GedankenReich Verlag

Denise Reichow

Heitlinger Hof 7b

30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

YOUR SOUL IN WONDERLAND

Band 1

Text © Kristin Ullman, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff

Lektorat/Korrektorat: Luise Deckert

Satz & Layout: Phantasmal Image

eBook: Grittany Design

Piktogramme: Christina Ullmann

Innengrafiken: © Shutterstock

ISBN: 978-3-947147-43-4

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

sind zufällig und nicht beabsichtigt.

»Der Prinz wird zu uns nach Hause kommen?« Nachdem Hettie einige Sekunden fassungslos gewirkt hatte, sprintete sie durch das Häuschen, um es auf Vordermann zu bringen.

Wann immer Het an mir vorbeihuschte, konnte ich deutliches Missfallen in ihrer Miene aufblitzen sehen.

»Mach dir keine Umstände, er ist auch nur ein Wondie. Zwar eine selbstverliebte, egozentrische Ausgabe, aber eigentlich so wie wir. Außerdem hat er nur Augen für sich selbst und sonst niemanden.« Mein Versuch, sie damit etwas zu beruhigen, scheiterte.

Hettie hatte viele Talente, aber eines konnte sie besonders gut: Merken, wenn etwas im Busch war. So stand sie plötzlich direkt vor mir, obwohl sie sich noch vor einer halben Sekunde am anderen Ende der Hütte befunden hatte.

»Möchtest du mir vielleicht etwas erzählen, Cat?«

»Was denn? Da gibt es nichts. Der Prinz ist ein ichbezogenes, arrogantes Ar…«

»Cathrine! Keine derartigen Ausdrücke unter meinem Dach! Diese Wörter kannst du bei Dee und Dum verwenden, nicht aber bei mir.«

Mad kam panisch zu uns in die Küche gestürmt und hielt hinter Hetties Rücken zwei verschiedene Kleidungsstücke hoch. Das eine leuchtete pink, das andere grün mit einem Mix aus orangen Streifen und gelben Punkten. Zudem waren beide völlig mit Rüschen überladen.

»Der Prinz wird nicht lange bleiben, Mads. Mach du bitte nicht auch noch so einen Aufstand«, blaffte ich ihr genervt ins Ohr, als ich sie aus dem Zimmer schob.

Warum mussten alle durchdrehen, nur weil Gil herkam?

»Ja, aber ich begleite euch doch auf eure Mission!«

»Ganz sicher nicht!«, antwortete Hettie aus der Küche und ich nickte bekräftigend.

»Cat, du hast mir doch ein paar Handgriffe gezeigt. Wir wären zu dritt und der mysteriöse Typ ist alleine. Was soll mir schon passieren?«

Und prompt ließ sie mich bereuen, dass ich ihr vor einigen Jahren in einem langweiligen Moment ein paar Verteidigungstechniken gezeigt hatte. Aber ich war mehr als nur bereit, ihr die Frage, was ihr alles passieren könnte, ruhig und sachlich zu beantworten.

»Erstens, du könntest dir auf dem Weg deinen Knöchel verstauchen. Diese hohen Schuhe, die du immer trägst, sind absurd. Zweitens, selbst wenn du mit uns mithalten könntest, ohne dich selbst zu verletzen, warten da draußen noch jede Menge andere Gefahren. Giftige Wunderwesen, verrückte Wondies, tödliche Pflanzen. Drittens, du könntest für uns aufgrund deiner fehlenden Ausbildung eine Last sein. Und zu guter Letzt, du bist ein sehr tollpatschiger Wondie.« Dabei scheuchte ich sie rückwärts die Treppe zu unseren Zimmern nach oben.

»Ist ja gut, ist ja gut«, maulte sie wild gestikulierend. »Denkst du wirklich, ich würde die tragen, wenn ich mit euch unterwegs bin?« Sie deutete auf die Schuhe, die eine seltsam viereckige Form hatten. Sie machten Mad fünfzehn Zentimeter größer, womit sie die gleiche Größe wie ich hatte. »Ich kann mit euch Schritt halten. Außerdem, wen nennst du tollpatschig?«

Sie hatte nicht gerade den passendsten Moment gewählt, um eines der rüschigen Gewänder fallen zu lassen, die sie mir gerade noch unter die Nase gehalten hatte. Bei dem Versuch, es aufzuheben, landete auch noch das zweite auf dem Boden. Hettie schob sich auf der Treppe an uns vorbei, hob Mads Kleider auf und legte die Hand behutsam auf ihre leibliche Tochter.

»Liebes, du würdest mir nur noch mehr Sorgen bereiten. Es reicht schon, dass sich deine Schwester in Gefahr begibt.« Ihre sowieso schon raue Stimme zitterte ganz leicht. Bevor wir jedoch weiter diskutieren konnten, klopfte es an unsere massive Haustür.

