Zitat

 

 

Das Meer ist nur ein Behälter für all die ungeheuren, übernatürlichen Dinge, die darin existieren;
es ist nicht nur Bewegung und Liebe;
es ist die lebende Unendlichkeit.

Jules Verne

Im Hafen von Anchorage, Alaska

Noch 6 Tage.

Sie hatte die Nacht über kein Auge zu getan. Ihr Rücken schmerzte, und die Angst hatte sich langsam wie eine Spinne von ihrem Kopf zu ihrem Bauch bewegt und saß jetzt dort fest. Bewegungslos und giftig.

Sie konnte nichts essen. Sie hatte keinen Hunger. Oder sie spürte ihn nicht, weil das andere sich in ihrem Magen so breitgemacht hatte. Die Landmenschen mit den hervortretenden Augen und der leicht gelblichen Haut hatten ihr zwar Wasser und etwas Reis hingestellt, wollten ihr aber die Fesseln nicht abnehmen.

Wahrscheinlich halten sie mich für gefährlich. Merla musste ungewollt grimmig lächeln. Doch für Heiterkeit gab es überhaupt keinen Grund. Es sah ganz und gar nicht gut für sie aus. Die Verwandlung hatte bereits begonnen. An den Armen sah sie ihre Haut grünlich glänzen, und ihre Zehen ließen sich nicht mehr spreizen, sosehr sie sich auch bemühte.

»Verdammt«, flüsterte sie heiser und versuchte, die Fesseln an ihren Handgelenken zu ertasten. Doch die Knoten der Fischer waren doppelt und dreifach und jede noch so kleine Bewegung ausgeschlossen. Sie würde an das kleine Fläschchen, das sie um den Hals trug, niemals herankommen. Das war ihr klar.

Sie hörte ihren eigenen Atem keuchend von den Wänden ihres Gefängnisses widerhallen, während die Motoren des Fischtrawlers gleichmütig unter ihr wummerten.

Immer mit der Ruhe!, beschwor sie sich.

Doch es nützte nichts. Die Angst rührte sich, und ihr Gift floss durch ihre Adern: Ihr Puls und ihre Gedanken begannen zu rasen. Wo war Marc? Das Schiff? Wussten sie, was passiert war? Und: Wie viel Zeit blieb ihr noch?

Merla zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, aber jeder Zug, den sie nahm, schmeckte dünner und leerer. Wie absurd: Endlich konnte sie über Wasser atmen, und nun würde sie hier oben jämmerlich ersticken.

Aber sie hatte es einfach tun müssen! Die Rufe aus der Tiefe waren so voller Schmerz und Qual gewesen. Es war richtig gewesen, die unschuldigen Leben zu retten.

Aber was war nun mit ihrem eigenen Leben?

Immer wieder hörte sie Schritte. Männerstimmen, die laut riefen. Türen, die zuschlugen. Die Fischer würden ihren Augen nicht trauen, wenn sie entdeckten, was sie da gefangen hatten.

Ein Wesen, das kaum ein Mensch je zu Gesicht bekommen hatte, doch von dem die Seefahrer schon seit Jahrhunderten erzählten. Eine junge Frau mit auffallend langen Haaren, einer schimmernden Haut, graugrün wie angelaufenes Kupfer, und ungewöhnlich smaragdfarbenen Augen. Das konnte wohl noch als besondere Laune der Natur gelten. Von der Taille abwärts aber war der Unterschied zu jedem Menschen auf Erden unerklärbar: Ziemlich bald würden dort geschuppte, zart schimmernde Beine sein, die in noch mal halb so langen, geschwungenen Flossen endeten.

Das würde eine gelungene Überraschung werden! Unpassenderweise musste sie wieder lächeln. Sie sah noch einmal zu ihren Füßen, und das Lächeln verschwand, als ihr klar wurde: Mehr als zwei Stunden blieben ihr nicht.

Nun wäre es wirklich mal an der Zeit, dass er mich rettet, dachte sie noch, bevor sie das Bewusstsein verlor.

1

Maui, Hawaii

Vom Tag war noch kaum etwas zu sehen. Das wenige Licht hatte keine Farbe, war noch grau von den Schatten der Nacht. Nur die weißen Wellenkämme hoben sich deutlich von Meer und Himmel ab. Marc liebte genau diese Stimmung. Und vor allem liebte er es, allein zu surfen. Spätestens in einer Stunde würde die Sonne aufgehen und das Wasser voll sein mit Surfern, die noch kurz vor der Arbeit oder Schule eine Welle reiten wollten. Er atmete tief durch und streckte sich, dehnte seine müden nackten Beine, bevor er die vom vielen Paddeln muskulösen Arme in den Schultern kreiste. Dann lief er zum Wasser, warf sich auf sein Brett und arbeitete sich der tosenden Brandung entgegen.

Obwohl das Wasser hier im Pazifik nicht kalt war, wirkte das erste Tauchen unter einer Welle hindurch wie eine Dose Coke auf ex. Augenblicklich war Marc hellwach. Die Wellen brachen heute sauber. Auch wenn er kaum etwas sehen konnte: Marc wusste genau, wo er sein musste, um sich den ersten perfekten Ritt des Tages zu holen.

Als er endlich draußen war – wo die Dünung das Wasser nur noch hob und senkte –, setzte er sich auf sein Brett und drehte sich um.

Die Silhouette der Berge hob sich dunkel gegen den Himmel ab. Noch war nicht zu erahnen, in welches Paradies die Sonne die Insel bald verwandeln würde. Fettes, glänzendes Grün, Blumen in allen Farben und dazu Menschen, die mit »Aloha« grüßten und gerne mal die Arbeit links liegen ließen, um surfen zu gehen. Es war das größte Glück seines siebzehn Jahre währenden Lebens gewesen, dass sein Vater gerade hier auf Hawaii einen Job als Meeresbiologe bekommen hatte. Wer wollte schon im kalten, nebligen San Francisco aufwachsen, wenn hier einfach alles perfekt war? Das Wetter, die Wellen und auch die Mädchen waren irgendwie entspannter.

Bevor Marc anfangen konnte, seinen Gedanken über Mädchen im Allgemeinen und eines im Speziellen nachzuhängen, sah er eine Welle ganz nach seinem Geschmack das Wasser auftürmen. Eigentlich ahnte er sie mehr, als er sie sah. Doch schnell drehte er sein Board, legte sich ins Hohlkreuz und paddelte an. Die Welle hob ihn hoch, er spürte, wie sein Brett ins Gleiten kam, machte noch zwei schnelle Züge und sprang auf. Adrenalin und eine große Dosis Glück durchströmten ihn, als er die Welle entlangschoss und sein Brett in weichen, aber schnellen Schwüngen die Wasserwand zerfurchte.

Der Schatten direkt vor ihm brachte seinen Ritt abrupt zum Ende. In Bruchteilen von Sekunden registrierte er, dass es weder eine Schildkröte noch ein Hai war. Zum Glück! Eine Frau mit sehr langen Haaren schwamm da vor ihm. Sie hatte kein Brett, surfte auf dem Bauch, einen Arm zum Lenken nach vorn gestreckt.

