„Ich kann nicht mehr mitmachen! Wir lassen uns nicht gebrauchen als Verbreiter von Greuelmärchen“

Wilhelm Canaris

Gewidmet

Meiner Großmutter

HARTE SCHATTEN

ROMAN

Binga Hydman

Vorwort

Als ich begann darüber nachzudenken dieses Buch zu schreiben, hatte ich keine Ahnung, dass es bis zu seiner Vollendung über vier Jahre dauern würde. Seit langer Zeit lag die Sammlung von Schriftstücken, Bildern, offiziellen Dokumenten und persönlichen Niederschriften meiner Familie nahezu unbeachtet in einer unscheinbaren Pappschachtel auf meinem Dachboden herum. Die meisten der Bündel stammten aus dem Besitz meiner Großmutter. Diese Schätze aus Papier sind maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass aus der Idee ein Buch zu schreiben tatsächlich Realität wurde. In einem mit rotem Filz überzogenen Karton bewahrte meine Großmutter diese Zeitdokumente über viele Jahre sehr gewissenhaft auf. Erst in den letzten Jahren ihres langen Lebens sprach sie über diese Zeit. Während meiner unzähligen Besuche streiften wir immer wieder gemeinsam durch ihre Kindheit, ihre Jugend, den Krieg und die Anfänge in der noch jungen Bundesrepublik. Sie ließ mich teilhaben an ihren Erinnerungen und Gedanken, sprach von ihren Träumen und ihren kleinen und großen Sorgen. Unzählige Male kramten wir gemeinsam in dem Stapel voller alter Erinnerungen herum oder studierten die längst vergilbten Postkarten aus einer vergangenen Epoche. Dabei wurden häufig spannende, schöne aber auch tragische Momente aus ihrer Vergangenheit wieder lebendig. Irgendwann schrieb ich diese vielen Geschichten auf, um sie für spätere Generationen zu konservieren. Meine Großmutter hätte zwar niemals behauptet, dass sie etwas furchtbar Wichtiges zu berichten gehabt hätte, dafür war sie viel zu bescheiden, aber ich denke, sie wäre auch nicht dagegen gewesen. Seit ihrem Tod im Jahre 2005 habe ich es mir zu einer Aufgabe gemacht, die vielen kleinen Puzzlestücke ihrer eigenen Biographie zu bewahren, und soweit es mir heute noch möglich ist, zu ordnen. Akribisch durchsuchte ich Kirchenbücher, studierte Einwohnerlisten, vertiefte mich in uralte Meldebücher und Ortschroniken aus Dörfern und Gemeinden, die schon lange aufgehört haben zu existieren. Dabei tauchte ich immer tiefer in eine Familiengeschichte ein, die mir bis dahin in großen Teilen auch völlig unbekannt gewesen war. Eine Zeitreise ins ferne Pommern und in die Vororte der Hansestadt Lübeck öffnete mir ein Tor in die jüngste deutsche Vergangenheit. Einer der Höhepunkte auf dieser Reise war ganz sicher das Auffinden des Grabsteines meiner Vorfahren im fernen Pommern. Das große Kreuz steht noch heute auf einem der wenigen völlig unberührten deutschen Friedhöfe und wartete dort seit nahezu 150 Jahren trotzig auf seine Wiederentdeckung. Plötzlich nahm ein zunächst scheuer Blick in den familiären Rückspiegel eine faszinierende, historische und ganz reale Gestalt an. Daten, Zahlen und Fakten erhielten menschliche Konturen, längst vergessene Orte wurden wieder lebendig. Meine Suche fand ganz plötzlich kein planbares Ende mehr. Immer neue Menschen und Orte betraten meine eigene Kleine, bis dahin sehr überschaubare Familienbühne. Auf den Spuren meines Ur- und Großvaters fand ich deren Namen in den Kriegsstammrollen des Ersten Weltkrieges und in den Personalstammblättern der deutschen Wehrmacht. Über die deutsche Dienststelle Berlin und das militärische Archiv der Bundeswehr lassen sich noch heute die jeweiligen Frontverläufe ihrer Regimenter und Abteilungen ohne große Schwierigkeiten nachverfolgen. Fast punktgenau konnte ich dadurch ermitteln, wo Vater und Sohn in den beiden Kriegen von 1914-18 und 1939-45 kämpften und versuchten irgendwie am Leben zu bleiben. Der Lungendurchschuss meines Urgroßvaters im Juni 1916 an der Westfront ist in den täglichen Verlust-und Verletztenlisten der kaiserlichen Armee, genauso gut dokumentiert, wie der Gang meines Großvaters im April 1945 in die amerikanische Kriegsgefangenschaft. Seine Daten sind noch heute in den POW (Prisoner of War) -Listen der US- Archive zu finden. Nicht unerwähnt darf dabeibleiben, dass ich aber auch auf mir bis dahin völlig unbekannte Lebensläufe entfernter Verwandter stieß, deren tiefe Verstrickung in die Nazi-Barbarei durch Dokumente belegt und somit unbestritten ist. Ein tragisches Beispiel für erlebtes Unglück stellt ganz sicher der jüngste Bruder meiner Großmutter dar. Mit gerade einmal zwanzig Jahren endete sein Leben bereits frühzeitig. Als Unteroffizier an die Ostfront befohlen, starb er in Rostow am Don den Heldentod für Führer, Volk und Vaterland. Die Stadt, die auch heute noch als das Tor zum Kaukasus gilt, wurde am 20. November 1941 durch die Truppen des deutschen III. Armeekorps eingenommen. Bereits zwei Tage später begann jedoch der erwartete massive sowjetische Gegenangriff und am 28. November mussten die deutschen Truppen die rauchenden Trümmer der Stadt wieder dem Feind überlassen. Die stark dezimierten deutschen Verbände zogen sich bis nach Taganrog zurück. Auf ihrem Rückzug hinterließen sie eine breite Schneise der völligen Verwüstung. Viele Fabriken und Wohnhäuser wurden bis auf die Grundmauern niedergebrannt, wehrtüchtige Einwohner und 200 russische Kriegsgefangene nur wenige Stunden vor ihrer Befreiung ohne jede Begründung erschossen. Auch 3000 Bewohner der Stadt kamen in diesen acht Tagen bei Luftangriffen und Häuserkämpfen ums Leben. Nachdem die Rote Armee die Stadt befreit hatte, wurde sofort mit dem Wiederaufbau der zerstörten Fabriken und Häuser begonnen. Niemand ging auf russischer Seite davon aus, dass die Deutschen die Stadt noch einmal zurückerobern könnten. Während einer weiteren deutschen Offensive im Juli 1942 starben hier jedoch nochmals tausende deutsche Landser einen sinnlosen Tod. Auch der Bruder meiner Großmutter, Träger der Nahkampfspange und des Eisernen Kreuzes, kam bei einem dieser Kämpfe am 17. Juli 1942 ums Leben. Seine Teilnahme an den vorangegangenen wahllosen Massentötungen russischer Zivilisten ist sehr wahrscheinlich, da sich seine Kompanie zu diesem Zeitpunkt genau dort im Einsatz