»Ich zieh mich schnell um«, nuschelte Maddie und verschwand.

Es hämmerte noch einmal, als ich nach unten huschte um unserem Gast die Tür zu öffnen.

»Oh, du siehst einfach … oh«, stammelte der Prinz.

Anders als meine Schwester hatte ich mir gleich meine Lieblingssachen übergeworfen. Ein schwarzes Shirt, welches an der oberen Hälfte meines Körpers eng anlag und die richtigen Stellen betonte. Die Schultern waren ausgeschnitten. Ein bisschen Haut zu zeigen, schadete nie. Doch das Beste an diesem Oberteil war der untere Teil, welcher ausgestellt war und einen ganz kleinen Streifen meines Bauchs entblößte, bevor die schwarze Lederhose knapp unter meinem Nabel begann.

Ich fühlte mich in diesen Klamotten wohl und das war das Einzige, was zählte. Es war nicht Priorität, ihn zum Sabbern zu bringen. Allerdings war es ein netter Nebeneffekt, wenn ich ihm zeigen konnte, was er verpasste. Außerdem wusste ich nicht, wie lange wir durch die Wälder streifen mussten und was uns dort erwarten würde. Meine Kleidung musste praktisch und bequem sein.

Hätten wir nicht unter Zeitdruck gestanden, hätte ich Gil ruhig noch ein wenig starren lassen. »Gil, bist du das? Eine positive Aussage über ein Aussehen, welches nicht dein eigenes ist?«

»Sehr witzig, Kätzchen. Darf ich hereinkommen, bevor mich noch jemand sieht?«

Was dann wohl das erste Mal wäre, dass sich ein Wondie zu uns verirrt.

»Du hast recht, es geht ja schließlich um unser beider Leben.«

Witzig. Ich musste darum kämpfen, am Leben zu bleiben. Ihm ging es nur darum, dass er sich später nicht die Hände schmutzig machen musste und seine bequeme Stelle behalten konnte.

Außer ihm liegt vielleicht doch etwas an mir?

Ich schüttelte den Kopf. Gil hatte vor langer Zeit mehr als deutlich gemacht, wie er mich sah. Zudem war so viel Zeit verstrichen, in der wir fast nichts mehr miteinander zu tun gehabt hatten.

Ich um meinetwillen, du um deinetwillen, waren seine Worte gewesen. Das durfte ich nicht vergessen. Unter gar keinen Umständen.

Ich hätte schwören können, dass ich Mad die Stufen hinunterstolpern hörte, doch ich musste mich getäuscht haben.

Dafür betrat Het die Küche, in der Gil auf einem der alten Holzstühle Platz genommen hatte. »Eure Hoheit. Hettie Hatter.« Während sie vor ihm knickste, musterte sie ihn so lange, dass es schon fast unhöflich war.

»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Obwohl es mir so vorkommt, als würde ich Sie und Ihre andere Tochter bereits kennen. Cathrine hat viel von Ihnen beiden erzählt. Ich wünschte, die Umstände wären andere. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie Bescheid wissen, warum ich Sie besuche?«

Hört, hört. Der Prinz kann durchaus höflich sein.

»Leider ja, Sir. Ich hoffe, es ist Ihnen möglich, die Situation schnell zu regeln. Ich bestehe darauf, dass Sie mir meine Tochter lebendig und in einem Stück wiederbringen.«

Es folgte Stille.

Er schmierte ihr Honig um den Mund und sie stellte Forderungen? Mit offenem Mund schaute ich Hettie mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung an.

»Jawohl, Mrs. Hatter. Ich werde mein Bestes geben«, antwortete der Prinz ihr rasch. Ein leichtes Stottern hatte in seiner Stimme gelegen.

»Na dann hoffe ich, Ihr Bestes ist gut genug.«

Bevor Gilbert etwas erwidern konnte, wurde ihr Gespräch von dem Erscheinen von Mad unterbrochen. Ich schlug mir die Hand vor den Mund.

Das glaube ich nicht.

Sie trug ein schwarzes Oberteil aus Leinenstoff, welches einen sehr figurbetonten Schnitt hatte. An der Seite war es mit einem silbernen Geschnüre verziert. Dazu trug sie eine enge Hose, die genau denselben blauen Farbton wie ihre Haare hatte. Abgerundet wurde alles durch schwarze flache Stiefelchen. Ich kannte die Schuhe und das Oberteil sehr gut, da es sich dabei um meine eigenen Sachen handelte.

»Hallo, Sir Gilbert. Schön, Sie wiederzusehen.« Maddie streckte ihm die Hand entgegen.