Was zum Teufel machte die da auf seiner Welle? Es war doch definitiv kein Surfer mit ihm auf dem Wasser gewesen, und oben auf dem Parkplatz hatte auch kein Auto gestanden.

Er strauchelte. Das Meer gönnte ihm diesen kurzen Moment der Ablenkung nicht. Er hatte über die Schrecksekunden zu viel Geschwindigkeit verloren, und die donnernden Wassermassen hinter ihm hatten ihn eingeholt. Wie von einem unsichtbaren Seil gezogen, riss die Welle ihm das Brett unter den Füßen weg, sog es in sich hinein und zog Marc hinterher. Sein Körper wurde nach oben gerissen, und er wusste, was gleich kam: Er würde auf das Riff prallen, als würde ihn ein wütender Riese dagegen schleudern. Das kannte er schon, so ein heftiger Waschgang gehörte zum Surfen dazu.

Es würde wehtun, aber er würde es überleben.

Instinktiv schlang er noch die Arme um den Kopf, schon knallte er mit dem Hinterkopf auf den harten vulkanischen Meeresboden. Er war zwar nur kurz ohnmächtig, aber als er wieder zu sich kam, schrien seine Lungen bereits heftig nach Sauerstoff. Weil es auch im Wasser noch dunkel war, hatte er komplett die Orientierung verloren. Marc tastete zu dem Fuß, an dem das Surfboard festgebunden war, und hoffte, dass es noch da war. Ja, die Leash war nicht gerissen. Gut – das Brett würde Richtung Oberfläche aufsteigen. Das war seine Chance. Seine Lungen brannten und seine Beine schlugen hektisch im Wasser, versuchten verzweifelt, schneller in Richtung der rettenden Luft zu paddeln. Noch unerträglich weit weg sah er das Wasser minimal heller werden, und mit letzter Kraft kämpfte er sich nach oben. Keuchend holte er Luft – endlich. Doch das Meer gab ihm keine Chance zum Ausruhen. Kaum hatte er ein paarmal hektisch eingeatmet, rollte die nächste Welle wie ein heranrauschender Schnellzug über ihn hinweg. Wieder wurde Marc nach unten in die Dunkelheit gedrückt, und er wusste genau, dass das bisschen Sauerstoff in seinen Lungen nicht mehr lange ausreichen würde. Während er hektisch mit Armen und Beinen ruderte, suchte er verzweifelt nach einem Lichtschimmer. Vergebens. Seine Bewegungen waren ohne Ziel. Um ihn war nur Dunkelheit. Dann wurde es noch dunkler, sein Körper kraftloser. So ist es also, dachte Marc und wurde schlagartig ruhig.

***

Wohin war er verschwunden? Merla hatte den Surfer zu spät geortet. Sie wäre niemals in die Welle gegangen, wenn sie den Landmenschen vorher bemerkt hätte. War er zum Strand oder wieder nach draußen gepaddelt? Merla stieß sich mit einigen kräftigen Flossenschlägen in die Tiefe und wollte gerade zurück ins offene Meer schwimmen, als sie einen leblosen Körper unter sich treiben sah. Unsicher sah sie sich um – sie schwamm in fünf Meter Tiefe, und weit und breit war kein anderer Meeresbewohner zu sehen. Sollte sie es riskieren und den Nichtschwimmer retten?

Sie wusste, es war verboten. Strengstens verboten! Aber wahrscheinlich war sie selbst der Grund dafür, dass er jetzt ertrank. Schließlich hatten sie dieselbe Welle gesurft. Vielleicht war sie ihm im Weg gewesen und er war deshalb gestürzt … Merla schob die Zweifel beiseite. Sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken! Sonst käme sie zu spät. Sein Körper lag bereits reglos am Meeresboden. Rasch schwamm sie zu ihm hinunter und packte ihn an den Schultern. Mit schnellen, kurzen Flossenschlägen nahm sie Geschwindigkeit auf und glitt mühelos Richtung Wasseroberfläche. Als die Brandung sprudelnd und schäumend über sie hinwegrauschte, wagte sie einen Blick auf den Jungen, der schlaff in ihren Armen lag: Wasser lief ihm aus den Mundwinkeln, seine Lippen schimmerten bläulich.

Bei der leuchtenden Sonne! Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!, dachte Merla und suchte mit den Augen die Felsen und das sandige Ufer ab. Sie brauchte einen Platz, wo sie ihn ungesehen an Land bringen konnte und die Wellen ihn nicht gleich wieder zu sich holen würden. Da – hinter einem vorgelagerten Felsen schien das Wasser flach und geschützt zu sein. Als der Junge sicher auf dem steinigen Grund lag, beugte sie sich über ihn und hoffte, dass noch etwas Leben in ihm war. Doch es war zu spät. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Was sollte sie tun? Konnte man das Herz vielleicht wieder aktivieren? Bei ihresgleichen funktionierte so etwas im Notfall. Zaghaft presste sie die Hände auf sein Brustbein und begann, im Rhythmus eines kräftigen Herzschlags zu drücken. Immer wieder setzte sie ab und horchte auf den Herzschlag des Erdenmenschen. Nichts.

»Oh mein Gott! Was machst du denn da? Hast du noch nie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht? Eine Herzmassage hat nichts mit Streicheleinheiten zu tun. Geh mal zur Seite!«, herrschte sie die Stimme eines Mädchens an, das irgendwie aus dem Nichts aufgetaucht war. Mit energischem Schwung stützte diese sich auf den Brustkorb des Jungen und drückte ihn so heftig ein, dass die Rippen sich sichtbar nach innen durchbogen. »Los, du musst ihn beatmen! Nun guck nicht so – mach schon!«

Merla hatte keine Zeit, sich von dem Schock zu erholen. Noch ein Erdenmensch! Sie drehte sich kurz um und sah, dass ihre Flossen zwischen den Felsen im Wasser verborgen waren. Zu verschwinden war jetzt noch auffälliger, als zu bleiben. Aber ihm Atem geben? Noch hatte sie genug Luft für zwei in ihren Adern, aber bald würde sie ihren Kopf wieder unter die Wasseroberfläche bringen müssen, um nicht zu ersticken.

»Jetzt mach schon! Er stirbt!« Die Stimme des Mädchens schrillte panisch in ihren empfindlichen Ohren, und es war mehr ein Reflex als vernünftige Überlegung, als sie ihre Lippen auf seinen Mund presste.

Merla hatte ihr zweites Atemsystem bisher noch nie benutzt, doch nun musste sie ihre Lungen einsetzen. Der Sauerstoff wurde aus ihrem Blut in die Lungenbläschen gedrückt, und sie atmete mehr Sauerstoff aus, als es ein Erdenmensch je könnte.

Sie blies in seine Lungen, gab ihm ihre letzten Reserven, während das andere Mädchen wie wild auf sein Brustbein eindrückte. Der Brustkorb hob und senkte sich bei jedem geschenkten Atemzug und bebte heftig unter den Stößen der Herzmassage. Bitte! Nicht sterben! Es war ihre Schuld, dass er hier mit dem Tod rang. Nur ihre! Sie mussten es einfach schaffen.