befand. Was ging in diesem jungen Mann wohl vor, als er auf den Befehl seiner Vorgesetzten das Gewehr auf unschuldige Frauen und Kinder anlegte? Nur sieben Tage später, am 24. Juli 1942 wurde die Stadt durch die Vorhut des 49. Gebirgsjägerkorps und den Einheiten der 5. SS-Panzer-Division „Wiking“ zum zweiten Mal besetzt, blieb aber letztendlich nicht allzu lange in deutscher Hand. Als die 6. Armee nur sechs Monate später im Kessel von Stalingrad nahezu vollständig vernichtet wurde, begann auch im Kaukasus der lange und verlustreiche Rückzug der deutschen Wehrmacht. Meine Großmutter erzählte mir einmal, dass sie ihren Bruder nach seinem letzten kurzen Heimaturlaub zum Bahnhof begleitete. Die Geschwister hatten seit je her eine sehr enge Beziehung zueinander gehabt. Der Zug, der ihrem Bruder zurück an die russische Front bringen sollte, stand bereits bereit. „Es war ein sehr stiller Abschied“ sagte meine Großmutter mit traurigen Augen. „Wir ahnten wohl beide, dass wir uns nicht noch einmal wiedersehen würden“. Sie sollten leider recht behalten. Nur zwei Wochen später starb Herbert am anderen Ende der Welt einen sinnlosen Tod für ein verbrecherisches Regime. Noch heute liegt er auf einem kleinen deutschen Soldatenfriedhof im tiefsten Süden Russlands begraben. Meine Großmutter hat in ihren letzten Lebensjahren immer häufiger über ihn gesprochen. Es schien so, also ob sie sich wünschte, dass ihr eigener nahender Tod auch eine Möglichkeit bieten könnte, ihren Bruder wiederzusehen. Viele dieser Geschichten kannte ich bereits in- und auswendig, doch unterbrochen habe ich ihre Erzählungen nie. Je älter sie wurde, desto schlechter arbeitete zwar ihr Kurzzeitgedächtnis, doch bei unseren gemeinsamen Reisen in die Vergangenheit lebten ihre alten Erinnerungen immer wieder auf. Wie bereits erwähnt, habe ich mir niemals erlaubt sie daran zu hindern, eine ihrer Episode zum tausendsten Mal zu erzählen. Zum einen war sie eine wirklich tolle Erzählerin und zum anderen hätte ich es einfach für respektlos gehalten. Pflicht, Sparsamkeit und eine unerschütterliche Zuversicht waren ihre wohl ausgeprägtesten Eigenschaften. Auf so manchen Zeitgenossen wirkte sie dadurch immer etwas kühl und distanziert, aber ich durfte sie auch ganz anders erleben. Häufig saß ich Hand in Hand mit ihr auf ihrem alten grünen Sofa und lauschte ihren Erzählungen. Als sie schon sehr alt war, wurde ihr durch das Leben gestählte Herz zunehmend sanfter, und ich erlebte eine gebildete Frau, die zärtlich und sehr liebevoll sein konnte und es nun wohl auch endlich sein wollte. Noch heute hängt ein Bild meiner Großmutter über meinem Schreibtisch und es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an sie denken muss. Die wichtigsten Hauptpersonen, deren Namen und die erzählten Begebenheiten in diesem Buch, sind Fiktion und frei erfunden. Dennoch werden hier historische Personen in die Geschichte eingebunden, die es tatsächlich gegeben hat. Inspiriert durch die vielen Erzählungen meiner Großmutter entstand die Idee zu diesem Buch. Der Versuch, das Leben in dem Deutschland von 1933-45 zu beschreiben, ist bis heute in unzähligen Büchern und Filmen bereits umfänglich unternommen worden. Was eine entmenschlichte Diktatur in den Köpfen der Menschen, die in ihr lebten, anrichtete und an lebenslangen Spuren hinterließ, ist für die heutige junge Generation nicht mehr vorstellbar. Aufgewachsen in Wohlstand und gesellschaftlicher Nestwärme, sind die bitteren Lebenserfahrungen ihrer Urgroßeltern für die allermeisten von ihnen nur noch eine kurze Anekdote aus der eigenen Familiengeschichte. Bei vielen der damaligen Deutschen war nach 1945 die Last der eigenen Schuld so übergroß, dass einige von denen, die das Grauen körperlich unbeschadet überlebt hatten, letztendlich doch noch geistig an ihr zerbrachen. In einer Zeit ohne eine funktionierende moralische Richtschnur unterwirft sich das eigene Gewissen häufig der herrschenden Staatsraison, um dadurch instinktiv sich selbst zu schützen. Was bis 1933 noch als richtig galt, war nach Hitlers Machtergreifung ganz plötzlich falsch. Es waren Männer wie Roland Freisler, die in der Richterrobe des Volksgerichtshofs als willige Vollstrecker des Bösen, selbst zum Verbrecher wurden, in dem sie das Recht beugten und das Unrecht bereitwillig vertraten. Als im Jahre 1946 die Sieger über die Besiegten in Nürnberg zu Gericht saßen, war die freie Welt dabei, als sich die Täter ihrer Verantwortung zu entziehen versuchten, in dem sie jede eigene Schuld leugneten und sich auf den Befehlsnotstand beriefen. Göring, Dönitz, Keitel, Kaltenbrunner, Saukel, Speer sind Namen, die für ein Regime stehen, das eine ganze Generation junger Deutscher zu einem lebenslang andauernden Gewissenskonflikt verurteilte. Den meisten der führenden Nationalsozialisten, die im Nürnberger Gerichtssaal 600 nach langen Monaten der Verhandlungen und einer erdrückenden Beweislast ihr Todesurteil empfingen, starben ohne jede Spur von Reue. Die Täter waren zu feige dem Volk, das sie ohne Skrupel in den Abgrund geführt hatten, einen Teil seiner zukünftigen Schuld abzunehmen. Dazu hätte mehr Mut gehört, als sie selbst bereit waren aufzubringen. Dennoch gab es Männer und Frauen, die das Unrecht sahen und verabscheuten. Innerhalb der Wehrmacht und auch innerhalb der SS gab es Offiziere und Unteroffiziere, für die ihre christliche Erziehung und der eigene moralische Kompass weit mehr Gewicht hatten, als die pervertierte nationalsozialistische Weltanschauung und deren mörderischer Rassenwahn. Als Männer wie Canaris, Oster und Stauffenberg das verbrecherische Tun ihrer Staatsführung erkannten, handelten sie und zahlten den Versuch ihrem Gewissen zu folgen mit dem Leben. Dieses Buch erzählt die Geschichte zweier Männer. Während der Eine in den Zeiten des Unrechts stets seinem Gewissen folgt, wird der andere zur gleichen Zeit zu einem gewissenlosen Massenmörder. Häufig genug ist es der pure Zufall, der das menschliche Schicksal bestimmt und ausmacht. Manchmal jedoch machen Zeiten wie diese auch Menschen möglich, die der Frieden ganz sicher verhindert hätte.