Anstatt sie nur zu schütteln, nahm der Prinz sie in seine eigene und hauchte einen flüchtigen Kuss darauf. »Schön, auch dich wiederzusehen, Marissa.«

Bei dem falschen Namen musste ich mir mit aller Kraft ein lautes Auflachen verkneifen. Anders als Hettie, deren Augen weit aufgerissen waren und deren Atmung kurz aussetzte. Mad aber zuckte nur kaum merklich zusammen und verbesserte ihn höflich.

»Aber natürlich, verzeih mir bitte.« Er lächelte sie so verschmitzt an, dass sie fast davonschmolz.

Da wurde mir auch klar, warum sie sich für diesen Aufzug entschieden hatte. Sie hatte bestimmt das Kompliment mitbekommen, welches er mir bei seiner Ankunft gemacht hatte, und sich dann kurzerhand dazu entschlossen, mir ähnlicher sehen zu wollen.

Das überraschte mich, denn ich hörte ihre Stimme in Gedanken, wie sie sagte, dass Schwarz und Weiß für sie keine Farben seien. Anscheinend versuchte sie alles, um Gil zu gefallen, obwohl sie ihn nicht einmal kannte. Ich war mir sicher, dass sie kein Wort mit ihm gewechselt hätte, wenn sie ihn besser gekannt hätte. Das war aber auch Nebensache, denn wir hatten ein viel größeres Problem als ungefragt geborgte Klamotten oder lächerliches Geflirte.

Es ging schließlich um mein Leben. Also beschloss ich, mich nicht mehr von Äußerlichkeiten und Spannungen ablenken zu lassen, und fokussierte mich auf die Mission.

Ich rette mein eigenes Leben. Oder besser, ich rette mein eigenes Leben, damit der Prinz seines weiter hinter den sicheren Palastmauern führen kann.

Ich schob mich zwischen Mad und Gil, was mir einen wütenden Blick von Maddie einhandelte.»Problem Nummer eins. Gilbert, sag Maddie, dass sie nicht mit uns kommen kann.«

»Es tut mir leid Maddie. Deine Schwester möchte nicht, dass du uns begleitest.«

Seine schauspielerischen Fähigkeiten ließen zu wünschen übrig.

»Hört sich so an, als wäre dein Prinz anderer Meinung«, wandte sie sich trotzig und mit kindisch verschränkten Armen an mich.

»Ich befürchte, wir werden jede Unterstützung brauchen, die wir bekommen können, Kätzchen. Und meine Soldaten kommen dafür definitiv nicht infrage. Die hören nur auf Mutter.«

»Unter gar keinen Umständen verlässt Maddie dieses Haus!«, platzte es aus Hettie heraus.

Ihr harscher Gesichtsausdruck gab uns zu verstehen, dass es diesbezüglich keine weitere Diskussion geben würde.

»Problem Nummer zwei,« brach ich die Stille. »Du kennst dich hier draußen nicht aus und da kannst du mir dieses Mal nicht widersprechen.«

»Du hast recht. Aber du dafür umso besser.« Er zeigte auf mich.

»Wie du meinst.«

Er wusste ganz genau, dass ich bisher nicht viel von Wonderland gesehen hatte. Sein Vertrauen in meine Erfahrung zeigte, wie wenig Optionen wir hatten.

Na, dann hoffen wir eben das Beste.

Es gab noch so vieles, über das wir uns einigen mussten. Wenn ein rechthaberischer Theoretiker und eine taktisch denkende Praktikerin einen Plan schmiedeten, dauerte das seine Zeit. Doch irgendwann stand er.

»Wärmesteine und Leuchtsteine für die Nacht?«

»Check.«

Gil packte die roten und grauen handgroßen Steine in einen der zwei Leinensäcke, die wir mitnehmen würden.

»Proviant?«

»Brot, Früchte und zwei pinke …« Er begutachtete eine Frucht, die Hettie selbst im Garten anpflanzte. »Ich habe keine Ahnung, was das ist.«

Het, die mit zwei Gläsern Gelee aus der Vorratskammer kam, murmelte abschätzig: »Was hat dir deine Mutter eigentlich beigebracht?«

Ich hoffte, dass Gil es nicht gehört hatte.

»Danke, aber ich denke, wir werden die Gläser nicht brauchen. Die sind nur unnötige Last und ich hoffe, das Problem spätestens morgen gelöst zu haben.«

Gil steckte trotzdem ein Glas ein und erntete damit einen giftigen Blick von mir. Schulterzuckend packte er in jeden Sack eine Decke und das war’s.

Fertig zur Abreise.