Merla wusste nicht, wie viel Zeit schon vergangen war, wie oft sie ihm ihren Atem geschenkt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das Mädchen nicht bemerkte, dass sie nie absetzte, um Luft zu holen.

Da! Merla sah die Augäpfel des Jungen unter den geschlossenen Lidern zucken und gab ihm noch einen Zug rettender Luft. Hustend und keuchend atmete der Junge ein, spuckte einen Schwall Wasser aus und öffnete die Augen.

***

Das Erste, was er wahrnahm, waren grüne, eigentümlich leuchtende Augen, die ihn durchdringend und fremdartig ansahen. Dann eine Stimme, die zu ihm sprach, obwohl der Mund des Gesichts vor ihm sich gar nicht geöffnet hatte. »Wow! Er lebt, er lebt – wir haben es geschafft! Fast hätte ich gedacht, du packst es nicht, Marc!«, jubelte die Stimme und Marc bemerkte, dass es ein zweites Mädchen war, das gesprochen hatte und nun neben ihm auf und ab hüpfte. Er hatte sie schon öfters auf dem Wasser gesehen, fiel ihm ein. Sie surfte gut. Und ging auf dieselbe Schule wie er – zwei Klassen unter ihm. Oder drei? Marc drehte sich wieder zu dem anderen Gesicht mit den grünen Augen um und versuchte vorsichtig, sich aufzusetzen. »Okay, ich schätze, ich bin nicht tot, aber das war ziemlich nah dran.« Er wischte sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Verdammte Waschküche da draußen! Bist du in meiner Welle gesurft? Falls du mir das Leben gerettet hast, würde ich dir sogar verzeihen, dass du mir die beste Welle des Morgens vor der Nase weggeschnappt hast … Wo kamst du überhaupt her? Bist du in die Welle getaucht?« Er sah sie ungläubig an. »Ihr Body-Surfer seid echt total verrückt!«

Zögernd antwortete das Mädchen: »Tut mir leid, normalerweise bin ich immer allein auf dem Wasser, ich habe dich nicht gesehen.« Ihre Stimme klang rau, aber gleichzeitig seltsam weich und melodisch. Als sei sie es nicht gewohnt, sie zu benutzen, dachte Marc. »Wie heißt du überhaupt?«

***

Merla sah den Jungen jetzt zum ersten Mal richtig an: Er hatte braune Locken, aus denen das Wasser lief, braune Augen und ein Grübchen in der rechten Wange, als er sie anlächelte. Alles wurde plötzlich gleißend hell, und das Leuchten des Lichts traf sie absolut unvorbereitet.

»Merla, die Wagemutige, Tochter des Wassers«, antwortete sie wie ferngesteuert.

Der Schock war wie ein Schlag ins Gesicht. Erst als sie den Klang ihres eigenen Namens hörte, wurde ihr bewusst, was das bedeutete. Ihr wurde eiskalt und ihre Schuppen erzitterten. Doch das Leuchten blieb.

»Echt? Schöner Name!« Marc lachte leise. »Bisschen dramatisch vielleicht, aber heute hast du deinem Namen auf jeden Fall alle Ehre gemacht«, fügte er hinzu, während er sich fragend zu dem anderen Mädchen drehte.

»Keana, die, die auch gern im Wasser ist«, sagte sie breit grinsend, »Wir kennen uns aus der Schule, ich bin in der Neunten, und du darfst dich ruhig auch bei mir bedanken. Ohne mein beherztes Zupacken wäre das nix mehr geworden mit dir! Die da hatte von …«

… Herzmassage keine Ahnung, hatte sie sagen wollen, aber als sich Keana zu der Stelle wandte, wo eben noch das andere Mädchen gesessen hatte – war da niemand mehr.

»Wo ist sie?« Keana blickte sich suchend um. Marc sah nur einen dunklen Fleck, dort, wo Merla eben noch gewesen war. Gleichmütig spülte der Pazifik seine Wellen über die Felsen vor ihm. Das Mädchen mit den grünen Augen und der fremdartigen Stimme war verschwunden.

2

Was für eine Katastrophe! Was sie getan hatte, war entsetzlich, und von Sekunde zu Sekunde war es nur noch schlimmer geworden. Sie hatte nicht nur das Gesetz gebrochen, sondern gleich alles falsch gemacht, was nur möglich war.

Merla schüttelte verzweifelt den Kopf, sodass ihre hüftlangen Haare im Wasser wie ein lebendiges Wesen um ihren Körper schwebten. Nie! Niemals durfte sich ein Meermensch den Landwesen zeigen.

Allein das würde schreckliche Konsequenzen haben. Merla erschauerte.

Aber noch viel weniger durfte sie jemandem, den sie nicht kannte, ihren wahren Namen verraten. Den durfte nur ein Einziger hören! Nur der eine! Der, der das ewige Licht entzündete.

Aber sie hatte ihm ihren wahren Namen ja auch gar nicht sagen wollen! Er war wie von allein von ihren Lippen geglitten. Was war nur in sie gefahren?

Merla schloss die Augen und drehte sich mit langsamen Bewegungen um die eigene Achse – das tat sie immer, um sich zu beruhigen.

Nur diesmal half es nicht. Kein bisschen! Bei der Vorstellung, er würde ihren Namen rufen, riss sie erschrocken die Augen auf und erstarrte. Sie würde zu ihm kommen müssen. Und sich ihm so zeigen, wie sie war: ein Mädchen des Meeres mit schimmernden Schuppen an den langen Beinen, die in schlanken Flossen endeten. Sie konnte nur hoffen, dass dieser Marc noch zu benommen gewesen war und ihren Namen längst wieder vergessen hatte.

Merla versuchte Ordnung in ihre wild rasenden Gedanken zu bringen, aber in ihrem Kopf schwirrte es wie ein Schwarm Makrelen auf der Flucht.

Galt der Bund des Namens überhaupt auch für die Males? Das Geschenk des ewigen Lichts war selten, nur wenige Wesen des Meeres empfingen dieses größte Wunder des Lebens. Und wurde einem die Gnade zuteil, so war der wahre Name der erste Schritt, der den Bund zwischen den Liebenden besiegelte.

Jedes Meerwesen wusste von den ersten

Flossenschlägen an, dass die Nennung des wahren Namens unumkehrbar war. Es war ein Versprechen, das man nur einmal im Leben geben konnte. Nur einmal oder niemals. Ein Bund für die Ewigkeit.

Ein dicker Knoten verstopfte Merla den Hals und drückte ihr Tränen in die Augen. Reiß dich zusammen! Noch ist ja gar nichts sicher!, versuchte sie, die verstörenden Gedanken zu beruhigen, und schwamm langsam nach Hause.

»Was ist denn mit dir los, hat dich ein Wal gerammt?« Die Stimme holte Merla jäh in die Wirklichkeit zurück.

»Du machst ja ein Gesicht wie ein Tintenfisch.« Maris lachte, und seine hellblauen Augen strahlten vor Vergnügen. »Na, Schwesterherz, hast wohl eine Welle zu viel gesurft, oder warum bist du so grün im Gesicht?«

»Ach, lass mich in Ruhe«, Merla warf ihm einen giftigen Blick zu und tauchte unter ihrem Bruder ab.