Binga Hydman, im Mai 2019

Zwei Söhne

Der Regen hatte so plötzlich aufgehört, wie er begonnen hatte. Auf dem kleinen und dunklen Hinterhof der alten Mietskaserne hatten sich zwei gewaltige Wasserpfützen gebildet. Ferdinand Kessler schob sein altes Fahrrad durch die größere der beiden Pfützen, bis er die steilen Kellertreppen erreichte. Das schwere Fahrrad die Stufen herunterzutragen, war für den 35-jährigen ehemaligen Hufschmied jedes Mal eine Qual. Seit einem Schuss in die Brust hatte der große schlanke Mann mit körperlichen Anstrengungen so seine Probleme. „Verdammter Krieg!“ murmelte er vor sich hin. Es war im Jahre 1916 gewesen, als ihn vor Verdun eine Kugel erwischt hatte und dabei seinen rechten Lungenflügel zerfetzte. Mit rasselndem Atem wuchtete er das unhandliche Fahrrad die schmale Kellerstiege herunter. Ferdinand hatte nach seiner Verwundung den Soldatenrock ausziehen müssen und galt seitdem als Kriegsversehrter. Der deutsche Staat zahlte ihm seit dem verlorenen Krieg eine kleine monatliche Rente, mit der er sich und seine junge Frau über Wasser zu halten versuchte. Das Geld reichte jedoch weder hinten und noch vorne aus, so dass sich Ferdinand seit ein paar Wochen als Friedhofshelfer etwas dazu verdiente. In guten Monaten blieben jetzt sogar ein paar Groschen über, die er dann auf sein Sparbuch bei der Lübecker Sparkasse in der Königstraße einzahlte. „Gestorben wird schließlich immer!“ witzelte er manchmal grinsend in die Runde. Mittlerweile hatte er durch die Arbeit auf dem Burgtorfriedhof immerhin die stolze Summe von 93,18 Mark ansparen können. Ferdinand Kessler war ein bescheidener und ausgesprochen warmherziger Mann. Im Krieg hatte er es zum Gefreiten gebracht und für besondere Tapferkeit im Felde sogar das Eiserne Kreuz 2. Klasse erhalten. Er war als Meldegänger eingesetzt worden und hatte dadurch nie mit in der vordersten Linie kämpfen müssen. Ein glücklicher Umstand, um den ihn so mancher seiner Kameraden beneidet hatte. An einem warmen Sommerabend im Jahre 1916 vhatten er und seine Kameraden um ein Feuer herumgesessen. Der Mann, der Ferdinand gegenübersaß, war gerade damit beschäftigt gewesen, sein Gewehr zu reinigen, als sich ein Schuss löste. Die Kugel traf Ferdinand mitten in die Brust, und so endete der Krieg für den Lübecker Hufschmied am 16. Juli 1916 etwa 10 km hinter der deutsch-französischen Frontlinie. Ferdinand wurde nach diesem ungewollten Volltreffer in ein Lazarett in die Nähe von Osnabrück verlegt und war nach seiner Genesung nicht mehr kriegstauglich. Ein Umstand der einen ganz entscheidenden Einfluss auf sein weiteres Leben haben sollte. Der Ex-Gefreite Ferdinand Kessler kehrte also 1917 mit nur noch einem funktionierenden Lungenflügel und dem Rest eines Projektils im linken Schulterblatt, in seine Heimatstadt an der Trave zurück. Bereits im Herbst des gleichen Jahres lernte er in der Straßenbahn Luise Ilse Löffler kennen. Ferdinand hatte seinen Onkel Hermann in Eckhorst besucht, um von ihm ein paar frische Feldkartoffeln zu ergattern. Mit einem Sack voller Erdäpfel bestieg er die Straßenbahn in Richtung Hauptbahnhof, als eine Naht des Kartoffelsackes, riss und sich der kostbare Inhalt auf die Straße ergoss. Die junge Frau, die neben ihm in der Straßenbahn gestanden hatte, eilte herbei um ihm dabei zu helfen, die herum rollenden Kartoffeln wieder einzusammeln. „Moment mal, ich habe da eine Idee“ sagte sie fröhlich und kramte in ihrer Handtasche herum, bis schließlich drei große stabile Sicherheitsnadeln zum Vorschein kamen. Nur eine Sekunde später hatte sie die gerissene Naht behelfsmäßig zusammengesteckt. Als die letzte Kartoffel eingesammelt war, betrachtete Ferdinand die Frau ein wenig genauer. Sie war schlicht aber sauber gekleidet, war nicht besonders groß aber auch nicht zu klein. Ihre Augen funkelten vergnügt und drückten pure Lebensfreude aus. Ihr feuerrotes Haar hatte sie sich zu einem Zopf zusammengebunden. Ferdinand lächelte etwas verlegen. „Ähm, darf ich Sie zum Dank wiedersehen, also ich meine natürlich…darf ich sie zum Dank vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?“ Ferdinand errötete und blickte etwas verlegen auf seine Schuhspitzen. „Aber natürlich dürfen Sie mich wiedersehen“ äffte sie Ferdinand nun kichernd nach. Sie tauschten ihre Adressen aus und bereits am darauffolgenden Nachmittag trafen sich die beiden im Gasthof „Zum holsteinischen Hause“ in der Marlisgrube wieder. Ferdinand und Luise heirateten schon ein halbes Jahr später. Nachdem sie im Juni 1918 ihre erste gemeinsame Wohnung in der Alfstrasse bezogen hatten, ließ auch der Familiennachwuchs nicht mehr lange auf sich warten. Am 25. November 1918 erblickte der gemeinsame Sohn das Licht der Welt. Der Junge war kerngesund und mit einem Gewicht von 4050 Gramm „ein besonders stattliches Exemplar gesunden deutschen Nachwuchses“ wie sein Vater Ferdinand es immer und immer wieder mit stolzer Vaterbrust und bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Besten gab. Sie nannten den Jungen Heinz, nach dem Großvater Luises. Heinz besuchte zunächst die bereits 1816 gegründete Marienschule am Langen Lohberg in Lübeck. Der äußerst sportliche blonde Junge war bei seinen Mitschülern und Lehrern sehr beliebt. Das Lernen fiel ihm nicht besonders schwer, und seine Noten konnten sich durchaus sehen lassen. Die stolzen Eltern förderten den Knaben, wo immer sie es konnten. Luise und Ferdinand, die selbst nur die einfache Volksschule besucht hatten, waren überglücklich, als der Rektor der Marienschule ihnen 1928 empfahl, den Jungen auf eines der Lübecker Gymnasien zu schicken, um dort das Abitur zu erlangen. „Der erste Kessler, der studieren wird!