Ich schnappte mir noch meine Ausbeute vom Vormittag, meine neue schwarz-weiß gestreifte lederne Jacke, dann brachen wir auf.

Unsere erste Station waren Dee und Dum. Die beiden mussten einfach Informationen zum Aufenthalt des Eindringlings haben. Wir liefen zur Grenze, da sie sich dort die meiste Zeit herumtrieben. Wir konnten nur hoffen, dass sie uns und nicht der Königin helfen würden.

Wir waren erst ein paar Schritte gelaufen und gerade hinter den Hügeln zwischen Haus und Grenze verschwunden, als wir hörten, wie sich schnell jemand näherte.

»Wartet auf mich! Stopp!« Eine atemlose Mad kam direkt auf uns zu. »Wartet!«

»Das ist doch nicht ihr Ernst.«

»Oooh, die Kleine gefällt mir jetzt schon«, sagte Gil amüsiert.

Ich ging ihr entgegen. »Scheiße, Mad. Was zur Hölle willst du hier?!«

»Euch helfen«, keuchte sie.

»Hettie bringt uns beide um. Pass auf, du wirst jetzt schleunigst umdrehen und wieder nach Hause gehen.«

Wir durften keine wertvolle Zeit mit einer Diskussion verlieren, die sowieso nichts ändern würde. Mad würde sich dagegen sträuben, uns alleine zu lassen.

Ich drehte mich von ihr und dem Prinzen weg und ging weiter den Weg entlang. Langsam liefen auch die anderen hinter mir her, hielten aber genug Abstand. Beide wussten, dass ich nicht zu unterschätzen war, wenn ich erst einmal richtig wütend wurde.

Irgendwann begann Mad mich mit Fragen zu löchern. »Also, Dee und Dum, sind die auf deiner Seite oder nicht?«

Mir war zwar bewusst, dass ich kaum etwas über meine einzigen Freunde erzählt habe, aber wusste sie wirklich gar nichts über sie?

»Eigentlich sind sie auf meiner Seite, müssen aber der Königin hörig sein. Wie wir alle. Aber ich hoffe, wenn es hart auf hart kommt –«

»Und sie bestehen wirklich nur aus Rauch?«, unterbrach sie mich einfach.

»Ja. Man nennt es Rauchschwarz. Etwas davon befindet sich in den Perlen hier.« Ich deute auf meine eng anliegende Perlenkette, die neben den dunklen Perlen einen einzigen hellen Stein besaß. Wenn man genau hinschaute, konnte man sogar erkennen, dass die Perlen nicht schwarz waren, sondern von den Rauchschwaden darin dunkel gefärbt wurden. »Das Rauchschwarz verbindet uns miteinander, was wichtig für unsere Arbeit ist.«

»Und ich dachte, du hängst einfach sehr an ihr. Du legst sie nie ab.«

»Richtig.«

Nachdenklich schaute sie in die Luft. »Deswegen weißt du immer, wann sie Arbeit für dich haben. Durch die Kette können die beiden dich zwar zu sich rufen, aber andersherum funktioniert das nicht? Wie unfair.«

Ja, Mad. Was an meinem Job ist schon fair?

»Sir Gilbert –«, begann Mad, kam aber nicht weit.

»Maddie. Wir sind jetzt Weggefährten, Abenteurer und Kampfkumpanen zugleich. Bitte lass diese Höflichkeiten.«

Fehlte nur noch, dass er die Faust gen Himmel streckte und um uns herum alles verstummte.

Mad grinste. »Gut, Gilbert. Welche Gestalt nimmst du auf der anderen Seite an?«

»Die eines Rotkehlchens«, gab er kleinlaut zu.

»Ein Rotkehlchen? Ernsthaft? Wer würde schon einem Vogel folgen?«

Ich musste lachen, aber auch nur über Maddies geschockten Ton, den sie versuchte zu überspielen.

»Mads, wer würde einer schneeweißen Katze mit roten Pfoten durch einen dunklen Spalt folgen –«

Ich stolperte über eine herausragende orangefarbene Wurzel eines Zwirbelbaumes, die ich wegen des aufziehenden Nebels um unsere Knöchel übersehen hatte. Verärgert schaute ich nach oben. Auch die Spitze des Baumes verschwand im diesigen Nichts. Der Nebelschleier von Wonderland war sowohl schön als auch gespenstisch.

»Was denkst du, haben wir all die Jahre in unserer Ausbildung gelernt?«, fragte der Prinz Mad. Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, redete er weiter. »Wir nisten uns mit unseren Gedanken in ihre Köpfe ein und lenken sie zu uns. Zum Spalt. Sie haben eigentlich gar keine andere Chance, als uns zu folgen. Sobald sie uns in die Augen sehen, ist es meistens schon zu spät für sie.« Er macht eine kurze Pause.