»Hey, war ja nur ’ne Frage!«

Maris war niemand, der sich schnell abwimmeln ließ. Mit einer schnellen Drehung war er wieder vor ihr und sah sie fragend an. Auch wenn er manchmal extrem nervte – Merla liebte ihren Bruder.

»Jaja, schon okay«, murmelte sie halblaut, »die Wellen waren heute nicht so gut und ich hab schlechte Laune.«

Mit schnellen Flossenschlägen ließ sie ihn hinter sich und schwamm in den Wald aus hohen Algen, der sich hier kilometerweit über den Meeresboden erstreckte. In dieser Tiefe bewegte sich das Wasser kaum noch und wie Bäume ragten die mächtigen breiten Algen in die Höhe. Die einzige Lichtquelle kam von kleinen Fischschwärmen, die wie leuchtende, weiße Wolken durch den Wald schwebten. Aber Merla konnte selbst im Dunkeln etwas sehen, ihre Iris glich der einer Katze an Land.

Als sie sich der großen Felsenöffnung näherte, hinter der sich die Siedlung der Meermenschen verbarg, blickte sie sich noch einmal um. Maris war ihr zum Glück nicht gefolgt.

Die riesige Grotte unter dem Meeresboden lag mehr als zweihundert Meter unter der Oberfläche. Außerhalb der Grotte war Licht nur noch wie eine schwache Erinnerung. Aber die Wesen, die hier lebten, brauchten es nicht. Trotzdem war es in der Siedlung nicht dunkel. Algen, die von den Meermenschen angepflanzt waren, spendeten ein weißlich violettes Licht, das sowohl die einzelnen Wohngrotten als auch die Wege dazwischen diffus silbrig beleuchtete. Spezielle Korallenzüchtungen, die mit wenig Licht auskamen, leuchteten in allen Farben. Muschelkolonien waren zur Zierde um die einzelnen Höhlen ansässig gemacht worden, und Schwärme von Leuchtfischen lebten zwischen den Korallen. Kein Mensch hätte ahnen können, welche Vielfalt und Farbenpracht sich hier tief unter der Wasseroberfläche verbarg.

Ein hässlicher Viperfisch kreuzte plötzlich ihren Weg, als Merla in die Höhle ihrer Familie eintauchte.

»Hast du dich verschwommen? Verzieh dich«, murmelte sie und schubste ihn mit einer kleinen Flossenbewegung leicht durchs Wasser.

»Merla! Wo warst du denn so lange?«

Die durchdringende Stimme ihrer Großmutter verriet, dass sie ernsthaft böse war. Eigentlich war sie die Sanftheit in Person, doch seit dem Verschwinden ihrer Tochter – Merlas Mutter – war sie ständig in Sorge. Eine Verspätung, und das so kurz vor Anbruch des Tages, war eine mittlere Katastrophe.

»Ich bin doch da, Mommie, es ist alles in Ordnung«, versuchte es Merla mit einem fröhlichen Tonfall, um ein Donnerwetter abzuwenden.

Aber dafür war es bereits zu spät. Mit blitzenden Augen funkelte Selva ihre Enkelin an, und am Schimmern ihrer Schuppen erkannte Merla, dass es mehr als nur eine Ermahnung geben würde.

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du pünktlich zum Sonnenaufgang zu Hause sein sollst!? Meinst du, es macht mir Spaß, dich ständig zu ermahnen? Und dieses Wellenschwimmen, das du da betreibst – meinst du, ich wüsste das nicht? Glaubst du etwa, deine Mommie würde hier nur so vor sich hin schwimmen und wäre zu alt, um irgendetwas mitzukriegen? Denkst du nicht, du …?«

Jäh unterbrach Selva ihre Schimpftirade, als sie in Merlas Gesicht blickte.

»Aber, Liebes, was ist denn los? Du weinst ja! Geht es dir nicht gut?« Besorgt nahm sie Merla an die Hand und zog sie zu sich. In Merlas Kopf drehte sich alles, und ihr war so schlecht, als hätte sie verfaulte Fischköpfe verschluckt, aber der liebevolle Ausdruck im Gesicht ihrer Mommie beruhigte sie etwas. Sie überlegte, ob sie sich schnell etwas ausdenken sollte, aber das Unvermeidliche würde sowieso passieren, und bald wüsste jeder, dass sie eine Gesetzesbrecherin war. Eine Gesetzesbrecherin, die bestraft werden musste.

Ihre Stimme überschlug sich, als es aus ihr heraussprudelte:

»Ich musste es tun! Ich konnte ihn doch nicht ertrinken lassen, schließlich ist es ja auch meine Schuld gewesen! Und dann hat er mich gefragt und ich habe ihm geantwortet. Verstehst du? Ich war so verwirrt, dass da dieser Mensch mit mir sprach – ich habe gar nicht gemerkt, dass er ein Mensch war. Das heißt, doch, klar habe ich das gemerkt, aber der Name kam einfach so aus mir heraus. Ich wollte ihn gar nicht sagen!«

Fast trotzig sah sie Selva in die Augen, die betroffen schwieg. »Mommie?«

Merla versuchte in den Augen ihrer Großmutter zu lesen, aber die waren unergründlich grün. Erst als sie anfing zu sprechen, bemerkte Merla den Ausdruck von Schmerz in den Augen der alten Meerfrau.

»Du weißt, was das bedeutet«, sagte Selva mit leiser Stimme. »Du wirst dich vor dem höchsten Rat verantworten müssen.«

Merla hob zornig die Augenbrauen. »Aber warum denn? Niemand hat mich gesehen. Es war keiner dort, ich bin auf dem Rückweg nur Maris begegnet, und der wird wohl kaum seine eigene Schwester verraten.«

Aber sie wusste, dass das mehr Wunsch als Wahrheit war. Das Meer vor den Inseln war ein einziger Marktplatz. So viele Lebewesen, die sich dort tummelten. Ja: Wale und Delfine konnten mit ihrem feinen Sonar sehr wohl bemerkt haben, dass ein Wasserwesen für längere Zeit keine Schallwellen entsandte. Schließlich war sie doch mindestens für eine Viertelstunde an Land gewesen, um den Menschen zu retten.

Noch dazu kalbten die Wale gerade. Von Norden, vom kalten Meer aus, waren in den letzten Tagen mehr und mehr Buckelwale eingetroffen, um hier vor den Inseln zu gebären. Ihr Gesang erfüllte seitdem das Wasser. Merla liebte diese besondere Zeit der Lieder. Fast bis zur nächsten Kolonie konnte man die Gesänge eines Wales hören, und um diese Zeit sang es aus jeder Richtung. Die Wale hörten alles, sogar manches Signal an Land.

Würden die Wale als Zeugen befragt, stünden ihre Chancen wahrscheinlich schlecht. Sie würde die Wahrheit nicht verbergen können.