“ ließ eine stets sichtbar stolze Luise ihre Umwelt wissen. Im August des Jahres 1928 wechselte Heinz auf das Katharineum in der Königstraße. Der Junge gehörte auch hier von Beginn an zu den fleißigsten und besten Schülern. Im Bereich der Naturwissenschaften und der Sprachen lagen seine größten Stärken. Besonders sein Englischlehrer Hermann Stern erkannte frühzeitig das sprachliche Talent des Jungen und förderte es nach Kräften. Als die Nationalsozialisten 1933 in Lübeck die Macht übernahmen, wurden auch die Bildungseinrichtungen der Stadt innerhalb kürzester Zeit gleichgeschaltet. Heinz, in diesem Jahr in die Untersekunda versetzt, spürte instinktiv, dass sich das Leben in Deutschland nun ändern würde. „In drei Jahren habe ich es geschafft!“ rief er seinem Vater nach dem Ende der Sommerferien lachend zu. „Ich bin sehr stolz auf dich mein Sohn“ erwiderte Ferdinand Kessler und fuhr dem halbwüchsigen Jungen zärtlich durch das blonde Haar. Das neue Schuljahr begann mit einer Überraschung. Als die Schüler ihren Klassenraum im zweiten Stock betraten, wurden sie dort bereits erwartet. Neben dem Rektor stand ein ihnen unbekannter Mann, der die Schüler aufmerksam zu mustern schien. Er trug eine Brille, die auf einer viel zu großen Nase ruhte und die fast das ganze Gesicht bedeckte. Herr Moor, der Schulleiter lächelte unbeholfen und machte den Eindruck, als wäre ihm die ganze Situation nicht besonders angenehm. Die Schüler setzten sich auf ihre Plätze und blickten neugierig auf die beiden Männer, die sich jetzt neben das Pult an der Stirnseite des Raumes platziert hatten. „Was ist das denn für ein komischer Typ?“ dachte Heinz, während er die Bücher aus seinem Tornister herausfischte und sie dann vor sich auf den Tisch legte. „Kennst Du den Kerl?“ flüsterte er seinem Tischnachbarn Julius leise zu. „Nein“ antwortete der und schüttelte unmerklich den Kopf. Die beiden Jungen hatten sich in der Vergangenheit so manchen Streich ausgedacht. Vor ein paar Monaten hatten sie im Biologieunterricht eine Ratte obduzieren müssen. Der Biologielehrer Herr Schulz brachte dafür ein paar tote Nager mit und legte sie kurz vor Beginn des Unterrichts auf das Pult. Heinz und Julius nutzen einen unbeachteten Moment und schlich sich leise in die Klasse zurück. Dann drückten sie einer der Ratten das Maul auf und schoben ihr, unter Zuhilfenahme eines Bleistiftes, eine Haken-Kreuz-Anstecknadel in den weit geöffneten Schlund. Schnell legten sie die Ratte an ihren Platz zurück und gesellten sich wieder zu den anderen Schülern auf dem Pausenhof. Als die Biologiestunde begann, forderte Herr Schulz die Schüler auf, sich immer zu zweit eine der Ratten mit an ihren Platz zu nehmen. Heinz und Julius beobachteten die anderen Schüler und sahen, wie ihre präparierte Ratte auf einem der anderen Tische zum Liegen kam. Ausgerechnet die beiden HJ-Pimpfe Paul Förster und Heinrich Wilke hatten die Hakenkreuz-Ratte erwischt. Die beiden Jungen gehörten bereits seit 1931 zu den Jungen, die in HJ-Uniform zum Unterricht marschierten. Die Väter der beiden Jungen waren überzeugte Nationalsozialisten und hatten sich bereits in unzähligen Saalschlachten als Mitglieder der SA-Schlägertruppen einen Namen gemacht. Als Herr Schulz nun die Schüler dazu aufforderte, die Ratten an der Unterseite mit einem Skalpell der Längsrichtung nach aufzuschneiden, dauerte es nur einige Sekunden bis der schrille Schrei Paul Försters alle anderen Gespräche im Raum sofort zum Verstummen brachte. Der herbei geeilte Herr Schulz stand wie vom Donner gerührt vor dem Tisch der beiden HJ-Jungen und starrte mit offenem Mund auf die vor ihm liegende Ratte. Heinrich Wilke war bleich geworden „Was…aber wie kommt denn das Abzeichen in die Ratte?“ Paul, der vor Schreck einen Schritt zurückgewichen war, krächzte leise: „Das gibts doch nicht!“ Nun hatten sich auch alle anderen Schüler um den Tisch herum platziert und gemeinsam begutachteten sie die Ratte, aus deren Gedärm ein kleines Hakenkreuz herausschaute. „Mmh, die Ratte scheint ja wohl Parteimitglied gewesen zu sein!“ sagte Heinz in die Stille des Raumes herein. „Wahrscheinlich hat sie nach den letzten Reichstagswahlen Suizid begangen, weil ihr Führer es wieder nicht geschafft hat Reichskanzler zu werden“. Es trat absolute Stille ein. Doch nur ein paar Sekunden später brach ein schallendes Gelächter aus, das nach und nach alle Anwesenden erfasste und mit sich riss. Herrn Schulz rollten die Tränen über die geröteten Wangen und er schlug sich immer und immer wieder vor Lachen auf die Schenkel. Auch Heinz und Julius glucksten vergnügt, während Paul und Heinrich immer noch wortlos auf die tote Ratte starrten. Die Beiden hatten einen hochroten Kopf bekommen und warfen ihren Klassenkameraden wütende Blicke zu. „Ihr werdet schon sehr bald sehen wie es denen ergehen wird, die heute noch über uns lachen.“ zischte Paul. Dann setzten sich die beiden schmollenden HJ-Führer ihre schwarzen HJ-Schifchen auf den Kopf und stapften wutschnaubend aus dem Biologieraum. Als das Lachen langsam abgeklungen war, ging Heinz ein Gedanke durch den Kopf, der ihm unbehaglich erschien und ihn fortan auch nicht mehr ganz loslassen wollte. Was wäre, wenn Paul und Heinrich mit ihrer Drohung am Ende recht behielten.