»Cat, redest du überhaupt mit deiner Schwester über deinen Job?« Er blieb stehen und sah mich mit seinen zwei verschiedenfarbigen Augen an. Das eine blitzte in einem dunklen Braun, das andere war halb blau und halb grün.

»Genau, Cat. Erkläre es ihm.«

Obwohl ich der Überzeugung war, wir hätten Wichtigeres zu tun gehabt, sollte ich ihm erklären, warum ich viel für mich behielt. Warum ich mich von Mad und Hettie distanzierte. Vielleicht verstand er dann, dass er Mad nicht alles bis ins kleinste Detail erzählen sollte.

»Wir reden zu Hause nicht über meine Arbeit. Klar beschwere ich mich ab und zu wie neulich erst, wenn etwas schiefgelaufen ist oder mich sonst etwas belastet. Das ist dann aber auch schon alles. Ich habe aufgehört von meinem Training zu erzählen, als ich merkte, wie sehr es Hettie zusetzt. Schließlich habe ich den Platz ihrer Schwester eingenommen, die meinetwegen spurlos verschwunden ist.«

»Wie rücksichtsvoll von dir, Cat.« Meine knappe Antwort genügte ihm anscheinend und wir setzten unseren Weg still fort.

Nach einiger Zeit überquerten wir eine kleine, bunt angemalte Brücke, die über eine schmale Schlucht gebaut worden war. Auf der anderen Seite blieb Gilbert ruckartig stehen. Mad und ich, die ihm im Gänsemarsch über das alte Ding gefolgt waren, prallten gegen ihn.

»Was hast du?«, fragte ich.

»Dort oben.« Er zeigte unruhig auf den Nebelschleier, der tiefer hing als gerade eben noch.

Dort oben waren Schatten von nicht identifizierbaren Wesen, welche sich über dem Schleier bewegten.

»Sag bloß, Ihr wisst nicht, wo wir sind, Eure Hoheit?« Ich konnte mir ein spöttisches Auflachen nicht verkneifen.

»Natürlich bin ich mir dessen bewusst. Wir bewegen uns auf die Grenze zu. Je näher wir dem Übergang kommen, desto wundersamer wird Wonderland«, zitierte er wie auswendig gelernt. »Von sprechenden Blumen über fliegende Schaukelpferdchen, hier gibt es allerhand Kurioses, verursacht durch die Grenze zwischen der Menschenwelt und Wonderland.«

Ich fragte mich des Öfteren, wer entschieden hatte, unsere Welt wunderlich zu nennen, statt die der Menschen. Wir hätten auch von uns als die Normalen sprechen und die andere Seite als langweilig beschreiben können. Nicht alles an Wonderland war schlecht, aber ich hätte lieber in einer Welt gelebt, in der man nicht ständig von etwas Kuriosem überrascht wurde. Die meisten Tierrassen hier hatten nicht einmal einen Namen, weil ständig neue Mischungen auftauchten, was teilweise sehr gefährlich werden konnte.

Ich schubste den immer noch fasziniert schauenden Gil sanft an, um endlich voranzukommen.

Wir waren zwar noch nicht allzu lange gelaufen, höchstens eine dreiviertel Stunde, aber der unebene Boden konnte auf Dauer wirklich nervig werden. Hochstehende Wurzeln waren dabei noch eher kleine Hindernisse.

»Prinz Gilbert, bist du denn schon einmal aus den Schlossmauern herausgekommen?«, erkundigte sich Mad vorsichtig.

»Ja, selbstverständlich. Nur war es mir nie gestattet, an den Übergang zu gehen. Ich weiß aus Büchern, was mich dort erwartet, selbst durfte ich es aber noch nie erkunden. Meine Mutter hat stets dafür gesorgt, dass ich neben den normalen königlichen Pflichten auch eigene Missionen weit im Inneren des Landes hatte und somit Abstand zu Cat hielt.«

Bevor er etwas über unser letztes Training ausplaudern konnte, deutete ich nach unten. Der Waldboden bestand aus einer Mischung aus tiefdunkelblauen Steinchen und den magentafarbenen Wurzeln der Drehbäume, die nach ihren ineinander verdrehten Stämmen benannt waren. Doch auf was ich ihn aufmerksam machen wollte, war das kleine Wunderwesen, welches sowohl schlängelte als auch hoppelte.

Es hatte die Hinterbeine eines Kaninchens, dafür vorne aber keine Gliedmaßen, sondern nur gelbe schuppige Haut, welche dem Geschöpf ermöglichte, sich schleichend vorwärtszubewegen. Für uns war es kaum bedrohlich, jedoch sollten wir Abstand zu seinen zwei Zentimeter langen, spitz zulaufenden Schneidezähne halten. Kleine Wehwehchen würden uns unnötig aufhalten.