Merla fühlte eine kalte Welle der Panik von ihrem Herzen aus Richtung Flossen fließen und sah ihre Großmutter fragend an. Sanft nahm Selva ihre Enkelin in den Arm und blies ihr zarte Luftblasen auf die Augen, so, wie sie es bereits getan hatte, als Merla noch ein kleines Meermädchen gewesen war. Doch die beruhigende Wirkung stellte sich nicht ein.

Merla registrierte eine heftige Wasserbewegung, und als sie sich aus den Armen ihrer Großmutter löste, sah sie ihre Schwester in der Wohnhöhle auftauchen. Sira war älter als Merla und normalerweise beherrscht und gelassen, doch schon an ihrem hektischen Auftauchen erkannte man, dass sie in Aufruhr war.

»Du sollst sofort vor dem Hohen Rat erscheinen, Merla! Sofort! Akana lässt überall nach dir suchen, und die Wale rufen, sodass man es bis zur großen Dunkelheit hören kann. Was ist denn passiert?«

Merla versuchte, ihre erneut aufsteigende Panik unter Kontrolle zu halten, als sie mit mühsam beherrschter Stimme antwortete: »Er ist ein Teres und heißt Marc, und ich musste ihn einfach retten.«

Ihre Schwester sah sie bestürzt an und nahm sie in die Arme.

Merla verbarg ihr Gesicht in Siras Locken und sprach nicht noch aus, was ihr Herz schier zum Bersten bringen wollte: Und ich fürchte, es ist geschehen. Das Licht hat uns getroffen. Zumindest mich, und sie erschrak über dieses Gefühl, das glitzernd hinter der Angst vor dem, was jetzt passieren würde, hindurchschimmerte.

3

Marc hatte keine Zeit gehabt, sich noch lange über das verschwundene Mädchen zu wundern. Keana war achselzuckend zu ihrem Surfbrett gegangen und hatte ihm nur noch ein »Bis später, ich versuch noch schnell ’ne Welle zu schnappen« zugerufen. Er rieb sich die schmerzende Brust und befühlte vorsichtig die Stelle an seinem Hinterkopf, wo er auf den Meeresboden aufgeschlagen war. Es tat verdammt weh, und die Beule schien ihm fast hühnereigroß.

Der Parkplatz, auf dem sein alter Ford stand, war jetzt nicht mehr so leer. Marc musste einen Augenblick suchen, bevor er seinen Wagen entdeckte. Kurz dachte er darüber nach, ob er vielleicht die Schule sausen lassen sollte – seine Beule war ziemlich überzeugend –, aber er konnte es sich nicht leisten, die letzten Vorbereitungsstunden in Chemie zu verpassen. Außerdem war dieser Kurs sein einziger mit Leilani. Der Gedanke an sie ließ ihn kurzfristig seinen Schmerz vergessen, und er fuhr zügig durch die Ananasfelder zur Hauptstraße Richtung Kahului.

Die West-Maui-Mountains-Highschool war so ziemlich die coolste Schule, die er je besucht hatte, und das sollte was heißen, denn Marc hatte schon viele Schulen besucht. Er war in Deutschland geboren worden und hatte dort die ersten acht Jahre seines Lebens verbracht. Als sein Vater angefangen hatte, Projekte beim GEOMAR Forschungszentrum in Kiel zu betreuen, waren sie von Köln nach Kiel gezogen, und seine ersten Grundschuljahre hatte Marc auf einer kleinen Dorfschule am Ostufer der Kieler Förde verbracht. Aber die Karriere ihrer Mutter ging in Deutschland nicht voran, und beide Eltern hatten schon immer vom Auswandern geträumt. Als seine Mutter die Stelle in Amerika angeboten bekam, war der Jubel zu Hause riesig, sein Vater hatte die Esstischlampe mit dem Champagnerkorken getroffen, und alle freuten sich über die Scherben, die Glück bringen sollten. Das erste Jahr in den USA war wie im Flug vergangen. Englisch hatte er schnell gelernt, und es fiel ihm schon fast schwer, in seiner Muttersprache zu denken, als sie von New York nach Phoenix zogen, wo ihre Mutter einen gut bezahlten, aber zeitintensiven Posten am Krankenhaus bekam und ihr Vater nur am Wochenende zu Hause war, weil er sich als Meeresbiologe in Phoenix fühlte wie ein Fisch im Wald.

Die Karriere seiner Eltern blühte in dem Maße auf, wie ihre Ehe den Bach runterging. Bis sich seine Eltern schließlich trennten und sein Dad einen Job in San Francisco angeboten bekam. Für Marc und seinen Bruder Leo war die Entscheidung, mit ihrem Vater zu gehen, nicht einfach gewesen. Aber ihre Mutter hatte in ihrem Job als Ärztin in der Forschung manchmal so viel Zeit im Krankenhaus verbracht, dass ihr Vater ihnen einfach näherstand. Außerdem war Carla eine ziemliche Landratte: Wasser war ihr schlichtweg zu nass. Während die Brüder schon früh die Leidenschaft ihres Vaters fürs Surfen geteilt hatten. Trotzdem: San Francisco war nicht perfekt gewesen. Das Wasser kalt, die Haie hungrig und die Mitschüler eher Schnösel, die für Surfer so viel übrig hatten wie ein klassisches Orchester für Gangsta-Rapper. Deshalb war Hawaii und speziell Maui für Marc und Leo ein echter Glücksfall. Leo konnte hier seine Profi-Surfer-Ambitionen so richtig ausleben, und es verging kein Tag, an dem sein kleiner Bruder nicht nach der Schule noch mindestens drei Stunden in den Wellen von Ho’okipa trainierte. Er war gut, richtig gut – das gestand Marc seinem Bruder neidlos zu. Er selbst surfte zwar auch ganz passabel, aber nicht unter Druck bei einem Wettkampf. Seine Ergebnisse waren da nicht besonders motivierend, weshalb er das Trophäen-Surfen seinem Bruder überließ und sich über die Wellen freute, die er im Morgengrauen ganz für sich allein hatte. Ihm fiel das Mädchen mit den grünen Augen wieder ein, und je länger er darüber nachdachte, umso seltsamer erschien ihm die Begegnung am Morgen. Was war nur mit ihrer Stimme gewesen und wie hatte sie die große Welle überhaupt anpaddeln können? Sie musste eine verdammt gute Bodysurferin sein. Im Gegensatz zu anderen Surfern benutzten die Bodysurfer kein Brett, sondern nur ihren Körper, um die Wellen entlangzugleiten. Es brauchte eine extrem athletische und schnelle Schwimmerin, um die Drei-Meter-Wellen von Ho’okipa zu surfen. Und so eine Schwimmerin hätte ihm längst vorher auffallen müssen.