„Bitte setzen Sie sich“ Herr Moor hatte zweimal kräftig in die Hände geklatscht, um sich das notwendige Gehör zu verschaffen. „Ich hoffe Ihnen waren alle ein paar erholsame Ferientage vergönnt, denn jetzt beginnt für Sie wieder der Ernst des Lebens!“ Der Schulleiter versuchte zu lächeln, doch man sah ihm an, dass er sich nicht so recht wohl in seiner Haut fühlte. „Heute möchte ich Ihnen ihren neuen Englisch- und Geschichtslehrer vorstellen. Herr Mahlzahn kommt vom neuen Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung aus Berlin und wird unseren Lehrkörper mit seinem fundierten Wissen sicher sehr bereichern“. Nach diesen Worten trat eine kurze Stille. Heinz, der direkt vor den beiden Männern saß, erhob sich und fragte „Wo ist denn unser bisheriger Lehrer Herr Stern? Ist er krank?“ Schuldirektor Moor wurde bleich, senkte den Blick und schaute an Heinz vorbei in das große Nichts. Bevor er etwas erwidern konnte, ergriff Herr Mahlzahn das Wort. „Wie heißen Sie?“ Der Lehrer schaute Heinz jetzt direkt in die Augen. Sein Blick war kalt und Heinz spürte sofort, dass bei diesem aalglatten Kerl in jedem Fall Vorsicht geboten war. „Heinz Kessler“ sagte er und bemühte sich, darum seine Stimme möglichst selbstsicher klingen zu lassen. Der neue Lehrer hob die linke Augenbraue leicht an und lächelte. „So, so! Sie wollen also wissen, warum der Jude Stern hier nicht mehr unterrichtet?“ Mahlzahn hatte sich auf die rechte Tischkante des Pults gesetzt, sein Jackett geöffnet und dabei seine linke Hand zur Faust geballt und in die Hüfte gestemmt. „Der Jude Stern unterrichtet an keiner deutschen Schule mehr. Kein Jude wird das jemals wieder tun. Die deutschen Schulen werden in Zukunft keine verlausten Juden mehr aufnehmen. Weder als Lehrer noch als Schüler.“ Paul Förster applaudierte und auch Heinrich Wilke klatsche Beifall. „In Zukunft weht in Deutschland ein anderer Wind!“ Mit dieser selbstgefällig daher orakelten Feststellung erhob sich Mahlzahn und bedeutete dem Schulleiter Moor, der seit seinen Eröffnungsworten geschwiegen hatte, dass es nun an der Zeit wäre zu gehen. „Hat noch jemand Fragen? Nein? Gut. Heil Hitler meine Herren.“ Die Schüler erhoben sich und bis auf eine kleine Handvoll von Ihnen, erwiderten die allermeisten der Jungen den Gruß. Nur Sekunden später trat der Lateinlehrer Petersen ein und wie in jeder seiner Stunden eröffnete er den Unterricht mit einem Zitat: "Praeter speciem stultus est." (Er ist dümmer, als er aussieht) Ob er damit jemanden Bestimmten meinte, ließ Herr Petersen zumindest an diesem Schultag wohlweislich unausgesprochen. Die letzten drei Schuljahre waren für Heinz die bis dahin schlimmsten. Nicht dass er irgendwelche größeren Probleme mit dem Lehrstoff gehabt hätte, aber seit dem ersten Auftritt des damaligen Lehrers und jetzigen neuen Rektors Mahlzahn, hatte Heinz intuitiv erfasst, dass er fortan mit Worten, die eine eigene Sicht der Dinge zum Inhalt haben könnten, ausgesprochen vorsichtig sein musste. Heinz begann die Welt - und die war plötzlich ausgesprochen deutsch - immer mehr aus der Rolle eines stillen Beobachters in sich aufzunehmen. Er registriere jede kleinste Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ordnete sie im Kopf für sich ein. Seine Eltern, die als Angehörige der Arbeiterklasse der Sozialdemokratie nahestanden, betrachten Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 mit Argwohn und einer bis dahin für sie nicht genauer zu definierenden Besorgnis. Ferdinand erfasste die große kriminelle Energie der Nationalsozialisten sehr bald und auch Luise erkannte früh, was für Menschen jetzt in Deutschland das Sagen hatte.