Nicht nur der Prinz schaute begeistert, sondern auch Mad verzog ihre Mimik, wobei ihr aber eher Ekel ins Gesicht geschrieben stand. Es wunderte mich, dass sie nicht kreischte. Offenbar riss sie sich extra wegen Gil zusammen. Auch sie war nicht allzu vertraut mit den Wunderwesen, da diese sich eher selten bis zu unserem Häuschen trauten.

»Wir halten Abstand zu dem Viech. Kommt hier durch.« Ich bog Sträucher zur Seite.

Sträucher war ein untertriebener Ausdruck. Die hohen regenbogenfarbenen Gräser, die sich links und rechts neben uns befanden, wollten uns regelrecht zwingen, auf einem schmalen Weg zu bleiben.

Ich ging voran und hielt die langen Stiele von uns weg, sodass meine Gefährten ohne große Bemühungen hindurchkamen.

Als Gil stolperte, zur Seite fiel und kurz darauf von den Gräsern wieder zurückgefedert wurde, drehte ich mich schnellstmöglich um, um ihn zufassen zu bekommen. Ohne mein Eingreifen würde er wie ein Gummiball hin und her gefedert werden. Es würde von allein kein Ende nehmen.

Von Mad konnte Gil keine große Hilfe erwarten, da diese vor Panik nur mit ihren Händen vor dem Mund herumwedelte, um nicht laut aufzuschreien.

Beim siebten Mal Zurückfedern konnte ich Gil endlich stoppen, indem ich mich im richtigen Moment auf ihn warf. So landete Gilbert unsanft auf dem Boden – und ich auf ihm.

Die Zeit blieb stehen, als ich in seine wunderschönen, einzigartigen Augen blickte. Die Goldsprenkel, die seine Iris umgaben, leuchteten wie Feuer. Auch er löste seinen Blick nicht von mir. Selbst alle Geräusche um uns herum schienen verstummt zu sein.

Unsere Münder waren nicht einmal eine Handbreit voneinander entfernt und ich konnte schon fast wieder den leichten Druck seiner Lippen auf meinen fühlen. Sein Atem ging schnell und ich spürte sein Herz rasen. Er strich mir ganz sachte eine Strähne hinter mein Ohr, die mir vor die Augen gefallen war. Ich erinnerte mich an unser letztes Training …

Das war der Moment, in dem meine flache Hand mit einem lauten Klatschen auf seiner Wange landete. »Du Idiot. Das hätte echt übel ausgehen können.«

Teils verwundert, teils geschockt griff er nach meiner Hand, die ich ihm trotzig zur Hilfe hingestreckt hatte, nachdem ich, mit einem schnellen Satz von ihm heruntergerollt und aufgestanden war. Wieder auf den Beinen, putzte er sich grob die bläuliche Erde von seinem Umhang und fixierte mich danach wieder mit einem starren Blick.

»Es war völlig unnötig, mich zu ohrfeigen! Erneut.« Es folgte eine Pause und er sah zu Boden, murmelte dann aber etwas, was sich wie »AberdankeCat« anhörte.

Vielleicht war es die Anspannung, die sich gerade von mir löste, aber ich konnte nicht anders, als loszulachen.

»Das königliche Gummibällchen.« Ich brauchte mindestens eine ganze Minute, um meine Beherrschung wiederzufinden.

Ich spürte einen verurteilenden Blick auf mir. Und dieser kam nicht vom Prinzen. Es war Mad, die mich missbilligend ansah.

»Wir sollten weitergehen. Und Cat, eventuell warnst du uns das nächste Mal vor, wenn wir uns besser von gewissen Pflanzen fernhalten sollten«, sagte sie mit einer ungewohnten Schärfe in der Stimme.

Als wir uns wieder auf dem richtigen Pfad befanden, lief Gil meiner Anweisung nach geradeaus. Ich ließ mich in die Mitte zurückfallen, um als Puffer zwischen Maddie und dem Prinzen zu dienen. Mir gefiel Mads aufdringliche Art nicht. Aber es dauerte nicht lang, da überholte sie mich. Vorne beim Prinzen angekommen, drehte sie sich für eine Millisekunde zu mir um. Irgendetwas lag in ihrem Blick. Was es war, konnte ich nicht deuten. Es brachte mich allerdings dazu, ein wenig Abstand zu den beiden zu halten.

Nach einiger Zeit erreichten wir eine schimmernde, in allen Farben gleichzeitig glänzende Wand. Die Grenze.

»Wunderschön«, flüsterte Mad und hielt einen kurzen Moment inne.