Marc bog auf den Schulparkplatz ein und sah schon von Weitem Leilani mit zwei ihrer Freundinnen in der Nähe des Schultors stehen. Hektisch parkte er ein und versuchte möglichst lässig auf die drei Mädchen zuzuschlendern. »Hi!« sagte er, bemüht, einen entspannten Eindruck zu machen. Doch mehr als ein kurzes »Aloha« und ein flüchtiger Blick kam nicht zurück. Enttäuscht registrierte Marc die gleichgültige Reaktion. Leilani war so ziemlich das hübscheste Mädchen der Schule – für Marc stand sie ganz oben auf der Hotlist. Mit ihren langen dunklen Haaren und den sanften braunen Augen sah sie aus wie eine Südsee-Schönheit aus dem Bilderbuch. Sie gab Hula-Stunden für die jüngeren Klassen, und Marc hatte gesehen, wie anmutig und wunderschön sie den Tanz ihrer Vorfahren tanzte. Nach einigen oberflächlichen Schwärmereien interessierte Marc sich bereits seit einer Weile ernsthaft für Leilani. Und er plante fest, sie um ein Date zu bitten, wenn sich endlich mal eine passende Gelegenheit dafür ergab.

Was für ein verkorkster Morgen, dachte Marc, als er sich auf seinen Stuhl im Chemieraum fallen ließ.

»Alles, was wir Menschen bisher mit Sicherheit sagen können, ist, dass nichts sicher ist.« Mit solchen oder ähnlichen philosophischen Weisheiten eröffnete Mr Burns gerne seinen Unterricht und holte dabei sein Laptop aus der Tasche. »Wer hat diesen so klugen Satz gesagt? Okay, ihr wisst es wahrscheinlich sowieso nicht«, fügte er sofort hinzu, »Joachim Ringelnatz, ein deutscher Schriftsteller und Kabarettist. Vergesst es besser schnell wieder, sonst werdet ihr noch für Freaks mit bedenklichem Inselwissen gehalten. Interessanterweise hat der schlaue Mann auch noch gesagt: ›Und nicht mal das ist sicher.‹« Er grinste zufrieden. »Und damit zur Chemie und zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfung in diesem Jahr.«

Marc versuchte sich zu konzentrieren, merkte aber schnell, dass es heute nahezu unmöglich war. Von der Beule am Hinterkopf breitete sich langsam, aber sicher ein pochender Kopfschmerz bis in seine Haarspitzen aus. Und immer wieder tauchte das so fremd scheinende Mädchen in seinen Gedanken auf und sah ihn aus unergründlich grünen Augen an. Als es endlich klingelte, hatte er nicht eine Sekunde vom Unterricht mitbekommen.

Nach ebenso sinnlosem Englisch- und Biologieunterricht schleppte sich Marc hungrig und ausgelaugt in die Mensa. Sein Kopf wummerte bei jedem Schritt, und er war froh, abseits des Lärms einen Platz am Tisch neben seinem Bruder zu finden, der ausnahmsweise mal allein saß.

»Du siehst ja übel aus«, begrüßte Leo ihn mit einem kurzen Lächeln und wandte sich dann wieder seiner Pasta zu.

»Danke, dass du mir das auch noch sagst, Bruderherz. Du musst mich auch nicht fragen … aber falls du es wissen willst: Ich wäre heute beim Surfen fast draufgegangen.«

Der ernsthafte Ton in Marcs Stimme ließ Leo aufschauen, und er sah seinen Bruder besorgt an.

»Wenn mich nicht eine grünäugige Schönheit gerettet hätte«, fügte Marc beiläufig hinzu. »Ich erzähl’s dir gleich. Ich hol mir nur kurz ein paar Nudeln.«

Marcs nur knapp ein Jahr jüngerer Bruder hätte fast ein Klon von ihm sein können – zumindest was Größe, Körperbau, Gesichtsform und sogar die tiefe, volle Stimme betraf. Nur bei den Farben hatte die Natur eine andere Variante gewählt: Leo war blond und hatte die blauen Augen ihrer Mutter geerbt. Seine Grübchen waren erstens beidseitig und zweitens noch tiefer als Marcs, was daran lag, dass Leo einfach eine echte Frohnatur war. Mit ihm gab es immer etwas zu lachen. Er war beliebt und normalerweise von einem ganzen Schwarm von Freunden und Fans umzingelt. Allerdings waren seine liebsten Beschäftigungen nicht besonders sozial: Außer fürs Surfen begeisterte sich Leo nur noch für Logarithmen und Computerspiele. Manchmal schrieb er sogar Programme für eine Softwarefirma in Los Angeles, und Marc bewunderte ihn für seine Fähigkeiten. Obwohl er das Leben deutlich lockerer nahm, bekam er extrem viel geregelt. Oder vielleicht gerade wegen seiner Lockerheit, mutmaßte Marc öfter.

Als Marc mit einem Teller voll bunter Pasta zurückkam, hatte Leo bereits aufgegessen und sah seinen Bruder erwartungsvoll an.

4

Der Rat, bestehend aus drei Meermenschen und vier Meeresbewohnern, war bereits vollzählig, als Merla – flankiert von ihrer Familie – in die Mitte der großen Halle schwamm. Wobei groß noch deutlich untertrieben war! Hoch wie eine gigantische Kathedrale war der Krater des Vulkans und ebenso kunstvoll gestaltet. Schnitzereien aus Perlmutt und Muschelkalk bedeckten die Wände. Und auch die lichtdurchlässige Decke der Kuppel war von Meermenschenhand geschaffen: Im Magma geschmolzener Sand war zu riesigen, lichtdurchlässigen Platten geformt worden, die den zylinderförmigen Krater nach oben abschlossen und ihn so von oben unsichtbar machten.

Doch die vorherrschende Farbe war weiß, und Akana in der Mitte schien Teil dieses imposanten, strahlenden Saales zu sein. Sie wirkte jünger als Merlas Großmutter, obwohl sie bedeutend älter war. Ihre Haare schimmerten im Licht der kleinen fluoreszierenden Fische, die darin schwebten, ihre Flossen waren bis zur Taille von einem glänzenden Netz aus weißen Perlen überzogen, und ein festes Korsett aus Perlmutt bedeckte ihren Oberkörper.

»Bist du Merla, Tochter von Ansa, Großtochter von Selva?«, fragte die Ratsvorsitzende mit ihrer hellen wasserklaren Stimme.

Maris stieß seine Schwester sachte mit der Hand an, um ihr Mut zu machen. Doch Merlas Stimme war nicht mehr als ein zartes von Luftblasen begleitetes Plätschern, als sie der Ratsherrin antwortete. In der Pause, die darauf folgte, ließ sie den Blick nach oben schweifen und bemerkte unbehaglich, dass nicht nur neben ihnen, sondern auch über ihnen unzählige Wasserwesen fast regungslos trieben.

Merla fühlte sich so klein wie ein frisch geschlüpfter Seestern unter dem harten Blick Akanas und den an die siebzig sie beobachtenden Meermenschen ihrer Kolonie. Die wenigen Paare, die vom Licht und damit von Nachwuchs gesegnet waren, hatten ihre noch nicht mündigen Kinder in ihren Höhlen zurücklassen müssen, und die meisten hier waren nun Ältere mit zerfurchten, rissigen Flossen und nachlassendem Schimmer, aber aufmerksamen Augen. Dazu Delfine, Orcas und Haie, Schildkröten und große Thunfische.