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Theodor Friedrich Egbert Faust wurde am 20. April 1896 als einziger Sohn des angesehenen Rechtsanwalts Manfred Egbert Faust, in Bad Schwartau bei Lübeck geboren. Der gescheite Theodor wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf und absolvierte im Sommer 1915 ohne große Schwierigkeiten das Abitur an der altehrwürdigen Oberschule zum Dom in Lübeck. Wie fast alle seiner Schulkameraden meldete sich auch der sportliche Anwaltssohn sofort freiwillig zum Kriegsdienst, wurde aber zunächst aus gesundheitlichen Gründen als nicht kriegstauglich ausgemustert. Theodor war extrem kurzsichtig und ohne eine entsprechende Brille so gut wie blind. Während viele seiner Klassenkameraden jetzt in den Schützengräben der Westfront den Heldentod sterben durften, musste Theodor untätig zu Hause darauf hoffen, vielleicht doch noch als tauglich gemustert zu werden. Seine Trauer über diese Schmach währte allerdings nicht sehr lange. Im Sommer des Jahres 1916 lernte er die junge Maria von Kressfeld kennen. Das Geschlecht der von Kressfelds wurde in den Lübecker Archiven erstmals bereits im Jahre 1223 erwähnt. Ludbertus von Kressfeld, der bereits ab 1225 als ein Lübecker Ratsherr tätig war, galt als Stammvater der von Kressfelds. Die Familie, die in der Hansestadt schon seit Jahrhunderten Ratsherren, Offiziere und Senatoren stellte, gehörte der hanseatischen Oberschicht an und galt als politisch ausgesprochen liberal. Die 19-jährige Maria, eine hübsche blonde junge Frau nahm im Sommer 1916 an einer Trauerfeier teil, die für einen im Felde gebliebenen Cousin stattfand. Dort lernte die junge Frau den schüchternen Theodor kennen. Die beiden jungen Menschen gefielen sich auf Anhieb und schon ein Jahr später läuteten die Hochzeitsglocken der altehrwürdigen Jacobi Kirche. Das junge Ehepaar bezog schon kurz darauf ein großes Haus am Lübecker Geibelplatz, das ihnen Theodors Vater als Hochzeitsgeschenk überschrieben hatte. Im Jahr 1918 wurde ihr Sohn Manfred geboren. Trotz der verheerenden militärischen Niederlage und dem glanzlosen Ende des Kaiserreichs im November 1918, gelang es Theodor Faust recht schnell im neuen demokratischen Gesellschaftssystem der Weimarer Republik Fuß zu fassen. Der überall als zielstrebig geltende Theodor schloss das Jurastudium im Jahr 1921 mit Auszeichnung ab. Nach der Promotion zum Dr. jur. wurde ihm durch den Senat in seiner Heimatstadt Lübeck das Amt eines Staatsanwalts angeboten. Faust nahm das Angebot an und galt schon nach kurzer Zeit als ein fleißiger Jurist mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Derweil kümmerte sich Maria mit Hingabe um den Haushalt und die Erziehung ihres Sohnes. Sie vergötterte ihren Manfred. Obwohl Maria ihm so gut wie jeden Wunsch von den Augen ablas, war Manfred nicht selten launisch und trat Gleichaltrigen gegenüber immer häufiger ausgesprochen herablassend und herrisch auf. Seine Mutter gab sich alle Mühe ihn nach den liberalen Grundsätzen und Tugenden ihrer eigenen Familie zu erziehen, in dem sie ihm Toleranz und Weltoffenheit nahebrachte. „Diese Welt gehört allen Menschen zu gleichen Teilen“ war einer ihrer geflügelten Sätze. Manfred kümmerten diese weltoffenen Erziehungsversuche seiner Mutter allerdings nur wenig. Der Heranwachsende wechselte im Jahre 1928 auf das Gymnasium und war nach seinem Vater nun der zweite Faust, der die Oberschule zum Dom besuchte. Seine Noten waren gut und kaum jemand hatte Zweifel daran, dass Manfred schon sehr bald in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. „Manfred wird mal ein großer Anwalt“ verkündete Theodor Faust bei jeder sich bietenden Gelegenheit stolz. Manfred hatte sich allerdings vorgenommen, möglichst ohne große eigene Anstrengung an die Vorzüge des Lebens zu gelangen. Der Beruf des Anwalts reizte ihn daher kaum. Die Weimarer Republik lag zu Beginn des Jahres 1932 bereits auf dem politischen Sterbebett. Die NSDAP zog nach den Reichstagswahlen am 13. November mit 33,1% als zweitstärkste Partei nach den Sozialdemokraten in den Lübecker Senat ein. Die weltoffene Hansestadt an der Trave, war - wie so viele andere Städte der ungeliebten Republik - den braunen Heilsversprechen der Nazis erlegen. Auch der leitende Staatsanwalt Theodor Faust wurde von der Woge „nationaler Erneuerung“ erfasst und mitgerissen. Als die Nazis bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933, ihren Stimmenanteil im Senat nochmals um fast 12% auf insgesamt 42,8% verbessern konnten, und damit zur stärksten politischen Kraft in der Hansestadt geworden waren, trat Theodor Faust, Mitgliedsnummer 981.861, in die NSDAP ein. Der Sohn Manfred trat nun doch in die Fußstapfen seines Vaters und wurde eine Woche nach dessen Parteieintritt, in die Lübecker Hitlerjugend aufgenommen. Dort gehörte er schnell zum inneren Führungszirkel und wurde von den Pimpfen respektiert, aber auch gefürchtet. Ihm gefiel es, andere Menschen herum zu kommandieren. Während des laufenden Schuljahres 1934 wechselte der frisch gebackene HJ-Führer an die NAPOLA im schleswig-holsteinischen Plön. An diesen Eliteschulen der NSDAP wurde das zukünftige Führungspersonals des nationalsozialistischen Deutschlands herangebildet. Manfred mutierte dort, wie so viele andere Jungen seiner Generation, zum überzeugten Nationalsozialisten und fanatischen Antisemiten. Maria Faust war strikt gegen diesen Schulwechsel gewesen und versuchte alles, um Manfred und Theodor davon zu überzeugen, dass dieser Schritt nicht der richtige für den Jungen wäre. Vater und Sohn ignorierten ihre Einwände, so dass Manfred zum Ende des Schuljahres auf die Schule nach Plön wechselte. Theodor Faust machte im braunen Deutschland jetzt ebenfalls schnell eine rasante Karriere. Unzählige andere Volksgenossen wie er selbst, hatten die Zeichen der Zeit erkannt und sich in den Strom derer begeben, die sich den Nazis bedingungslos anschlossen. Bereits am 8. Juni 1933 wurde der bis dahin unpolitische Staatsanwalt Parteigenosse Theodor Faust vom zuständigen Reichsstatthalter Friedrich Hildebrandt zum Senator für Justiz der Stadt Lübeck ernannt. Als frisch gebackener Justizsenator betrieb er nun konsequent die schnelle Umsetzung der vollständigen Gleichschaltung des politischen Lebens in Lübeck. Eine erste große Verhaftungswelle schwappte durch die Stadt. Sozialdemokraten und Kommunisten wurden in einer Großaktion der Lübecker Polizei und der Gestapo zunächst in Schutzhaft genommen und dann in das Zuchthaus Lauerhof gebracht. Nur kurze Zeit später verlegte man die meisten Gefangenen in das KZ nach Bergen-Belsen. Viele dieser Menschen sollten das Konzentrationslager südlich von Hamburg nicht mehr lebend verlassen.