Da merkte ich erst, wie ich mich schon an die Einzigartigkeit der kleinen Schauspiele rund um den Übergang gewöhnt hatte.

»Es ist wirklich anderes, als nur Bilder in Büchern zu bewundern«, fügte Gil hinzu.

Die beiden gaben noch abwechselnd Bewunderungen über die Einzigartigkeit der Grenze von sich, doch ich wandte mich von ihnen ab. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Irgendetwas stimmte hier nicht. Normalerweise hätte sich meine Halskette langsam warm anfühlen müssen. Ihre Temperatur stieg immer, sobald die Schattengänger in der Nähe waren. Vielleicht gab es eine plausible Erklärung dafür, dass sie es diesmal nicht tat.

»Dee, Dum! Hört ihr mich? Wir brauchen eure Hilfe!«

Stille.

»Kann es sein, dass die beiden gerade beim Schloss sind?« Gilbert drehte sich zu mir um. Anscheinend sah er etwas in meinem Blick, denn er fragte: »Kätzchen, was ist los?«

»Normalerweise spüren die beiden aufgrund der Verbindung durch die Kette, dass ich mich in die Nähe der Grenze begebe, und kommen dann automatisch zu mir.«

»So einfach ist das?«, hakte meine Schwester nach, als wäre die Erklärung viel zu simpel.

Aber ja, so einfach war es nun mal. Ich näherte mich, sie kamen zu mir. Da musste ich sie enttäuschen.

»Okay, Ladys. Was wollen wir jetzt machen?«, mischte sich der Prinz ein.

»Dee? Dum!«, versuchte ich es erneut, aber vergebens. Keine Antwort. »Wir warten hier. Wenn in einer Stunde niemand kommt, müssen wir uns etwas anderes überlegen, um keine Zeit zu verlieren.«

Mein Vorschlag wurde von den anderen angenommen. So konnten wir uns auch kurz ausruhen. Wir nahmen unter einem dicken lilafarbenen Baum Platz, dessen türkise Blätter den Waldboden bedeckten.

Mads Zähne begannen aufeinander zu klappern und auch der Prinz rieb sich die verschränkten Arme. Die Temperatur an der Grenze schwankte mehrmals am Tag und leider hatten wir gerade eine kalte Phase erwischt.

Ohne Bewegung wurde auch mir langsam kalt. »Was haltet ihr von einem Wärmeloch?«

Beide nickten.

Je mehr wir auskühlten, desto schwerer würde uns das Weitergehen fallen. Außerdem hatte ich noch eine Idee, wie ich an Informationen gelangen konnte. Dafür musste ich sowieso alleine zu dem Bach gehen, der nicht weit von unserem Rastplatz entfernt war, und konnte gleich Wasser für das Wärmeloch mitbringen.

Ich nahm zwei kleine Schalen aus unseren Säcken, die ich mit Wasser füllen konnte. Vor allem Mad war es offenbar recht, dass ich sie alleine ließ, denn sie rutschte sofort näher an Gil heran.

Ich musste wieder querfeldein durch die gefährlichen Sträucher laufen. Am langsam fließenden Bach angekommen, befüllte ich erst meine Schalen und setzte mich dann im Schneidersitz auf die weiche blaue Erde, die das Gewässer umgab.

Hoffentlich ist nicht auch sie verschwunden.

Als ich in die befüllten Schalen blickte, sah ich mein Spiegelbild. Meine weißen glatten Haare mit den feuerroten Spitzen wehten im Wind. Die Spiegelung meiner ebenfalls leuchtendroten Augen wurde durch das orange Wasser verstärkt.

Ich erinnerte mich wieder an meinen ersten Übergang. Als ich hier als Kind angekommen war und an fast derselben Stelle gesessen hatte. Damals hatte ich mich vor meinem eigenen Aussehen erschrocken. Inzwischen wünschte ich es mir nicht anders. Es war besonders. Aber das war ich auch. Hettie betonte immer, dass das Äußere das Innere widerspiegele. Und wenn man versuchte sein Äußeres für jemand anderen als sich selbst zu verändern, nützte es nichts. Man belog sich nur selbst.

Deswegen war ich so erschrocken über Mads Outfit. Es passte nicht zu ihr. Es stand ihr nicht zu, mir meine Unfarben zu stehlen. Ich hatte gemerkt, dass auch Het nicht von ihrem Aussehen begeistert gewesen war, aber sie hatte nichts dazu gesagt.

Gerade aus meinen Gedanken wieder aufgewacht, bemerkte ich ein weißes Leuchten von der Seite. Da war sie.

»Ileria. Schön, dich zu sehen«, sagte ich höflich zu der Gestalt, die über dem Wasser schwebte.