»Ist es wahr, was man mir berichtet?« Akana blickte kurz zu dem neben ihr verharrenden Delfin. »Du hast dich einem Menschen gezeigt? Du hast das Wasser, dein Element und unser aller Lebensraum, verlassen, warst komplett sichtbar als Wesen des Meeres und hast zudem noch zugelassen, dass ein zweiter Mensch dich so sieht?« Ihre Stimme erhob sich zu einem tosenden Brausen und schien von den Wänden der Höhle widerzuhallen. »Bist du von Sinnen?« Ihre Stimme überschlug sich. »Du hast uns alle in größte Gefahr gebracht! Ist dir das klar?«

Ein vielstimmiges Rauschen erhob sich. Das Wasser wirbelte von vielen Flossen geschlagen auf, und von überall flogen Stimmen fast sichtbar durch die Halle. Merla suchte die Nähe ihrer Großmutter und spürte, dass auch diese Angst hatte.

»Was tun wir mit Verräterinnen? Mit denen, die das höchste Gesetz gebrochen haben? Die unsere Welt in den Abgrund stürzen und uns alle in Lebensgefahr bringen wollen?«, schallte Akanas Stimme über das Getöse der Menge hinweg.

»Sie müssen in die große Dunkelheit gehen!«, schloss sie nach einer kurzen Pause, die sich für Merla wie eine Ewigkeit anfühlte.

Furcht breitete sich in ihrer Brust aus und kroch ihr langsam die Kehle hinauf. Die große Dunkelheit! Noch nie war jemand von dort zurückgekehrt. Alles Leben wurde mit jedem weiteren Meter Tiefe verschluckt. Kein Sonar und kein Orientierungssinn halfen einem dort. Und irgendwann brachte der Druck des Wassers jede einzelne Zelle zum Platzen – wenn sie nicht vorher schon an Sauerstoffmangel gestorben war.

Mit einem sachten Flossenschlag drängte Merla sich an die Seite ihrer Großmutter, unfähig, auch nur ein Wort zu ihrer Verteidigung hervorzubringen. Doch Selva stieß sich mit einem energischen Schwung in die Höhe und wandte sich an all die Kreaturen des Meeres, die hier sonst so friedlich miteinander lebten.

»Nein! Wartet!«, rief sie mit ihrer tiefen, volltönenden Stimme in das allgemeine Chaos aus Blasen, Schallwellen und Klängen. »Das ist nicht rechtens! Meine Enkelin hat unbedacht gehandelt – ja! Aber nicht, weil sie nicht um die Heiligkeit des Gesetzes wusste, sondern weil das höchste Gesetz von allen ihr Handeln bestimmte: das Retten von Leben! Der Teres wäre ohne ihre Hilfe zweifellos verloren gewesen. Und ist nicht jedes Geschöpf unter oder über Wasser ein lebenswertes Wesen? Du weißt, Akana, dass das Leben über allem steht. Es ist die Pflicht von uns Meermenschen, unseren Brüdern und Schwestern des Landes zu helfen. Auch das ist ein Gesetz. Ich bitte den Hohen Rat dieses zu bedenken.«

Für einige Sekunden herrschte Stille in der Höhle. Nur wenige wagten es, Akana zu widersprechen, und die Meeresbewohner warteten regungslos auf ihre Reaktion.

Streng presste Akana ihre Lippen aufeinander und glitt zurück auf den Sitz aus zartrosa Herzmuschelschalen.

»Wir haben deinen Einwand gehört, Selva. Wir werden eine Entscheidung treffen.«

Lornas und Velron, die beiden anderen Meermenschen des Rates, schwammen langsam an ihre Seite und ließen Akana mit unbewegten Gesichtern flüsternd ihre Meinung wissen. Akana schüttelte den Kopf und sah Lornas böse an. Der Delfin zu ihrer Rechten stieß eine kurze Abfolge von Klicklauten aus, der mächtige Buckelwal ließ eine Folge lang gezogener Laute erklingen, und der Entsandte der Wirbellosen, ein Tintenfisch aus der Gattung der Riesenkraken, begann unmerklich, vibrierende Wasserwellen zu produzieren. Lediglich der Tigerhai, der regungslos im Hintergrund stand, hielt sich mit einer Reaktion zurück. Die Sonargeräusche der Wale und Delfine konnte Merla verstehen, die Sprachen der anderen Meeresbewohner waren ihr fremd. Nur sehr wenige Meermenschen waren in der Lage, Vibrationen der Wirbellosen und Fische zu deuten.

Merla spürte, wie sich ihre Flossen verkrampften, als sie verstand, dass der Wal und der Delfin gegen Akana gestimmt hatten. Auch Lornas schien gegen sie gesprochen zu haben, denn er sah Merla fest und freundlich an. Velron hingegen wagte es nie, gegen Akana zu stimmen, und würde sich auch diesmal ihrer Meinung anschließen, so viel stand fest.

»Was ist los, worauf warten sie?«, raunte Merla ihrer Mommie leise zu.

»Es sieht alles danach aus, als ob der Entsandte der Fische die entscheidende Stimme hätte. Der Rat scheint gespalten.«

Wie in Zeitlupe und ohne erkennbare Bewegung seines mächtigen Leibes kam der Tigerhai nach vorn geschwommen. Er war ein beeindruckend schönes Tier: Seine Zeichnung hob sich dunkel von dem silbern schillernden Körper ab. Sie glich dem Schatten der Sonne auf flachem Meeresboden und war eine perfekte Tarnung. Ein Zeichen für sein jugendliches Alter. Dennoch: Er war ein gefürchteter Jäger, der nur hier im Ratssaal keine Bedrohung darstellte – ansonsten mussten sich die meisten Wesen vor ihm und seinen Verwandten in Acht nehmen.

Alle Augen richteten sich jetzt auf den Hai. In der Halle war es fast gänzlich still geworden, das Wasser klar und ruhig wie Glas. Merla nahm kaum noch wahr, was um sie herum geschah. Ihr Körper fühlte sich taub an, und in ihrem Kopf rauschte es wie die Brandung am Strand. Auch ihrer Familie sah man die Anspannung an: Straff traten die zarten Muskeln am Hals ihrer Großmutter hervor, nervös zuckten die Schuppen an den Flossen ihrer Schwester. Und Maris Kiemen flatterten wie kleine Zitterfische in der Strömung. Sie alle hatten Angst.

Endlich zeigte der Haifisch eine Regung. Merla sah ein Beben entlang seiner Flanken, das sich in unterschiedlichen Abständen veränderte.

Und schon im nächsten Moment explodierte das Wasser. Luftblasen verwirbelten die Sicht, Stimmen und Schallwellen überschlugen sich, und Selva nahm ihre Enkelin schützend in die Arme.

5

Marc war froh, als er nach der letzten Unterrichtsstunde endlich im Auto saß. Mit immer noch leise hämmernden Kopfschmerzen fuhr er die gewundene Küstenstraße Richtung Osten. Zu dieser Zeit bedeutete das allerdings mehr Stehen als Fahren, denn obwohl Maui eine beschauliche Insel war, gab es hier – auf der einen Hauptverkehrsader – zu den Stoßzeiten immer Stau. Haiku hieß das kleine Dorf, in dem sein Vater ein Haus gekauft hatte. Überall wucherte tropisches Grün, und die wenigen Häuser, die hier oben am Hang standen, wirkten wie Pippi Langstrumpfs »Villa Kunterbunt« auf Amerikanisch.