Auch ein langjähriger Lübecker Anwaltskollege des frisch gebackenen Justizsenators, der jüdische Rechtsanwalt Kurt Liberman, gehörte zu den ersten Opfern dieser Willkür. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1934 wurde Libermann auf dem Heimweg von seiner Kanzlei in der Beckergrube von unbekannten Tätern bewusstlos geschlagen und in die nahe gelegene Trave geworfen. Seine zerschlagende Leiche wurde erst nach zwei Tagen aus dem brackigen Wasser der Trave gezogen. Zwei Lübecker SA-Männer hatten den leblosen Körper im Wasser treiben sehen. Anhand der Geldbörse, die der Tote immer noch bei sich trug, konnten sie die Personalien der Leiche ermitteln. Nach einer kurzen Diskussion warfen die SA-Männer den Körper zunächst einfach wieder in die Trave zurück. Selbstverständlich nicht ohne dem Toten vorher das Geld aus der seiner Börse zu stehlen. Erst der Protest von einigen herbeigeeilten Lübecker Bürgern beendete dieses ekelhafte Schauspiel. Der Mord an Kurt Liberman wurde dennoch niemals aufgeklärt. Theodor Faust ließ das polizeiliche Ermittlungsverfahren bereits nach zwei Tagen wegen fehlendem staatlichen Interesse einstellen. In den darauffolgenden zwei Jahren entließ der nun weltanschaulich gefestigte Senator dutzende, als politisch unzuverlässig geltende Mitarbeiter, Anwälte und sogar Richter aus dem Staatsdienst. Sein Sohn Manfred hatte sich in Plön während dessen ebenfalls zu einem passablen Nationalsozialisten gemausert. Er bestand sein deutsches Abitur mit Auszeichnung und strebte nun doch eine Karriere als Jurist an. Zum Semesterbeginn des Jahres 1936 schrieb sich Manfred Faust in der Hamburger Universität zum Jurastudium ein. Gleichzeitig wurde er Mitglied im NS-Studentenbund. Sein Vater war praktisch zeitgleich und „Im Namen des Führers“ zum Bürgermeister der Stadt Lübeck ernannt worden. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler ernannte ihn daraufhin ehrenhalber sogar zu einem SS-Standartenführer (Oberst), und auch der deutsche Justizminister Franz Gürtner ließ es sich daraufhin nicht nehmen und beförderte Theodor Faust nun ebenfalls ehrenhalber zum Reichsgerichtsrat. Theodor und Manfred Faust hatten es im neuen Deutschland in sehr kurzer Zeit bereits sehr weit gebracht. Alles schien für Männer ihres Schlages nun möglich zu sein.