Sie wurde von purer Helligkeit umgeben. Man konnte nahezu keine Haut von ihr sehen. So wirkte sie nackt und doch wieder nicht, als wolle das Licht sie vor der Blöße beschützen. Ihre dunkelroten Haare waren das einzig Farbige an ihr.

»Ebenso, Cathrine. Obwohl ich mir schon denken kann, warum du hier bist.« Die Stimme des Wassergeistes klang hallend. Zart und verletzlich, aber zugleich auch stark und bestimmt.

»Wo sind Dee und Dum? Ich mache mir Sorgen.«

»Solltest du auch. Ich habe leider sehr schlechte Neuigkeiten für dich. Gestern, kurz nachdem du dich von den Schattengängern an der Grenze verabschiedet hattest, kam er.«

»Wer kam?« Meine Stimme zitterte.

»Er. Der, nach dem ihr sucht. Er packte eine Art weißen Stein aus, der unendliche Helligkeit verströmte, und dann waren die Brüder verschwunden. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Nein. Nein, ich hätte es doch fühlen müssen, wenn ihnen etwas passiert wäre.« Ich fasste unbewusst an meine Kette und spürte die kalten Glasperlen zwischen meinen Fingern.

»Es tut mir leid für dich. Ihr wart sehr gut befreundet.«

Sie machte mir Angst. Es hörte sich fast so an, als käme jede Hilfe für die Brüder zu spät.

»Sie sind aber nicht tot. Das kann nicht sein.«

Etwas veränderte sich an ihrem Blick. Gerade hatte er noch Bedauern ausgestrahlt, nun war es aber unendliche Traurigkeit.

Mir lief eine Träne die Wange hinunter, obwohl ich dagegen ankämpfte. Aber es blieb nicht bei einer. Ich begann zu schluchzen. Ich erlaubte mir diesen kurzen schwachen Moment. Nur diesen einen.

Bisher hatte ich noch nie mit einem derartigen Verlust zurechtkommen müssen. Wenn man nur wenige Leute in seinem Leben hatte, konnte man sich in diesem Punkt glücklich schätzen.

Die Tränen wollten gar nicht aufhören zu fließen. Die Trauer schnürte mir meine Brust zusammen und ich bekam kaum noch Luft. Da spürte ich warme Lichtstrahlen an meiner Schulter.

Ilerias Helligkeit blendete meine nun empfindlichen Augen. Sie hatte mir kurz Zeit gegeben, um für mich alleine zu weinen. Doch nun schwebte sie mit gesenktem Blick vor mir.

»Versprich mir, dass du sie rächen wirst, Cathrine.«

Der scharfe Ton des Geistes half mir. Die Tränen wurden weniger und ich konnte langsam wieder durchatmen.

Dee und Dum waren nicht nur meine Freunde gewesen, sondern auch ein Teil meine Familie.

Jetzt sind sie weg. Für immer.

Ein kleiner Teil in mir fühlte sich leer an. Wie betäubt.

»Das werde ich. Ich schwöre es!« Ich fand die Kraft, mich aufzurichten.

»Er ist in Richtung Süden aufgebrochen«, sagte Ileria zu mir, als wir uns fast auf Augenhöhe gegenüberstanden.

»Süden«, grübelte ich. »Im Süden liegt das Schloss. Aber dort kommt er niemals durch das Portal. Das wird ihn aufhalten, sofern er überhaupt dorthin will.«

»Und dann können du, deine Schwester und der Prinz ihn zur Rechenschaft ziehen.« Sie streckte die Hand aus, in der sich eine kleine Glasphiole mit rosa Inhalt befand. »Das hier wird euch helfen. Es kann in einer Notsituation für alles verwendet werden.«

Ileria glühte noch einmal hell auf, bewegte sich dann wieder in die Mitte des Wassers und schrumpfte zu einem kleinen strahlenden Punkt zusammen, bis sie verschwunden war.

Das Gläschen verstaute ich sicher in meiner Jackentasche. Ich wartete noch einen kurzen Moment, um der Röte in meinem Gesicht die Chance zu geben, langsam zu verblassen. Als ich mich noch mal über die Wasserschale beugte, damit ich mir die salzigen Tränenüberreste wegwaschen konnte, sah ich mein Spiegelbild ganz genau an.

Meine Augen waren schwarz. Komplett schwarz.

Ich blinzelte mehrmals und schaute erneut nach unten. Da waren wieder meine roten Augen. Ich musste mich getäuscht haben.

Spielt mir auch noch mein Verstand Streiche?

Ich schüttelte den Gedanken ab, rappelte mich auf und lief mit meinen gefüllten Schalen zu den anderen zurück.