Sein Handy klingelte, und Marc erkannte überrascht die Mobilnummer seines Vaters. »Hi, Dad! Was gibt’s?« Selten rief ihn sein Vater übers Handy an. Er beharrte darauf, dass die Dinger Krebs und Kopfschmerzen auslösten, und nutzte seins fast nie.

»Hi! Ich möchte, dass ihr euch heute Abend ausnahmsweise mal ein Hemd anzieht.« Marc hörte seinen Vater lächeln. »Der Gouverneur und ein paar Medienvertreter werden sich heute die neuesten Berichte unserer aktuellen Analysen der CO2-Werte im Pazifik anhören. Anhören … traurig gucken, ein paar lasche ›Wir werden uns darum kümmern‹-Statements abgeben und dann das Ganze wieder so rasch wie möglich vergessen. Zum Kotzen, diese ignoranten Säcke! Deshalb möchte ich, dass ihr dabei seid. Ich schaffe es sonst nicht, dabei auch noch freundlich zu bleiben. Passt das?«

Marc zögerte kurz. Lieber hätte er sich entspannt und seine Beule gekühlt, aber er wusste, dass er seinem Dad diese Bitte nicht abschlagen konnte.

»Ok, wann sollen wir da sein?«

»Um neunzehn Uhr geht’s los. Sei bitte pünktlich! Und sag das auch deinem Bruder. Und denkt daran, ein Hemd anzuziehen!«

Ohne sich zu verabschieden, beendete sein Dad das Gespräch. Marc sah erstaunt aufs Display. Der schien ja mächtig angespannt zu sein. So kurz angebunden war er selten.

Marc ließ sich in die Hängematte auf der Veranda fallen, schloss die Augen und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen.

Als er nach über einer Stunde wieder aufwachte, war das Pochen in seinem Kopf schwächer geworden. Mit einem Blick auf sein Handy sprang er auf: Schon kurz vor sechs! Und er hatte noch nicht mal mit Leo gesprochen. Wahrscheinlich saß der noch mit seinen Nerd-Freunden am Computer und bastelte an neuen Apps herum. Meistens irgendwelche Spiele. Wenn er wenigstens mal was Sinnvolles programmieren würde, dachte Marc, als er Leo eine knappe WhatsApp schickte: Bruder! 19:00 mit Gouverneur+Dad. At @ asap Hemd holen! M.

Die Dusche brachte Marc wieder in einen deutlich klareren Zustand. Er ließ sich das weiche Wasser über den Nacken rieseln und betastete die Beule, die mittlerweile gefühlt faustgroße Ausmaße angenommen hatte. Nur mit einem Handtuch um die Hüften öffnete er die Badezimmertür, als sein Bruder mit großen Schritten die Treppe ins Obergeschoss herauf stürmte und an ihm vorbei ins Bad stürzte.

»Du bist ja echt witzig! Hättest du mir nicht früher Bescheid sagen können? Ich bin wie ein Irrer den Berg hochgestrampelt. Wo müssen wir denn hin? Lahaina oder Maalaea?«

Noch während er sprach, zog er sein Shirt und seine Shorts aus und ließ die Sachen achtlos auf dem Boden liegen, bevor er sich ebenfalls die Hitze des Tages vom Körper wusch.

»In die Whale Foundation in Maalaea. Keine Sorge, das schaffen wir schon. Dusch halt mal kürzer und vor allem: Nimm die Klamotten da noch weg, sonst bekommt Dad einen Anfall. Du weißt doch, wie ihn das nervt.«

»Und dich anscheinend auch – klingst ja schon fast wie er. Das war wohl ein Schlag auf den Hinterkopf zu viel, Bruderherz, oder waren es die grünen Augen der unbekannten Schönheit, die dich so in Bann gezogen haben? Hey, bleib mal locker!«

Die grünen Augen. Sofort sah Marc die Szene wieder vor sich. Er war sich sicher, noch nie in seinem Leben so seltsame Augen wie diese gesehen zu haben.

Die Iris war irgendwie heller gewesen als normal. Es schien, als hätten ihre Augen geleuchtet. Und was hatte sie eigentlich angehabt? Wenn das grün-braune Zeug ein Bikinitop war, dann bekam man das wohl höchstens in Bioläden. Mit Muscheln und Perlen darin, hatte es wie selbst gestrickt ausgesehen. Dass sie damit überhaupt surfen konnte …

»Erst so einen Stress machen und dann hier rumträumen – komm schon!«

Mit dem Schlüssel in der Hand klopfte ihm Leo auf die Schulter. Dann schüttelte er den Kopf wie ein nasser Hund, sodass seine halblangen Haare flogen und Marcs frisches, hellblaues Hemd mit dunklen Wassertropfen bespritzten.

»Ich fahre und du träumst einfach noch ein bisschen weiter, okay?«, rief er und zog Marc am Ärmel zur Haustür heraus.

Die Pacific Whale Foundation hatte sich dem Ziel verschrieben, Wale, Delfine, Meeresschildkröten und andere Wasserwesen zu schützen. Sie war in den Achtzigerjahren als private Institution mit Hauptsitz auf Maui, der drittgrößten Insel des US-Bundesstaates Hawaii, gegründet worden. Zwar konnte man hier auch als Tourist Whalewatching-Trips buchen, aber die Hauptarbeit der rund hundertzwanzig Mitarbeiter lag im Bereich Forschung und Schutz.

Hawaiis Gouverneur und die Politiker waren sich dessen bewusst, dass die Wale zu den großen Tourismusmagneten gehörten. Keine Hawaii-Reise ohne Whalewatching. Da kam richtig Geld in die Kassen, und auch wenn die Gesundheit der großen Meeressäuger nicht jedem Politiker ernsthaft am Herzen lag, dafür aber der Profit, die die Inseln mit jedem glücklichen Wal-Touristen machen konnten.

Ihr Vater war eigentlich kein Spezialist für Walfische oder Delfine. Klaus Beck hatte seinen Doktor zwar auch in Meeresbiologie gemacht, aber sein Fachgebiet waren Mikroorganismen und die kleinen Lebewesen, die den Anfang der Futterverwertungskette bildeten. An deren Ende dann aber irgendwann der Wal stand, und so hatten die versammelten Politiker einen triftigen Grund, um von der Regierungsinsel O’ahu herübergeflogen zu kommen und den Vortrag ihres Vater zu hören.

Das Maui Center war – sehr passend – in klarem Azurblau gestrichen und befand sich in einem neuen Gebäudekomplex direkt gegenüber den Segeljachten und Motorbooten des Hafens von Maalaea. Außer einem Diner, einer Tauchschule und einem Fitnesscenter gab es hier nicht viel. Anders als in Lahaina, der Touristenattraktion mit den alten – oder auf alt gemachten – Holzhäusern mit zierlichen Balkonen im Kolonialstil, den Restaurants direkt am Pazifikufer und den alten Walfangschiffen zum Bestaunen, verirrte sich hier kaum je ein Tourist hin.