Für Maria Faust stellte sich das Leben im nationalsozialistischen Deutschland allerdings schon sehr bald als unerträglich heraus. Bereits kurz nach der Machtergreifung der Nazis im Jahre 1933 hatte die hübsche Frau damit begonnen, sich dem gesellschaftlichen Leben der Stadt zu entziehen. Immer häufiger blieb sie größeren Veranstaltungen fern oder ließ sich aus den verschiedensten Gründen entschuldigen. Das große Haus am Geibelplatz verließ sie fortan nur noch selten. Oft kam es jetzt zwischen ihr und ihrem Mann zu lautstarken Auseinandersetzungen und auch das Verhältnis zu ihrem Sohn wurde zusehends immer schlechter. Maria verfiel nun immer häufiger in eine depressive Stimmung und begann damit sich schon am Mittag zu betrinken. Maria beendete sogar ihr ehrenamtliches Engagement für die gemeinnützige „Brockensammlung“. Um die Brockensammlung, die bereits 1913 durch einige christliche Lübecker Bürger des „Verein zur Fürsorge für entlassene Strafgefangene und sittlich Verwahrloste“ gegründet worden war, hatte sich Maria immer besonders gern gekümmert. In Kellern und auf Hausböden verwahrter Hausrat, Mobiliar, Kleidungsstücke, Schuhzeug, Spielsachen, Alteisen, Buntmetalle, Flaschen und Papier wurden durch die Sammelaktion von Lübeckern für Lübecker gespendet. Maria war über viele Jahre eine der engagiertesten Mitstreiter dieser karitativen Sammlungen gewesen und hatte mitgeholfen, die Not bei den ärmsten Lübeckern zumindest ein wenig zu lindern. Als die Nazis 1934 das deutsche Winterhilfswerk ins Leben riefen, verboten sie den Verein und die Brockensammlung. Als der deutsche Reichstag am Abend des 15. September 1935 einstimmig die Nürnberger Rassegesetze beschloss und damit die jüdische Bevölkerung in Deutschland praktisch zu Freiwild erklärte, hörte Maria Faust auf zu sprechen. Kein Wort kam seit diesem Tag mehr über ihre vollen Lippen. Sie schwieg fortan und sollte es bis zu ihrem Tode auch dabei belassen. Am 26. Dezember 1936 nahm sich Maria Faust, geborene von Kressfeld, mit nur 38 Jahren schließlich das Leben. Ihre letzten Minuten hat man später weitestgehend rekonstruieren können. Demnach verließ sie etwa gegen 19.00 Uhr ihr Zimmer und stieg die Treppe zum Dachboden herauf. Oben angekommen, öffnete sie eine der beiden größeren Dachluken und sprang in die Tiefe. An diesem kalten Dezemberabend schneite es stark. Auf dem Straßenpflaster vor dem Haus am Geibelplatz waren ein paar Einwohner unterwegs auf dem Weg in die gegenüberliegende Jacobikirche, um dort an einem Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen. Einige Kinder tobten vor dem Eingangstor der Kirche herum und bewarfen sich mit Schneebällen. Maria sog noch einmal die kalte Luft ein, dann breitete sie die Arme weit auseinander und schloss ihre Augen. „Verzeiht“ sprach Maria leise und wie zu sich selbst. Dann ließ sich die Frau nach vorne kippen und stürzte in die Tiefe. Nur eine Sekunde später schlug ihr Körper krachend auf das Kopfsteinpflaster des Geibelplatzes auf. Maria Faust, die Frau des amtierenden Bürgermeisters der Stadt Lübeck war augenblicklich tot. Die Menschen auf dem Platz eilten schreiend herbei, um zu sehen, was geschehen war. Einige der Kirchgänger kamen herüber gerannt und blieben wie angewurzelt vor der Toten stehen. Unter Marias Leichnam färbte sich das Kopfsteinpflaster dunkelrot. Ihr rechter Arm war verdreht und die Beine standen in einem unnatürlichen Winkel vom Torso ab. Ihre Augen hatte sie geschlossen und es wirkte fast so, als würde sie schlafen. Die herbeigeeilten Menschen erstarrten aber auch noch aus einem zweiten Grund. An dem Kleid der Toten waren unzählige, gelbe Judensterne befestigt worden waren. „Sie hält etwas in der Hand!“ rief eine Frau und deutete auf ein Stück Papier in Marias rechter Hand. Ein herbeigerufener Polizeiwachtmeister schob die neugierigen Menschen beiseite. „Lassen Sie mich doch durch. Gehen Sie weiter meine Herrschaften. Hier gibt es nichts mehr zu sehen!“ Der Beamte beugte sich über die Tote. „Das ist doch die Frau des Bürgermeisters“ murmelte der Wachtmeister und fluchte still in sich hinein. „Was sind denn das für Judensterne an ihrem Kleid?“ fragend blickte er in die gaffende Menschenmenge, so als ob er erwartete, dass sie ihm auf diese Frage eine plausible Antwort geben könnte. Dann fiel sein geschulter Blick auf Marias Hand. Vorsichtig zog er das zusammengefaltete Stück Papier aus Marias Hand. Mit blauer Tinte stand dort geschrieben „Wir sind alle schuldig!“ Der Beamte schaute erneut auf die Judensterne und dann wieder auf das Stück Papier in seiner Hand. Plötzlich schien er einen Kloß in der Kehle zu haben und glaubte zu verstehen. Mit einem Ruck erhob sich der Polizist und wand sich an die Menschenmenge, die mittlerweile immer größer geworden war. „Geht nach Hause Leute, hier gibt es nichts mehr zu sehen!“ Marias letzte Worte wiederholten sich immer und immer wieder in seinem Kopf, bis sie sich übergroß und wohl für immer in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. „Wir sind alle schuldig!“ Spätestens seit 1935 konnte kein aufmerksamer Deutscher noch ernsthaft behaupten, nicht zu sehen oder zu wissen, wie weit der nationalsozialistische Staat zu gehen bereit war, um die Juden aus dem gesellschaftlichen Leben auszugrenzen und sie als Kriminelle zu ächten. Bei weitem nicht alle Deutschen waren mit dieser rigiden Politik dieser perfiden Ausgrenzungspolitik einverstanden und wohl kaum ein Deutscher hätte sich 1935 ernsthaft vorstellen können, dass diese Politik schon ein paar Jahre später dazu führen würde, dass über sechs Millionen Menschen im deutschen Namen ermordet würden. Die große schweigende Mehrheit der gleichgeschalteten Volksgemeinschaft hatte sich schnell mit den neuen Herren und deren Zielen arrangiert. Um nicht vielleicht irgendwann selbst in den Fokus des Staates und seiner unberechenbaren Willkür zu gelangen, schwiegen sie und schauten weg. Menschen wie Maria zerbrachen häufig daran, weil sie erkannten wohin diese Politik der Nazis unweigerlich führen würde. „Aus dem Weg, geht doch zur Seite verdammt!“ Die gaffende Menge kam in Bewegung und es bildete sich eine kleine Gasse. In einen braunen Kamelhaarmantel gekleidet, schob sich Theodor Faust an den Menschen vorbei. Schließlich erreichte er den knienden Polizisten. Er blickte zunächst auf Maria und dann auf den Wachtmeister. „Guten Abend Herr Bürgermeister. Ich fürchte ich habe eine schlechte Nachricht für Sie“ der Mann erhob sich und zog dann das Stück Papier aus seinem braunen Lederetui. „Sie hielt diese Nachricht in der Hand!“ Er reichte die Nachricht zögernd an Faust herüber, der immer noch auf seine tote Frau am Boden und auf das mit Blut durchtränkte Kleid starrte. Erst als der Polizist sich räusperte und ihm das kleine Stück Papier sanft in die Hand legte, fiel sein Blick von der Toten ab. Die geschwungene Handschrift erkannte er sofort „Wir alle sind schuldig!“ Theodor Faust holte tief Luft und er starrte für einen kurzen Moment in den dunklen Nachthimmel. Dann senkte sich sein Blick ein weiteres Mal auf den Fetzen in seiner Hand. Plötzlich wurde sein Blick kalt und ausdruckslos. Seine zusammen gepressten Lippen bildeten nun einen schmalen farblosen Strich. Faust konnte förmlich spüren, wie ihm jetzt das Blut in den Kopf schoss. Der Bürgermeister Faust war wütend. Wie konnte es dieses Weibsbild nur wagen, ihn durch dieses widerliche Schauspiel derart lächerlich zu machen? Was hatte sie sich bloß dabei gedacht diese verfluchten Davidsterne auf ihr Kleid zu nähen? „Schaffen sie mir diese Frau aus den Augen!“ Zischte er den verdutzten Wachtmeister an. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und einen Moment später schlug die große Haustür seines Hauses hinter ihm zu.

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